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Der Marquis von La Mole empfing den Abbé Pirard ohne die gewisse Umständlichkeit des Grandseigneurs, die bei aller Höflichkeit dem Kenner doch die Unnahbarkeit verrät. Dazu nahm er sich gar nicht die Zeit. Seine großen Pläne waren so weit gediehen, daß er es nun eilig hatte. Seit einem halben Jahre intrigierte er, um König wie Volk auf ein bestimmt zusammengesetztes Ministerium hinzudrängen. Als Gegenleistung erhoffte er den Herzogstitel.
Vergebens forderte der Marquis seit Jahren von seinem Rechtsvertreter in Besançon ein ausführliches und klares Gutachten über den Stand seines in der Freigrafschaft geführten Prozesses. Er hatte einen berühmten Advokaten. Aber auch ein solcher kann nicht klar über Dinge berichten, die ihm selber unklar sind.
Das kleine Blatt Papier, das ihm der Abbé überreichte, brachte die Aufklärung mit einem Male.
»Mein verehrter Abbé«, sagte der Marquis zu ihm, nachdem er in kaum fünf Minuten sämtliche Höflichkeitsdinge und persönlichen Fragen erledigt hatte, »inmitten meines sogenannten Glückes gebricht es mir an Zeit, mich ernstlich mit ein paar Kleinigkeiten zu beschäftigen, die immerhin nicht so ganz unwichtig sind: mit meiner Familie und meinen Geschäften. Ich sorge im großen ganzen für das Gedeihen meines Hauses. Es ließe sich mehr tun. Ich sorge für mein Vergnügen. Das ist unbedingt die Hauptsache ... in meinen Augen wenigstens.«
Diese letzten vier Worte setzte er hinzu, als er den verwunderten Blick des Abbé wahrnahm, der bei aller Lebensklugheit in der Tat erstaunt war, einen alten Mann so offen und ehrlich von seinem Vergnügen reden zu hören. Sodann fuhr der hohe Herr fort:
»Ohne Zweifel wird in Paris gearbeitet. Aber die Arbeit wohnt im Dachstübchen. Jedesmal wenn ich mir jemanden heranziehe, nimmt er alsbald eine Wohnung im ersten Stock, und seine Frau richtet sich Empfangstage ein. Dann ist es vorbei mit der Arbeit. Der Betreffende geht nur noch darauf aus, ein Mann der Welt zu sein oder zu scheinen. Sobald die Leute ihr Brot haben, frönen sie ihrer Eitelkeit.
Um zur Sache zu kommen: ich habe für jeden meiner Prozesse einen besonderen Anwalt. Diese Leute schinden sich für mich zu Tode. Erst vorgestern ist mir einer an der Lungenschwindsucht gestorben. Aber für meine Geschäfte en bloc habe ich seit drei Jahren jedwede Hoffnung aufgegeben – Sie werden es kaum glauben, Herr Abbé –, einen Menschen zu finden, der bei der Arbeit, die er für mich macht, mit seinen Gedanken einigermaßen wirklich dabeizusein geruht. Übrigens ist das alles nur die Vorrede.
Ihnen gehört meine Hochachtung, ja, ich wage zu sagen, obgleich ich Sie heute zum ersten Male sehe: meine Verehrung! Wollen Sie mein Sekretär werden? Mit achttausend Franken im Jahre, oder was Sie verlangen? Selbst wenn ich das Doppelte zahle, mache ich immer noch ein Geschäft. Das versichere ich Ihnen. Dabei werde ich es mir angelegen sein lassen, Ihnen Ihre schöne Pfarre offenzuhalten, falls wir eines Tages nicht mehr zusammenpassen sollten.«
Der Abbé lehnte ab. Doch brachte ihn die offensichtliche Verstimmung des Marquis am Ende auf einen Gedanken.
»Ich habe im Seminar einen armen jungen Menschen zurückgelassen, der, wenn ich mich nicht täusche, das Opfer aller möglichen Feindseligkeiten wird. Wäre er nicht ein simpler Seminarist, so ruhte er bereits in pace. Vorläufig versteht der junge Mann nur Latein und die Heilige Schrift. Aber vermutlich wird er eines Tages große Fähigkeiten entfalten, sei es als Prediger, sei es als Seelsorger. Es ist mir unbekannt, was er werden will. Aber es glüht in ihm das heilige Feuer. Er kann es weit bringen. Ich hatte die Absicht, ihn unserm Bischof zu empfehlen, das heißt, wenn wir einmal einen bekommen, der die Menschen und die Dinge einigermaßen so sieht wie Eure Exzellenz.«
»Wo stammt der junge Mann her?« fragte der Marquis.
»Er soll der Sohn eines Holzmüllers aus unsern Bergen sein, aber ich möchte ihn eher für den illegitimen Sprößling irgendeines reichen Mannes halten. Ich habe ihm einmal im Seminar einen Brief eingehändigt mit einem Scheck auf fünfhundert Franken von einem ungenannten oder pseudonymen Absender ...«
»Aha!« unterbrach ihn der Marquis. »Heißt er Julian Sorel?«
»Woher wissen Eure Exzellenz seinen Namen?« fragte der Abbé betroffen, schämte sich aber alsbald seiner Frage.
