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Viertes Kapitel.
Häusliches Leben und seelischer Einklang

Hochschätzung des häuslichen Lebens – Liebes- und Anlehnungsbedürfnis – Einwirkung auf andere Menschen – Neid und Eitelkeit – Das Glück der anderen – Sehnsucht nach Liebe – Freundschaftspflege – Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit der Liebenden – Gesetz der Umwandlung.

 

Im Alter von vierzig Jahren schreibt Schleiermacher an seine Freundin Charlotte von Kathen (15. 9. 1808) im Hinblick auf seine im Frühjahr bevorstehende Heirat mit Henriette von Willich: »… ich sehe mit der größten Sicherheit dem Frühjahr entgegen als dem unfehlbaren Anfang meines eigentlichen Lebens.«

Die Herausgabe seiner »Reden über die Religion« und seiner »Monologe« lag damals schon fast ein Jahrzehnt zurück; und wenn er trotz dieser Schöpfungen, die sich als unvergänglich erwiesen haben, den »Anfang seines eigentlichen Lebens« erst vom Beginn seiner künftigen Ehe an datiert, so beweist dies, daß er die eheliche Gemeinschaft mit ihrer liebeerfüllten, traulichen Häuslichkeit allen anderen Inhalten und Ereignissen seines Daseins – sein eigentliches Lebenswerk einbegriffen – weit voranstellt. Er spricht das auch ganz unumwunden aus in einem Briefe an seine Schwester Charlotte (10. 11. 1801): »Es ist doch alles in der Welt eitel und Täuschung, sowohl, was man genießen, als was man tun kann. Nur das häusliche Leben nicht.«

Hierin deckt seine Anschauung sich wiederum vollkommen mit derjenigen von Novalis, der schon als Jüngling an Friedrich Schlegel schrieb, seine Bestimmung sei im Gegensatz zu Schlegel die häusliche der Familie.

Auch von Robert Browning, dem großen englischen Dichter, liegt eine gleichlautende Äußerung gegenüber seiner Braut vor: Sein Leben und seine Dichtungen seien ihm nichts gewesen, bis er sie fand, bis sie sein Leben und seine Dichtungen segnete. Und selbst Nietzsche wünschte sich noch 1874, wie er an Malvida von Meysenbug schrieb, nur noch »ein liebes Weib«, um dann alle seine Lebenswünsche als erfüllt anzusehen. Später hat er sich allerdings gründlich gewandelt. Am 18. August 1808 schreibt Schleiermacher an Henriette von Willich in gleichem Sinne: »… Dann wurde mir klar, daß ich in meinem Leben nichts weiter zu suchen hätte, daß ich volle Genüge hätte, wenn wir uns einander wären alles, was wir mit voller Zustimmung unserer Herzen sein könnten …«

Hieraus spricht das überaus starke Liebes- und Anlehnungsbedürfnis, das neben dem religiösen Empfinden unzweifelhaft den Kern und Grundzug von Schleiermachers innerstem Wesen bildete. Das tritt in seinen verschiedenartigsten Bekundungen immer wieder zutage. Gerade diese persönliche Note, die bei ihm sich offenbarende unendliche Gemütstiefe, hat nicht am wenigsten dazu beigetragen, seinen Einfluß auf die deutsche Mit- und Nachwelt zu einem so weitreichenden zu gestalten.

Solchen Einfluß auf weiteste Kreise auszuüben, seinen Ideen Eingang zu verschaffen und auf andere Menschen zu wirken, sie zu fördern und womöglich zu erfreuen, ist immer sein sehnlicher Wunsch gewesen. Darum war er auch seinem Predigerberuf mit so leidenschaftlicher Liebe ergeben: »… hoffentlich werden mir ja wieder die Schranken eröffnet zu einer tüchtigen Wirksamkeit; und dann sind die süßen Kinder (aus Henriettens erster Ehe), die mir Gott anvertraut hat, und die ich hoffe mit Liebe und Verstand zu führen, und dann habe ich Euch das Leben leicht und lieb zu machen und manchen Freund mitgenießen zu lassen von allen den herrlichen Schätzen …«

