Hermann Stegemann
Daniel Junt / Die Himmelspacher
Hermann Stegemann

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In der Pfingstkilbe hallte das Haus auf dem Florimont von Musik und Tanz.

Die Fermen waren bezogen, das Vieh ging über die Bergweide, die Sonne las den funkelnden Tau aus den Gräsern, und der Abend spann täglich die 26 Täler in jenen zarten Duft, der einen sonnigen Tag verheißt.

Daniel Junt sah die Melker von allen Fermen ringsumher und das junge Volk aus dem Tal unter seinem Dache. Von Gérardmer war der Trompetertoni mit seinen Musikanten über die neugezogene Grenze spaziert und blies sich die Kehle trocken, daß die Catherine und das Mariele, die Sommermagd, ihm nicht genug Bier zuschleppen konnten. Und wenn er nicht blies und nicht am Glas sog, erzählte er allerlei Schnurren.

Auf einmal hob er sich von dem Bänklein, das auf dem Podium der Musikanten in der Ecke des Saales aufgestellt war, und schaute nach der Tür – über die Köpfe weg, durch den wirbelnden, goldenen Staub, und schnaufte in den hängenden, grauen Schnauzbart, als wäre er unter Wasser gewesen. Seine knollige Nase färbte sich noch dunkler, die wimperlosen, rotbeliderten Augen funkelten boshaft.

»Allez, Toni, wo bleibt der Walzer?« rief der Vortänzer über die Schulter und bückte sich, um beim ersten Ton einen rechten Schleifer zu machen.

Aber der Toni gab seinen Mannen kein Zeichen, sondern stemmte die Trompete auf das Bein, wie er es als Clairon bei den Chasseurs von Vincennes getan hatte, vor mehr als zwanzig Jahren, und kauderwelschte mit heiserer Stimme:

»Nom de foudre, was wollen die hier, die Schwobendouaniers? Ins Bombardon haben sie dem Charlot gelangt, ob er keinen Tabak drin hat oder keinen fine Champagne, als wir von der Ferme de la Belbrioche herübergewalzt sind!«

Die Köpfe wandten sich nach der Tür. Auf dem Flur, wo die Tanzmüden an den Wänden lehnten und die Mägde mit Tellern und Gläsern auf- und abschossen, standen zwei Grenzaufseher in ihren grünen Röcken und dunklen Tellermützen und schauten neugierig in den Saal. 27

Einen Augenblick war es still geworden wie in einer Kirche, die Burschen zogen die Brauen zusammen, eine heimliche Unruhe lief durch die Reihen.

Einer der Grenzer, ein strammer junger Kerl mit einem weißblonden Schnurrbart und roten Backen trat über die Schwelle. Er hatte ein Mädel an der Hand ergriffen und zog die Spröde in den Saal.

»Na, Fräulein, nun seien Sie doch gemütlich! So'n Tänzchen ist doch nischt Schlimmes. Wir kennen uns ja.«

Da schrie der Trompetertoni, indem er mit dem Fuß aufstampfte, daß die Dielen krachten und die leeren Gläser unter dem Bänklein hoch aufsprangen:

»Euch spielt der Teufel zum Tanz, aber keiner von uns!«

Der Grenzaufseher blickte verblüfft auf. Das Mädchen riß sich rasch los und schob sich hinter die anderen. Es war so still im Saale, daß man die große Bremse, die sich am Fenster den Kopf einstieß, deutlich brummen hörte.

»Kommen Sie heraus, Wilkens, ich hab's Ihnen ja gleich gesagt, es setzt Radau,« raunte der andere Beamte seinem Kameraden zu.

Doch der hörte nicht. Er war ganz blaß geworden und ging langsam, mit durchgedrückten Knien zwischen den Paaren hindurch auf das Podium zu. Dicht vor dem Trompetertoni blieb er stehen, warf den Kopf in den Nacken und schaute zu ihm in die Höhe.

