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Elftes Kapitel.
Erziehung zur Ehe

Traurige Eheverhältnisse – Die ideale Ehe – Probeehe – Zartsinn und Herzenstakt – Die »kleine Che« – Ehescheidung – »Herzenshärtigkeit« – Massenpsyche – Erziehungsreform – Unterweisung für Eheleute – Enttäuschungen – Der fremde Herr – Wahrung des Besitzes – Das Wohl der Kinder.

 

Erhofft Schleiermacher für sich und Henriette auf Grund der beiderseitigen Qualitäten ein ideales Eheleben, so ist es ihm keineswegs fremd geblieben, wie übel es im allgemeinen nach dieser Richtung in der Welt bestellt ist. An seine Schwester Charlotte schreibt er (22. 10. 1797): »Nichts ist jetzt allgemeiner als traurige Eheverhältnisse, und wenn das zu Christi Zeiten mehr die Härtigkeit des Herzens bewies, so scheint es jetzt mehr von der Erbärmlichkeit desselben herzurühren, davon, daß es die Leute von Anfang an mit ihrem Leben und Lieben auf nichts Ordentliches anlegen und keinen Begriff und keinen Zweck damit verbinden«; und vier Jahre später (10. 11. 1801): »Überhaupt ist in der Welt nichts so schwierig als das Heiraten; wenn ich alle meine Bekannte in der Nähe und Ferne betrachte, so tut mir das Herz weh darüber, wie wenig glückliche Ehen es unter ihnen gibt.«

Noch weit absprechender und pessimistischer äußert sich Friedrich Schlegel in seiner Zeitschrift »Das Athenäum«: »Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, Ehen an der linken Hand, oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen.«

Wie es zu Christi und zu Schleiermachers Zeiten war, so verhält es sich unzweifelhaft auch heute noch. Nur wenige ideale Ehen sind gegründet auf geistige Übereinstimmung, Gesundheit an Leib und Seele, wechselseitiges Verständnis und völlige Erschließung alles inneren Erlebens, auf herzerfreuende Heiterkeit, gesicherte Existenz und gut geratene Kinder. In vielen Fällen würde man sich schon mit der Hälfte dieser Vorbedingungen für ein glückliches, harmonisches Familienleben begnügen, wenn nur der seelische Einklang, die Liebe zwischen den Gatten selbst vorhanden wäre. Indessen kommt man nicht an der traurigen Feststellung vorbei, daß es eine übergroße Zahl von Ehebündnissen gibt, die durch Gleichgültigkeit, Entfremdung oder Abneigung, ja durch Zwietracht und Haß innerlich zerrüttet sind. Die Ursachen dieser Erscheinung deutet Schleiermacher zum Teil an, indem er auf den Leichtsinn verweist, mit dem so viele Ehen eingegangen werden, und auf den mangelnden Ernst, der im Hinblick auf den tieferen Zweck der Ehe meistenteils bekundet wird.

Auch Nietzsche ist der Meinung, daß die Ehen vielfach zu schnell und unüberlegt geschlossen werden, und fordert vor der »großen Ehe« eine »kleine Ehe«, also eine Art Probeehe, ein Vorschlag, dem schon Goethe in seinen Wahlverwandtschaften, genau wie George Sand in der confession d'une jeune fille, unter Empfehlung einer fünfjährigen Dauer das Wort redet. »Euer Eheschließen: seht zu, daß es nicht ein schlechtes Schließen sei. Ihr schlosset zu schnell: so folgt daraus – ehebrechen! Und besser noch ehebrechen, als ehebiegen, Ehelügen! – so sprach mir ein Weib: wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe – mich! … Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, daß wir zusehen, ob wir zur großen Ehe taugen! Es ist ein großes Ding, immer zu zweien zu sein!« heißt es bei Nietzsche.

