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Der Lahme hatte eine peinvolle Nacht.
Wie – wenn der Schuster zu zeitig an die Arbeit ginge und seine Frau erwachte! Wenn in dieser stockfinsteren Nacht jemand von der Straße abkäme und auf seinem Irrwege den ahnungslosen Säufer zufällig ertappte! Was dann? Ihm wurde heiß, und vorsichtig streifte er das Deckbett etwas nieder, hob den Kopf eine Handbreit über das Kissen und lauschte gespannt. Aber nichts rührte sich. Durch die Pflaumenbäume vor den Fenstern ging ein streichendes Geräusch. Die Uhr in der Wohnstube verkündete die elfte Stunde. Oder, wenn der Schuster schlief, anstatt ihn zu retten, wenn er, der »Gelitterte, mit allen Hunden gehetzte«, das Weite gesucht hätte und dann umherginge und allen, die es hören wollten, von seinem Anschlage erzählte. –
Bei diesem Gedanken erblindete seine Seele in Wut.
Aber nein! Jetzt wurden schlürfende Schritte laut, hielten einigemal an und verloren sich in der Ferne.
Nun ist er fort.
Exner war es, als sei die Finsternis um ihn siedend geworden; aber er rührte sich nicht.
Nach langer, langer Zeit nahten sich die Schritte wieder. Doch nun waren sie langsam und schwer, wie belastet. Vor dem Hause hielten sie an. Nach einer Weile entfernten sie sich wieder.
Der Lahme überlegte: Die Steine müssen nicht leicht sein; er trug sie nicht beide auf einmal. Freilich nicht, er ist ausgemergelt vom Suff.
Nun schlichen die Schritte abermals heran, schwer, zögernd – ganz wie vorher.
Exner atmete auf. Gott sei Dank, nun war es bald vorbei! Dann sollte jemand auftreten! Er hatte recht gehabt, nun lag es klar am Tage, daß ... Plötzlich! Poltern von hohlliegenden Brettern. Ein banger Schrei – – Er fuhr, alles vergessend, in die Höhe und schrie: »Der Hund!«
Sein Weib erwachte:
»Karla«, was is dir'n!«
Voll Schreck sank er leise zurück und begann laut und immer lauter zu schnarchen.
Marie wälzte sich noch einigemal hin und her; dann erklangen wieder ihre gleichmäßigen, tiefen Atemzüge: sie schlief.
Dem Horchenden schoß es durch den Kopf: Vielleicht glitt ihm der Stein aus der Hand und siel auf die Bretter. Ja, anders konnte es nicht sein. Aber der Schrei! Es war ein Schrei ... und dann: keine Tür hatte sich nachher gerührt. Klose mußte doch unter Dach schlafen; er konnte doch nicht im Freien nächtigen!
Diese und andere Zweifel bestürmten ihn.
Endlich machte er ihnen ein Ende:
»Hol' dich der Teufel, Esel! meinetwegen schlaf' unter der Erde! Das beste wär's. Du hast nicht mehr verdient, und ich wär' dich los.«
Er drehte sich gegen die Wand, schloß trotzig die Augen und schlief auch ein.
Bald jagten furchtbare Träume durch seinen Schlaf. Er ging fortwährend zugrunde. Aus einem Tode fiel er in den andern. Bald stürzte er von einem Eisenbahnzuge, und die Räder zerfleischten ihn; bald versank sein Haus in einem Abgrunde, Flammen schlugen daraus hervor, und er verbrannte; bald war er auf der Flucht vor einem bleichen, schrecklichen Riesen, der mit einer Schlinge hinter ihm herlief, um ihn zu fangen. Denn er war ein Hagel gewesen und hatte das ganze Land verwüstet, eine Pest, die Tausende umgebracht hatte, eine Hungersnot, eine furchtbare Dürre. Dafür sollte er sterben. Alle Bäume, an denen er vorüberjagte, streckten blutrote Zungen nach ihm aus und langten mit den Ästen nach ihm. In Todesnot flog er auf die Berge, klammerte sich an die Sterne, setzte sich auf den Sturm, kroch in Höhlen. Aber der Riese fing ihn, warf die Schlinge um seinen Hals und schleifte ihn hinter sich her. Doch er starb nicht. Als die Steine des Weges schon alle von seinem Blute rot waren, raffte er sich auf, warf sich verzweifelnd auf den Entsetzlichen und rang mit ihm. Der Schweiß rann rauschend von seinem Leibe nieder, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Zuletzt siegte er und zerstampfte den Ungeheuren mit seinen Füßen. Dann wuchs er, wuchs als Baum, als Stein, sah sich um, fand sich in seiner Stube am Walde und sprach dumpf zu sich:
»Ich bin in der Hölle.«
Da erwachte er, strich sich den perlenden Schweiß von der Stirn und schüttelte die grausen Bilder von sich. Doch kaum war seine Seele hereingewandelt und hatte ihren Vorhof, sein irdisches Bewußtsein, wieder erhellt, als er auch schon die Not seiner Lage sah.