»Das möchte ich Ihnen nicht verraten, Herr Abbé!«
»Wie dem auch sei«, fuhr Pirard fort, »das wäre vielleicht ein Sekretär für Eure Exzellenz. Der junge Mann hat Energie und Verstand. Kurzum, es käme auf einen Versuch an.«
»Warum nicht?« meinte der Marquis. »Hoffentlich ist er keiner von der Sorte, die sich von der Polizei oder von sonst wem bestechen läßt und einem das ganze Haus durchschnüffelt. Das wäre mein einziges Bedenken.«
Der Abbé Pirard versicherte, dies werde nicht der Fall sein. Der Marquis nahm einen Tausendfrankenschein zur Hand und sagte: »Bitte, senden Sie dies als Reisegeld an Julian Sorel und lassen Sie ihn mir kommen!«
»Eure Exzellenz sind Pariser«, sagte Pirard, »und kennen die Tyrannei nicht, die auf uns armen Kleinstädtern lastet, insbesondre auf uns Geistlichen, die wir nicht Jesuiten sind. Man wird Julian Sorel nicht fortlassen. Man wird mir allerlei Ausflüchte schreiben. Man wird mir vorlügen, er sei krank. Oder mein Brief sei gar nicht angekommen...«
»Ich werde dem Bischof von Besançon schreiben«, erklärte der Marquis.
»Und dann möchte ich noch eine Vorsichtsmaßregel anraten«, begann der Abbé von neuem. »Der junge Mann ist zwar von einfacher Herkunft, aber er hat ein überempfindliches Gemüt. Wenn man sein Ehrgefühl verletzt, ist mit ihm nichts mehr zu machen. Dann wird er halsstarrig.«
»Das gefällt mir«, meinte der Marquis. »Ich werde ihn meinem Sohn als Kameraden beigeben. Wird das genügen?«
Einige Zeit darauf erhielt Julian einen Brief von unbekannter Hand mit dem Poststempel Châlons. Er enthielt einen Scheck auf einen Kaufmann in Besançon und die Aufforderung, sich unverzüglich nach Paris zu begeben. Der Brief war offenbar mit einem fingierten Namen unterzeichnet. Beim öffnen erbebte Julian. Ein Baumblatt fiel heraus. Das war ein mit dem Abbé Pirard verabredetes Zeichen.
Kaum eine Stunde später wurde er zum Bischof befohlen und von ihm mit geradezu väterlichem Wohlwollen empfangen. Unter Zitaten aus Horaz machte ihm der Prälat geistreiche Komplimente über die glänzende Zukunft, die seiner in Paris harre. Als Dank erwartete er eine Aufklärung. Julian machte keine, vornehmlich weil er gar nichts wußte, aber dem Monsignore imponierte die Verschwiegenheit. Einer der niedrigen Geistlichen der bischöflichen Kanzlei schrieb an den Bürgermeister. Dieser beeilte sich, einen ausgefertigten Reisepaß, auf dem der Name des Reisenden noch einzutragen war, eigenhändig zu überreichen.
Noch vor Mitternacht war Julian bei Fouqué, der in seiner nüchternen Art über die Wendung im Leben seines Freundes erstaunt, aber nicht entzückt war.
»Das Ende vom Lied wird sein«, meinte er vom Standpunkt seiner politischen Liberalität, »daß du in den Dienst der Regierung trittst.
Man wird dich eines schönen Tages zu Dingen mißbrauchen, die in der Presse gebrandmarkt werden. Wenn du am Pranger stehst, werde ich wieder von dir hören. Meiner Ansicht nach ist es selbst in materieller Hinsicht besser, in einem anständigen Holzgeschäft zweitausend Franken im Jahre zu verdienen, dabei aber sein eigner Herr zu bleiben, als viertausend Franken von einer Regierung zu beziehen, und wäre es die des Königs Salomo.«
In diesen Einreden sah Julian nur die Beschränktheit des kleinen Mannes. Ihm aber schien sich endlich der Weg in die große Welt aufzutun. Nach Paris zu kommen, das er sich von Intriganten und Heuchlern höherer Art bevölkert vorstellte, von Leuten, die ebenso höflich waren wie der Bischof von Besançon und jener Kardinal, der ihm in Hohen-Bray begegnet war: dies Glück verscheuchte ihm alle Bedenken. Er log seinem Freunde vor, er habe sich bereits verpflichtet.
Am folgenden Tage, gegen Mittag, kam er in der glücklichsten Stimmung in Verrières an. Er hoffte bestimmt, Frau von Rênal wiederzusehen. Zunächst ging er zu seinem ersten Gönner, dem alten Pfarrer Chélan. Der empfing ihn sehr ernst.
»Glauben Sie mir irgendwelchen Dank schuldig zu sein?« fragte er, ohne Julians Gruß zu erwidern. »Sie werden mit mir frühstücken. Inzwischen wird man Ihnen ein frisches Pferd besorgen, auf dem Sie Verrières verlassen werden, ohne hier irgendeinen Besuch gemacht zu haben.«
»Befehl und Gehorsam ist eins!« antwortete Julian im Seminaristentone. Des weitern war nur von theologischen Dingen und der alten lateinischen Literatur die Rede.
Nach dem Frühstück saß Julian auf, trabte eine Stunde weit, bis er an einen Wald kam. Sich vergewissernd, daß ihn niemand beobachtete, ritt er hinein. Als die Sonne unterging, ließ er das Pferd nach der Stadt zu laufen. Etwas später trat er bei einem Bauern ein, erhandelte von ihm eine Leiter und bewog ihn, sie ihm bis an das kleine Gehölz oberhalb der Stadtpromenade von Verrières zu tragen.
»Wahrscheinlich helfe ich einem fahnenflüchtigen armen Rekruten oder einem Schmuggler«, dachte der Bauer bei sich, als er sich von Julian verabschiedete. »Aber was geht mich das an! Meine Leiter ist gut bezahlt, und ich habe selber in meinem Leben so manchen Sturm erlebt!«
Die Nacht war stockdunkel. Gegen ein Uhr morgens kam Julian mit seiner Leiter in die Nähe des Rênalschen Hauses. Dort stieg er hinab in die Schlucht des Gebirgsbaches, der in einem zu beiden Seiten ausgemauerten, etwa drei Meter tiefen Bett das Grundstück des Bürgermeister durchfloß. Mit Hilfe seiner Leiter gelangte er in den schönen Garten. Während er Terrasse auf Terrasse, deren Gittertüren alle geschlossen waren, erkletterte, dachte er bei sich: »Wie werden sich die Hunde verhalten? Davon hängt alles ab.«
Die Hunde, die am Hause lagen, schlugen von weitem an und kamen ihm in großen Sprüngen entgegen. Julian rief sie leise. Wedelnd näherten sie sich ihm. Schließlich stand er unter Frau von Rênals Schlafzimmer, das nach der Gartenseite zu nur zwei bis drei Meter über dem Erdboden gelegen war.