Es ist, als hätte Nietzsche ihn charakterisieren wollen, da er in »Jenseits von Gut und Böse« sich also vernehmen läßt: »Im Vordergrund steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewußtsein eines Reichtums, der schenken und abgeben möchte.«

Seine Freunde teilhaben zu lassen an seinem eigenen Glück, »seine innere Freude und Seligkeit auf alle auszugießen, die darum wissen oder wissen sollten«, das ist Schleiermachers tiefstes Herzensbedürfnis. »Ich möchte die tiefste innigste Rührung und die lauteste Freude allen denen verkünden und mitteilen, denen unser schönes Glück am Herzen liegt«, schreibt er (März 1809) an Henriette von Willich.

Wohl findet man auch bei vielen anderen Menschen, namentlich bei Frauen, oftmals den gleichen Wunsch. Aber hier ist der Beweggrund zuweilen darin zu suchen, mit dem eigenen Glück zu prunken und sich in dem Neide der lieben Mitmenschen zu sonnen. Es ist die mit dem Neide fast immer parallel gehende Eitelkeit, die in den zahllosen Fällen des Lebens das Motiv für menschliches Verhalten abgibt und leicht auch den Drang nach der Liebe des anderen in kalten und oberflächlichen Menschen erweckt.

Eitelkeit ist, wie Oskar Ewald es einmal treffend ausdrückt, das Verlangen, dasjenige durch fremde Anerkennung zu suggerieren, was einem an eigener Bedeutung abgeht. Wenn kokette Frauen, aber auch gefallsüchtige Männer, darauf ausgehen, Liebe in den Andersgeschlechtlichen zu ihrer Person hervorzurufen, ohne selbst von dem Drang nach Liebeserweisung beseelt zu sein, so entspricht dies der Eitelkeit, dem Wunsche nach künstlicher Selbsterhöhung, die immer gleichzeitig darauf gerichtet ist, den Neid der Mitwelt zu erregen. Ist die Liebe in dem anderen tief und stark genug, so vermag sie sogar hin und wieder Gegenliebe zu dem Eiteln hervorzurufen, die allerdings in den meisten Fällen als Strohfeuer sich erweisen wird.

Andererseits kommt es auch zuweilen vor, daß bei einem koketten Weibe gerade die Erfolglosigkeit ihrer Liebeswerbungen einen Brand in ihrem Herzen gegenüber dem vergeblich Umworbenen entfacht.

Wenn Schleiermacher von dem Wunsche erfüllt war, andere Menschen an seinem Glück teilnehmen zu lassen, so war der Beweggrund neben seinem Drang zur Erschließung gegenüber seinen nächsten Freunden die tiefste Güte. Ihn leitete der Gedanke und naive Glaube, anderen durch das eigene Glück eine ebensolche Freude zu bereiten, wie er selbst sie angesichts des Glückes seiner Freunde tröstlich empfand, gerade wenn es ihm schlecht erging. »Und was, mein guter Freund«, schreibt er an E. von Willich (25. 2. 1804), »könnte mir mehr zum Trost gereichen bei der öden Unsicherheit meines eigenen Geschicks, als wenn ich recht viel Glück und Leben der Liebe unter denen sehe, die mir die Liebsten sind.« Die Tendenz des Weisheitsspruches: »Des Glückes andrer neidlos sich erfreun, ist aller Weisheit Krone« war seiner Natur eingeboren, und die gleiche Gefühlsweise setzte er bei allen voraus, die ihm nahestanden.

Es ist der heiße Drang nach Liebe und Freundschaft im Verein mit dem starken Bedürfnis nach Anschluß und nach Aufschließung des eigenen Seelenlebens, das ebenso wie bei Friedrich Schlegel immer wieder als Leitmotiv bei ihm hindurchklingt.

