Stendhal
Rot und Schwarz
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39. Kapitel

»Du bist schlechter Laune«, sagte die Marquise zu ihrer Tochter. »Ich mache dich darauf aufmerksam: das sieht auf einem Balle nicht gut aus.«

»Ich habe nur Kopfschmerzen«, antwortete Mathilde mit ungnädiger Miene. »Es ist zu heiß hier.«

In diesem Augenblick fiel der alte Baron Tolly, als ob er Mathildens Ausspruch bestätigen wollte, in Ohnmacht und mußte hinausgetragen werden. Man sprach von einem Schlaganfall. Das Ereignis war peinlich.

Mathilde hatte nicht den geringsten Anteil daran. Es war einer ihrer Grundsätze, alte Leute ebenso wie Menschen, die Trauriges erzählten, einfach zu übersehen. Sie tanzte, um der Unterhaltung über den Schlaganfall zu entgehen, der übrigens keiner war, denn zwei Tage darauf erschien der Baron wieder auf der Bildfläche.

»Sorel kommt einfach nicht!« sagte sie sich nach dem Tanze. Sie suchte ihn mit den Augen. Da erblickte sie ihn in einem der andern Säle. »Sonderbar! Er scheint die Blasiertheit und Kälte, die so natürlich an ihm waren, abgelegt zu haben. Er sieht gar nicht mehr wie ein Engländer aus ...

Er unterhält sich mit dem Grafen Altamira, meinem ehemaligen Todeskandidaten!« fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort. »Sein Auge glüht von düsterem Feuer. Er sieht aus wie ein verkappter Prinz. Sein Blick ist noch einmal so hochmütig wie sonst...«

Julian näherte sich dem Platze, wo Mathilde stand, noch immer im Gespräch mit Altamira. Sie sah ihm fest und forschend ins Gesicht und suchte in seinen Zügen nach den hohen Eigenschaften, die einem Manne die Ehre verschaffen können, zum Tode verurteilt zu werden.

»Ja«, sagte er eben zum Grafen Altamira, als er an Mathilde vorbeikam, »Danton, das war ein Mann!«

»Himmel!« sagte sich Mathilde. »Sollte er ein zweiter Danton sein? Aber er hat ein so edles Gesicht, und Danton war mordshäßlich, ein Schlächter, wenn ich nicht irre...«

Julian war ganz in ihrer Nähe. Ohne Zaudern rief sie ihn an. Sie war sich klar und stolz darauf, daß sie eine für eine junge Dame außergewöhnliche Frage stellen wollte.

»War Danton nicht ein Schlächter?« fragte sie ihn.

»Ja, für gewisse Leute«, antwortete Julian mit kaum verhohlener Verachtung und noch immer flammenden Augen. »Zum Leidwesen der hochwohlgeborenen Leute war er Advokat in Mery an der Seine; das heißt, gnädiges Fräulein«, setzte er in boshaftem Tone hinzu, »er hat genauso angefangen wie verschiedene Pairs, die hier zu sehen sind. Allerdings hatte Danton in den Augen von Ästheten einen Riesenfehler: er war grundhäßlich.«

Die letzten Worte stieß er hastig hervor, in einer ungewöhnlichen und zweifellos nicht besonders höflichen Art und Weise. Julian wartete einen Augenblick, den Oberkörper leicht vorgebeugt, mit stolz-demütigem Ausdruck. Sichtlich wollte er sagen: »Ich werde bezahlt, um Ihnen Rede und Antwort zu stehen, und ich lebe von meinem Gehalte.« Er würdigte Mathilde keines Blickes. Sie stand mit ihren schönen weitgeöffneten Augen, die auf ihm ruhten, wie eine Sklavin vor ihm. Endlich, als das Schweigen kein Ende nahm, blickte er sie an, wie ein Knecht seinen Herrn anblickt, um dessen Befehle entgegenzunehmen. Seine Augen begegneten dem vollen Blick Mathildens, der immer noch mit seltsamem Ausdruck auf ihm lag. Trotzdem entfernte er sich von ihr mit merkbarer Eile.