»Hören Sie mal, Herr Stabstrompeter, ich werd' Ihnen mal was sagen: Wenn Sie Ihre Schnauze nicht halten, dann haue ich Ihnen eine 'rinn, daß Sie Ihr Lebtag nicht mehr an Ihrer Blechboudelje lutschen. Haben Sie mich verstanden?«

»Wilkens, zum Donnerwetter, keine Dummheiten!«

Der andere war ihm nachgegangen und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Es war Bewegung in die Menschen gekommen, einige hatten unwillkürlich gelacht bei der forschen Rede des 28 Douaniers, jetzt aber blickten alle feindselig drein und drängten gegen ihn vor.

Der Toni brauchte einige Minuten, um die schnell und scharf gesprochenen Worte zu verstehen, endlich hatte er sie verdaut.

»Ah, c'est comme ça! Ich schlag' dem Tabakschmecker den Schädel ein mit der Trompete.«

Und er schwang das Instrument über dem Kopfe und hätte blind dreingeschlagen, wenn der Charlot nicht mit seinem Bombardon dazwischengefahren wäre.

Zugleich aber brach ein wilder Lärm los, und Flüche und Drohworte kreuzten sich. Auf dem Podium rang der Toni gegen seine Getreuen, die Ziehharmonika, Bombardon und Fiedel im Stich ließen und ihn zu bändigen suchten. Nur der Klarinettist saugte noch an seinem Rohr. Unten im Saal schrien die Burschen auf die beiden Eindringlinge ein, und hie und da kreischte ein Mädchen hellauf vor Schrecken.

In diesem Augenblick, als schon die Bedrohten nach den Hirschfängern griffen, erschien Daniel auf der Schwelle. Das Mariele hatte ihn aus der Gaststube geholt. Er sah die grünen Mützen mitten im Gewühl und warf sich hinein.

Aber die Bewegung, mit der sich der Hausherr durch die Menge Bahn brach, hatte die blinde Wut vollends entfesselt, und schon haschten sehnige Hände nach den Grenzjägern, rissen rauhe Finger an den Bandelieren, flog einem die Mütze, von einem Faustschlag getroffen, ins Genick, und als der andere das Seitengewehr mit einem wilden Ruck aus der Scheide riß und ein Hieb der breiten Klinge dem Dreistesten über den Kopf fegte, daß das Eisen klang und der Getroffene die Arme in die Höhe warf und mit fest aufeinander gebissenen Zähnen hintenüber schnellte, um gleich darauf nach vorn zu tauchen und mit dumpfem Fall im Knäuel der stampfenden Füße zusammenzubrechen, da schrien sie auf und zückten die Messer, und ein tobender Knäuel wälzte sich durch den hallenden Saal. 29

Die Stühle brachen, die Gläser splitterten, vom Podium schmetterte der Toni in einem Taumel trunkenen Entzückens die alten Signale, daß die gellenden Töne sich überstürzten und dem Trompeter die Halsadern wie Stricke schwollen. Und noch einmal blitzte die Waffe des Grenzers, reckte sich sein Arm hoch aus dem Gewühl, und das blanke Eisen glänzte kalt über den dunklen Köpfen, die von allen Seiten dicht herandrängten, daß der Schlag gefesselt blieb im wilden Würgen, Brust an Brust und Gesicht an Gesicht. Und dann ein Schrei, ein einzelner, hell einsetzender, in einem Gurgeln endender Schrei, und der Arm, der den Säbel geschwungen, knickte wie ein abgesägter Ast. Mit einem Messer in der Brust taumelte der Mann zwei Schritte zurück, dann schleuderte ihn ein letzter Ansturm im Fallen auf das Podium, mitten hinein zwischen die Musikanten.

Der Trompetertoni torkelte, das Bombardon rasselte dröhnend zur Erde und die Klarinette quiekte einen jäh vom Munde gerissenen tierischen Laut, der sich wie das Todesröcheln eines gestochenen Schweines anhörte. Ein brüllendes Gelächter antwortete dem Jammerlaut, und schon sah der zweite Grenzwächter, der sich vergebens bemühte, den Revolver in die rechte Hand zu bekommen – sie rissen ihm das Koppel vom Leib –, dem Tod ins Auge.