Er raffte die Kleider vorsichtig vom Stuhle vor seinem Bett, beugte sich über sein Weib, um zu sehen, ob sie schlafe, schlupfte im Hemd in die Wohnstube und kleidete sich hier an. Dann trat er vor das Haus.
Im Westen hing der Mond. Sein rotes Licht wurde von einer weißen Dunstschicht gedämpft, die über den ganzen Himmel gebreitet lag. Es sah aus, als glühe verlöschendes Feuer durch lichte Asche. Die Bäume des Waldes waren von dickem Reif überzogen, der in dem trüben Licht glitzerte. Von allen Gegenständen gingen leichte, zerfließende Schatten aus, die ihre Wirklichkeit in einen Spuk verwandelten.
In diesem Lichte tastete sich Exner nach dem Brunnenhäuschen und sah zu seinem Staunen den Born offenstehen und die Rodehaue danebenliegen. Geräuschlos brachte er das herausgehobene Brett in seine frühere Lage und verbarg die Haue im Schuppen.
Dann machte er sich auf den Weg, um zu sehen, ob die Grenzsteine auch wirklich verschwunden seien.
Klose hatte alles besorgt. Es standen Steine da wie alle andern, die Gott erschaffen hat.
Beruhigt begab er sich in sein Haus zurück, denn die Helle im Osten hatte zugenommen. Auf dem Wege nach Erlengrund erklangen Schritte, und er sah einen Männerkopf im Takt des Ganges hinter der Steinmauer auf und nieder tauchen. Der Sicherheit halber kauerte er sich in den Graben. Die Schritte setzten auch einen Augenblick aus, dann strebten sie gleichmäßig weiter und verloren sich im Rauschen des Frühwindes, das ganz leise einsetzte, als wandle es schlaftrunken aus großer Ferne herbei. In der Wohnstube brannte Licht; sein Weib war also auch schon wach. Er guckte verstohlen hinein und fand das Zimmer leer.
»Wo wird se sonst sein wie bei der Tocke!« murmelte er und meinte damit, sein Weib habe wieder heimlich ihren Gott aufgesucht. Wo aber mochte der Schuster sein?
Exner suchte die Scheuer, den Schuppen, den Stall und, als er sein Weib wieder im Hause hantieren hörte, auch den Heuboden ab. Nirgends eine Spur von ihm. Wieder und wieder durchstöberte er jeden Winkel, jede Ecke. Der Gedanke, Klose habe sich absichtlich verborgen, um ihm Angst einzujagen, führte ihn dazu, nach dem Verschwundenen zu fahnden, als sei er kein Mensch, sondern eine Nadel, ein Stock oder eine Feder. In der Scheuer hob er einen Spreukorb und stieß mit einem Stock unter die Plender; im Schuppen begann er die Reisigbündel wegzuräumen, obwohl zwischen ihnen und der Wand kaum eine Handbreit Raum war. Er rief in allen Schattierungen nach dem Schuster: neckisch, drohend, gleichgültig. Die Ecken blieben stumm, kein unterdrückter Atem keuchte aus dem Dunkel.
Da kam ihm eine furchtbare Mutmaßung.
Er warf das Reisigbündel hin, das er in der Hand hielt, eilte an den Brunnen und starrte auf die Bretter. Nein, das war schon die pure Tollheit.
Wenn man eines derselben heraushob, so entstand ein Spalt von anderthalb Fuß Breite. Ja, aber ... wenn man auf das lose Brett tritt, dann kippte es vielleicht ... in Bangen trat er zurück, begab sich in die Stube, setzte sich an den Tisch, klemmte die Hände zwischen die Knie und begann, den Kopf tief gesenkt, zu sinnen. Aber es war ein Wühlen in einer formlosen Masse.