Und bei George Sand finden wir die Stelle: »Wir werden uns in Muße kennenlernen, und wenn wir nach einiger Zeit miteinander zufrieden sind, so werden wir der Idee nähertreten, uns nie zu verlassen. Wenn sich diese Idee aber als undurchführbar erweist, so werden wir sie verwerfen, ohne aufzuhören, uns zu achten und die besten Freunde der Welt zu sein.«

Die große französische Schriftstellerin stimmte mit Schleiermacher darin überein, daß die Liebe zwischen Mann und Weib die höchste schöpferische Macht in der Menschheit darstelle und aufs engste verwandt sei mit der Liebe zum Universum.

» L'homme est ainsi fait, que pour s'élever a l'idée de l'infini il lui faut d'abord passer par la flamme de l'amour conjugal.« Aber gerade weil nach ihrer Meinung aus der Liebe alle Kräfte zur Veredelung und Höherentwicklung der Persönlichkeit hervorwachsen, verwirft sie die Ehe, in welcher sie im wesentlichen nur ein Mittel zur Versklavung der Frau erblickt. Die Liebe soll über den gesellschaftlichen Gebräuchen stehen, um die Menschen zu größerer Vollkommenheit emporzuführen.

In einem Briefe an eine junge Dame, die George Sand wegen ihrer Verheiratung um Rat fragte, schreibt sie: »Ich kann niemandem eine Ehe anraten, die geheiligt ist durch ein Zivilgesetz, das die Abhängigkeit, die Unterordnung und soziale Nichtigkeit der Frau verfügt.« In der Ungleichheit der Bedingungen, in der Abhängigkeit des Weibes vom Manne sieht sie den Grund für die Tatsache, daß alle Liebe dieser Welt, trotz aller Vorzüge und Tugenden der vereinigten Seelen, mehr oder minder unglücklich sei. Deshalb fordert sie die volle Gleichberechtigung der Frau (und zugleich die fünfjährige Probeehe), die sie als die unerläßliche Vorbedingung für die Rehabilitation der Ehe erachtet.

Von der nämlichen Anschauung waren Robert und Elisabeth Browning beseelt. Auch ihnen war die Trauung nur eine äußere Form, und Elisabeth selbst wollte zunächst nichts weiter, »als daß er es einen Winter mit ihr versuchen sollte«. Würde er nach dessen Ablauf ihrer müde sein, so wolle sie ihren Maulesel satteln und nach Griechenland galoppieren.

Unter den Romantikern bietet August Wilhelm Schlegel insofern ein interessantes Beispiel für ein »zu schnelles Schließen« der Ehe, als es sich hier auf beiden Seiten – und zwar in beiden Ehen Schlegels – um geistig hochstehende Menschen handelte. Sowohl Karoline Michaelis-Böhmer, die nachmalige Gattin Schellings, wie Sofie Paulus waren reichbegabte und gemütstiefe Frauen mit liebehungrigen Herzen. Es erübrigt sich, die mannigfachen Liebesabenteuer Karolinens vor ihrer Ehe mit Schlegel in diesem Zusammenhang aufzuführen. Hier interessiert vor allem, daß beide Frauen sich durch die geistreiche, elegante Persönlichkeit Schlegels mit seinen feinen, weltmännischen Allüren bestechen ließen. Daneben war Karoline ihm allerdings zu lebhaftem Dank verpflichtet, weil er gerade in der Zeit ihres tiefsten Niedergangs mit großer Selbstlosigkeit sich ihrer angenommen hatte. Beide Frauen mußten indessen – Schlegel heiratete Sofie erst, als er einundfünfzig Jahre alt war – die Wahrnehmung machen, daß ihr Erwählter nicht denjenigen Zartsinn und Herzenstakt besaß, die allein die Gewähr für ein nachhaltiges Eheglück bei feinfühligen Frauen zu bieten vermögen. Die Ehe mit Karoline wurde nach siebenjähriger Dauer geschieden, während Sofie sich schon nach drei Monaten von Schlegel trennte und seelisch an dieser Enttäuschung zugrunde ging.

