Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Diesem schweren Tage folgten wieder leichtere, und der unausgeglichene Schatten zwischen den beiden Eheleuten schien nie gewesen zu sein.
Aber er war nur in ihnen versunken, in jene unerforschlichen Gebiete der Seele hinabgetaucht, wo unser Schicksal wächst.
Dort verband er sich mit der alten Menschenfeindlichkeit des Klumpen und machte ein uneingestandenes Mißtrauen gegen Marie rege, das seine Worte betastete, ehe sie den Mund verließen, seinen Gedanken geheime Scheelsucht beimengte und in die Augen ein bitteres Leuchten brachte, wenn sie die Schönheit seines Weibes sahen.
Marie ward davon wie von einem kalten Hauche getroffen, und obwohl sie sich keine Schuld beimessen konnte, war sie doch unzufrieden mit sich.
In diesen widerstreitenden Gefühlen wurden die letzten Arbeiten verrichtet, und Marie war es möglich, an dem folgenden Sonntag wieder einmal zur Kirche zu gehen.
In gehobener Stimmung, wie erleichtert, trat sie gegen fünf Uhr früh aus dem Hause. Die Sonne stieg eben über die Wälder des fernen Schneegebirges. In den Tälern drunten lagen noch weiße Nebel, Busch und Gras hingen voller Tautropfen, schlaftrunkener Vogelsang stotterte leise aus dem Walde. Ihr Schritt scheuchte die erste Lerche aus der jungen Saat, schweigend stürzte sich der unscheinbare Vogel empor, und erst hoch im Blau ertönte gedämpftes Singen, das mit dem Sonnenlicht niedersank, daß man meinen konnte, die goldenen Glutfunken in der Luft hätten plötzlich von selbst zu klingen begonnen.
Diese selige Offenbarung der Natur griff so wohltuend in das Herz der einsamen Kirchgängerin, als begegne ihr unvermutet ein alter, lieber Freund, den sie lange vernachlässigt hatte.
Als sie an dem Freigute vorüberschritt, trat eben Frau Wende aus dem Hoftor und begrüßte Marie sogleich mit der ihr eigentümlichen lauten Herzlichkeit. »Das is schön! Ein guter Morgen, an dem man eine junge Frau trifft. Da darf ich gar nicht erst fragen, wie's geht, ma sieht's ja.«
»Nach, ma muß Gott danken.« Sie fühlte sich plötzlich zagen; zögernd und gepreßt kam ihre Antwort.
»Ach ja, ich hab's wohl gemerkt, daß de gerne höher naus gewollt hättst. Aber gell ja, nu biste zufriede und bereust's nie?«
»Nee, gewiß nich, gar nich, 's is gut, ganz, ganz gut, ich dank's Ihn, denn Sie sein ja, wenn ich mir's recht besinne, an allem schuld.«
Marie sprach in lautem Tone, in abgebrochenen Sätzen hart und bitter, und ihre Augen wurden feucht.
Frau Wende beugte sich vor und sah ihr ins Gesicht: »Aber du weinst ja!« sprach sie erschrocken.
»Nu ja, wenn ich mir alles überlege, was ich durchgemacht habe, da kann ich mr gar nich helfen, da überfällt mich's.«
»Ich kann mir's ja denken, aber mach dei Augen uf, so weit, daß du und dei ganzes Leben drinne Platz hast, sonste spielt dir der Schatten den Übermann, und so ein Schwarzes in uns is unersättlich.«
»...und der Gottsturm«, fügte Marie leise hinzu. Denn in der Ferne war der Leschkowitzer Kirchturm aus dem Nebel getaucht, und sein Riesenfinger drohte herüber, in das Herz der jungen, glücklosen Frau.
»Auch das, freilich«, bestätigte Frau Wende.
Dann schritten sie schweigend nebeneinander hin und trennten sich in der Kirche mit ernstem Blick. Während der ganzen Messe saß Marie mit niedergeschlagenen Augen, weil sie den bunten Putz, das Spiel vor dem Altar nicht ertragen konnte.
Von allem wurde sie betäubt, zurückgeworfen in ihr Leben, das sie nicht verstand. So bedeckte sie den Stern ihres Auges und drängte sich mit ihrem Gedankenstammeln, ihrer inbrünstigen Seele an den unbegreiflichen Schatten Gottes, der ihr tiefer und lebendiger geworden war, seit sein Priester so an ihr gefrevelt hatte.
Wie sie so dasaß, fiel ihr Blick von ungefähr in das aufgeschlagene Gebetbuch und las die Worte: »Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach.«
Sie erkannte, an ihrem Manne unrecht gehandelt zu haben, vom Anfange des unseligen Verhältnisses an, besonders aber an jenem Sonntag in der Nacht, da er unfern des Gehöftes im Fuchsloch um ihre Liebe gebettelt hatte.
