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[Überschrift 6. fehlt im Buch. Re.]
Marie suchte bald das Lager auf. Ihr Bett stand, wie das der anderen Mägde, in einer Kammer unter dem Dache. Durch Bretter war für sie ein besonderer Verschlag geschaffen, in dem außer ihrem Bett nur noch eine »Lade«, ein hölzerner Kasten für ihre Kleider, stand. Auf diesem saß sie eine Weile, nur mit einem Rock bekleidet, um sich ein wenig abzukühlen, denn sie war heiß wie von Fieber. Sie glaubte, es rühre von der Wunde an ihrer Stirn, und stand auf, ihren Kopf an die Scheibe des Dachfensters zu lehnen. Es war eine dunstige Helle draußen, und der Mond sah aus wie eine weiße Esse, der fortwährend Wolken eines leisen, behutsamen Rauches entquollen und wankend dem Geäst der Bäume zutrieben. In dem Gewirr der Zweige verschwanden sie, wie von dem kleinen, knotigen Gestülp aufgesogen, und jedesmal schwankte dann wieder von dem blassen, unsicheren Monde eine Dunstwelle behutsam und leise zu ihr herüber. Sie starrte unbewegt auf dies eintönige, stumme Spiel des weißen Nachtnebels hin, das nicht nur den Schmerz der Wunde in einen pulsenden Druck auflöste, sondern auch in die Last ihrer jüngsten Erlebnisse ein, wenn auch noch leeres Auf und Nieder brachte. Aber nicht lange, und ihr ganzes Wesen wankte nach dem Takte, der die blassen Schleier da draußen herantrieb. Marie biß die Lippen aufeinander und hielt sich mit beiden Händen an die Dachleisten an, die am Grunde des Kammerfensters hinabliefen. Indessen hatte sie immer peinigender das Gefühl, dieses Wogen des Nebels hebe sie auf und nieder und wolle sie fortspülen von hier. Als diese Empfindung sich zu einer unerträglichen Gewißheit steigerte, sprach sie stark vor sich hin: »Nein! Ich muß nicht! – ha!« –
Damit teilte sich das Dunkel über ihrer Seele, und die Macht, die in der Nacht auf sie eindrang, nahm die Gestalt an, die auf so rätselhafte Weise schon zweimal ihren Weg gekreuzt hatte. Sie sah den Lahmen auf den Schleiern zu ihr herschreiten, aber nicht in der Kleidung, die er diesen Abend getragen hatte, sondern in langen Schaftstiefeln und der kurzen Joppe, in deren Hüllen seine Arme gleich langen Stangen steckten. Den Kopf auf die Seite geneigt, daß die breitrandige Schildmütze über die Stirn fuhr, kam er mit seinen ungleichen Schritten auf sie zu, mit einem Gesicht voll unbeweglicher Entschlossenheit, 's is ja all's bloß Dummheit, dachte sie bei sich und ging auf ihr Lager zu. Als sie aber fühlte, wie sie wankte, stützte sie sich mit der Linken an der Wand und wiederholte drohend und voll Hohn: »Nee! ich muß nich, das merk dr!«
Dann warf sie sich schwer aufs Lager, mit dem Gesicht gegen das Kissen, denn der Schmerz in der Stirn hatte wieder zu wühlen begonnen, und seine Zuckungen gingen durch ihren ganzen Körper, und es war ihr, als sei ihr ganzes Leben verwundet. »Warum muß ich? Wie kommt der Kerl dazu?« das fragte sie sich immer wieder und wendete gegen den Schmerz in der Stirn nichts anderes an, als daß sie ihre Rechte leidenschaftlich auf die Wunde preßte, über die sie ein Tuch gebunden hatte. Aber ob sie auch alle Vorgänge vor und nach dem Unglück nach einem Vorfall durchsuchte, der dem Klumpen vielleicht das Recht zu einer solchen Äußerung geben konnte, sie fand keinen anderen Grund dafür als die regungslose Entschlossenheit in dem unschönen Gesicht des Lahmen, die Unwandelbarkeit der leeren Augen. Von dem ganzen ungefügen Menschen ging ein geheimnisvoller Bann aus. Sie wandte sich auf die Seite und schloß mit Gewalt die Augen, um an ihren »langen Sonntag«, ihre sonngoldige Zukunft zu denken; aber es gelang ihr nur sehr unvollkommen, denn unverrückbar empfand sie die Nähe dieses Mannes, der mit einemmal von seinen abseitigen Wegen mitten in ihr Leben gelangt war, lächerlich, aber auch verschlossen wie immer.
Es mochte wohl schon früh sein, denn die Sichel des späten Mondes stand gerade dem kleinen Kammerfenster gegenüber, und der Raum schien von tanzenden Schneestäubchen erfüllt. Die Hähne krähten überall. Von der Schenke herauf erklangen undeutlich die Schlußfanfaren des Tanzes. Sie dachte: Morgen werde ich's erfahren, drehte sich von dem erleuchteten Fenster ab, zog noch die Decke über den Kopf und hatte nach einem jähen Aufschrecken die Empfindung, als gleite sie wiegend immer tiefer in ein weiches Dämmern hinab, zwischen dessen Gewölk die Bilderflucht des Schlafes aufzuschimmern begann.