An seine Schwester Charlotte schreibt er einmal: »Bei mir entsteht immer Stumpfsinn, wenn ich isoliert bin. Darüber komme ich nicht hinaus; ohne Freund, ohne herzliches Gespräch, ohne Wechsel zwischen Arbeit und geselligem Genuß ist für mich kein Leben.« Und in einem Briefe an Henriette Herz sagt er (15. 2. 1792): »Ich strecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach Liebe, ich muß sie unmittelbar berühren, und wenn ich sie nicht in vollen Zügen schlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk. Das ist meine innerste Natur, es gibt kein Mittel dagegen, und ich möchte auch keins.« Das erinnert an Friedrich Schlegels Ausdrucksweise, der immer jemanden zum »Symphilosophieren« und »Symfaulenzen« brauchte. »Ich bin nun einmal eine unendlich gesellige und in der Freundschaft unersättliche Bestie«, sagte er von sich selbst.

Gelegentlich gibt Schleiermacher dem Jubel seines Herzens bei voller Befriedigung seines Liebesbedürfnisses lebhaften Ausdruck. Zu seinem Geburtstage hatte er zahlreiche liebevolle Briefe erhalten. Seine tiefe Freude hierüber offenbart sich in rührender Weise in einem Briefe an Henriette Herz (22. 11. 1802): »Lieben Kinder, sagt mir nur, ob es einen reicheren und glücklicheren Menschen gibt als mich, so geliebt von solchen Menschen, und so vielen, wahrlich eine ganze Schar.« Aber er hat es offenbar auch verstanden, diese Freundschaften zu pflegen und die ihm wertvollen Menschen dauernd an sich zu fesseln. Mit berechtigtem Stolz durfte er von sich sagen: »Auch habe ich keinen noch verloren, der mir je in Liebe teuer war.« Das ist ein Talent, das heute, da wir im glorreichen Zeichen des Verkehrs stehen, der die Menschen ebenso schnell zusammenführt, wie er sie wieder auseinander reißt, nur noch in den seltensten Fällen ausgeübt werden dürfte.

Schleiermacher verwahrte alle Briefe, die er von seinen Freunden erhielt, in sorgsamer Weise, um in stillen Feierstunden sich in sie zu vertiefen. Dabei ließ er seine Phantasie schweifen, um sich einerseits die entschwundenen Zeiten wieder vor Augen zu führen, andererseits sich die Zukunft der Freunde mit aller Lebendigkeit auszumalen. Das alles war der Ausfluß seines überaus starken Liebes- und Anlehnungsbedürfnisses, das er auf jede nur mögliche Weise zu befriedigen bemüht war. »Ich habe mich an Dich gelehnt, wie ich mich mein ganzes Leben an Dich lehnen werde«, schreibt er an seinem vierzigsten Geburtstag (21. 11. 1808) an seine Braut Henriette von Willich. In seiner frühen Jugend war diese Seite seines Gemüts anscheinend nur gering entwickelt; wenigstens läßt sich das aus einem anderen Briefe an sie (4. 12. 1808) entnehmen, der mit den Worten beginnt: »Ist es nicht ganz wunderbar, daß ich gerade ebenso gewesen bin, wie Du Dich beschreibst als Kind? Ohne Liebe und dumpfen Sinnes.«

Wir werden hier an ein Zwiegespräch erinnert, das der Neuromantiker Maeterlinck in seinem Drama »Aglavaine und Selysette« dem Liebespaar Meleander und Aglavaine in den Mund legt.

Meleander: »Du scheinst alles, was ich bin, vor mir
gewesen zu sein; ich fühle deine Seele
deutlicher als die meine; du bist mir
näher, als mein ganzes Selbst …«

Aglavaine: »Ich suche mich außer dir, und in dir
finde ich mich … Deine geringste
Bewegung offenbart mich mir …
ohne Ende erzeugen wir uns ineinander.«

Es ist das »Wunder« der beiderseitigen Ähnlichkeit, das die Liebenden in sich entdecken und das ihre Seelen mit innigen Banden umschlingt. Fast noch wunderbarer aber ist die Tatsache, daß auch gerade die Gegensätze in der seelischen Beschaffenheit es sind, die zwei Menschen verschiedenen Geschlechts zueinander ziehen, weil sie ihre wechselseitige Ergänzung durch ihren Bund zu finden vermeinen. Offenbar sind die Naturen der Menschen so grundverschieden, daß der eine in der Übereinstimmung, der andere in der Differenzierung und der hieraus folgenden Ergänzung sein höchstes Genüge findet.