Die Läden des Fensters hatten einen herzförmigen Ausschnitt. Julian wußte das. Zu seiner großen Betrübung schimmerte durch dieses Loch kein Nachtlampenschein.
»Allmächtiger!« sagte er sich. »Sollte sie heute nacht woanders schlafen? Wo aber? Die Familie ist offenbar da. Wäre sie in Vergy, so wären die Hunde mit. In ein dunkles Zimmer kann ich unmöglich eindringen. Herr von Rênal oder ein Gast könnte drin schlafen. Das gäbe einen Mordsskandal!«
Das klügste wäre der Rückzug gewesen, aber den hielt Julian für schimpflich. »Wenn ein Gast drin liegt«, überlegte er, »dann lasse ich meine Leiter stehen und drücke mich schleunigst wieder. Und wenn sie drin ist: wie wird sie mich empfangen? Sie ist reumütig und sehr fromm geworden. Das darf ich nicht bezweifeln. Aber schließlich muß sie doch noch an mich denken. Sonst hätte sie mir nicht neulich den Geldbrief gesandt.«
Das gab den Ausschlag.
Klopfenden Herzens, aber fest entschlossen, sie in seine Arme zu drücken, und wenn er dabei umkommen sollte, warf er ein Steinchen gegen den Laden. Keine Antwort. Er legte seine Leiter seitwärts vom Fenster an, stieg hinauf und klopfte mit der Hand an den Laden, erst ganz leise, dann stärker. »So dunkel es ist: schießen könnte man doch auf mich«, dachte er, und der Gedanke an diese Möglichkeit machte ihm sein tolles Abenteuer zu einem Bravourstück.
»Das Zimmer ist heute nacht offenbar unbewohnt«, sagte er weiter, »denn wenn jemand drin schläft, muß er nun wach sein. Hier ist keine Vorsicht mehr nötig. Nur muß ich mich in acht nehmen, daß ich niemanden aufwecke, der in einem der Zimmer nebenan schläft.«
Er kletterte wieder hinunter, lehnte die Leiter gegen einen der Fensterflügel und stieg abermals hinauf. Jetzt steckte er einen Arm durch die herzförmige Öffnung und suchte nach dem eisernen Haken, durch den der Flügel am Fensterkreuz befestigt war. Zum Glück fand er ihn rasch. Er zog den Haken hoch und merkte zu seiner unsäglichen Freude, daß dieser Flügel nicht mehr festsaß und ohne weiteres geöffnet werden konnte. »Ich muß ihn leise aufmachen und mich durch meine Stimme zu erkennen geben«, beschloß er. Er öffnete den Flügel so weit, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Mit gedämpfter Stimme rief er zwei-, dreimal: »Gut Freund!«
Er horchte gespannt und überzeugte sich, daß sich in der tiefen Stille drinnen auch nicht das Leiseste rührte. Es brannte wirklich kein Nachtlicht auf dem Kamin, nicht einmal ein verglimmendes. Das war ihm ein schlimmes Zeichen.
»Wie schön könnte mich einer abschießen!« dachte er abermals. Er überlegte sich, was zu tun sei; dann wagte er es, mit dem Zeigefinger an die Scheibe zu klopfen. Es rührte sich noch nichts. Er klopfte stärker. »Zum Teufel!« dachte er. »Und wenn ich die Scheibe zerschlagen sollte. Ich muß wissen, woran ich bin.« Als er nun ganz laut klopfte, kam es ihm vor, als husche drinnen ein lichter Schatten durch das Dunkel. Kein Zweifel. Er sah eine weiße Gestalt, die sich langsam dem Fenster näherte. Plötzlich erblickte er ein Gesicht hinter der Scheibe, durch die sein Blick spähte.
Er erschrak und fuhr ein wenig zurück. Die Nacht war so finster, daß er sogar auf die nahe Entfernung nicht bestimmt erkennen konnte, ob es Frau von Rênal sei. Er hatte Angst, man könne um Hilfe rufen. Die Hunde umschnupperten das Fußende seiner Leiter und knurrten dumpf. Er hörte es. Abermals flüsterte er: »Ich bin es! Dein Freund!« Alles blieb still und stumm. Der weiße Schatten war verschwunden.
»Um alles in der Welt: öffne mir!« bat Julian. »Ich muß dich sprechen. Ich bin zu unglücklich!«
Nochmals pochte er derb an die Scheibe. Sie sollte zerspringen. Da vernahm er ein kurzes hartes Geräusch. Der Fensterriegel war aufgesprungen. Julian stieß das Fenster auf und sprang behend in das Zimmer.
Die weiße Gestalt wich vor ihm in die Tiefe des Gemachs. Julian faßte sie beim Arm. Es war eine Frau. Alle seine tapferen Gedanken waren weg. »Wenn sie es ist: was wird sie sagen?« fuhr es ihm durch das Hirn. Als er an einem leisen Schrei erkannte, daß es die Gesuchte war, verließen ihn fast die Sinne.
Er preßte Frau von Rênal in seine Arme. Sie zitterte und stieß ihn mühsam zurück.
»Unseliger! Was tun Sie?«
Diese Worte waren kaum vernehmbar, aber Julian hörte aus ihnen die echteste Entrüstung.