Da war es ihr, als sähe sie den Mond ganz nahe. Er hatte seinen fernen Stand in der Nachtluft verlassen und kam mit Riesenschritten zu ihr herüber, die leise knarrten, als gingen sie behutsam über alten Schnee. Erst klang dies Geräusch aus weiter, weiter Ferne, ganz schwach, so, daß es nur mit der horchenden Haut vernommen werden konnte. Dann ward es deutlicher, aber ein langsames, vorsichtiges Schleifen, und nun zwängte der Mond seinen glänzenden, mageren Leib zu der Brettertür hinein, die er sich nur eine Spalte geöffnet hatte. Sie wußte, daß er sich nur vergewissern wollte, ob sie schlafe, denn er blieb zur Hälfte auf dem Gange stehen, der draußen an den Türen der übrigen Gesindekammern vorüberführte, und nur sein papierweißes Gesicht an dem dünnen Halse hatte er ganz in den Raum gebogen und suchte sie mit dem hämischen Schatten seiner Augen. Nun fühlte sie an einem Unbehagen, das sie wie ein leises Netz einschloß, daß er sie gesehen habe und aufmerksam beobachte. Einen Augenblick ist es ihr, als sei die Gestalt Scholz Joseph, der zweite Knecht des Freirichtergutes, dann aber erkennt sie, daß eine Täuschung nicht möglich sei: es ist der Mond. Eben steigt ein neuer Zweifel in ihr auf, warum der Mond nicht durch das Fenster zu ihr hereingeschlichen sei, als ein Knacken des Türschlosses die schummerigen Bilder ganz vertreibt. Sie schlägt, wach geworden, das Deckbett von ihrem Kopfe nieder und wendet ihr Gesicht der Tür zu, die geschlossen ist wie immer. Mit einem verwunderten Lächeln dreht sie ihr Gesicht wieder der Bretterwand zu, die ihren Verschlag von der Kammer einer anderen Magd trennt. Durch einen Spalt zwischen den schlecht gefügten Brettern sieht sie in das tiefe Dunkel des Nachbarraumes und bemerkt zwei Schatten, die sich einigemal fast geräuschlos an ihr vorüberbewegen. Dann sind beide verschwunden, sie müssen rechts und links von dem schmalen Sehfelde ihres lauernden Auges stehen.
»Die schlaft hart und feste«, setzte eine rauhe Männerstimme die Unterhaltung fort.
»Nee, geh heem. Was willste denn auch? Ich bin mide, und der Morgen is nich weit«, antwortet eine flüsternde Mädchenstimme abweisend. Darauf taumeln die zwei irgendwohin. Schmatzende Küsse, das Rauschen von Röcken, ein unterdrückter Notruf des Weibes, schwer stoßender Männeratem. Dann ist nichts zu vernehmen als das Keuchen zweier ringenden Menschen. Das nachtlaute Gepolter irgendeines umgestoßenen Gegenstandes verwandelt den heimlichen Kampf der beiden in Stille. Marie hört vor Scham ihr Blut picken.
»Geh!« beginnt das Mädchen wieder, ihre Stimme ist erschöpft. »Macht die's denn? Ha, und morgen früh, da sieht se een wieder an, als ob se sagen wollte: Ich kenn dich, du bist mir de rechte.«
»Ach Paule, du bist reen un gar kendsch«, antwortete der Knecht, »du und de schlesche, die hat's hinterm Ohre, aber knippeldicke! Ha! ich war uf'm Lande unten, da geht drs erst zu, du mein! Da hat's manche Nacht mehr Beene im Heue wie Schindeln auf'm Dache. Was is n das fir eene! Tut, als ob se tot war, spielt Komedje und läßt sich vom Klumpen vor allen im hellerlichten Saale kissen. Was drnach geworn is, das wird se, das heeßt alle beede, das wern se am besten wissen. Sonst wäre se nie daliejen wie ein Sack. Was meenstn, ob der Klumpen a so leichte ufheert! Hehehe!«
Dann lachen beide unterdrückt in boshafter Lustigkeit. Mit Marie dreht es, hebt sie auf und wirft sie nieder. Es umfaßt sie innerlich mit schraubender Gewalt, daß ihr Herz und Atem stocken. Sie muß sich aufrichten, um nicht zu ersticken.
»Psst!« macht in der andern Kammer der Knecht, der das Geräusch gehört hat.
Marie wendet ihren Kopf, dann aber richtet sich ihr Auge wieder auf ihre Lage. Es ist, als sähe sie in das Rädergewirr einer erbarmungslosen Maschine, die alles zermahlt und zerreißt: ihr Glück, ihren Stolz, ihren guten Namen, Freude und Frieden. »Aha, deswegen sagte der Hund: du mußt; deswegen – deswegen – also –«, sann sie und lächelte kalt, daß sie schwindelig wurde und sich mit beiden Händen an den Bettpfosten anhalten mußte, um nicht herauszufallen. »Hörscht's nich schaben?« fragte der wachsame Mann, der das Graben ihrer Fingernägel im Holze gehört hatte, die Magd. –
»Na, da mach och jetzte und tu nich erst lange!« mahnte er dann ungeduldig. Darauf leises Wühlen, behutsames Schleichen, als schöben sich entblößte Leiber durch weichende Falten, und dann eine sinnbetörende Schwüle. Dann erhoben sich die Laute der Wollust. Und all dies Stöhnen der Brunst, dies heiße, verhauchende Lispeln drang auf Marie ein wie eine unabwendbare Beschuldigung. Sie biß in Verzweiflung die Zähne aufeinander, faßte mit beiden Händen in die Haare ihrer Schläfe und zog den Kopf auf das Deckbett nieder.
Sie verlor das Bewußtsein, und nach langer Zeit ging die Ohnmacht in Schlaf über.
–
Die kurzen Stunden ihres Schlafes waren eine dauernde Bedrängnis gewesen, hatten aus den Ereignissen des gestrigen Abends und den Bildern ihrer aufgeregten Seele auf geheimnisvolle Weise eine Klärung geschaffen, und als sie, jäh abreißend, Marie im ersten Morgengrau aus dem Bett trieben, fand sich das arme Mädchen in der Gewißheit wieder, dem Klumpen nicht entrinnen zu können.
