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Drittes Kapitel.
Liebe und Sinnlichkeit

Sinnlichkeit, ein würdiges Element der Liebe – Schlegels Lucinde – Dualismus zwischen Leib und Seele – Sinnliche Reinheit – Seelenvolle Sinnlichkeit – Das Nichtschamhafte – Wollust, das Gartenglück der Erde – Das Niedrige der Sinnlichkeit – Heiligung des Animalischen – Versittlichende Wirkung der Kunst – Freundschaft zwischen Mann und Weib – Beherrschung der Liebesgefühle.

 Die enge Verbindung, die Schleiermacher zwischen Religion und ehelicher Liebe herstellte, hinderte ihn keineswegs, dem sinnlichen Moment in der Ehe volle Würdigung zuteil werden zu lassen. Im Gegenteil ist es auch hier wieder die ihm besonders am Herzen liegende Idee der harmonischen Verschmelzung, die seine Anschauung über diese Frage entscheidend beeinflußt.

In den »Vertrauten Briefen über Lucinde« sagt er: »Erinnere Dich, wie wir uns beklagten, daß man aus der Sinnlichkeit nichts zu machen weiß als ein notwendiges Übel, das man nur aus Ergebung in den Willen Gottes und der Natur wegen erdulden muß … Es läßt sich hier eins vom andern nicht trennen: im Sinnlichen siehst Du zugleich klar das Geistige, welches durch seine lebendige Gegenwart beurkundet, daß jenes wirklich ist, wofür es sich ausgibt, nämlich ein wesentliches und würdiges Element der Liebe.«

Schleiermacher hat wegen seiner »Vertrauten Briefe über Lucinde«, die dem kurz vorher erschienenen Roman seines Freundes Friedrich Schlegel gewidmet waren, viele Anfeindungen und Mißdeutungen erfahren. Novalis hatte die »Lucinde« als zynisch, Tieck als eine tolle Chimäre und der eigene Bruder Wilhelm als Unroman bezeichnet. In der Öffentlichkeit selbst erhob sich ein heftiger Sturm gegen diese »Bekenntnisse eines Ungeschickten«. Um so mehr ist der sittliche Mut zu bewundern, mit dem der junge Theologe sich auf die Seite des ihm befreundeten Verfassers stellte, ohne etwa dem Werke in allen seinen Einzelheiten lücken- und kritiklos zuzustimmen. Er hob hervor, daß er weder unsittliche Nebenabsichten, noch Ausbrüche innerer Unsittlichkeit darin gefunden habe. »Nie werde ich aus Menschenfurcht«, schrieb er an Konsistorialrat Sack (1801), »einem unschuldig Geächteten den Trost der Freundschaft entziehen, nie werde ich meines Standes wegen, anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der andern vorschwebt, leiten lassen.«

Die »Vertrauten Briefe« schrieb er als eine Verteidigungsschrift für den nach seiner Meinung zu Unrecht angegriffenen Freund. Friedrich Schlegels Absicht, die Liebe der Geschlechter auf ihre natürlichen Grundlagen zurückzuführen, und sie aus den Banden der herrschenden Verkünstelung und Prüderie zu lösen, begrüßte er in seiner sittlichen Reinheit und jugendlichen Begeisterung als eine befreiende Tat.

In keiner Weise teilte er die dualistische Anschauung, die zwischen Leib und Seele einen scharfen Trennungsstrich zieht, geschweige denn die frömmlerische Meinung, die jenen für sündhaft und diese allein für göttlich erachtet. Vielmehr bekennt er sich als Anhänger eines ideal-realistischen Monismus, dem alles Endliche ein Ausschnitt, ein Bild des Unendlichen ist, in welchem er das wahrhaft und einheitlich Ideal-Reale erblickt. In gleicher Weise bekämpft er den Dualismus zwischen Theorie und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit, Vernunft und Sinnlichkeit, und sucht zwischen allen scheinbaren Gegensätzen die Synthese herzustellen, den harmonischen Einklang ausfindig zu machen.