Der Fall ist deshalb typisch, weil gerade die Frauen der höheren Kreise sich so leicht von der feinen äußeren Kultur eines begabten Mannes blenden lassen, ohne daß hierin die erforderliche Garantie für das ersehnte Glück gegeben wäre. Er ist aber auch deshalb bemerkenswert, weil er die Tragödie der geistig hochstehenden Frau besonders scharf hervortreten läßt. Wo es dem Manne an jenem Herzenstakt gebricht – und wie wenigen Männern ist er zu eigen –, da wird ihm auch die feine Ehrfurcht vor der geistigen Persönlichkeit der sich ihm hingebenden Frau abgehen. Fehlt aber diese Ehrfurcht, die als undefinierbare Mischung von Zartsinn und Hochschätzung formgemäß zum Ausdruck kommen muß, da empfindet die hochstehende Frau ihre bedingungslose Hingabe, nach der ihr Weibtum sich sehnt, als ein Wegwerfen, das ihr die schwersten seelischen Konflikte bereitet. Die wenigsten Menschen ahnen die tiefen Tragödien, die gerade aus solchem Anlaß in der Seele so mancher geistig überlegenen Frau sich abspielen.

Der Gedanke der kleinen Ehe ist in Japan schon lange verwirklicht. Ob er auf unsere europäischen Verhältnisse übertragbar ist, mag dahingestellt bleiben. Unsere immer noch sehr mächtigen kirchlichen Kreise werden keinesfalls dafür zu haben sein. Eine weitere Schwierigkeit besteht namentlich in der Gewährleistung einer guten und geregelten Aufziehung der aus solchen »kleinen Ehen« hervorgegangenen Kinder. Nur wenn diese Garantie gegeben wäre oder die Ehe kinderlos bliebe, könnte die Verwirklichung des an sich erwägenswerten Vorschlags ernstlich in Betracht gezogen werden.

Ausführlicher geht Schleiermacher auf das Thema ein in seiner bereits erwähnten zweiten Predigt über die Ehe, die sich vorwiegend mit der Frage beschäftigt: »Was von der Auflösung der Ehe unter Christen zu halten sei«, und worin er als Hauptgrund für die Ehescheidungen, die »Härtigkeit der Herzen« bezeichnet. Diese findet er in der willkürlichen Trennung eines Menschen von seinem Volke, in der Vernachlässigung seiner Berufs- und Familienpflichten, in einem außerhäuslichen, übertriebenen Genußleben und in einer Beeinflussung der Kinder durch die Eltern, die Ehe nach Stellung und Vermögen, statt auf Grund von seelischer und geistiger Zusammenstimmung zu schließen.

Wohl will er diese Herzenshärtigkeit auf jegliche Weise, namentlich mit den Mitteln der Religion, bekämpft wissen, damit es keine Macht der Sünde mehr gebe, welche eine Ehe zu trennen vermöge. Aber ein durchgreifendes Mittel, wie dieser Herzenshärtigkeit erfolgreich zu begegnen sei, weiß auch er nicht anzugeben. Er erörtert in eindrucksvoller Weise die Vorbedingungen einer glücklichen Ehe und bespricht die menschlichen Schwächen und Mängel, die zur Entfremdung oftmals führen. Im übrigen beschränkt er sich auf eine Auslegung der diesbezüglichen Worte Jesu, sowie auf eindringliche Ermahnungen unter Hinweis auf die Gebote der christlichen Lehre. Das mag auf fromme Gemüter mit ohnehin gutartiger Veranlagung seinen Eindruck nicht verfehlen, namentlich wenn es mit der Beredsamkeit und dem sittlichen Ernst eines Schleiermacher vorgetragen wird. Trotz alledem ist die Welt in dieser Hinsicht eher schlechter als besser geworden, und es muß nach den Erfahrungen der verflossenen neunzehn Jahrhunderte höchst zweifelhaft erscheinen, ob die christlichen Vermahnungen in Wahrheit geeignet und ausreichend sind, bei der übergroßen Mehrzahl der Menschen glücklichere und harmonischere Eheverhältnisse zu bewirken.