Plötzlich wich dies Betäubtsein einer jagenden Angst.
»Was lauf' ich nicht auf und davon; es ist Nacht, und alles schläft noch«, sann sie, zog sich eilig und geräuschlos bessere Kleider an, band ein wollenes Umschlagetuch um ihren Kopf bis tief in die Stirn, nahm die Schuhe in die Hand und schlich auf den Zehen hinab in die Gesindestube, um sich dort zu waschen und zu kämmen. Als sie an der Wohnung ihres Brotherrn vorüberging, hörte sie drinnen seine knarrende, mißvergnügte Stimme. Eiliger und leiser griff sie sich die Treppe hinunter.
Wende bereitete sich zu seinem ersten Rundgang durch Stall und Hof vor. Wenn Marie sich mit ihren letzten Vorbereitungen beeilte, so war sie schon auf der Straße, wenn die schweren Filzpotschen des Freirichters über die Treppe schlürften. Leise und schnell eilte sie mit dem kleinen Lichte in der gewölbten rußigen Stube ab und zu. Indessen ward die Stimme Wendes über ihr immer lauter und ärgerlicher. Sein Weib redete hin und wieder auf ihn begütigend ein; aber diese frohen, ungetrübten Laute brachten jedesmal ein stärkeres Gepolter seiner Stimme. Wende hatte aus seiner langen Junggesellenzeit die Gepflogenheit beibehalten, des Nachts in Abständen von drei bis vier Stunden alles in seinem Hofe, besonders aber Pferde- und Kuhställe, zu inspizieren, und verlangte nun von seinem Weibe, daß sie ihn jedesmal dabei begleite. Diese wehrte sich dagegen, weil es genug sei, wenn er allein sich um den Schlaf bringe, führte jede Nacht eine Reihe praktischer Gründe gegen diese Marotte ins Feld und mußte seit zehn Jahren einen Teil des Schlafes dem Kampfe mit diesem Starrsinn ihres Mannes opfern.
»Warum is se nich gegangen, a so weit se de Beene trugen?« sprach Marie vor sich hin, indem sie auf den Zank über sich lauschte. »War's nich besser, se hatte den Jungen und war zufriede als ein Mensch, wie setzte, da se den alten Krippensetzer hat?«
Das alles sann sie mit dem mechanischen Verstande, der uns immer zu Gebote sieht und nichts mit unserm Innern zu tun hat.
Der Streit im Schlafzimmer Wendes war inzwischen immer lauter geworden. Es hatte den Anschein, als gehe er seinem Ende entgegen, denn Rede und Gegenrede wurden immer erregter. Der Freirichter hustete schon bellend dazwischen, was er nur im Zustände höchster Erregung tat. Marie löschte schnell das Licht aus, um noch vor dem Freirichter über den Hof zu kommen.
»Was wird er erst machen, wenn er sieht, daß ich fort bin?« sann sie und zog geräuschlos die Tür auf, blieb auf der Schwelle stehen, streckte den Kopf aus der tiefen Nische vor, welche den Eingang in die Gesindestube bildete, und lugte über die geräumige Hausflur die Treppe hinauf. Alles war still, und das Morgenlicht fiel durch die Nacht wie ein lautloser Aschenregen.
Droben ertönte von Zeit zu Zeit der zornige Husten Wendes. Marie huschte über die Flur, riß den Türbalken zurück, daß er polternd in die Wand zurückfuhr, und tastete nach dem Schlüssel, der an einer rostigen Kette hing. Eben hatte sie ihn erfaßt und hob ihn mit der Rechten nach dem Schlüsselloch, das sie mit den Fingern der andern gefühlt, als oben die Tür aufflog und Wende unter lautem Schimpfen heraustrat.
»Nee, nee, blei, blei du meintswegen liegen bis um fufzehn!« schrie er in die Stube zurück und donnerte dann die Tür hinter sich zu. Marie ließ den Schlüssel fallen, floh wieder über die Flur und verbarg sich hinter der Tür der Gesindestube.
Wende stieg langsam die Treppe hinab, die rußende kleine Öllampe behutsam vor sich hinstreckend, und murrte undeutlich noch all jene zornigen Gedanken, um die sein Weib durch das voreilige Türzuschlagen gekommen war.
»Bei dan Loden mißt ma se a mal rausreißen!«
Mit diesen Worten setzte er, in der Mitte der unteren Hausflur stehend, das wütende Selbstgespräch fort, hob die Laterne in Schulterhöhe und leuchtete rundum.
»Warum ha ich se geheirat! A gudes Dienstmensch ls ebens noch lange kee gude Bäuerin«, sagte er dabei. »Se kunnte sich da Jungen ...«
Hier brach er ab, und Marie sah durch die Türspalte, wie er eilig der Haustür zuschritt, deren zurückgestoßener Querbalken sein Mißtrauen beschäftigte. Er knurrte etwas von »Pack«, »Rumläufern« und »Nischtegutsen«, untersuchte umständlich das Türschloß, indem er den Schlüssel ab- und zuschnappen ließ, überlegte dann mit einem forschenden Blick nach der Tür der Gesindestube, ob er diesen Raum untersuche, begnügte sich aber, einigemal drohend zu husten, und trat dann eilig hinaus in den Hof.