Sie nahm sich vor, freundlich zu sein, sich zur Liebe überwinden zu wollen und alles zu vermeiden, was ihm unangenehm sein konnte.
So verschwand das bebende Wallen ihres Herzens, und jene Regungslosigkeit erfüllte sie, der sie den Namen Frieden gab.
Um in Einsamkeit diesen gottseligen Vorsatz noch weiter zu befestigen, wartete sie, bis alle Besucher die Kirche verlassen hatten, und ging dann durch den Wald des Freirichters ihrem Hause zu. Die Heide auf den Blößen grünte, die Heidelbeersträucher hingen voll von blaßroten Blütenglöckchen, im jungen, haarfeinen Wildgrase rührten sich eilige Käfer, daß die winzigen Hälmchen bebten.
Sie schritt hin ganz in Gefühl aufgelöst, von keinem Gedanken erfüllt, wie man mit geschlossenen Augen durch ein Märchen wandelt, dessen verwunschene Schönheit dennoch berauschend durch tausend geheimnisvolle Poren auf unsere Seele eindringt.
Da gewahrte sie unter glänzenden Blättern verborgen ein Veilchen. Sie bückte sich rasch und pflückte es, um sich damit zu schmücken. Indem sie sich aufrichtete und ihr Auge erhob, gewahrte sie durch die Stämme des Waldes ihr Haus, das mit seinen grämlichen Fenstern auf sie hersah. Da warf sie das Blümchen zur Erde und setzte im Weiterwandeln fest den Fuß darauf.
Unter den Fenstern auf der Holzbank saß neben ihrem Manne in eifrigem Gespräche ein Fremder, in dem sie nach scharfem Hinsehen zum Erstaunen den Schuster Klose erkannte.
Hochklopfenden Herzens mußte sie anhalten, dann tat sie mechanisch noch ein paar Schritte und trat hinter eine starke Fichte, von wo aus sie unbemerkt alles beobachten konnte. Je länger sie hinschaute, desto unbegreiflicher ward ihr das Ereignis.
Klose saß jetzt unbeweglich, zusammengesunken, wie nur Gebrochene sich halten. Er trug noch den Werktagsanzug, dessen Hosen an den Knien zerrissen waren, daß das schmutzige Fleisch hervorsah. Nun hob er den Kopf und schaute lange geradeaus. Sein Gesicht hatte die Farbe blaßgelben Leders, und die Lider der leeren Augen waren gerötet. Der Schnurrbart hing wirr über die blassen Lippen.
Augenscheinlich hatte ihn ein großes Unglück getroffen, weil er seine selbstgewollte Vereinsamung aufgegeben und hierhergekommen war, wo er doch mit ihr zusammentreffen mußte, die ihm so bitteren Spott angetan hatte. Endlich trat sie hervor und ging mit freundlichem Gruß auf ihn zu.
Er riß die rechte Hand aus der Hosentasche und streckte sie ihr entgegen, indem er ihrem Blick auswich und sich zur Katze niederbeugte, die herbeigeeilt war und gekrümmten Rückens um das Kleid der Herrin strich« »Nee ha, Guste, wie siehst du denn aus?« fragte sie in tiefer Bewegung.
Der Schuster fuhr mit zitternder Hand über das weiche Fell der Katze und sagte mit fistelnder Stimme, ohne aufzusehn: »Mietzla, Mietzla, Mietzla!«
Plötzlich riß er sich auf und antwortete rauh: »Wie ma aussieht, wenn ma nie weeß, wohi!« Dann blickte er wieder still vor sich nieder.
Nach einer Weile sagte er: »Wer heutzutage für sei Eltern sorgt, is ein ausgemachter Affe!« Seine blecherne Stimme klang höhnisch. »Aber kann ma sich helfen? Ma puckelt und zieht den Draht bis ei die Nacht durch die alten Krappen, bloß daß die arme Mutter nich gar noch hungrig sterben muß. Derweile vergißt ma, daß ma eigentlich auch ein Mensch is, und wird ein Gokelsack, über den sich ein jedes lustig macht. Möcht's sein! Was ma muß, soll ma gerne tun, und hat mich eens jemals klagen hören?«
Er brach ab und wartete auf Antwort. Allein beide schwiegen.