»Nach vierzehn Monaten grausamer Trennung komme ich wieder zu dir!« flüsterte er.
»Fort! Verlassen Sie mich auf der Stelle!« Sie stieß ihn mit ungewöhnlicher Kraft von sich. »Ach, warum hat mich Chélan abgehalten, ihm zu schreiben? Dann wäre mir diese Abscheulichkeit erspart geblieben! Ich bereue meine Sünde. Der Himmel hat die Gnade gehabt, mir die Augen zu öffnen.« Und mit ersterbender Stimme wiederholte sie: »Fort! Fliehen Sie!«
»Nein!« sagte Julian ernst und fest. »Nach vierzehn Monaten des Leids gehe ich nicht von dir, ohne mit dir gesprochen zu haben. Ich will wissen, wie es dir ergangen ist. Ich habe dir genug Liebe bewiesen, um dies Vertrauen zu verdienen. Ich muß alles wissen.«
Sein gebieterischer Ton drang ihr ins Herz, sosehr sie sich dagegen sträubte. Bis jetzt hatte Julian sie fest in seinen Armen gehalten und ihre Befreiungsversuche abgewehrt. Nun ließ er sie los. Das beruhigte Frau von Rênal ein wenig.
»Ich will die Leiter heraufziehen«, sagte er. »Sie könnte uns verraten, falls einer der Leute durch den Lärm aufgewacht sein sollte und einen Rundgang macht.«
»Nein! Gehen Sie! Gehen Sie!« gebot Frau von Rênal in wundervollem Zorn. »Was kümmern mich die Leute? Gott sieht die schändliche Szene doch, die Sie mir bereiten! Er wird mich dafür strafen. Sie nützen in unritterlicher Weise eine Zuneigung aus, die ich einmal für Sie gehegt habe, aber nicht mehr hege. Verstehen Sie mich, Herr Julian?«
Behutsam, um keinen Lärm zu verursachen, zog er die Leiter ins Zimmer.
»Dein Mann ist in der Stadt?« fragte er, nicht um sie zu höhnen, sondern ganz wie ehedem.
»Ich bitte Sie inständig, sprechen Sie nicht so zu mir. Oder ich rufe meinen Mann. Ich bin schon schuldig genug, daß ich Sie nicht sogleich weggewiesen habe, gleichgültig, was geschehen wäre.«
Mit den letzten Worten wollte sie seinen Stolz verletzen, dessen Empfindsamkeit sie so gut kannte.
Die Verweigerung des Du, dieses unbarmherzige Zerreißen eines zärtlichen Bandes steigerte seiner Liebe Überschwang zur Raserei.
»So! Also lieben Sie mich nicht mehr!« klagte er in rührendem Herzeleid.
Frau von Rênal blieb stumm.
Er weinte bitterlich. Tatsächlich hatte er nicht mehr die Kraft, zu reden.
Nach einer Weile sagte er: »So bin ich also ganz vergessen von dem einzigen Wesen, das mich jemals geliebt hat! Wozu weiterleben?«
All sein Mut war von ihm gewichen, seitdem er die Gefahr der Begegnung mit einem Manne nicht mehr zu fürchten hatte. Nichts war in seinem Herzen, nur noch die Liebe.
Lange weinte er vor sich hin. Er nahm ihre Hand. Sie wollte sie ihm entziehen, aber nach ein paar krampfhaften Versuchen ließ sie sie ihm. Es war stockfinster. Sie hatten sich unwillkürlich nebeneinander auf Frau von Rênals Bett gesetzt.
»Wie anders war es vor vierzehn Monaten!« dachte Julian, und seine Tränen flössen noch stärker. »So vernichtet das Fernsein erbarmungslos jedes Gefühl im Menschen!«
»Seien Sie so gütig und erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen ist!« bat er schließlich mit tränenerstickter Stimme, als ihn sein Schweigen zu quälen begann.
Frau von Rênal erwiderte in einem Tone, dessen harter Klang Julian lieblos und vorwurfsvoll berührte. »Als Sie fortgingen von Verrières, war meine Verfehlung stadtbekannt. Ihr Verhalten war ja vielfach unvorsichtig gewesen. Bald darauf, als ich nahe daran war, völlig zu verzweifeln, suchte mich der ehrwürdige Pfarrer Chélan auf. Lange Zeit bemühte er sich vergeblich, mich zum Geständnis zu bringen. Eines Tages kam er auf den Gedanken, mich in die Kirche von Dijon zu führen, wo ich eingesegnet worden bin. Dort fand ich den Mut, ihm zum ersten Male ...«
Frau von Rênal vermochte vor Tränen nicht weiterzureden.
»Ach, welch eine Stunde der Schmach! Ich habe ihm alles gestanden. Der Gute schmetterte mich nicht mit seiner Verachtung zu Boden. Er war mild. Er teilte meinen Schmerz. Bis dahin hatte ich Ihnen Tag für Tag einen Brief geschrieben, aber niemals abzuschicken gewagt. Ich hatte diese Briefe sorgsam aufbewahrt. Und wenn ich ganz unglücklich war, schloß ich mich in mein Zimmer und las in meinen eigenen Briefen ... Der Pfarrer Chélan setzte es durch, daß ich ihm die Blätter einhändigte. Etliche, die vorsichtigeren, die hatte ich Ihnen geschickt. Aber Sie haben nie geantwortet...«
»Nie«, unterbrach Julian sie, »das schwöre ich dir, nie habe ich im Seminar einen Brief von dir erhalten!«
»Großer Gott! Wer mag sie aufgefangen haben?«
»Stelle dir mein Leid vor! Bis zu dem Tage, da ich dich in der Kathedrale sah, wußte ich nicht, ob du noch lebtest!«
»Gott war gnädig und ließ mich erkennen, wie sehr ich mich an Ihm versündigt hatte, an Ihm, an meinen Kindern und an meinem Gatten. Er hat mich niemals so geliebt, wie ich damals von Ihnen geliebt zu werden glaubte ...«
Julian umarmte sie, ohne jedwede Absicht, willenlos. Aber Frau von Rênal stieß ihn zurück und immer noch leidlich fest fuhr sie fort: »Mein ehrwürdiger Freund Chélan hat es mir begreiflich gemacht, daß ich mich Herrn von Rênal, seit ich seine Ehefrau geworden, mit Leib und Seele verschrieben habe, bis in die höchsten Gefühle, die mir unbekannt waren, ehe ich sie in meiner sündigen Liebe erlebte ... Seit der schmerzlichen Hingabe der mir so teuren Briefe ist mein Dasein, wenn auch nicht glücklich, so doch einigermaßen ruhig. Stören Sie meinen Frieden nicht! Seien Sie mein Freund ... mein bester Freund!«
Julian bedeckte ihre Hände mit Küssen. Da merkte sie, daß er noch immer weinte.