Marie horchte angespannt nach der Richtung seiner Schritte, glaubte wahrzunehmen, wie das Schlürfen sich nach rechts, nach den Ställen zu, verliere, faßte sich ein Herz und war bald draußen. Sie hielt sich dicht an den riesigen Düngerhaufen, um, von ihm gedeckt, sicher den Ausgang durch das kleine Hoftürchen zu gewinnen, und schaute indessen immer hinüber nach der langen Reihe der vergitterten kleinen Stallfenster, die doch gleich in dem schwachen Rot der wandelnden Laterne aufleuchten mußten. Der Hofhund rasselte mit der Kette in seiner Hütte, als sie um die Ecke des Wohnhauses schlich. Die wenigen Schritte zu der Hoftür, deren ungewisse Umrisse sie schon in dem Grau des Morgens unterscheiden konnte, legte sie eilig zurück, ohne Rücksicht auf die Entdeckung, weil ihre Flucht ja doch geglückt schien. Aber eben setzte sie den Fuß auf die große, ausgetretene Quader und hob die Hand nach der Falle, als das Türchen von einer Person, die draußen gewartet zu haben schien, langsam aufgeschoben wurde. Marie bemerkte einen Streifen schwelend roten Lichtes in den Hof fallen, wußte, daß es von Wendes Laterne sei, und trat hochklopfenden Herzens zur linken Seite dicht an die Wand des Wohnhauses, wo sie zum Teil von der Tür verdeckt wurde, und überließ es dem Zufall, entdeckt zu werden oder ungesehen zu entschlüpfen. Umständlich trat Wende ein, wartete, ob sich der Mensch melden werde, dessen Schritte er eben gehört hatte, hob endlich die Laterne und schrie in das Dämmern: »Na, wer is'n da?« Als sich nichts rührte, stieß er aus keinem anderen Grund mit einem Fluch die Tür nach der Wand, als seinen Zorn auszulassen. Ein unterdrückter Schmerzenslaut mischte sich in das Gepolter des Holzes. Marie war von der Tür an ihrer verwundeten Stirn getroffen worden und mußte aufstöhnen.
Der Freirichter trat hinzu und leuchtete der erschreckten Magd ins Gesicht.
»Du bist's!« sagte er mit freundlichem Erstaunen, als er Marie erkannte, »da braucht ma sich doch nich zu verstecken, wenn eens nich a so faul is wie andere.«
»Ach nu, Herr ...«, stotterte Marie.
Da sah Wende, daß sie Sonntagskleider trage.
»Wenn hast du dir denn die Kleider angezogen?« fragte er gedehnt.
»Vor eener halben Stunde«, antwortete die Magd.
»Hm! Und warum versteckst de dich denn vor mir? Und warum haste denn den Kopf verbunden, daß man dich kaum kennt?« fragte er nach einer Pause wieder, und seine Stimme bebte erregt.
»Weil ich fort will – nee, muß!« entgegnete Marie, die ihrer Bestürzung Herr zu werden begann.
»Zur Nähtern, oder ei de Kirche, gell ja, aso meenste du doch fort?«
»Nee ganz, auf immer«, brach es aus Marie in peinvoller Erregung.
»Ja«, machte Wende höhnisch unter einem kurzen Husten.
»Ganz! Muß! Was de nich sagst! Was fährt dir denn ei de Krone, he, Marie, du? Hast du nich Essen und Trinken multum viel genung bei mir? Darfst du dich über die Arbeit beschweren? Sein dir etwan fufzig Taler noch zu wing Lohn? Muß«, begann er aufs neue und lachte sarkastisch, »hm, hm, wir wissen das schon. Ja, und da dacht' ich, du standst fester wie die andern Menscher. Seit wann mußte du denn?«
»Herr, ich bin wie immer; aber ich muß doch. Wenn Sie mich nicht fortlassen, ich wüßt' nich, was ich ... ich müßt' ins Wasser!« antwortete Marie.
»Aber Marie, wenn's nischt Böses ...«
»Kee Wort kann ich sagen, ich erwürgte am erschten«, schnitt sie mitten in seine Rede. »Ich bitt' Sie um Maria und Christi willen, lassen Sie mich fort! Sie hörn alles, wenn ich nich mehr da bin. Ich besorg' Ihn eene andre Magd. Aber ich muß. Ach Gott, ach Gott!«
So bat das Mädchen. Sie hatte des Bauers Rechte ergriffen und drückte sie, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wußte, was sie tat. Wende fühlte, daß sie am ganzen Leibe zittere. Ehe er sich versah, knurrte er halb gerührt, halb mißvergnügt:
»Na, wenn's halt gar nicht geht, da.«
»Gott bezahl's Ihn!« rief Marie und eilte davon.
Im nächsten Augenblick reute es den Großbauern. »Aber, was ich sagen wollte!« rief er.
Allein auf der Straße verklangen schon ihre flüchtenden Schritte.
»Ah, da geh. Die Weiber! Da hat eben jede ihren Teufel!« rief er hinter ihr her, nahm die Laterne auf und setzte seinen Weg fort. Plötzlich lachte er laut auf und schüttelte sich wie ein nasser Pudel vor Vergnügen: »Die hat ja ihr Dienstbuch nich mite!«
Noch war das Rot des Morgens nicht da; ein sterbensblasses Licht, ein erfrorener Schein lag unbeweglich über den Wäldern, und darin schwamm die erlöschende Sichel des Mondes. Nebelschleier häkelten um die schneebestäubten Sträucher, graue Schwaden wiegten sich träge um die Waldränder, und die Berge selbst sahen aus wie riesiges Gewölk, das vom Himmel lautlos herabzufließen schien. Noch strich kein Flügel, noch knirrte keines Getieres Fuß über die erste Schneedecke. Fern surrte der Bach des Kronerloches, und tief aus dem Walde ertönte ein gähnendes Knarren, wie es Stämme hervorbringen, die sich aneinander reiben.
Marie hielt in dem eiligen Gange inne und schaute sich ängstlich um. In das Gewölk der Höhe war mit dem Morgenwind Bewegung gekommen.