Da erreichte Daniel Junt die Estrade, packte die Bank, auf der die Musikanten gesessen, und schmetterte sie mit furchtbarer Wucht von oben auf die rauchenden Köpfe. Bei dem zweiten Streich ließ er sie fahren, und die Eichenplanke wetterte über die Rasenden hin und kam mitten zwischen ihnen zur Erde, ein halbes Dutzend blutend und betäubt zu Boden reißend im dröhnenden Fall. Rasch zog er den noch aufrechtstehenden Grenzer zu sich auf die Bühne, drängte ihn hinter sich in den schützenden Winkel und trat breitbeinig über den todwunden Mann, der mit blutigen Fingern um sich schlug und roten, blasigen Schaum auf die graue Diele spie. 30

Hinter ihm rasselte die Batterie des Revolvers, den der andere schußfertig machte, aber es war plötzlich still geworden, und nur das Gurgeln des Verwundeten und das Stöhnen der durch die Bank zu Boden Geschmetterten ächzten im Saal. Auf dem Flur unruhiges Trippeln, treppauf, treppab ein Rennen und Jagen, im Saale tiefe Stille, schwere Atemzüge und das scharfe Knacken, wenn der Grenzaufseher die Trommel des Revolvers drehte.

Da sprach Daniel mit tiefer bebender Stimme:

»Allez-vous en, hier wird nicht mehr getanzt, solange das Blut auf der Diele steht.«

Er wies mit der erhobenen Hand nach der Tür. Sein Gesicht war gelb wie Wachs, und unter den dichten Brauen brannten die Augen, die Unterlippe zitterte im kalten Zorn.

Einen Augenblick noch war es still, dann schoben sich die ersten zur Tür, mitten aus dem Haufen aber schrie plötzlich einer:

»Der Junt ist ein Schwob geworden. Man sollt' ihm das Haus überm Kopf anzünden, dem Preußenschlecker!«

»Ah, canaille!«

Mit einem Satz war Daniel Junt unter ihnen, packte den Schreier an der Brust und drängte ihn über die Schwelle und an das Treppengeländer, und ehe noch die anderen ihn zurückgerissen, hob er ihn in die Höhe und schwang ihn über die Lehne. Ein Würgen und Wehren, Poltern und Krachen, Wettern und Wimmern, ein dumpfer Fall, und der Bursch lag unten im Flur. Zwei unter ihm, die hatten ihm die Knochen gerettet, als sie selbdritt in die Tiefe fuhren.

Daniel stand oben auf der Treppe.

»Geht, das war der letzte Pfingsttanz hier oben, ihr Mordsbuben. All' über zwei, da hat's Courage gebraucht dazu! Allez-vous en«

Gebieterisch wies er die Treppe hinunter, und die noch 31 oben waren, stolperten über den Gang, trampten blind die Stiege hinab und verließen das Haus.

Die Weiber waren ihnen schon voraus und standen in kleinen Gruppen vor der Tür, mit wirrem Haar und heißen Backen.

Dann gab Daniel den Mägden Anweisung und trug den Verwundeten mit Hilfe seines Kameraden in eine Kammer. Sie fanden den Stich in der Seite unter den kurzen Rippen, schräg nach oben schien das Messer ins Lungengewebe eingedrungen zu sein. Der Sepp spannte den char-à-bancs ein und preschte nach La Motte hinunter zum Arzt.

Als Daniel aus der Kammer kam, lief ihm Florence zwischen die Beine, mit entgeistertem Gesicht, keuchend vor Aufregung, und warf sich wild an ihn, packte ihn um den Leib und schluchzte:

»Bist du nicht tot, Vatterle! Sie haben gesagt, du bist tot, und der Alisi tät dich kaputt machen.«

Da fuhr er ihr durch die Haare und antwortete mit einem verächtlichen Lachen:

»Nein, den Daniel macht man nicht so geschwind kaputt. Va, petite bête, das Brüderle liegt allein in seinem Kratten.«

Verschüchtert schlich Floflo davon, sein Schluchzen war jäh verstummt. Mit einem seltsamen Ausdruck in dem plötzlich frühreif erscheinenden, mädchenhaft runden Gesicht, hockte es in der Stube neben der Korbwiege, in der der Knabe schlief. Das Nettele hütete beide.