»Weinen Sie nicht!« bat sie. »Machen Sie es mir nicht so schwer! Erzählen Sie mir nun auch, wie es Ihnen ergangen ist.«
Julian vermochte nicht zu sprechen.
»Ich möchte wissen«, begann sie von neuem, »wie Sie im Seminar gelebt haben. Dann aber müssen Sie gehen.«
Ohne daß sich Julian klar ward, was er sagte, erzählte er von den zahllosen Ränken und Eifersüchteleien, deren Opfer er zunächst gewesen, und von seinem ruhigeren Dasein, als er dann Repetitor geworden war.
»Gerade um diese Zeit«, berichtete er, »brachen Sie Ihr langes Schweigen, das mir wohl begreiflich machen sollte, was ich heute nur zu gut erkenne: daß Sie mich nicht mehr lieben, daß ich Ihnen gleichgültig geworden bin ...«
Frau von Rênal drückte ihm die Hände.
»Damals erhielt ich von Ihnen die fünfhundert Franken ...«
»Von mir? Niemals!« beteuerte Frau von Rênal.
»In einem Briefe mit dem Poststempel Paris, unterzeichnet ›Paul Sorel ‹, offenbar um jeden Verdacht abzulenken.«
Es entstand eine kleine Erörterung, wer den Brief wohl abgesandt habe. Dadurch änderte sich die ganze Stimmung. Unbewußt gaben Frau von Rênal sowohl wie Julian das Pathetische auf. Sie fanden sich beide in die Art und Weise ihrer alten zärtlichen Freundschaft zurück. Sie sahen einander nicht, so dicht war die Dunkelheit, aber der Klang ihrer Stimmen sagte alles. Julian legte den Arm um seine Freundin. Sie fühlte, wie gefährlich dies war, und so versuchte sie, sich wieder frei zu machen. Aber durch eine spannende Einzelheit seiner Erzählung gewann Julian recht geschickt gerade jetzt ihre volle Aufmerksamkeit, so daß die Abwehr des Armes wie aus Vergeßlichkeit unterblieb.
Nach langem Hin- und Herraten über den Ursprung des Briefes und der fünfhundert Franken setzte Julian seinen Lebensbericht fort. Dabei wurde er mehr und mehr wieder Herr seiner selbst. Die Vergangenheit, von der er sprach, bewegte ihn angesichts dessen, was er eben erlebte, nur wenig. Der Strom seiner Gedanken richtete sich einmütig auf den Ausgang seines nächtlichen Besuches. Von Zeit zu Zeit wurde ihm kurzerhand wiederholt: »Sie müssen gehen!«
»Was für eine Schande wäre es für mich, wenn ich mich hinauskomplimentieren ließe!« sagte er sich. »Die Reue darüber würde mir mein ganzes Leben vergiften. Sie wird mir nie schreiben, und Gott weiß, wann ich je wieder in diese Gegend komme!«
Von diesem Augenblick an war alles Hohe und Hehre aus seinem Herzen gewichen. Ein angebetetes Weib dicht neben sich, saß er in demselben Gemache, in dem er einst so glücklich war, in tiefdunkler stiller Nacht; er wußte, daß sie seit einer Weile weinte; er fühlte am Wogen ihres Busens, daß sie krampfhaft schluchzte, und doch wurde er mit einemmal ein kalter, herzloser, lauernder Beobachter, kaum anders als im Seminarhofe unter den schlechten Witzen seiner ihm körperlich überlegenen Kameraden.
Er zog seine Erzählung in die Länge und schilderte das unselige Leben, das er seit seinem Scheiden aus Verrières geführt hatte.
Frau von Rênal dachte sich: »Also hat er noch nach einem Jahre der Trennung, ohne Beweise, ob ich seiner gedachte, nur an die glücklichen Tage von Vergy gedacht! Und ich, ich hatte ihn vergessen!«
Ihr Schluchzen ward heftiger. Julian erkannte den Erfolg seiner Erzählung. Er ward sich klar, daß er das letzte Mittel versuchen mußte, und ohne Übergang begann er von dem Briefe zu reden, der ihn nach Paris berief. »Ich habe mich von Seiner Hochwürden dem Bischof verabschiedet...«, sagte er.
»Wie? Sie gehen nicht nach Besançon zurück? Sie verlassen uns?«
»So ist es«, entgegnete er in festestem Tone. »Ich verlasse ein Land, wo ich selbst von der vergessen bin, die ich über alles in der Welt geliebt habe. Ich verlasse es auf Nimmerwiedersehn. Ich gehe nach Paris...«
»Du gehst nach Paris?« fragte Frau von Rênal erschrocken.