»Warum is sie nich lieber über alle Berge gegangen«, sann sie über das Schicksal ihrer Herrin nach, indem sie sich das zornesblasse Gesicht Wendes mit seinem wuchernden, braunen Barte vorstellte.
»Aber das kommt alles, wenn man tut, was ma nich soll.«
Dieser Gedanke beschleunigte ihre Schritte noch mehr. Fast laufend erklomm sie die Hügel und sank in die Mulden, schnell starb das Geräusch der Wasser hinter ihr, Sträucher huschten vorbei, und je heller es wurde, um so eiliger rührte sie ihre Füße.
»Was ma nich tun soll!« das peitschte sie.
Sie eilt durch Dörfer, an einsamen Gehöften vorbei; Menschen begegnen ihr; sie springt, wo Graben sind; schreitet achtsam über Steine; fern dröhnt die Eisenbahn: sie sieht alles und erkennt nichts. Plötzlich stößt sie an einen Planwagen. Der Kutscher, der am Hinterrad irgend etwas loskratzt, schreit lustig: »Holla!« Da kommt sie zu sich und bemerkt, daß sie schon in der Vorstadt von Glatz sei, der langen Reihe niedriger, schmutziger Häuschen, läßt eilig ihre Röcke wieder nieder und geht auf die andere Seite der Straße. An einem Schaufenster bleibt sie stehen, um ihr Tuch zu ordnen, das sich verschoben hat. Mit Staunen betrachtet sie ihr Gesicht, das, rot und leuchtend, nichts von der Qual ihres Innern zeigt. Die Wunde ist kaum zu sehen, es ist ein kleiner roter Schorf an der Stirnseite, fast an der Haargrenze. Die rechte Schläfe ist geschwollen und blutunterlaufen. Sie rückt das Tuch mehr aus der Stirn und wirrt die Haare der Schläfe über den blauen, beuligen Fleck. So sieht sie wenigstens nicht ganz wie ein »Buschweib« aus.
In einem Kellerlokal trinkt sie eine Tasse Kaffee und verzehrt zwei Semmeln. Danach bleibt sie noch eine Weile sitzen, um sich auszuruhen, und vertreibt sich die Zeit damit, den Beinen zuzusehen, die über ihr vorüberschreiten. Die Uhr hat schon ein paarmal geschlagen, und die alte Frau hinter dem schmutzigen Schenktisch beobachtet Marie mit immer mißvergnügteren Blicken, weil sie gar keine Anstalten trifft, zu bezahlen oder noch etwas zu bestellen. Endlich kann sie sich nicht mehr halten, legt den Strickstrumpf hin, daß die Nadeln klirren, preßt den zahnlosen Mund zusammen und nähert sich dem Tisch, an dem Marie sitzt, mit einem Wischlappen, der ihre Absicht verdecken soll. »Wollen Se noch was?« fragt sie scharf und fährt mit dem nassen Tuch über das Tischblatt.
Marie verneint, bezahlt die geforderten zwanzig Pfennig und fragt nach einer guten Vermietsfrau. Die Alte erwidert höhnisch, daß die guten Mietsweiber auf dem Monde hausen; hier gebe es nur Pack, sie wisse es, denn sie habe vierzig Jahr bei »Ferschten und Grafen« gedient. Am besten sei es, man wende sich gleich selber an die Herrschaft; aber wenn sie ihr schon eine zuraten solle, so sei es die Negwern in der Schmiedegasse. Sie sei »brave, zuverlässig und renell«.
»Aber, wenn Sie ihr 's Ohre hinhalten, da haut sie Ihn freilich auch drüber!«
Mit diesen Worten beendigt sie ihre langweilige Auseinandersetzung.
Als Marie auf halber Treppe ist, ruft ihr die Alte nach:
»Sagen Se och, de Masingern läßt se scheen grißen, da wird se's schon machen mit Ihn.«
Nach oftmaligem Fragen und Irregehen findet Marie endlich die Schmiedegasse. Es ist ein steiles, enges Gäßchen, das nach der Neiße hinführt. Ein trübes Wasser rinnt zwischen den Katzenkopfsteinen des Pflasters eilig bergab. Es ist so dunkel, daß Marie nur mit Mühe die Schildchen neben den Haustüren entziffern kann. An einer langen Mauer mit einem verwitterten Ziegeldächlein liest sie endlich: Malwine Negwer, Vermietsfrau. Daneben ein halb verfallenes Türloch. Hier wohnt doch niemand, denkt sie, drückt zweifelnd auf den Türgriff, der wie ein langer eiserner Wurm aussieht, und sieht im nächsten Augenblicke in einem dumpfen Höfchen. Ein Mann, den sie wegen seiner blauen Schürze für einen Hausknecht hält, hackt Holz. Als Marie die Tür hinter sich zudrückt, schrillt die Haspe, und der Holzschläger fährt herum, mustert sie einen Augenblick mit seinem jungen, ernsten Gesicht, legt aber sofort Holz und Beil hin und kommt eilig auf Marie zu, indem er mit einem glücklichen Lächeln ihren Gruß erwidert, ihre Frage, ob sie hier bei Vermietsfrau Negwer recht sei, bejaht und sich erbietet, ihr Führer zu sein. Als sie vor der gesuchten Tür stehen, sagt er dem Mädchen, daß sie sehr schön sei, drückt ihr die Hand erregt und läuft so eilig davon, als habe er etwas gestohlen. Marie sieht eine Weile in einem bebenden Strom, und es ist ihr, als rinne von ihrer Stirn ein Leuchten in die Nacht um sie. Aufgeregt tritt sie in das Gemach. Nachdem sie ein Drittel des Zimmers durchschlichen hat, gelangt sie an zwei Türen, die einander gegenüberliegen. Sie würde an ihnen vorbeigegangen sein, hätte nicht ein erregter Streit zweier Frauenstimmen hinter der linker Hand liegenden Tür ihre Aufmerksamkeit erregt. Es klingt, als kämpfe das Fauchen einer kleinen Handsäge mit dem Schmettern einer Kindertrompete. Marie denkt, sie sei allein, stützt sich mit beiden Händen gegen die Türpfosten und neigt den Körper horchend vor. Die kleine Handsäge drin faucht wütend: »Bei mir braucht niemand im Drecke zu wühlen!«, worauf die Kindertrompete nur mit einem höhnischen Wiehern antwortet. Da läßt ein doppelstimmiges Gelächter vom Fenster her Marie bis in die Knochen erschrecken und herumfahren. In einer Nische sitzen zwei Mädchen und strecken die Köpfe vor. Sie lachen ihr ins Gesicht, das vor Scham ganz blaß ist.