Leidenschaftlich werdend, begann er von neuem: »Aber, bin ich alleene Kind? – is de Paule nich ... verflucht! – ich – siehch, deswegen hab' ich mich besoffen, bin in den Gräben herumgestürzt und hab' im Pusche geschlafen.«
Mit Augenzwinkern und Lippennagen kämpfte er gegen sich, dann schleuderte er entschlossen seine Faust wie einen Stein hin und verlor jede Mäßigung: »Da kommt das Mensch! – Da kommt se am Freitage heem, gerade am Freitage, als wenn's bloß den een Tag ei dr Woche hätt. – Ich sitze auf'm Schemel und schlage den letzten Nagel ei den Absatz vo Klenners Stiefeln, bin fertig und lang nachm Geneipe. Plotze geht de Tür uf... ich denk, mich streicht dr Schlag. – Steht de Paule, die eim Schleschen dient, da steht se unter dr Türe und kann nich rein und nich naus, sterrt und lacht, lacht und sterrt, schmeißt den Packs hin, stürzt druf, halt de Hände vors Gesichte und heult, daß zum Erbarmen is ... nee nie, zum Fluchen. Ich wußt glei Bescheid, spring uf, of se zu, reiß se ei de Höh und schrei: ›Vo wem hast's!‹ Da war's een Augenblick stille, stille, als wenn de Bäume Kirche haben. Dernach würgt se und würgt ... vo eem solchen Stoppelhengste, so eem Kerle, der selber keene Eltern hat, der bloß rumleeft und Kinder ei de Welt setzt, als ob's noch zu wing Menschen hat, als ob's wer weeß wie scheen wär dahier of der Erde! Und nu sag mr eener, hat's een Gott? Ma verdient gerade so viel, daß de Mutter ein Schnittchen Brot, Kartoffeln und Kaffee hat, und da kommt se heem, jetze, wo de Arbt alle is, wo ein jeder barfuß rumleeft, der gesunde Füße hat. Kee Geld und Hunger, Elend und nich wissen wohin ...«
Die letzten Worte hatte er in Verzweiflung, halblaut vor sich hingesprochen. Dann ließ er den Kopf sinken und bewegte tonlos die Lippen, daß man nur den überhangenden Schnurrbart zittern sah.
»Nu, Guste, weeste nich, was du da zu tun hast?« nahm, vor Erregung bebend, Exner das Wort, »haste kee Kurasche? Das wirst du doch wissen, was eem solchen Mensche gehört!«
Mit wildem Lachstoß riß der Angeredete den Kopf herauf: »Karle, nich wissen? ich? – Siehch, de Haare sein bloß so geflogen. Die Mutter schrie und stürzte vr Angst vo dr Banke, und ich hatte schon den Hammer in dr Hand, hol aus und denk: Äh, hol's der Teufel! ... aber da trat's linde hinter mich, ich besann mir's, setzte die Mutter of de Banke, lehn se an de Wand, nahm de Mütze und ging naus. Of dr Schwelle dreht ich mich um und schrie: Nu, Zuppe, siehch, wie du durchkommst!«
»Du hast se gehaun, Guste, und's Kind? Weeßte nie, daß de schon ein Mörder sein kannst?« fragte Marie bleichen Gesichts.
Der Schuster saß verstockt und schüttelte dann wie über einen eigenen kuriosen Gedanken den Kopf: »Das Kind – haha, 's is zum Lachen«, redete er dumpf in sich, reckte sich auf und hielt Marie die geöffnete Hand dicht vors Gesicht: »Da, Marie, nimm dr den Ring!« Das junge Weib sah sprachlos von der leeren Hand in sein gespanntes Gesicht und dachte, er sei toll geworden.
»Ich bin ganz gescheit, darfst dich nich fürchten«, sagte er lächelnd, wandte die Hand nach unten, als werfe er etwas weg, und trat dann mit den Füßen den Erdboden, als vernichte er einen Gegenstand. Darauf brach er in ein schreiendes Gelächter aus: »Wenn's wahr is, was de vorhin vom Kinde gesagt hast, da mußte dahier auch den zertretnen Ring finden. Haha! – Aber wenn's auch wär. Nach dem, was vo mir is, bückst du dich ja nich. Das stinkt, das weeß ich ja, das stinkt!«
Bleich und gramvoll sah er Marie lange an, die seinem starren Blick nicht standhalten konnte. Endlich erwachte er aus seiner peinvollen Trunkenheit und sprach voll Trauer: »Und wenn is, was nich is, ach du mein Gott, ich gleeb's ja, verleicht is mei Kopp bloß an allem schuld, das heeßt, das ganze Leben macht's eem bloß vor. Nu ja, ja ... aber wenn so was Unsichtbares dir alles nimmt, was de vor dr siehst, dei ganze lumpige Hoffnung, un 's bleibt dr nischt, bloß de Kurasche zum Saufen ... nee, das weeßt du nich, wie das tut.«
Nach einigem Sinnen wandte er sich wieder an Marie, und als habe er sie beleidigt und müsse sie nun versöhnen, klang seine Bitterkeit weich zitternd, und in seine trostlosen Augen kam ein Glanz, der nur für sie leuchtete.