In Tränen erstickend, vermochte sie diese Worte kaum hervorzubringen. Dies Zeichen ihrer höchsten Verwirrung brauchte Julian zu seiner Ermutigung. Er stand im Begriff, etwas zu wagen, was ihm leicht alles verderben konnte. Da er vor Dunkelheit nichts sehen konnte, so wußte er vor ihrem Aufschrei nicht, welchen Erfolg er bisher haue. Nun zögerte er nicht mehr. Die Furcht vor späterer Reue gab ihm die volle Selbstbeherrschung wieder. Er erhob sich und sagte in kühlem Tone: »Jawohl, gnädige Frau, ich verlasse Sie für immer. Seien Sie glücklich! Leben Sie wohl!«
Er machte ein paar Schritte dem Fenster zu. Er öffnete es bereits. Da stürzte ihm Frau von Rênal nach und hängte sich an seinen Hals.
So erreichte Julian nach dreistündigem Gespräch das Ziel, das er in den beiden ersten Stunden ihres Beisammenseins so leidenschaftlich begehrt hatte. Frau von Rênal hätte ihm ein wenig früher die Zärtlichkeit der alten Liebe gewähren und ihrer sittsamen Bedenken eher Herr werden sollen; dann hätte er ein göttliches Glück genossen. Was er nunmehr durch Diplomatie erlangte, war ihm nichts als Sinnenlust.
Er bestand darauf, trotz der Einwände seiner Geliebten, daß ein Nachtlicht angezündet ward.
»Soll ich gar keine Erinnerung an dein Gesicht mit in die Fremde nehmen?« klagte er. »Soll die Liebe, die in deinen süßen Augen leuchtet, ewig für mich verloren sein? Soll mir deine liebe weiße Hand nicht durch meine Träumereien schimmern? Denke daran, daß ich dich vielleicht für sehr lange verlasse!«
Frau von Rênal vermochte diese Bitte nicht mehr abzuwehren, deren Begründung sie zu neuen Tränen rührte. Aber schon begann der Morgen zu dämmern. Im Osten, am Horizont, bekamen die Fichten auf der Gebirgssilhouette haarscharfe Umrisse. Jetzt hätte Julian gehen müssen. Statt dessen bat er im Banne der Wollust Frau von Rênal, sie solle ihn den ganzen Tag über im Zimmer versteckt halten und ihn erst in der nächsten Nacht scheiden lassen.
»Warum nicht?« gab sie zur Antwort. »Mein schlimmer Rückfall in die alte Sünde nimmt mir alle Selbstachtung und bringt mir für immerdar Unglück.« Sie drückte den Geliebten an ihr Herz. »Mein Mann ist nicht mehr wie früher. Er ist argwöhnisch und immer gereizt gegen mich. Er kann nicht vergessen; er glaubt, ich hätte ihn hintergangen. Wenn er das geringste Geräusch hört, bin ich verloren. Er würde mich aus dem Hause jagen. Ach, bin ich unglücklich!«
»Ich höre den Pfarrer Chélan reden«, spottete Julian. »Vor unsrer grausamen Trennung, ehe ich ins Seminar ging, da hättest du nicht so gesprochen! Damals liebtest du mich!«
Die Kaltblütigkeit, mit der er diese Worte hervorbrachte, belohnte sich. Er sah, wie seine Freundin plötzlich die Gefahr vergaß, die ihres Mannes Nähe ihr bereitete, eine viel größere Gefahr vor Augen: Julians Zweifel an ihrer Liebe.
Das Tageslicht nahm rasch zu. Schon war das Zimmer völlig hell. Aufs neue schwelgte Julian in allen Lüsten seines Stolzes, als er dieses entzückende Weib in seinen Armen und fast zu seinen Füßen erblickte, das einzige menschliche Wesen, das er je geliebt, und das noch vor wenigen Stunden aus grenzenloser Furcht vor Gottes Rache nichts anerkennen wollte als die Pflichten seiner Ehe. Die durch ein ganzes Jahr der Standhaftigkeit gefestigten Vorsätze hatten sich vor seinem Mute nicht behaupten können.
Bald ward es im Hause lebendig. Frau von Rênal hatte an eines nicht gedacht, und das beunruhigte sie jetzt.
»Wenn Elise das Zimmer betritt, wird das boshafte Ding deine Riesenleiter bemerken. Wo verstecken wir sie? Ich werde sie auf den Boden tragen. Was denkst du?«
Sie lachte in einer plötzlichen Anwandlung von Heiterkeit.
Erstaunt entgegnete Julian: »Da müßtest du doch durch die Stube des Dieners.«
»Ich stelle die Leiter einstweilen in den Gang, rufe den Diener heraus und schicke ihn mit einem Auftrag fort.«
»Vergiß auch nicht, dir eine Ausrede zu überlegen für den Fall, daß der Mensch die Leiter stehen sieht, wenn er daran vorbeigeht.«
»Gewiß, mein Engel«, sagte Frau von Rênal und gab ihm einen Kuß. »Und vergiß du nicht, dich schnell unter das Bett zu verstecken, wenn Elise in meiner Abwesenheit hereinkäme.«
Julian war über Frau von Rênals plötzliche Fröhlichkeit betroffen. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Die Nähe einer handgreiflichen Gefahr erweckt nicht Unruhe in ihr, sondern Frohsinn. Offenbar, weil sie dabei ihre Reue vergißt. Wahrlich, eine hochgemute Frau! Welch ein Triumph, in solch einem Herzen zu herrschen!«
Julian war begeistert.
Frau von Rênal ergriff die Leiter. Julian, im Glauben, sie sei zu schwer für sie, sprang ihr bei. Aber sie nahm sie ohne seine Hilfe, als hebe sie einen Stuhl. Julian bewunderte ihre schlanke Gestalt, die so viel Kraft nicht verriet.