Marie hat nach kurzen Augenblicken, während sie die beiden betrachtet, die Sicherheit, daß sie Zigeuner seien, das heißt jener großen Sippe von Dienstboten angehören, die sich wegen Unsittlichkeit oder Zanksucht in chronischer Stellungslosigkeit befinden und das ganze Jahr eine Plage der Vermietsstuben bilden. Sie schluckt eine harte Bemerkung hinunter und begnügt sich, ihnen einen tief verachtungsvollen Blick zuzuwerfen, den das eine Mädchen mit einem boshaften, frechen Gesicht erwidert, indem sie Marie fragt, ob sie ihr einen Pfennig wechseln solle. Dabei rückt sie ihren modischen Hut und legt ihr verblühtes Gesicht in hochmütige Falten. Die andre schneidet eine Grimasse. Marie kehrt ihnen den Rücken, indem sie sich an einen Schrank der anderen Wand lehnt.
Trauer und Angst kommen wieder stärker über sie, und ihre Sammlung macht dem alten schmerzlichen Grübeln Platz.
Warum bin ich hierhergekommen, wo doch nichts sein wird, wenn solche hier sind? Fortlaufen, alles im Stich lassen sollte ich. Kleider kann man sich immer wieder kaufen.
So sinnt Marie. Es bringt sie gar nicht auf, als eines der Mädchen, um sie zu ärgern, sagt:
»Magst du blonde Haare? Ich kann sie nicht leiden, sie machen zu dumm. Überhaupt die ganz hellen, die so die Dorftrampel haben.«
Nach einer Pause nehmen beide von Marie keine Notiz mehr und vertiefen sich in das unterbrochene Gespräch.
Aus der Tür zur Linken tritt eine Frau und sendet einen prüfenden Blick das Gemach hinauf und hinab; dann sagt sie zu sich:
»Drei. Doch noch. Ich hätt's nich gedacht.«
Den Gruß Maries erwidert sie mit liebenswürdigem Lächeln:
»Nu, mein Schätzel«, sagt sie dann, »du bist ja noch gar nich bei mir gewesen. Siehch, du hast noch frische, gesunde Backen. Das is recht! Nee, nee! Und een guten, haltbaren Rock. Halbwollnes, nie?«
Das alles spricht sie mit ihrer blechernen Trompetenstimme, mehr, um Zeit zur Musterung des neuen Ankömmlings zu gewinnen, als etwas zu sagen. Darauf ruft sie den beiden in der Fensternische zu:
»Ich hab's euch gestern schon gesagt, daß nischt is jetze.« Und ehe sie sich wieder zurückzieht, gibt sie Marie die Versicherung: »Wart och, Schätzel, 's wird sich machen.« Dann schließt sie die Tür.
Die beiden anderen Dienstmädchen rüsten sich unter Verwünschungen auf das Leben zum Fortgange, und als die eine, mit dem modischen großen Hut, der Typus einer vernützten Zimmerschleußerin, an Marie vorüberschreitet, sagt sie in greller Wut: »Nimm dich vor der Schleidern in acht. Das is'n Aas, sag ich dir. Die hat mich auf'm Gewissen. Da wirschte missen, ob de willst oder nich. Haha, ma lernt's woll! Gell ja, Minna!« Mit geräuschvoller Heiterkeit verschwinden sie.
Abscheu, Zorn und Furcht berauben Marie der ruhigen Überlegung. Wie in einem Taumel beginnt sie, sich die Röcke heraufzustecken und langsam der Tür zuzuschleichen. Als sie am vorletzten Schrank vorüber will, öffnet sich die Tür, und Frau Negwer ruft nach ihr.
Marie läßt schnell die Röcke herunter und folgt der Vermietsfrau, mit dem Entschluß, ihr nicht das Ohr hinzuhalten. Auf einen Wink nimmt sie neben der Tür Platz.
Ihr gegenüber sitzt eine Dame, die nach der neuesten Mode gekleidet ist. Der lange seidengefütterte Mantel ist geöffnet und läßt die überstarke Brust hervortreten. Sie hat ein feistes rotes Gesicht und eine Hakennase, deren Seiten sie oft mit dem weißen Taschentuch vorsichtig betupft. Wie sie heiße, beginnt sie mit ihrer fauchenden, lieblosen Stimme das Examen. So und so. Ob sie Stuben aufräumen könne. Nein. Das werde sich geben. Wie alt sie sei. Was ihr Vater gewesen. Wo sie gedient habe. Ob sie einen Schatz habe. Sie solle das Dienstbuch zeigen. Nach langem vergeblichem Suchen muß Marie erklären, daß sie es vergessen habe, ist bestürzt und doch voll innerer Freude.
Die beiden Frauen wechseln einen vielsagenden Blick.
»Vergessen, hm, hm!« faucht Frau Schleider höhnisch.