Voltaire gibt mit einem drastischen Nachsatz der Meinung Ausdruck, daß die Scheidung wahrscheinlich ebenso alt sei wie die Ehe: »Ich glaube freilich, daß die Ehe einige Wochen älter ist, das heißt, nach vierzehn Tagen zankte man mit seiner Frau, nach vier Wochen schlug man sie, und nach sechs Wochen des Zusammenseins ließ man sich von ihr scheiden.«

Wie alle menschlichen Einrichtungen und Zustände, so wird auch das Institut der Ehe und das eheliche Leben immer in hohem Grade beeinflußt werden durch die soziale und wirtschaftliche Lage des ganzen Volkes. Aus ihr ergibt sich im wesentlichen die geistige und seelische Veranlagung der breiten Massen, die wiederum bedingt ist durch Klima, Rassenhygiene, national-soziale Kulturentwicklung und dergleichen mehr. Die Überzeugung gewinnt immer mehr an Boden, daß der einzelne Mensch in den letzten Jahrtausenden kaum eine moralische Höherentwicklung aufzuweisen hat. Soweit die allgemeinen Zustände einen sittlichen Fortschritt erkennen lassen, wird man ihn vorwiegend auf die Ergebnisse der Wissenschaft und ihre Ausbreitung zurückführen können. Sie hat eine Zunahme der Denkfähigkeit in den breiteren Volksschichten bewirkt, und durch ihre Beeinflussung von Kultur und Wirtschaft eine engere Verflechtung der wechselseitigen Interessen hervorgerufen. Mit der zunehmenden Bereicherung des Intellekts werden dem Willen neue Betätigungsfelder eröffnet. Das kann auch auf moralischem Gebiet nicht ohne Einfluß bleiben, indem unser Tun immer mehr vom instinktiven zum bewußten Willenshandeln fortschreiten wird.

Woran es uns heute noch zumeist gebricht, ist die allseitige Erkenntnis der Interessensolidarität unter den verschiedenen Ständen und Völkern. Sie muß und darf von der Zukunft erhofft werden.

Je mehr die Fortschritte in dieser Richtung zunehmen und sich ausbreiten, um so stärker wird der Einzelne ganz allmählich von ihnen erfaßt werden; um so größer ist auch die Aussicht, daß hierdurch die »Härtigkeit der Herzen« gemildert werde und demgemäß die Harmonie des ehelichen Lebens eine sukzessive Steigerung erfahre.

Vielleicht ist es richtig, was manche hervorragende Pädagogen der neueren Zeit betonen, daß der soziale Gemeinschaftsgeist, der die unerläßliche Grundlage für den sittlichen Hochstand eines Individuums bildet, nur deshalb so wenig verbreitet sei, weil unsere bisherige Erziehungsmethode in den Schulen so außerordentliche Mängel aufweise. Sie fordern, ähnlich wie dies schon Fichte vor hundert Jahren mit seinen kleinen Wirtschaftsschulstaaten getan hat, eine völlige Umwandlung unseres ganzen Schulbetriebs im Sinne einer Arbeitsschule. Sie soll dem Kinde durch unmittelbare Anschauung ein praktisches Abbild des späteren sozialen Lebens liefern. In ihm werden ihm die mannigfachen Vorzüge des gemeinsamen Strebens und Wirkens, die große Tatsache der allseitigen Interessensolidarität lebendig vor Augen geführt. Das soll erreicht werden durch gemeinsame Arbeit und Arbeitsteilung innerhalb der Schule, durch Eingliederung des einzelnen Schülers in einen großen wirtschaftlichen Plan. Die gemeinsame Selbstregierung der Zöglinge soll zur freiwilligen Unterordnung anleiten und den Interessenausgleich automatisch bewirken.

Auch Schleiermachers pädagogische Anschauungen haben nach dieser Richtung sich bewegt, wenn er auch einen derartig beschaffenen Plan im einzelnen nicht aufgestellt hat.

Es ist anzunehmen, daß unter dem neuen Zeitgeist der Fortschritt sich schneller und nachhaltiger vollziehen wird, als dies unter dem starren Geist des überwundenen konservativen Regiments möglich war. Das eröffnet die Aussicht, die den Menschen innewohnende »Herzenshärtigkeit« auf erziehlichem Wege in Zukunft erfolgreicher zu bekämpfen, als unter dem früheren Schulsystem, das vorwiegend auf Verstandes- und Gedächtnisbildung abzielte. Damit würde indirekt auch das Ehe- und Familienleben günstig beeinflußt werden.