Sie trug die Leiter rasch in den Gang des zweiten Stocks und legte sie daselbst an der Wand zu Boden. Dann rief sie den Diener. Um ihm Zeit zum Ankleiden zu geben, stieg sie bis zum Taubenschlag. Als sie nach fünf Minuten wieder in den Gang kam, war die Leiter nicht mehr da. »Wo ist sie hin?« fragte sie sich. Wenn Julian nicht mehr im Hause gewesen wäre, hätte sie dies nicht beunruhigt. So aber, wenn ihrem Manne die Leiter auffiel: was dann? Dieser Nebenumstand konnte die schrecklichsten Folgen haben.
Frau von Rênal suchte das ganze Haus ab. Endlich entdeckte sie die Leiter unter dem Dache. Der Diener hatte sie dorthin getragen, offenbar um sie zu verstecken. Das dünkte Frau von Rênal sonderbar, aber sie behielt ihre Ruhe.
»Was kümmerts mich«, dachte sie bei sich. »In vierundzwanzig Stunden ist Julian über alle Berge. Mag dann geschehen, was will! Für mich gibt es sowieso nur Qual und Pein.«
Sie hatte die vage Vorstellung, daß sie ihr Leben lassen müsse. Was lag ihr am Dasein? Sie hatte geglaubt, von ihrem Geliebten auf immerdar getrennt zu sein, und doch war er ihr noch einmal wiedergeschenkt worden. Sie hatte ihn von neuem in ihren Armen gehabt. Und was alles er gewagt, um zu ihr zu dringen, bewies das nicht die große Liebe?
Sie berichtete Julian, was sich mit der Leiter ereignet hatte. Sodann fragte sie ihn: »Was soll ich meinem Manne sagen, wenn er durch den Diener erfährt, daß sich im Hause eine fremde Leiter gefunden hat?«
Sie sann eine kleine Weile nach. »Vielleicht bekommt er heraus, woher die Leiter ist. Aber vor vierundzwanzig Stunden auf keinen Fall!« Sie warf sich in Julians Arme und drückte ihn krampfhaft an sich. »Ach, so sterben!« rief sie und küßte ihn inbrünstig. Mit einemmal lachte sie wieder und meinte: »Deswegen sollst du aber hier nicht verhungern! Komm! Zunächst stecke ich dich in Frau Dervilles Zimmer, das stets verschlossen ist.«
Sie ging an das Ende des Ganges, um zu erspähen, ob jemand komme. Julian lief flink in die Fremdenstube.
»Mach ja nicht auf, wenn jemand klopfen sollte! Es wären höchstens die Kinder aus Unsinn bei ihrem Spiele.«
»Laß die Jungen einmal in den Garten unter das Fenster kommen! Ich möchte sie gern sehen. Laß sie sprechen!«
»Ja, ja!« rief Frau von Rênal im Hinausgehen und schloß den Geliebten ein.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder, mit Apfelsinen, Zwieback und einer Flasche Malaga. Brot beiseite zu schaffen war ihr nicht möglich gewesen.
»Was macht dein Mann?« fragte Julian.
»Er setzt mit ein paar Bauern Kaufverträge auf.«
Es schlug acht Uhr. Jetzt ward es laut im Hause. Wenn die Hausherrin nicht zu sehen gewesen wäre, hätte man sie überall gesucht. Somit war sie gezwungen, Julian zu verlassen.
Nach einer Weile kam sie abermals zu ihm herauf und brachte ihm, jedweder Vorsicht zum Trotz, eine Tasse Kaffee. Sie fürchtete, er könne Hunger leiden. Nach dem Frühstück lockte sie die Kinder unter das Fenster des Gastzimmers. Julian fand, sie seien gewachsen, aber sie kamen ihm gewöhnlich vor. »Ist es so, oder habe ich sie früher mit andern Augen angeschaut?« fragte er sich. Er hörte, wie ihre Mutter mit ihnen von ihm sprach. Der Älteste bekundete Freundschaft und Verlangen nach dem früheren Hauslehrer, aber die beiden jüngeren hatten ihn wohl schon halb vergessen.
Herr von Rênal ging an diesem Vormittag nicht aus. Fortwährend lief er im Hause umher, treppauf, treppab, damit beschäftigt, Lieferungsverträge mit Bauern abzuschließen, die ihm seine Kartoffelernte abnehmen sollten. Bis zur Hauptmahlzeit konnte Frau von Rênal ihrem Gefangenen keinen Augenblick widmen.
Als zu Tisch geläutet wurde und angerichtet war, geriet sie auf den Gedanken, ihm einen Teller heißer Suppe hinaufzuschaffen. Vorsichtig tat sie das, aber im Gange, als sie sich leise der Türe näherte, hinter der Julian eingeschlossen war, erblickte sie plötzlich den Diener, der am Morgen die Leiter versteckt hatte. Er kam ebenfalls leise durch den Gang, als ob er horchen wollte. Wahrscheinlich war Julian unvorsichtig hin und her gegangen. Verlegen entfernte sich der Diener.
Frau von Rênal betrat kühn das Zimmer. Julian erschrak, als er von der Begegnung vernahm.
»Du hast Angst!« sagte sie. »Ich werde allen Gefahren der Welt trotzen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur eines fürchte ich: den Augenblick, wo ich wieder allein bin, wenn du fort bist.«
Rasch war sie wieder hinaus.
»Ach!« sagte Julian begeistert. »Die Reue ist die einzige Gefahr, vor der dieser erhabenen Seele bangt.«
Endlich ward es Abend. Herr von Rênal begab sich in den Klub. Frau von Rênal schützte heftige Kopfschmerzen vor und zog sich in ihr Zimmer zurück. Elise wurde baldigst entlassen. Dann machte sich Frau von Rênal rasch wieder zurecht und ließ Julian ein.
Er war in der Tat halb verhungert. Sie ging in die Speisekammer, um Brot zu holen. Kaum war sie fort, da hörte Julian einen Schrei.