»Er, der wirklich schön ist«, sagte sich Mathilde, als sie endlich aus ihrer Träumerei erwachte, »er singt solch ein Loblied auf die Häßlichkeit! Niemals zieht er seine eigne Person in Betracht. Er ist nicht wie Caylus oder Croisenois. Dieser Sorel hat etwas von der Art und Weise meines Vaters, wenn er Napoleon auf dem Balle so schön nachmacht.« Sie hatte Danton ganz und gar vergessen. »Heute abend langweile ich mich entschieden!« Sie ergriff den Arm ihres Bruders und zwang ihn zu seinem großen Kummer, mit ihr einen Rundgang durch den Saal zu machen. Sie hatte den Einfall, Julians Unterhaltung mit dem zum Tode Verurteilten zu verfolgen.

Das Gedränge war überaus groß. Dennoch gelang es ihr, die beiden einzuholen, gerade als Altamira zwei Schritte vor ihr an eine Kredenz trat, um sich Eis zu nehmen. Halb umgewandt sprach er mit Julian weiter. Da erblickte er einen betreßten Arm, der sich Eis von derselben Stelle nahm. Die Stickerei erregte offenbar seine Aufmerksamkeit, denn er drehte sich ganz um, in der Absicht, die Person zu sehen, die zu dem Ärmel gehörte. Alsbald nahmen seine edlen treuherzigen Augen einen etwas verächtlichen Ausdruck an.

»Sehen Sie diesen Herrn«, sagte er ziemlich leise zu Julian, »das ist der Fürst von Araceli, der sardinische Gesandte. Heute vormittag hat er Ihren Minister des Auswärtigen, Herrn von Nerval, um meine Auslieferung gebeten. Dort drüben sitzt er und spielt Whist. Herr von Nerval ist nicht abgeneigt, mich auszuliefern, denn wir haben euch Franzosen Anno 1816 auch zwei oder drei Verschwörer ausgeliefert. Wenn man mich meinem König überliefert, so werde ich binnen vierundzwanzig Stunden gehenkt. Einer von den netten schnurrbärtigen Herren da wird mich festnehmen...«

»Die Schufte!« rief Julian halblaut.

Mathilde hatte keine Silbe des Gespräches verloren. Ihre Langeweile war verflogen.

»Schufte nicht gerade ...« erwiderte Altamira. »Ich habe Ihnen von mir erzählt, um Ihnen ein lebhaftes Bild zu geben. Sehen Sie sich einmal den Fürsten näher an! Aller fünf Minuten liebäugelt er mit seinem Goldnen Vlies. Er freut sich immer wieder von neuem, daß er diesen Firlefanz auf seiner Brust trägt. Im Grunde ist der arme Mensch ein leibhafter Anachronismus. Vor hundert Jahren war das Goldne Vlies eine hohe Auszeichnung, aber damals hätte er es sicher nicht gekriegt. Heutzutage muß man unter wirklichen Aristokraten ein Araceli sein, um sich über den Orden zu freuen. Er hätte die Bürgerschaft einer ganzen Stadt an den Galgen knüpfen lassen, um ihn zu bekommen.«

»Hat er ihn um einen solchen Preis erlangt?« fragte Julian beklommen.

»Wohl nicht!« antwortete Altamira kühl. »Vermutlich hat er etliche dreißig Großgrundbesitzer seines Landes, die für Liberale galten, ins Wasser werfen lassen...«

»So eine Bestie!« unterbrach ihn Julian.

Fräulein von La Mole neigte ihren Kopf mit dem lebhaftesten Interesse vor, so daß ihr schönes Haar fast Julians Schulter streifte.