So sieht er auch im Fleische einen Bestandteil des Göttlichen, das, wie er in den »Vertrauten Briefen« sagt: »… nicht ohne Entweihung in seine Elemente von Geist und Fleisch, Willkür und Natur zerlegt werden kann.«

Ähnliche Äußerungen finden wir bei dem geistesverwandten Novalis: »Mir scheint ein Trieb in unseren Tagen allgemein verbreitet zu sein, die äußere Welt hinter künstlichen Hüllen zu verstecken, vor der offenen Natur sich zu schämen und durch Verheimlichung und Verborgenheit der Sinnenwesen eine dunkle Geisterkraft ihnen beizulegen. Romantisch ist der Trieb gewiß, allein der kindlichen Unschuld und Klarheit nicht vorteilhaft; besonders bei Geschlechtsverhältnissen ist dies bemerklich.«

Dabei war Novalis weit mehr auf das Überirdische, als auf das Sinnliche, Erdenhafte gerichtet. Wohl lebte er gern, wie er von sich sagte, im Lande der Sinne, aber nicht in dem der Sinnlichkeit, und schrieb weiterhin an Karoline Schlegel: »Vielleicht gehört der Sinnenrausch zur Liebe, wie der Schlaf zum Leben. Der edelste Teil ist es nicht, und der rüstige Mensch wird immer lieber wachen als schlafen. Auch ich kann den Schlaf nicht vermeiden, aber ich freue mich doch des Wachens und wünschte heimlich immer zu wachen.«

Widerstrebt mithin auch sein innerstes Wesen der Sinnlichkeit, so bringt er ihr doch als wesentlichem Element der Liebe, gleich Schleiermacher, volles Verständnis entgegen. (Noch deutlicher hat sich Luther ausgedrückt, da er gesagt hat, wer von den Menschen fordere, daß sie keinerlei sinnliche Leidenschaft empfinden sollten, der verlange, daß Feuer nicht brennen und Wasser nicht fließen, daß der Mensch auch nicht Hunger und Durst kennen solle. Und seine Toleranz gegen Eheleute geht so weit, daß er ihnen erlauben wollte, eine heimliche Ehe zu schließen, falls der eine Teil der Gatten zum ehelichen Verkehr unfähig werde.)

Wilhelm von Humboldt hat in seinen »Briefen an eine Freundin« das Thema ebenfalls berührt. Er sieht den eigentlichen Wesensunterschied zwischen Liebe und Freundschaft darin, »daß die erste immer zugleich eine sinnliche Farbe an sich trägt. Man tut dadurch ihrer Reinheit keinen Eintrag, denn auch die sinnliche Neigung kann die größte Reinheit in sich schließen, diese stammt aus der Seele selbst und verwandelt alles in ihren unbefleckten Glanz.«

Goethe geht noch weiter und tadelt geradezu (in »Dichtung und Wahrheit«) die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet: »Nur das Sinnlich-Höchste ist das Element, worin sich das Sittlich-Höchste verkörpern kann.«

Die meisten Dichter und Denker stimmen jedenfalls mit Schleiermacher insoweit überein, als sie weit abrücken von der extrem-asketischen Lehre, welche die Geschlechtslust als Sünde hinstellt.

Das Wesen der wahren ehelichen Liebe sehen sie vielmehr in der Durchdringung des sinnlichen und geistigen Elements und erblicken im Geschlechtstrieb ein natürliches, von Gott geschenktes Gut, das geadelt wird durch den sittlichen Geist. In diesem Sinne schreibt Schleiermacher: »Durch den reinsten Ausdruck der geistigen Stimmung und des erhabenen Gefühls hindurch sehen wir das Herz höher schlagen, das Blut sich lebhafter bewegen und das süße Feuer der Lust gedämpfter und milder durch alle Organe aus- und einströmen. Kurz, so eins ist hier alles, daß es ein Frevel ist, angesichts dieser Dichtung die Bestandteile der Liebe nur abgesondert zu nennen.«

Man wird hier an Ellen Keys Ausspruch erinnert von »der glühenden Keuschheit, der seelenvollen Sinnlichkeit, die vornehm ist, nicht weil sie bleichsüchtig, sondern vollblütig ist«.