Nun, sie miete sie in der Hoffnung, das Dienstbuch werde sich finden. Es gebe neunzig Mark Lohn und zehn Mark Weihnachten. Aber es verkehrten viele Reisende in ihrem Gasthaus; da kamen die Mädchen auf das Doppelte. Hier sei das Mietgeld.
Frau Schleider hält ein Talerstück hin. Marie erklärt endlich, sie ziehe in kein Gasthaus. Außerdem verlange sie hundertzwanzig Mark Lohn, und sie bleibt trotz alles Zuredens dabei. Wütend macht sich die Gastwirtin davon.
Die Vermietsfrau kehrt auf ihren Stuhl zurück, und als die äußere Tür zuschlägt, bricht sie in ein vergnügtes Lachen aus.
Sie ist eine noch gut erhaltene Fünfzigerin mit pechschwarzem, gescheiteltem Haar, auf dem ein schwarzes Spitzenhäubchen sitzt. Ihr Gesicht ist gelb, und sie hat die großen munteren Augen einer spielenden Katze.
»Nee, nee, Schätzel«, mit diesen Worten kehrt sie von dem Fenster, wo sie gedankenlos an den Blättern der Topfpflanzen gezupft hat, zu Marie zurück, die unbeweglich auf dem Stuhle sitzt, starr, als müsse sie sich wegen vieler Schläge auf den Kopf mühsam aufrecht erhalten. »Dahier ei die Wirtschaft bist du mir doch zu gut. – – Aber das Dienstbuch, das Dienstbuch, das müssen wir haben!« mahnt sie nach einer Pause in mütterlicher Güte und läßt sich auf dem Stuhl der Frau Schleider ihr gegenüber nieder. Mit gespitztem Munde wartet sie auf Antwort. Marie sieht nur stumm und ratlos auf sie.
»Du bist gefallen, he?« beginnt sie endlich zu fragen. Das Mädchen sieht sie erstaunt an. »Natürlich of den Boden oder of de Stiege gefallen, meen ich, a so, he?« Marie wird es heiß. Zögernd nickt sie.
»Du hast den Stoß of de Seite gekrigt, gell ja, mei Schätzel! Er muß sein vermaledeit böse gewesen. Du hast ja dahier eene Beule wie ein Hühneree und kratzleberblau«, redet sie weiter, weil sie keine Antwort erhält, macht nach jedem Satze eine Pause, spitzt den Mund und kugelt die lustigen Katzenaugen. »Ich kann mir's ja denken, wegen was. Wie hübsch du bist. Da soll a ees. Gell ja?
Nu da red' doch um's Himmels willn, Mädel! Du bist nie die erste und wirst au nie die letzte sein, der das passiert«, dringt die Negwern in sie und betrachtet mit Angst Maries Gesicht, das sich in Qual verzerrt. »Jesses, Schätzel, was is dir denn? Da red' doch ...«
Plötzlich springt Marie leichenblaß auf, blickt wie irr geradeaus und stürzt sich dann stumm auf die Vermietsfrau. Frau Negwer hat sich noch rechtzeitig hinter den Tisch geflüchtet. Wie blind ist Marie auf den Stuhl zugesprungen. Als sie ihn leer sieht, weicht der Krampf von ihr. Die qualvolle Wut im Gesicht macht dem Ausdruck der Todestraurigkeit Platz. Sie stützt sich bebend an die Wand und wankt hinaus.
Auf der dunklen Stiege begegnet sie einem Mann, der sie am Arm festhält, ihr mit einem Zündhölzchen ins Gesicht leuchtet und auf sie eindringt. Sie schlägt auf ihn los, springt die Treppe hinunter, sieht im Hof den jungen Holzschläger, wirft sich an seine Brust, reißt sich wieder los und stürzt fort. Menschenstimmen dringen auf sie ein; lange Häuserreihen rennen an ihr vorüber; das Feld ist um sie; Wasser rinnen vor ihr, in Angst kniet sie hin und betet, die Hände zum Himmel ringend; der Wald rauscht, Lichter und Schatten streichen über sie; sie kommt sich gefleckt vor wie eine Katze. Dann bricht sie zusammen. Sie hat die Empfindung, von einem Sturm gegen eine himmelhohe Wand geschleudert worden zu sein. Ihr Inneres zittert wie das Sommerfeld, über dem die Sonne kocht. In diesem Flimmern liegt sie bis gegen Abend. Dann erwacht sie, setzt sich auf und sieht sich erstaunt um. Sie ist im Hahnwalde, tief in hohem Holze. Ihre Kleider sind über und über mit Kot bespritzt, das Tuch hat sich verloren, die Haare sind aufgegangen und hängen ihr wirr um den Kopf.
Als sie alles das erkennt, muß sie mit beiden Händen in das trockne Beerenkraut greifen, um nicht umzufallen, dann flicht sie sich die Haare, so langsam, als sei es nicht notwendig, zu Ende damit zu kommen, und wenn sie fertig ist, beginnt sie von neuem, und langsam rinnen Tränen über ihr verhärmtes Gesicht.
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Mit dem zunehmenden Dämmern macht sie sich auf den Heimweg. Der Freirichterhof ist schon wie eine riesige schlafende Nachtwolke, als sie zu Hause anlangt. Auf der Schwelle der Wohnhaustür steht ihre Herrin, die sie erwartet zu haben scheint, nimmt sie warm an der Hand und führt sie wie ihr eigen Kind an den Mägden vorüber, die bei kleinen Laternen in großen Holzkübeln das dampfende Getränke für die Kühe rühren.
Die Wohnstube, in die sie treten, ist leer und wird von einer Schirmlampe auf einem Ecktischchen nicht ganz erhellt.