»Sie sind noch sehr jung!« meinte Altamira. »Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, daß ich eine verheiratete Schwester in der Provence habe. Sie ist noch hübsch, jung und sanft, eine ausgezeichnete Familienmutter, pflichttreu und fromm, doch nicht bigott.«

»Wo will er hinaus?« dachte Fräulein von La Mole bei sich,

»Eine glückliche Natur!« fuhr Graf Altamira fort. »Im Jahre 1815 hielt ich mich auf ihrem Gute bei Antibes verborgen. In dem Augenblick, wo sie die Hinrichtung des Marschalls Ney erfuhr, fing sie an zu tanzen.«

»Wie ist das möglich?« rief Julian bestürzt.

»Das ist die Parteiwut!« erklärte Altamira. »Im neunzehnten Jahrhundert gibt es keine wirklichen Leidenschaften mehr. Darum langweilt man sich in Frankreich so. Man begeht die größten Grausamkeiten, doch ohne Grausamkeit.«

»Das ist das Allerschlimmste!« sagte Julian. »Wenn man schon Verbrechen begeht, so soll man wenigstens Genuß daran haben. Das ist ihr einziger Wert. Dann kann man sie zur Not sogar rechtfertigen.«

Fräulein von La Mole vergaß vollständig, was sie sich schuldig war. Sie hatte sich fast zwischen Altamira und Julian gestellt. Ihr Bruder, der sie führte und gewohnt war, ihr zu gehorchen, sah nach der andern Seite des Saales und tat, um sich eine Haltung zu geben, als ob ihn die Menge zurückdrängte.

»Sie haben recht«, sagte Altamira. »Was man heutzutage vollbringt, begeht man ohne Genuß und ohne spätere Erinnerung, selbst die Verbrechen. Ich kann Ihnen hier auf dem Balle etwa zehn Leute zeigen, die als Mörder verurteilt sein müßten. Sie haben es vergessen und die Welt auch ... Wenn ich trotz der guten Dienste des Fürsten Araceli nicht gehenkt werde, und wenn ich eines Tages hier in Paris wieder zum Genuß meines Vermögens kommen sollte, will ich Sie einmal mit acht oder zehn hochangesehenen und von Gewissensbissen völlig freien Mördern zu Tisch einladen. Wir beide, Sie und ich, werden bei diesem Diner die einzigen nicht Blutbefleckten sein. Ich aber werde verachtet und beinahe gehaßt als blutdürstiges jakobinisches Ungeheuer, und Sie werden verachtet, weil Sie ein Mann aus dem Volke sind, der in die gute Gesellschaft eingedrungen ist.«

»Nicht zu leugnen!« sagte Fräulein von La Mole.

Altamira blickte sie erstaunt an. Julian würdigte sie keines Blicks. Altamira fuhr fort: »Sie müssen bedenken, daß die Revolution, an deren Spitze ich stand, nur deshalb gescheitert ist, weil ich nicht gewillt war, drei Köpfe zu opfern und unsern Parteigängern sieben oder acht Millionen zu überlassen, zu denen ich die Schlüssel besaß. Mein Landesherr, der heute darauf brennt, mich am Galgen zu sehen, hat mich vor dem Aufstand geduzt. Er hätte mir das Großkreuz seines Hausordens um den Hals gehängt, wenn diese drei Köpfe gefallen und die Gelder aus den betreffenden Kassen verteilt worden wären. Denn dann hätte ich wenigstens einen halben Erfolg gehabt, und mein Land hätte die übliche Verfassung ... Das ist der Gang der Welt! Schachspiel, weiter nichts!«

»Damals«, rief Julian mit glühenden Augen, »waren Sie noch kein Meisterspieler. Aber jetzt...«

»Jetzt würde ich die drei Köpfe ruhig opfern, wollen Sie sagen, und nicht den Girondisten spielen, wie Sie mir neulich zu verstehen gegeben haben.« Und in schwermütigem Tone fügte Altamira hinzu: »Ich werde Ihnen antworten, wenn Sie einmal jemanden im Zweikampf getötet haben, was gewiß viel weniger häßlich ist, als einen durch den Henker hinrichten zu lassen.«

»Offengestanden«, sagte Julian, »der Zweck heiligt das Mittel! Wenn ich nicht bloß Statist wäre, sondern einige Macht hätte, würde ich drei Menschen hängen lassen, um vieren das Leben zu retten.«

In seinen Augen flammten die Selbstschätzung und die Verachtung der eitlen Urteile der Menschen. Sein Blick begegnete dem Mathildens, die dicht neben ihm stand, und die Verachtung darin wuchs noch.