Einem anmaßlichen Muckertum erteilt denn auch Schleiermacher in seinen »Vertrauten Briefen« eine derbe Abfertigung: »Was soll man von denen halten, die um desto schamhafter zu sein glauben, je leichter sie überall etwas Verdächtiges finden? Nichts, als daß ihre eigene rohe Begierde überall auf der Lauer liegt und hervorspringt … Nur, was keinen anderen Sinn haben kann, als Verlangen und Leidenschaft zu erwecken, muß die Schamhaftigkeit verletzen; aber warum sollten Jünglinge und Mädchen nicht die Liebe kennen dürfen und die Natur, da sie beide überall sehen? … Wenn man so ganz eigentlich Jagd macht auf das Nichtschamhafte, so wird man sich am Ende einbilden, in jedem Ideenkreise dergleichen zu finden, und es müßte am Ende alles Sprechen und alle Gesellschaft aufhören, man müßte die Geschlechter sondern, damit sie einander nicht erblicken, und das Mönchtum, wo nicht noch etwas Ärgeres einführen.«

Ludwig Tieck läßt ganz ähnlich in »Sternbald« seinen Lovell verkünden: »Freilich ist Wollust das große Geheimnis unseres Wesens, freilich will auch die reinste, inbrünstigste Liebe sich in diesem Brunnen kühlen, sie soll eben sterben, damit wir fühlen, daß wir Menschen sind, daß wir von täuschenden Phantomen erlöst werden, die uns als Engelsgestalten besuchen und doch Furien werden, wenn sie das glänzende Gewand fallen lassen: Denn schläft nicht die wildeste Verzweiflung, die gräßlichste Angst, der blutigste Haß, Selbstmord und alle Greuel im Innern dieses Gefühls? … Daß wir Sinnlichkeit haben, ist keineswegs verächtlich und kann es nicht sein, und doch streben wir unaufhörlich, sie uns selber abzuleugnen und sie mit unserer Vernunft in eins zu schmelzen, um nur in jedem der vorüberfliegenden Gefühle uns selbst achten zu können. Denn freilich ist nichts als Sinnlichkeit das erste bewegende Rad in unserer Maschine, sie wälzt unser Dasein von der Schwelle und macht es froh und lebendig – alles, was wir als schön und edel träumen, greift hier hinein … Sinnlichkeit und Wollust sind Geist der Musik, der Malerei und aller Künste, alle Wünsche der Menschen fliegen um diesen Pol wie Mücken um das brennende Licht.«

Auch Nietzsches Worte mögen in diesem Zusammenhang Erwähnung finden: »Wollust, dem Gesindel das langsame Feuer, auf dem es verbrannt wird; allem wurmichten Holze, allen stinkenden Lumpen der bereite Brunst- und Brodelofen. Wollust: Für die freien Herzen unschuldig und frei, das Gartenglück der Erde, aller Zukunft Dankesüberschwang an das Jetzt. Wollust, nur dem Welken ein süßlich Gift, für die Löwenwilligen aber die große Herzstärkung, und der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine.«

Friedrich Schlegel aber hat mit Recht hervorgehoben, daß der Geschlechtstrieb nicht an sich Bewahrer der unsterblichen Liebesseele sei, die allein die romantische ist.

Wohl ist die Liebe das Gefühl, das dem Geschlechtstrieb die Richtung anweist und auf völlige Vereinigung der Körper hindrängt. Aber nur eine wirkliche Harmonie der Seelen, die neben völliger Hingabe von höchster wechselseitiger Fürsorge und Opferbereitschaft getragen ist, vermag jene unerschöpfliche Fülle und nachhaltige Feierstimmung zu begründen, die allein ein wirksames Gegengewicht bietet gegenüber der seelischen Erschlaffung, die nach Befriedigung der sinnlichen Lust die Liebenden, besonders aber den männlichen Teil, zu befallen pflegt. Goethe hat letzterem Umstande in seinen römischen Elegien das Distichon gewidmet:

»Geht, ihr seid der Frauen nicht wert! Wir tragen die Kinder
Unter dem Herzen, – und so tragen die Treue wir auch,
Aber ihr Männer, ihr schüttet mit eurer Kraft und Begierde
Auch die Liebe zugleich in den Umarmungen aus.«

Noch weit drastischer gibt Schopenhauer diesem Gedanken Ausdruck, indem er den Beischlaf das Handgeld des Teufels nennt, dessen Reich die Welt sei, und der unmittelbar hinterdrein sein Hohngelächter erschallen lasse (» illico post coitum cachinus auditur Diaboli«). Er spinnt diese Betrachtung noch weiter ins Pessimistische aus und führt jenen Umstand darauf zurück, »daß die Geschlechtsbegierde, zumal wenn durch Fixieren auf ein bestimmtes Weib zur Verliebtheit konzentriert, die Quintessenz der ganzen Prellerei dieser noblen Welt ist, da sie so unaussprechlich, unendlich und überschwenglich viel verspricht und dann so erbärmlich wenig hält«.