Allerdings kommt alles auf die Ausführung dieser Differenzierung an. Nicht selten führt die mangelnde Übereinstimmung der beiderseitigen Empfindungen, von der man sich ursprünglich eine Ergänzung versprochen hatte, zur ernstlichen Trübung der Harmonie und im Endergebnis zum tragischen Abschluß. Selbst die innigste Zuneigung vermag zuweilen diesen Abschluß nicht zu verhindern, wenn ihre Klangfarbe, ihr Rhythmus beiderseitig zu verschieden geartet ist. Das wird um so leichter sich ereignen, je feiner und differenzierter die Konstruktion der beiden Einzelseelen beschaffen ist. Denn in solch einem differenzierten Apparate wird das Gleichgewicht weit leichter gestört und viel schwerer wieder herzustellen sein, wie in einem unkomplizierten Organismus. Gerade auf einem starken, gemeinsamen Hintergrund heben vorhandene Gegensätzlichkeiten, die im täglichen Leben belanglos erscheinen würden, bei differenzierter Seelenbeschaffenheit sich um so schärfer ab und lassen sich um so schwerer überbrücken. Dazu kommt der Umstand, daß, wie jede organische Erscheinung, auch die Liebe ihre Entwicklung hat und dem Gesetz der Umwandlung unterworfen ist. Hierauf weist J. M. Verweyen in einem Aufsatz »Irrende Liebe« (Die neue Generation, Dezember 1918) zutreffend hin. Er hebt hervor, daß wohl jeder Heranwachsende ein mehr oder weniger scharf umrissenes Bild des kommenden Menschen seiner Liebe in sich trägt, und daß die Züge dieses Bildes von den verschiedensten Einflüssen bestimmt werden. Unter diesen spielen die Kindheitseindrücke eine besondere Rolle. Sie bestimmen in entscheidender Weise Richtung und Art des späteren erotischen Lebens, erfahren aber im Laufe der Zeit durch geänderte Entwicklungsbedingungen oftmals wieder eine entsprechende Gegenwirkung. Das kann leicht zu einer Liebeswahl führen, welche durchaus nicht der vielleicht erst viel später zum Durchbruch gelangenden, angeborenen Triebrichtung gemäß ist.

Es ist von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung des ehelichen Glücks, daß beide Gatten sich die Tatsache jenes Gesetzes der Umwandlung zum Bewußtsein bringen und sich demgemäß aufeinander rechtzeitig einzustellen wissen; mag es sich darum handeln, daß das sexuelle Empfinden mehr und mehr von einer vergeistigten Liebe abgelöst wird, oder daß die geistigen Interessen des einen oder anderen Teils nach einer bestimmten Richtung hin ausgesprochener hervortreten. Es gehört nicht nur eine feine Witterung dazu, hier immer die richtige Fährte innezuhalten, sondern auch ein bewußtes Versenken in die Natur des anderen, um dessen Umwandlung jeweils mit dem nötigen Takt und Verständnis zu begegnen. Wird die Umwandlung allerdings gar zu abwegig, so daß der andere Teil ihr selbst beim besten Willen nicht zu folgen vermag, so kann dies zu einer ernsten Trübung, wenn nicht gar Trennung des Bundes führen. Hier beizeiten innezuhalten oder mit Erfolg entgegenzuwirken, gehört mit zu den schwierigsten Problemen innerhalb der ehelichen Gemeinschaft. Und wir werden sehen, daß selbst in Schleiermachers Ehe dieses Problem zu einem gefährlichen Stein des Anstoßes geworden ist.


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