Inzwischen könnte aber vielleicht noch ein Weiteres geschehen.

Die Praktiker des Lebens haben darauf hingewiesen, daß zahlreiche Ehen unter dem Mangel an hauswirtschaftlichen Kenntnissen der Frau empfindlich zu leiden haben, und daß hierin häufig die Ursache für die Zerstörung des ehelichen Glückes zu erblicken sei. Sie fordern deshalb mit Recht die hauswirtschaftliche Unterweisung der Mädchen und Frauen. Sollte es nicht angebracht und nützlich sein, auch eine Unterweisung für Eheleute und solche, die es werden wollen, zu erteilen in bezug auf alle diejenigen Gegenstände, die überhaupt als Grundlagen für das Glück einer Ehe in Betracht kommen? Sollte insbesondere nicht die Aufmerksamkeit der Menschen darauf gelenkt werden, daß auf beiden Seiten vor allem der Wille zum Glück vorhanden sein und dauernd aufrechterhalten werden müsse; daß eine Ehe vielfache Kompromisse, stete Nachgiebigkeit und mannigfache Opfer von beiden Seiten erfordere, wenn ihre Harmonie keine ernstliche Trübung erfahren soll?

Eine bitter ironische Bemerkung macht Balzac einmal über das Versagen der Hochschulen gegenüber den praktischen Anforderungen, die das eheliche Leben an den Menschen stellt: »Die Erziehung junger Mädchen bringt so bedeutende Probleme mit sich, – denn die Zukunft einer Nation ruht in den Müttern, – daß seit langer Zeit schon die Universitäten sich eifrigst damit beschäftigen, nicht daran zu denken.«

Vielen jungen Menschen, die im Liebesrausch, in der Sehnsucht nach einer eigenen Häuslichkeit oder in der Hoffnung auf Nachkommenschaft eine Ehe eingehen, befinden sich über die wichtigsten damit verbundenen Fragen meistens völlig im unklaren. Noch weit mehr pflegt dies der Fall zu sein bei denjenigen, die bei Schließung des Ehebündnisses vorwiegend von materiellen Erwägungen oder anderen seelenfernen Beweggründen sich leiten lassen. Darum auch die vielen und schweren Enttäuschungen, die der Verlauf so zahlloser Ehen mit sich bringt.

Baader meinte sicherlich Ähnliches, da er das erste Stadium der Liebe nur als Trieb, das zweite, höhere, als Bewußtheit charakterisierte. Er bekämpfte die Anschauung, welche die Wissenschaft in und für die Liebe als unmöglich oder schädlich oder entbehrlich angesehen hat: »da ja doch die Schlechtigkeit des nur irdischen, sowie die Vortrefflichkeit des himmlischen Eros darin besteht, daß jener blind, dieser hellsehend ist«.

Konstanze Ring in dem bekannten Roman von Amalie Skram wird bis ins Mark getroffen durch die Erkenntnis, daß das Gefühlsleben des Mannes völlig anders geartet ist, als das der Frau; und in ihrer Todesstunde sieht sie es ein: »Hätte ich nur besser Bescheid gewußt über das, was eine so große Rolle im Leben spielt – dann wäre es mir besser ergangen!«

Es mag richtig sein, daß die Tugend an sich nicht lehrbar ist, und daß es immer vorwiegend Gefühle und Affekte sein werden, die die Handlungen der meisten Menschen entscheidend beeinflussen. Dennoch dürfte schon viel gewonnen sein, wenn die den Ehebund schließenden Menschen beim Eintritt in das neue Leben bereits einigermaßen mit den seelischen Anforderungen, Aufgaben und Schwierigkeiten vertraut sein würden, die ihrer harren, und wenn ihnen zugleich die Mittel und Wege zu ihrer Erfüllung und Überwindung im wesentlichen zum Bewußtsein gebracht worden wären. Das würde vermutlich manche Enttäuschungen und Disharmonien im ehelichen Leben verhindern.