Sie kam zurück und erzählte ihm, sie sei ohne Licht in die Speisekammer gegangen. Da habe sie plötzlich am Brotschrank einen weiblichen Arm gefaßt. Es sei Elise gewesen, deren Schrei er wohl gehört habe.
»Was machte sie dort?«
»Entweder war sie beim Naschen, oder sie spioniert«, meinte Frau von Rênal mit völliger Gleichgültigkeit.
»Glücklicherweise habe ich eine Pastete und ein Schwarzbrot erwischt.«
»Und was hast du darin?« fragte er, auf ihre Schürzentaschen deutend.
Frau von Rênal hatte vergessen, daß sie nach Tisch Brötchen eingesteckt hatte. Leidenschaftlich verliebt schloß Julian seine Freundin in die Arme. Noch nie war sie ihm so schön erschienen. Wie vor einer Vision dachte er: »Selbst in Paris werde ich keiner so großen Seele begegnen.« In ihr einte sich das unbeholfene Wesen einer Frau, die an derartige Abenteuer nicht gewöhnt ist, mit dem echten Mut eines Menschen, der irdischer Gefahren nicht achtet.
Julian aß mit großem Appetit, während seine Freundin über sein frugales Mahl scherzte. Es graute ihr, ernste Dinge zu sagen. Da wurde plötzlich kräftig an der Tür gerüttelt. Es war Herr von Rênal.
»Warum hast du dich eingeschlossen?« fragte er grob.
Julian hatte kaum Zeit, unter das Sofa zu kriechen.
»Noch völlig angezogen?« sagte der in das Zimmer Eintretende. »Du ißt zu Abend und riegelst dich ein?«
Frau von Rênal verlor ihre Ruhe nicht. An jedem andern Tage hätte die barsch-ehemännische Frage sie empört und verwirrt. So aber dachte sie kaltblütig daran, daß sich ihr Gatte nur ein wenig zu bücken brauchte, um Julian zu erblicken. Hatte er sich doch in den Lehnstuhl gesetzt, der dem Sofa gegenüberstand. Eben noch hatte Julian daselbst gesessen.
»Du weißt, ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie kurz.
Nun erzählte ihr Herr von Rênal lang und breit von der Billardpoule, die er im Klub gewonnen hatte. »Ich sage dir, eine Poule von neunzehn Franken! Das war eine Sache!«
Gerade als er dies sagte, erblickte sie Julians Hut auf dem andern Lehnstuhle. Ihre Ruhe verdoppelte sich. Sie begann sich auszukleiden. Im rechten Augenblick schlüpfte sie hinter den Gatten und warf ein Kleidungsstück über den Stuhl mit dem Hut.
Endlich ging Herr von Rênal.
Sie bat Julian, ihr noch einmal sein Leben im Seminar zu schildern. »Gestern habe ich dir gar nicht recht zugehört. Während du erzähltest, habe ich nur daran gedacht, mich zu zwingen, dich fortzuschicken.«
Sie ließ jede Vorsicht außer acht. Beide unterhielten sich ziemlich laut. Es mochte nachts zwei Uhr sein, als es zu ihrem Schreck plötzlich gegen die Türe donnerte. Wiederum war es Herr von Rênal.
»Mach schnell auf!« rief er. »Es sind Einbrecher im Hause. Ich habe Stimmen gehört. Johann hat heute früh eine fremde Leiter gefunden.«
»Jetzt ist alles aus!« flüsterte Frau von Rênal und fiel in Julians Arme. »Er wird uns alle beide töten. Das mit den Einbrechern, das sagte er bloß so. Ich will in deinen Armen sterben, glücklicher im Tode, als ich im Leben war!«
Ihrem Manne gab sie keine Antwort. Er schimpfte draußen, während sie Julian innig an sich drückte.
»Erhalte deinem Stanislaus die Mutter!« gebot ihr Julian in herrischem Tone. »Ich werde durch das Fenster im Kabinett nebenan in den Hof springen und mich durch den Garten retten. Die Hunde tun mir nichts. Sie haben mich wiedererkannt. Binde meine Kleider zu einem Bündel und wirf sie, sobald du kannst, in den Garten! Laß ihn nur die Türe eintreten. Und vor allem nichts eingestehen! Das verbiete ich dir! Verdacht ist immer besser als Gewißheit.«
»Du wirst beim Hinabspringen das Genick brechen!«
Das war ihre einzige Antwort und ihre einzige Sorge. Sie geleitete ihn an das Fenster des Kabinetts, dann versteckte sie bedächtig seine Kleider, und schließlich öffnete sie ihrem wutschnaubenden Manne.
Ohne ein Wort zu sagen, blickte er sich im Zimmer um, ebenso im Kabinett. Dann verschwand er wieder.
Julian bekam seine Sachen nachgeworfen. Er fing sie auf und eilte durch den Garten, abwärts dem Doubs zu. Im Laufen hörte er eine Kugel pfeifen und gleichzeitig den Knall eines Flintenschusses. »Das ist Rênal nicht!« dachte er. »So gut schießt der nicht!« Die Hunde liefen mit ihm, ohne zu bellen. Ein zweiter Schuß knallte. Offenbar war einer der Hunde in die Pfote getroffen, denn er begann kläglich zu heulen.
Julian sprang eine Terrassenmauer hinunter und lief etwa fünfzig Schritte in der Deckung hin. Dann lief er wieder abwärts. Er vernahm Stimmen, die sich gegenseitig zuriefen, und deutlich erkannte er den Diener, seinen alten Feind, wie er einen Schuß auf ihn abgab. Aber schon hatte Julian den Fluß erreicht. Dort zog er sich an. Eine Stunde später war er bereits ein beträchtliches Stück von Verrières fort, auf der Landstraße nach Genf.
»Wenn man mich verfolgt, so sucht man mich auf der Straße nach Paris!« sagte er sich.