»Hier setz' dich her, tummes Mädel!« sagt Frau Wende und schiebt Marie einen Stuhl an den Tisch. »Der Herr is noch nich zurück vom Markte. Da wer ich amal a Wörtel mit dr reden.«
»Frau!« ruft Marie, gerührt von dem herzlichen Mitgefühl ihrer Herrin. Die ganze Verzweiflung liegt in diesem Wort, das von ihrer Trauer bebt.
»Nee, nee! Weinen is gut; aber das kannste droben in der Kammer alleene. Jetze erzähl' amal alles. Wenn de Zunge wackelt, kriegt's Herze wieder Odem.«
Marie erstaunt über sich, wie es möglich sei, über dieses Furchtbare zu sprechen; aber je mehr sie redet, desto tiefer gerät sie in einen förmlichen Rausch, und sie sprudelt alles hervor.
»Was soll ich machen, Frau!« Erschöpft beendet sie ihren Bericht von dem wilden Tage. »Wo ich hinseh', Grube an Grube. Und wenn's nich anders wird, muß ich zurücke und eis Wasser. An dem Dinge sterbe ich. Ob ich's mach oder laß.«
Frau Wendes mageres langes Gesicht ist ernst, ihre Augen stehen voll Wasser. Das schräge Licht der Lampe erleuchtet mit roten Streifen ihre hohe knochige Stirn, die lange spitze Nase und das kräftige Kinn. Als sie sich jetzt gedankenvoll mit dem Zeigefinger und dem Daumen an den Mundwinkeln hinfährt, bebt ihre ausgearbeitete Hand mit dem knotigen Adergestränge.
»Ja, ja, mein Mädel«, beginnt sie dann mit versunkenem Neigen ihres Kopfes. »Es hat halt jeder Mensch seinen Tag, an dem er zerbricht. Vor allem wir Weiber. Da hilft nischte. Wir machen's alles selber, was wir nich wollen. Wie, weeß freilich niemand. Aber auf eemal is da, steht draußen vor der Tür und pocht, daß uns himmelangst wird. Gehste nich naus und holst's rein zu dir, steigt dir's aufs Haus und drückt's Dach ein. Der Tod! Ja, der Tod! Das weeß ebens niemand, ob man da rauskommt aus allem, ob ma entzweischlägt oder selbst zerschlagen wird für immer.«
Ihr Gesicht ist fahl, zur Unkenntlichkeit entstellt. Mit einem gewaltsamen Ruck springt sie auf und tritt an die Kommode, wo sie Gegenstände aufhebt und niedersetzt. Als sie an den Tisch kommt, ist ihr Schritt wieder sicher, und ihr Gesicht lächelt still wie immer.
»Marie«, sagt sie mit scherzender Stimme und drückt ihre Hand; »nimm dir nichts von dem, was ich dir gesagt habe. Du bist jung. Aber ein alter Mensch ist wie ein alter Topf. Was man auch reingießt, alles wird sauer. Nee, nee. Ich weeß wohl, weil du hübscher bist, willst du hoch naus. Red' nich erst! Aber mit den hübschen Gesichtern is wie mit dem scheenen Tage. Je warmer er is, desto eher regnet's. Mit'm Himmel kann niemand sei Haus decken, und rote Backen machen nich satt. Du hast weder Vater noch Mutter. Da sollste froh sein, so unterzukommen. Exner hat das Wirtschaftl und noch Geld ausstehn. Daß er nich lumpft wie die andern, is doch keene Schande. Und mit dem Fuße! Is er nich sonst, wie er sein muß? Een Fehler hat jedes, du auch. Der! Wen er haben will in Steindorf, kriegt er. Nee, er will dich. Ich Hab' mich erkundigt. Jedes im Dorfe weiß das.«
»Jedes?« fragt Marie erschrocken dazwischen.
»Nu, nach dem gestrigen Abend im Gasthause freilich.«
»Aber ich nich.«
»Ach was! Geh du jetze und iß dich satte und schlafe. Geh und überleg' dir alles, was ich gesagt habe, und merk' dir noch eens: niemand kennt sei Glücke. Gute Nacht! Aufs Frühjahr bist du junge Frau im eignen Hause, auf eignem Felde, und dann sind wir gar Nachbarn.« –
Marie drückte der guten Frau herzlich die Hand und suchte, ohne zu essen, ihre Kammer auf. Bald stand sie ausgekleidet vor ihrem Bett, gottverlassen wie heute früh, und der ganze Sturm von Kummer und Verzweiflung hatte gar nichts genützt. Mit schwerer Hand ordnete sie die zerwühlten Kissen notdürftig und legte sich nieder, mit dem Erstaunen über sich, daß ihr Auge trocken blieb und ihre Seele ruhig. Nach einer Weile setzte sie sich auf und griff um sich. Aber wo auch ihre Hände hintasteten, waren Bretter. Mit stumpfem Gleichmut nahm sie die Täuschung, in einer Kiste zu liegen, als Gewißheit hin, und wieder zurücksinkend, dachte sie als Begründung dieser Tatsache an die Worte der Frau Wende: »Es hat halt jeder Mensch seinen Tag, an dem er zerbricht.«
Danach kam alles über ihr Herz, was die Herrin zu ihr gesprochen hatte. Und die Gedanken gingen ein und aus in den verwühlten öden Kammern ihrer Seele wie Schemen in einem kalten, farblosen Lichte. Wo noch gestern ihre bunte, heiße, törichte Sehnsucht geblüht hatte, tanzte dieses graue, stumme Spiel. Plötzlich, zwischen Schlaf und Wachen, fuhr sie auf und fragte in die stockende Nacht: »Wo scheint die Sonne?« Ein dumpfer Laut lief die Sparren hinunter. Seufzend sank sie um und lag im Schlaf.