Die Wirkung solcher Enttäuschung wird in Maeterlincks Drama »Alladin und Palomides« in überaus feiner und poetischer Weise zur Darstellung gebracht. Die beiden Liebenden sind in einer finsteren Grotte eingeschlossen, wo sie in heißer Lebensbegier dem drohenden Tode trotzen. Ihr brünstiger Lebenswille, der allen Teilen des Schicksals siegreichen Widerstand bietet, läßt sie nach Befreiung drängen, die ihnen ein heimtückisches Schicksal, das ihnen in der Dunkelheit nicht beizukommen vermag, schließlich gewährt. Das Gewölbe tut sich auf, und das Licht des Tages flutet in blendender Helle jählings herein. Nun aber gewahren die Liebenden zu ihrer furchtbaren Enttäuschung, daß das scheinbare Edelgestein des Gewölbes zerfetzte Überreste, daß die vermeintlichen blau leuchtenden Rosen an ragenden Pfeilern schmutzige Ablagerungen sind. Die klaren Wasser, in denen sie von der Morgenröte das »Allerreinste ihrer Kinderseele« zu empfangen vermeinten, sind unrein und trübe und von faulenden Stoffen vergiftet. An dieser Erkenntnis sterben sie, »das Licht, das kein Erbarmen hat«, läßt sie zugrunde gehen.

Auch in E. T. A. Hoffmanns Novelle »Die Jesuiter Kirche in G.« finden wir einen verwandten Stoff. Sie erzählt das Schicksal eines Malers, der das Martyrium der Heiligen Katharina dargestellt hat. Erst nach langen inneren Kämpfen war es ihm gelungen, ihr Idealbild so auf die Leinwand zu bringen, wie sie als das Herrlichste an Erscheinung seinem inneren Auge schon immer vorgeschwebt hatte. Er vollbrachte es erst, nachdem die Heilige ihm erschienen war und ihn lächelnd gesegnet hatte. Da tritt eines Tages die ersehnte Gestalt in Wahrheit vor seine Augen. Nicht als Heilige, sondern als ein schwaches, schutzbedürftiges Weib. Nun ist es mit dem Schaffen zu Ende, denn seine Heilige ist ja die Heilige nicht mehr, er fühlt sich von ihr um sein Leben betrogen, und seine Liebe wandelt sich in glühenden Haß. »Sie war nicht das Ideal, das mir erschien«, klagt er in tiefster Verzweiflung und Enttäuschung.

Es ist der alte, klaffende Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der immer wieder die Menschen enttäuscht und erschüttert. Er pflegt ihnen gerade dann mit besonderer Schärfe zum Bewußtsein zu kommen, wenn der verhüllende Schleier der Konvention in der »kleinen Hütte des glücklich liebenden Paares« mehr und mehr fällt, bis beide in völliger seelischer Nacktheit einander gegenüberstehen. »Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei.«

Die wechselseitige Anpassung zweier fürs ganze Leben verbundener Menschen erfordert fast immer eine ungewöhnliche Seelenkenntnis, ein hohes Maß von Takt und einen ausgesprochenen Willen zur Einfühlung in das Innenleben des anderen. Das trifft nicht am wenigsten zu für alle mit dem Geschlechtsleben unmittelbar zusammenhängenden Vorgänge und Regungen.

Es liegt in der Natur des frei geborenen Menschen, wider den Stachel zu löken, das heißt gegen jede zwangsweise Bindung sich innerlich aufzubäumen. Fielding berichtet, daß in einem indischen Gefängnis verschiedene europäische und amerikanische Gefangene wegen Fluchtverdachts aneinander gefesselt wurden. Seitdem waren sie von wildem Haß und Widerwillen gegeneinander erfüllt, während sie, bevor die Ketten kamen, in Frieden und Freundschaft lebten, trotzdem sie damals ebenso nahe beisammen hausten, wie nach der Fesselung.