Schopenhauers Geringschätzung der Frauen hat sein Urteil in diesem Punkte offenbar sehr getrübt, und sein Pessimismus läßt das rein sexuelle Moment hierbei allzusehr in den Vordergrund treten.

Nur die vorausgegangene Verschmelzung der Seelen verleiht dem Geschlechtsakt bei aller schrankenlosen Hingabe jene Würde und Heiligung, die auch das Animalische mit dem Nimbus des Göttlichen umkleidet. Bloße Sexualität involviert in höchstem Maße die Gefahr des Konfliktes und Zwistes unter den sich Vereinenden, da die Reibung um so stärker zu sein pflegt, je inniger die Berührung ist.

Schleiermacher bekämpft die Anschauung, die eine vorwiegende Schlechtigkeit und Niedrigkeit der Menschen voraussetzt, jede etwas lebendige Vorstellung durch die Phantasie zu einem Reizmittel für die Begierde umgebildet glaubt und die Menschen für unfähig hält, »aus dem Schönen etwas Besseres zu machen, als einen Übergang zur wilden Lust«.

Von den Frauen, »in denen die Scham als in ihrem schönsten Heiligtum wohnt«, verspricht er sich eine günstige erziehliche Einwirkung in dieser Hinsicht, und erwartet von ihnen den Beweis, »daß es mit diesem verbotenen Verkehr der Vorstellungen und der Sinne so arg nicht ist, als die meisten befürchten«. Nächst den Frauen erhofft er einen veredelnden Einfluß von der Kunst, deren Ideal er in der »Lucinde« verwirklicht sieht: »Hier ist Liebe ganz und aus einem Guß, in Durchdringung des Sinnlichen durch das Geistige zu höherer Gemeinschaft.«

Eine versittlichende Wirkung der Kunst bei Darstellung des Sinnlichen vermag ein großer Maler nur dadurch zu erzielen, daß er die Körperwelt nicht so darstellt, wie wir uns gewöhnt haben, sie zu sehen, als Ding an sich, als Hauptsache, sondern als durchsichtige Hülle für etwas Ewiges, der er seine eigene Seele einhaucht.

Das meint offenbar auch Schleiermacher, wenn er schreibt: »Die bildenden Künste können sich Momente der Liebe zu ihren Darstellungen wählen und so beweisen, daß es auch hier eine Schönheit gibt, die den Gegenstand würdig ausdrückt und einhüllt, ohne das Gefühl zu verletzen und die Leidenschaft loszulassen.« Er wendet sich gegen den Standpunkt, der ein Kunstwerk als unsittlich bezeichnet, weil es Unsittliches darstellt, und kennt »gar keine Unsittlichkeit eines Kunstwerks, als die, wenn es seine Schuldigkeit nicht tut, schön und vortrefflich zu sein, oder wenn es aus seinen Grenzen herausgeht, kurz, wenn es nicht taugt.«

Wie Schleiermacher das »Jagdmachen auf das Nichtschamhafte« verurteilte, so wandte er sich auch gegen die vielfach vertretene Ansicht, daß eine reine Freundschaft zwischen Mann und Frau auf die Dauer nicht möglich sei. Wohl findet er es ganz in der Ordnung, daß, wie er an seine Schwester Charlotte schreibt (30. 5. 1798), gewöhnliche Menschen von gewöhnlichen Menschen derartiges glauben. Aber daß Schlegel und die Veit für seine Freundschaft mit der schönen Jüdin Henriette Herz die gleiche Besorgnis hegen, das war ihm denn doch zu arg, und er habe, schreibt er, »ausgelassen darüber stundenlang gelacht. Die arme Herz aber war ein paar Tage ganz zerrüttet über dieses Mißverständnis.«