Sie fühlte sich tief gekränkt, aber es lag nicht mehr in ihrer Macht, Julian zu vergessen. Verdrossen ging sie weg und zog ihren Bruder mit sich fort.

»Ich muß Punsch trinken und viel tanzen«, sagte sie sich. »Ich will das bessere Teil erwählen und um jeden Preis Aufsehen machen. Famos! Da kommt der durch seine Unverschämtheit berühmte Graf von Fervaques.« Sie nahm seine Aufforderung an und tanzte mit ihm. »Wir wollen einmal sehen«, dachte sie, »wer von uns beiden mehr anmaßend ist. Aber damit ich meinen Spaß habe, muß ich ihn zum Reden bringen.«

Bald tanzten alle andern Paare die Quadrille nur noch mechanisch weiter. Niemand wollte sich eine von Mathildens pikanten Antworten entgehen lassen. Herr von Fervaques verlor die Ruhe. Er fand statt guter Einfalle nur gekünstelte Worte und schnitt Gesichter. Mathilde ließ ihre Laune an ihm aus; sie behandelte ihn niederträchtig, wodurch sie sich ihn zum Feinde machte.

Sie tanzte bis in den Morgen hinein und brach dann tief erschöpft auf. Als sie im Wagen saß, benutzte sie ihre letzte Kraft dazu, sich traurig und unglücklich zu stimmen. Sie war von Julian verachtet worden und hatte keinen Grund, ihn zu verachten.

Julian war auf dem Gipfel des Glücks. Ohne sich dessen bewußt zu werden, war er entzückt von der Musik, den Blumen, den schönen Frauen, der Vornehmheit ringsumher und am allermeisten von seiner eignen Einbildungskraft, die ihm Auszeichnungen für sich und die Freiheit für alle vorgaukelte. »Welch ein schöner Ball!« sagte er zum Grafen. »Es fehlt nichts.«

»Doch! Es fehlt der Gedanke«, erwiderte Altamira. Und seine Züge verrieten jene Verachtung, die um so schärfer wirkt, weil man erkennt, daß die Höflichkeit es sich zur Pflicht macht, sie zu verhüllen.

»Sie sind doch da, Graf. Der verkörperte Gedanke!«

»Ich bin hier eingeladen meines Namens wegen. Man haßt den Gedanken in Euren Salons. Er darf sich nicht über die Höhe eines Gassenhauers wagen. Dann wird man belohnt. Aber ein denkender Mensch, dessen Einfalle kraftvoll und neu sind, der gilt als Zyniker. Ist Courier nicht von einem Ihrer Richter so bezeichnet worden? Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, ebenso Beranger. Alles, was sich bei Euch durch Geist einigermaßen hervortut, wird von den Pfaffen dem Staatsanwalt überantwortet, und die gute Gesellschaft klatscht Beifall. Das kommt daher, daß Eure altgewordene Gesellschaft die Konvenienz über alles stellt. Ihr werdet Euch nie über die soldatische Tüchtigkeit hinausschwingen. Ihr werdet Murats haben, aber keine Washingtons. Ich sehe in Frankreich nichts als Eitelkeit. Ein Mann, der beim Reden Einfalle hat, sagt leicht ein unvorsichtiges, treffendes Wort, und der Gastgeber empfindet das als Schändung seines Hauses.«

In diesem Augenblick hielt der Wagen des Grafen, in dem Julian mit saß, vor dem Haus La Mole. Julian war verliebt in seinen Karbonaro. Altamira hatte ihm das schöne und offenbar urehrliche Kompliment gemacht: »Sie sind frei von der französischen Oberflächlichkeit, und Sie verstehen das Nützlichkeitsprinzip.« Zufällig hatte Julian vor zwei Tagen das Trauerspiel »Marino Faliero« von Kasimir Delavigne gesehen.