Endlich rettete er sich wieder in seinem Trotz: »Ist er weg, so ist es für mich das beste; ich bin mein eigener Zeuge, das Geld bleibt mir, die Hosen und der Rock.«
»Was hast'n du mit'm Rocke?« fragte seine Frau vom Ofen her.
Um Marie irrezuführen, kniff er die Augen ein, sah mit pfiffigem Lächeln auf und fragte:
»Na rat, was für'n Rock!«
»Ja, das weeß ich nich!«
»Nee, nee, Mariela, Rätsel raten kannste nich, da biste doch nie gescheide genug.«
Dazu lachte er beißend.
Nachdem er diese unvermutete Gefahr abgewendet hatte, stand er auf und verließ, seinem Weibe einen höhnischen Schlag auf den Rücken versetzend, das Zimmer. Eine Art Zuversicht war über ihn gekommen, und es fiel ihm leichter, an das zu glauben, was er sich vorschrieb: Der Schuster sei aus Angst vor der Entdeckung seines Frevels fortgelaufen, werde sich bis zum glücklichen Ende des Grenzhandels verborgen halten und dann wieder, wie aus dem Boden gewachsen, im Hofe stehen. Aber die Unruhe wich doch von dem Lahmen nicht; ausgestoßen vom Willen, wühlte sie in den Tiefen seines Wesens.
In den Wänden der Holzhäuser schrotet der Holzwurm, leise und träge. Im Lärm der Arbeit und des Tages hört man sein Graben nicht. Aber in dem Frieden der Nacht tönt sein schwaches Ticken. Wenn die Leute es vernehmen, erschrecken sie und sagen: »Die Totenuhr geht.«
Marie nahm keine Veränderung an ihrem Manne wahr, denn ihr Herz hing in den Blütenzweigen ihrer Träume und sang Kinderweisen und Wiegenlieder.
In der Nacht, die diesem unruhigen Tage folgte, überzog sich der Himmel mit schweren Kuppelwolken: es fiel Schnee. In der Kälte des Morgens ließ das Schneien nach, und als es völlig Licht geworden war, ging ein dünner Regen seiner Eiskörnchen nieder, die gegen die Fenster prickelten. Als Exner das sah, war er sehr vergnügt und trat gleich nach dem Ankleiden auf den Hof. Alles war weiß, jede Spur verwischt. Er schlenderte an die Hausecke, lugte nach der Straße, die nach Erlengrund führte, und pfiff, wie er wohl sonst zu tun pflegte.
Dann ging er zurück und rief seiner Frau, sie solle Wasser holen. Marie trat gehorsam heraus.
»Immer geh hin und tritt of die Bretter!« rief er ihr zu, und als sie, verwundert über diese unnötigen Worte, ihn ansah, fügte er lachend hinzu: »Nee, nee, die sein feste. Ha och kee Bange «ich, da kippt kees.«
Die Schritte Maries polterten auf dem Belag, das Wasser quoll aus der Röhre, klar und lebendig, und füllte beide Gefäße.
»Na, du kindsche Meste!« rief er froh, als er all das gesehen hatte.
Lange blieb er dann stehen »nd betrachtete das Brunnenhäuschen, als könne sich doch Unvorhergesehenes damit ereignen. Aber es stand wie immer regungslos da, und der rote Knopf hielt auf dem kleinen Dächlein wackere Wacht wie je.
Da schüttelte er lachend den Kopf und murmelte: »Was will ich denn noch mehr! Ha ich's nie gesehn? Ma is schon manchmal wie mit'm Pürdel vernietet.«
Der Schuster mußte ja kommen; aus dem Walde, dem Graben, der Schenke, der Scheuer, irgendwoher. Es gab doch keinen Menschen in Steindorf und der ganzen Umgegend, der etwas anderes erwartete. Er atmete erleichtert auf, als ihm dies einfiel. Seine schwere Sorge schlüpfte in die steckenlose Erwartung anderer, die nichts wußten von der häßlichen Nacht und von dem Ahnen, das aus ihr wie eine lastende Wolke in seine Seele gestiegen war. Und plötzlich war es ihm, daß sein Verborgenes Spintisieren an allem schuld sei und daß noch manches Unangenehme seines Lebens unterblieben wäre, wenn er nicht von jeher »solch verrücktes Zeug im stillen getrieben hatte«.
Er tat daher, was alle kleinen Wirtschafter so des Wintertags früh tun, ging in die Scheuer, warf Garben auf die Tenne und breitete sie, die Ähren gegen die Mitte, in zwei Reihen auf.