»Da sag mir's, was ich machen soll, und of dr Stelle geh ich heem, halt's Maul und bin, wie ich immer gewesen bin.«
Der Lahme war in Gedanken versunken und hatte scheinbar auf das Gespräch der beiden nicht geachtet. Jetzt wandte er sich an Klose und fragte: »Woran fehlt's de nu eigentlich?«
»Wenn du mich fragst, Karle: am besten fehlt's.«
»Nach, Guste, wenn's of das ankommt, da reiß dr den Kopf nicht runter. Wenn de arbeiten willst, komm zu mir; ich will's Niederstücke umroden, da kannste mir helfen. Du kriegst of a Tag acht Böhmen und de Kost. Wenn de willst, hier is mei Hand.«
Aber der Schuster ergriff Exners dargebotene Rechte nicht, sondern fragte: »Ja, dahier soll ich blein, aus und ein gehn ei beim Hause, an deim Tische sitzen? Nee, alles, bloß das geht nich!«
Jäh fuhr er auf. »Adje! und denk, ich war nich dahier.«
Er bebte am ganzen Leibe, und sein Gesicht war kalkweiß.
Der Lahme packte seine Hand und ließ sie nicht los: »Guste, wach uf! Du bist wohl ungescheit geworn!«
Klose machte verzweifelte Anstrengungen, den eisernen Griff des Lahmen zu lösen, und stotterte in höchster Verwirrung: »Soll ich dich belügen, hintergehn, betrügen! – Laß mich los, laß mich, ich muß laufen, durch Büsche, über Wasser, immer an Leuten und Häusern vorbei, bis ich hinstürz mit dem letzten Odem ei dr Lunge ...« Exner war aufgesprungen, hatte ihn um den Leib gefaßt und rang mit dem Tobenden, bis dieser kraftlos in seinen starken Armen lag.
Schwer atmend ließ er endlich von dem Schuster: »Guste, du hast Kräfte, ma sähch dir's nich an. Aber nimm och Vernunft cm, ich will dir ja nischt schenken. Und da hast du een Tagelohn zum voraus, daß die zu Hause nich ohne Geld sein.«
Aber Klose rührte sich nicht, und der Lahme steckte ihm die Münzen in die Jackettasche; dann wandte er sich an sein Weib: »Und du, Marie, geh schnell und gib ihm einen ordentlichen Krug Milch, a Brot un a Viertelchen Butter!«
Eilig war Marie im Haufe, und nach wenigen Augenblicken erschien sie wieder und hielt mit rührendem Glück im Gesicht ihm alles hin.
Klose stand wie ein Bildstock und starrte entsetzt auf das schöne, junge Weib, das schmeichelnd bat: »Guste, tu mir den Gefallen, nimm's und sei nich mehr böse.« Errötend langte der Schuster endlich nach dem Geschenk, stammelte etwas und ging wie im Traume davon.
Sie begleiteten ihn bis zur Mauer und sahen ihm nach, wie er auf einsamen Steigen dem Dorfe zuschritt. –
Marie hatte die Empfindung, als sei mit dem Unglücklichen ein tiefes, unaussprechliches Leid von ihr gegangen. Die Weiten ihrer Seele öffneten sich wieder strahlend.
Der, dem sie sich wie einem düster«, unabwendbaren Geschick verbunden hatte, war plötzlich ein Wesen geworden, dem sie gern die Kammern ihres Innern auftun durfte, weil er barmherzig dem Trostlosen geholfen hatte. Eine glückliche, weihevolle Stimmung überkam sie.
In dieser Stunde war sie im Herzen sein Weib geworden.
Noch immer standen sie zwischen den Steinwänden, die unwirtlich und öde dalagen wie ihr bisheriges, gemeinsames Leben, und sahen hinaus in den Morgen.
Das Licht floß über ihre Stirnen, und das große, grobe Gesicht Einers schimmerte wie ein Felsen, der in der Sonne sieht. Da umschlang Marie errötend den Manu, er beugte sich zu ihr nieder, und sie küßte ihn auf den Mund.
Dann schritten sie Hand in Hand dem Hause zu, und Marie gab ihm freudig die Süße ihres unberührten Leibes.
Der Ungefüge trank sie, wie der heiße Sommersturm die Wasser schlürft.