»Hatte Bertuccio Isarello nicht mehr Charakter als alle die venezianischen Dogen?« dachte der rebellische Plebejer bei sich. »Und doch waren das Leute, deren Stammbaum bis ins Jahr 700 hinaufreicht, also noch hundert Jahre über Karl den Großen hinaus, während der vornehmste Adel auf dem Balle des Herrn von Retz sich mit Müh und Not bis ins dreizehnte Jahrhundert nachweisen läßt. Und an keinen von all diesen venezianischen Edlen jener Tage erinnert man sich noch; nur an Bertuccio Isarello. Eine Verschwörung beseitigt alle Titel, welche die gesellschaftliche Willkür geschaffen. Je nachdem einer dem Tod ins Antlitz schaut, bekommt er Rang und Würde. Selbst der Geist verliert sein Ansehen. Was wäre Danton heute im Jahrhundert der Valenods und Rênals? Nichts! Nicht einmal Staatsanwalt!

Und doch! Er hätte sich den Pfaffen verkauft und wäre Minister. Denn im Grunde hat auch der große Danton gestohlen. Auch Mirabeau hat sich verkauft. Und Napoleon hat in Italien Millionen gestohlen. Sonst wäre er an der Armut gescheitert wie so mancher andre. Nur Lafayette hat nie gestohlen. Muß man stehlen? Muß man sich verkaufen? dachte Julian. Diese Frage ließ ihn nicht wieder los.

Als er am andern Morgen in der Bibliothek seine Briefe schrieb, dachte er immer noch an nichts als an sein gestriges Gespräch mit dem Grafen Altamira. »Das muß man zugeben«, sagte er sich nach langem Grübeln, »wenn die spanischen Liberalen das Volk durch Verbrechen bloßgestellt hätten, hätte man sie nicht mit dieser Leichtigkeit hinweggefegt. Es waren hochfahrende und schwatzhafte Kinder ... wie ich!« rief er plötzlich aus, als ob er aus dem Schlafe erwachte.

»Was habe ich Großes geleistet, daß ich mir das Recht nehme, über jene armen Teufel zu Gericht zu sitzen, die doch wenigstens einmal im Leben etwas gewagt, eine Tat unternommen haben? Ich bin wie einer, der vom Tisch aufsteht und sagt: Morgen will ich nicht essen und doch stark und froh sein wie heute. – Weiß ich, wie einem zumut ist auf dem halben Wege zu einer großen Tat?«

Julians Gedankenflug ward gestört, als unverhofft Fräulein von La Mole in der Bibliothek erschien. Die Bewunderung der großen Eigenschaften eines Danton, eines Mirabeau, eines Carnot, die alle ungebrochen blieben, hatte ihn dermaßen mit Begeisterung erfüllt, daß er seine Blicke auf Fräulein von La Mole richtete, ohne seine Gedanken auf sie zu richten, ohne sie zu grüßen, ja ohne sie zu sehen. Als seine weitgeöffneten großen Augen endlich ihre Anwesenheit innewurden, erlosch ihr Glanz. Fräulein von La Mole nahm es voll Bitternis wahr.

Sie ersuchte ihn um einen Band der Geschichte Frankreichs von Vely, die auf dem obersten Regal stand, so daß Julian die größere der beiden Leitern herbeiholen mußte. Er stieg auf die Leiter, holte den Band herunter und händigte ihn ihr ein, noch immer ohne zu dem Bewußtsein zu kommen, daß er Mathilde vor sich hatte. Beim Wiederwegstellen der Leiter stieß er aus Übereile mit dem Ellenbogen in einen der Spiegel. Das Klirren der Glassplitter, die auf das Parkett fielen, brachte ihn endlich zur Besinnung. Rasch stammelte er ein paar Entschuldigungsworte. Er wollte höflich sein; aber das war er kaum.