Eine derartige Gebundenheit stellt auch in gewissem Grade die Ehe dar. Andererseits ist, wie Graf Hermann Keyserling zutreffend bemerkt, das Höchste, was der Mensch erreichen kann, nämlich seine Vollendung, durch Gebundenheit bedingt. Das Ideal ist im Gebundenen, nicht in der Ungebundenheit, der Willkür gelegen. Darin liegt auch, trotz aller Einwände, die letzte Rechtfertigung der legitimen gegenüber der freien Ehe.

Balzac hat einmal gesagt: »Es ist leichter, Liebhaber als Ehemann zu sein, weil es schwerer ist, alle Tage hindurch geistreich zu sein, als von Zeit zu Zeit eine nette Bemerkung zu machen.« Wo die Frau nicht vollkommen sattelfest und pflichtgetreu ist, wird immer »der fremde Herr« einen großen strategischen Vorsprung besitzen. Es ist daher ein grundsätzlicher Fehler vieler Eheleute, in dem sicheren Gefühl des Besitzes zu glauben, daß sie zu dessen Wahrung aller Anstrengungen überhoben sind. Die verheirateten Leute verraten im allgemeinen (nach einem anderen Wort Balzacs) die Erkaltung ihrer Gefühle mit derselben Naivität, mit der sie früher ihre Liebe zur Schau trugen. Das trifft in um so höherem Grade zu, je mehr die Ehescheidung erschwert, also das Gefühl der Sicherheit des Besitzes erhöht ist. Man könnte demgegenüber in Anlehnung an Kierkegaard die Mahnung Fausts variieren und sagen: »Wen du erwählt zur Fahrt fürs Leben hast, erwirb ihn, um ihn zu besitzen.«

Erfährt nun der gänzlich Unerfahrene nichts von den vielfachen Anforderungen der ehelichen Lebenskunst, wie es heute fast durchgängig der Fall ist, tappt er in seiner blinden Ahnungslosigkeit in den Ehestand hinein, wie ein Bär in den Porzellanladen, so muß man sich nicht wundern, wenn das zarte Gefäß der Ehe bald zahlreiche Sprünge aufzuweisen hat und schließlich so häufig in Scherben geht. Ist es aber durch wechselseitige Abneigung oder Haß derartig durchlöchert, daß nur noch ein minderwertiger Kitt es notdürftig zusammenhält, so ist es in der Regel weit besser, eine reinliche Scheidung zu vollziehen. Denn das dauernde Beisammensein mit einem antipathischen oder verhaßten Menschen ist nicht nur eine unerträgliche Marter, es ist zugleich ein Verrat an dem besseren Selbst, das hierdurch unter einem atemraubenden Druck gehalten wird, der jede höhere Kräfteentwicklung verhindert. Man wende nicht ein, daß durch die Trennung das Wohl des etwaigen Kindes gefährdet werde. Weit schwerer leidet es, wenn es zwischen Eltern leben muß, die in Zwist und Hader ihr und der Kinder Dasein vergiften. Wie kann ein Kind seinen Eltern die pflichtgemäße Ehrfurcht erzeigen, wenn es Zeuge eines unaufhörlichen Guerillakrieges zwischen ihnen sein muß? Wie kann es den inneren Halt gegen die kommenden Stürme des Lebens gewinnen, wenn schon in früher Kindheit die besten Teile seines Lebensschiffleins vom nagenden Holzwurm der Menschenverachtung und des Pessimismus angefressen sind? Besser mit einem Elternteil in Liebe und Frieden, als mit beiden unter dem Gifthauch von Haß und Zwietracht leben.

Darum ist die Scheidung das kleinere Übel, sobald die eheliche Gemeinschaft zerrüttet ist, sobald die Liebe in Widerwillen sich verwandelt hat. Voraussetzung ist allerdings, daß in jedem Falle den Eltern weitgehende Verpflichtungen auferlegt werden, welche die Sicherung der Kinder gewährleisten. Mit dieser Maßgabe ist schon heute in einigen europäischen Ländern, wie zum Beispiel im Kanton Genf, in Belgien, Rumänien und Italien die Scheidung, bezw. Trennung der Gatten durch freie gegenseitige Übereinkunft möglich.


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