Ferne Schritte auf der halbgefrorenen Erde ließen ihn aufhorchen. Schnell warf er die Arbeit hin, ergriff ein Seil, damit es aussehe, als sei er tief beschäftigt, und ging über das Höfchen an die Ecke des Hauses. Da sah er, seiner Vermutung gemäß, den Freirichter daherkommen und der Stelle zuschreiten, wo die Mauer gewesen war. Jetzt bog er ab und eilte, um den Weg abzukürzen, querfeldein.
Der Lahme zog die Mütze und rief: »Guten Morgen, Herr Freirichter!«
Der Mann mit dem braunen Barte und dem papierweißen Gesicht gab keine Antwort und strebte eilig dem Orte zu, wo die Grenzsteine stehen mußten, die die Knechte bloßgelegt hatten. Er scharrte den Schnee mit den Stiefeln fort, bückte sich und schüttelte den Kopf.
Als Exner das sah, rief er hinüber:
»'s is kalt, a ganz hübsch Schneela; aber er wird wieder weggehn. Dr Eschberg is schlimmer dran, druba Hannig Seffe hat gewiß schon de Pudelmütze offe.«
Der Freirichter verstand wohl keines seiner Worte, mußte aber glauben, der Klumpen verspotte ihn, richtete sich auf und drohte mit der Faust herüber:
»Ich wer Ihn schon kriegen, Freundchen!«
Exner lächelte freundlich, als habe sich der Freirichter nach seinem Befinden erkundigt, und nahm mit einem Gruß die Mütze abermals ab, da der Großbauer sich anschickte, den Rückweg anzutreten.
Am liebsten wäre er ihm nachgelaufen, um zu fragen, wo wohl der Schuster geblieben fei. Er sann unschlüssig, ob er gehen solle oder nicht, bis sich sein Denken in gestaltloses Hinbrüten verlor. Er mußte über etwas klar werden und konnte nicht finden, über was.
Die Stimme seines Weibes erlöste ihn von diesem unfruchtbaren Bemühen. Sie forderte ihn auf, das Wasser zu kosten, welches sie vorhin aus dem Brunnen gepumpt hatte. Ohne weiteres nahm er ihr die Kanne ab, tat einen tiefen Schluck daraus, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und sprach ruhig:
»Wie de Kresse a so frisch un süße wie Mandelkern. Was soll's denn sein?«
»Was sein soll! Nu, ma hört doch manchmal, 's fällt was ei a Born, a...«
»Ja'ch, ja'ch!« höhnte er, »nee ha, was du a so für ein gescheites Weib bist. Was fallt'n a so nei ei de Borne?«
»Nu, 'ne Katze oder irn'd was.«
»Oder ne Kuhe, was? oder a Mann, was? Verleicht dr Schuster, meenste, weil er seit gestern fort is. Gell och un durch de Bretter, was?«
»Weil ich lach.«
»Un du brauchst doch nich mit den Augen a so zu finkeln!«
Exner maß sein Weib mit glühenden Blicken, sein Atem begann zornig zu rauschen; dann zerriß Wut die Maske seiner vorsichtigen Mäßigung. Stoßweise, grollend, immer lauter schrie er:
»Mei Auge finkelt. Mei Hand wird lose, un' gehst du nich glei, da liegt se dir eim Gesichte. Du! Was willst du denn vo mir? Du hast mich schon genung geschindt. Nu soll ich noch fürs Bornwasser könn! Da geh und frag lieber deine Tocke. Die is ja gescheide genung.«
Niedergeschlagen ging Marie davon.
Aber auch den Lahmen hatte dieser Ausbruch nicht aufgerichtet.
Er verfiel in eine heißhungrige Arbeitslust, hackte Holz, drosch allein in der Scheuer, daß alles bebte, grub Abzugsgräben auf dem gefrorenen Felde, spaltete Steine. Ja, er tat völlig Zweckloses. So schob er mit langen Stangen den Schnee von dem Dache, besserte den Weg, obwohl der Schnee schon fußhoch lag, nur, um gegen sein Schicksal zu ringen. Einen geistigen Kampf, ein seelisches Auseinandersetzen gab es für ihn nicht. Er glaubte seine Untat zersägen, mit dem Pürdel zerschlagen, mit dem Beile töten zu können.
Aber die Bilder seiner Furcht wichen nicht von ihm, und am Ende der Woche fühlte er sich verlorener als am Anfange.