Mathilde begriff, daß sie ihn gestört hatte, und daß er statt mit ihr zu sprechen, lieber weiter über das nachgedacht hätte, was ihn vor ihrem Erscheinen beschäftigte. Nachdem sie ihn eine Weile angeschaut hatte, ging sie langsam wieder. Julian sah ihr nach. Er genoß den Gegensatz zwischen der Schlichtheit ihres heutigen Kleides und der kostbaren Pracht ihrer Gesellschaftstoilette am gestrigen Abend. Der Unterschied in ihrem Gesichtsausdruck war fast ebenso auffällig. Die junge Dame, die sich auf dem Balle des Herzogs von Retz so hochmütig benommen, hatte in diesem Augenblick fast etwas Bittendes im Blick. »Ohne Zweifel«, sagte Julian bei sich, »dieses schwarze Kleid läßt die Schönheit ihrer Gestalt noch mehr zur Geltung kommen. Sie hat die Haltung einer Königin. Aber warum ist sie in Trauer? Wenn ich mich bei irgendwem nach dem Anlaß erkundige, begehe ich am Ende wieder eine Ungeschicklichkeit.«

Julian hatte seine schwärmerische Stimmung völlig verloren. »Ich muß alle Briefe, die ich heute morgen geschrieben habe, noch einmal durchsehen. Gott weiß, was für Lücken und Schnitzer ich darin finden werde.« Als er das erste Schreiben mit gespannter Aufmerksamkeit durchlas, hörte er neben sich das Knistern eines Seidenkleides. Schnell wandte er sich um. Fräulein von La Mole stand zwei Schritte hinter seinem Tisch und lachte. Die abermalige Störung ärgerte Julian.

Mathilde ihrerseits empfand lebhaft, daß sie dem jungen Manne nichts bedeutete. Ihr Lachen sollte nur ihre Verlegenheit bemänteln, und dies gelang ihr.

»Sie denken augenscheinlich an etwas ungemein Interessantes, Herr Sorel«, sagte sie. »Wohl an irgendeine merkwürdige Einzelheit der Verschwörung, der wir die Anwesenheit des Grafen Altamira in Paris verdanken? Erzählen Sie mir, um was es sich handelt! Ich bin begierig, es zu erfahren. Ich werde verschwiegen sein; das schwöre ich Ihnen.« Sie war selbst erstaunt, als sie sich das Wort aussprechen hörte. Was? Sie hatte eine Bitte an einen Untergebenen ihres Vaters? Ihre Verlegenheit wuchs. In leichtem Tone setzte sie hinzu: »Wer hat Sie denn zu einem begeisterten Wesen, zu einem Propheten aus Michelangelos Jüngstem Gericht gemacht, Sie, der Sie sonst so blasiert sind?«

Die lebhafte und indiskrete Frage verletzte Julian tief und gab ihm seine ganze Tollheit wieder.

»Hat Danton recht getan, als er stahl?« fragte er Mathilde unvermittelt mit zusehends wilder werdender Miene. »Hätten die piemontesischen und spanischen Revolutionäre ihr Volk durch Verbrechen bloßstellen sollen? Hätten sie alle Stellen im Heere und alle Orden selbst an Leute ohne Verdienst verteilen; den Schatz in Turin der Plünderung preisgeben sollen? Mit einem Worte, gnädiges Fräulein«, sagte er, indem er mit furchtbarem Blick näher an sie herantrat: »Soll der Mensch, der die Dummheit und das Verbrechen von der Erde vertilgen will, wie ein Sturmwetter daherbrausen und Unheil anrichten, wie es gerade kommt?«

Mathilde erschrak. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen und wich etliche Schritte zurück. Einen Augenblick lang schaute sie ihn an. Dann schämte sie sich ihrer Furcht und verließ leichten Schrittes die Bibliothek.


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