Daß es nicht immer nur »gewöhnliche Menschen« sind, die derartiges glauben, beweisen uns mancherlei Aussprüche bedeutender Männer. So finden wir bei Ségur ( Les femmes) den Satz: »Wenn eine Frau einen Mann zum Freund erwählt, so bin ich der Ansicht, daß immer eine Spur von Liebe in dieser Freundschaft vorhanden ist«; und Eduard von Hartmann schreibt (Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins): »Das Weib ist seiner Natur nach ganz wesentlich darauf angewiesen, die Freundschaft im höchsten Sinne nur auf Grundlage der geschlechtlichen Liebe zu verwirklichen.«

Für den eigentlichen Typus des Weibes wird diese Ansicht zutreffen, und auf diesen ist wohl auch der Ausspruch gemünzt, den Nietzsche seinem Zarathustra in den Mund legt: »Allzulange war im Weibe ein Sklave und ein Tyrann versteckt. Deshalb ist das Weib noch nicht der Freundschaft fähig: es kennt nur die Liebe.«

Aber wie bei den meisten Gebieten des Lebens, so sollte man sich auch hier vor Verallgemeinerung hüten. Ausnahmen von der Regel sind auch für diese Frage nicht ausgeschlossen. Zwar weiß die Geschichte nicht über solche Freundschaften bei Frauen zu berichten, wie zwischen Kastor und Pollux, oder Orestes und Pylades. Aber die neuere Geschichte weiß von gleichwertigen Männerfreundschaften ebenfalls nichts zu melden. Das dürfte wohl in der Hauptsache darauf zurückzuführen sein, daß unter dem Einfluß der christlichen Kirche die Homosexualität als verbrecherisches Laster gebrandmarkt ist, was im Altertum bekanntlich nicht der Fall war. Vielleicht rührt es aber zum Teil auch daher, daß die auf seelischem Einklang beruhende romantische Liebe der Neuzeit, von der wiederum das Altertum nichts wußte, mit ihrer größeren Kraft das Gefühl der hingebenden Freundschaft mehr und mehr verdrängt hat. Das Bedürfnis des menschlichen Herzens nach höchster Sympathieerweisung und völliger Erschließung wird heute durch die erotische Liebe in wachsendem Umfang befriedigt. Das beruht auf ihrer größeren Vertiefung und Vergeistigung, die nur im Zusammenhang mit der geistigen Höherentwicklung der Frau möglich war.

Da aber die Liebe die Seele der Frau weit ausschließlicher in Besitz zu nehmen pflegt, als diejenige des Mannes, so ist es immerhin begreiflich und nicht ganz unberechtigt, wenn dem Weibe ein geringeres Talent zur Freundschaft zugesprochen wird, wie dem Manne. Als gute Menschenkennerin mag Charlotte Schleiermacher zudem wohl die Meinung gehabt haben, daß auch überdurchschnittliche Menschen nur selten ihre Gelüste soweit zu meistern vermögen, um mit apodiktischer Sicherheit behaupten zu können, daß bei intim-freundschaftlichem Verkehr mit dem anderen Geschlecht – zumal in jungen Jahren – jede leidenschaftliche oder verliebte Regung ein für allemal ausgeschlossen sei. Und wenn sie auch vielleicht dem Bruder volles Vertrauen geschenkt haben mag, so war sie doch anscheinend seiner Freundin Herz, wenn auch unberechtigterweise, nicht ebenso sicher.

Vielleicht trifft indessen auf den vorliegenden Fall im Hinblick auf Schleiermachers körperliche Unansehnlichkeit der Ausspruch Nietzsches zu: »Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schließen, aber um diese aufrechtzuerhalten, dazu muß wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.«

Schleiermacher nimmt noch zu wiederholten Malen in späteren Briefen an seine Schwester (15. 10. 1798, 23. 3. 1798) Veranlassung, zu versichern, daß in seinem Verhältnis zu den Frauen im allgemeinen und zur Herz im besonderen nicht das geringste sei, was auch nur mit einem Anschein von Recht übel gedeutet werden könnte. »Etwas Leidenschaftliches wird zwischen uns nie kommen, und da sind wir wohl in Beziehung aufeinander über die entschiedensten Proben hinweg … Eine Frau eigentlich zur Freundin zu haben, ist schon übler« (als daß ein Mann mit einer rechtlichen Frau Stunden und halbe Tage lang allein ist), »und daß die Herz gerade eine Jüdin ist, gereicht gewiß vielen zum Anstoß; aber das ist eben eins von den jämmerlichen Vorurteilen.«

In seinem »Katechismus der Vernunft für edle Frauen« stellt Schleiermacher »zehn Gebote« auf, deren erstes lautet: »Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm; aber du sollst Freundin sein können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettieren oder anzubeten.« Hier erhebt er mithin zur allgemeingültigen Forderung, was zwar einer wahrhaft vornehmen Gesinnung selbstverständlich sein sollte, aber doch vor dem angeborenen Instinkt temperamentvoller Frauen, auch wenn sie sich für edel halten, nicht immer standhält.

Schleiermacher will einen scharfen Unterschied gemacht wissen zwischen solchen Männern und Frauen, die noch nicht durch ein Band der Liebe oder Ehe anderweit gebunden, und solchen, die schon, wie er sich in den »Vertrauten Briefen« ausdrückt, »als ein fremdes Gut« anzusehen sind. Bei völlig freien Menschen scheint ihm eine Freundschaft zwischen Mann und Frau geradezu als etwas Unnatürliches und ein leeres, ja sogar sträfliches Unternehmen. »Denn warum soll nicht bei denen, die doch mit Versuchen in der Liebe begriffen sind, alles, was sich von Natur dazu eignet, ein solcher Versuch werden?«

Hier tritt Schleiermachers Bestreben, gegen die bestehende Moral und ihre vielfache Heuchelei zu opponieren, die Philisterei zu bekämpfen und eine neue Ethik zu begründen, in Form einer übertreibenden Polemik zutage, wie sie den ethischen Darlegungen der Romantiker nicht selten eigen war. Er setzt sich für eine Beachtung derjenigen Gesetze ein, die mit Naturnotwendigkeit aus dem Wesen der Persönlichkeit hervorquellen, geht aber dabei offensichtlich zu weit. Denn wenn auch vielleicht bei allen freundschaftlichen Beziehungen zwischen freien Menschen verschiedenen Geschlechts ein unbewußter erotischer Unterton hineinspielen mag, so ist es doch wohl eine Übertreibung, jede derartige Freundschaft, die von Liebe frei ist, als ein leeres, ja sogar sträfliches Unternehmen zu bezeichnen. Selbst zwischen einem jungen Mann und Mädchen ist eine auf geistige Übereinstimmung oder Interessengemeinschaft gegründete Freundschaft völlig harmloser Natur durchaus denkbar und nichts Ungewöhnliches.

Auch der weitere Satz in demselben Briefe gibt, wenn auch unter anderem Gesichtswinkel, zu ähnlichen Bedenken Anlaß. »Ist es aber nicht ganz etwas anderes, wenn irgendwo schon Liebe ist? Es gibt wohl wenig männliche Naturen edler Art, in denen Liebe aufkeimen könnte für eine Frau, die sie vom ersten Augenblick an schon als ein fremdes Gut ansehen.«

Es ist mindestens recht zweifelhaft, ob eine männliche Natur, auch wenn sie von edler Art ist, ihre Gefühle so in der Gewalt haben kann, daß schon das Aufkeimen der Liebe beim Anblick einer reizvollen, aber schon gebundenen Frau völlig unterdrückt zu werden vermag. Wohl wird ein vornehm denkender Mann im Falle eines solchen unwillkürlichen Aufkeimens bemüht sein, dieser Regung die weitere Nahrung zu entziehen, indem er sich möglichst fern von ihr hält oder doch seine Empfindungen mit größter Selbstbeherrschung zu meistern sucht. Jedoch liegt das Aufkeimen dieses Liebesgefühls an sich außerhalb unserer Willenssphäre und läßt daher auch keinerlei Rückschluß zu auf den mehr oder minder hohen Grad von Edelsinn eines Mannes.

Aber gerade, weil jener Satz psychologisch anfechtbar ist, zeugt er von dem hohen sittlichen Standpunkt Schleiermachers, von seiner dem Grundsatze nach überaus großen Hochschätzung und Heilighaltung der Ehe an sich.

Das tritt an zahlreichen Stellen seiner mündlichen und schriftlichen Äußerungen, teilweise in geradezu überschwenglicher Weise zutage.


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