Als Daniel kurz darauf aus dem Gastzimmer ins Erdgeschoß trat, kamen die Musikanten, die wie gescheuchte Hühner so lange im leeren Saale gesessen, leise die Treppe herab. Der Trompetertoni duckte sich, als wär' der Habicht über ihm, und erwiderte kein Wort auf den Abschiedsgruß des Wirtes.

Der klang hart und verächtlich.

»Du hast das letztemal bei mir zum Tanz aufgespielt, mach', daß du über den Berg kommst, eh' dich der Gendarm päckelt, du Schandmaul!« 32

Dann ging er hinter ihnen drein und blieb auf der Schwelle stehen.

Kaum waren sie die paar hundert Schritte aufwärts gestiegen zum Berggrat, wo die Steine wie dunkle Untiere in der Sonne lagen, da wandte sich der Toni um und fuchtelte mit dem Piston in der Luft, daß es helle Blitze warf. Aber der Wind fing ihm die Worte vom Mund und trug sie davon. Dann wieder ein paar wilde Bewegungen, und der Bergwirt sah, wie sie die Instrumente ansetzten, und auf einmal jauchzte die Marseillaise mit ihren gellenden, triumphierenden Tönen über die Alpweide.

Damel fühlte das Herz hart an den Rippen. Es brannte ihm etwas unter den Lidern, aber jäh drehte er sich mit einem Ruck auf dem Absatz und ging ins Haus. Kindereien, was tat ihm das, wenn ein paar verlumpte Musikanten die Marseillaise bliesen! Ihm zum Trotz und als ob er von gestern auf heute vergessen hätte, daß dort oben die neue Grenze lief! Er war nicht mit Sack und Pack zu den Preußen desertiert, aber totstechen ließ er keinen von ihnen unter seinem Dach. Und wenn sie ihm den roten Hahn daraufsetzten! Den roten Gockel! Nur zu, dann mußten sie bauen, die von La Motte, und was die Brunst fraß, war zu seinem und ihrem Besten.

Er biß die Zähne zusammen, und als ihm im Halbdunkel die Sommermagd mit einem Becken voll Wasser begegnete, sperrte er der Überraschten den Weg, faßte über die Schüssel weg ihren rotblonden Kopf mit nervigen Händen und küßte sie jäh auf den frischen Mund. Ihr leiser Schrei wurde von seinen Lippen erstickt, und ein Schwall Wasser sprang aus dem Becken und netzte beiden die Füße. Dann ging er weiter, und das Mädchen stieg, schwer atmend, mit einem Gefühl plötzlicher Mattigkeit in den Knien, die Treppe hinauf. Die Schüssel schwankte in seinen unsicher gewordenen Händen.

Drei Wochen lag der Grenzaufseher in der Kammer des Bergwirtshauses. Der Vorsommer würzte die Luft, 33 die zu dem Kammerfenster hereinstrich, mit frischen Düften, und die Herdenglocken läuteten Tag und Nacht auf den Weiden. Als die ersten Sommergäste einzogen, war der Mann so weit geheilt, daß man ihn zu Tal bringen konnte. Aus Kolmar waren Soldaten heraufgekommen, die trugen ihn auf einer Krankenbahre nach La Motte hinab.

Daniel Junt hatte ihm mitleidig in das magere Gesicht geschaut, der blonde Schnurrbart lag über dem blassen Mund und krauste sich gewaltig über den hohlen Backen. Die Augen hatten einen trockenen Glanz.

Es wurde still auf dem Florimont, und Daniel ging unwirsch umher.

»Man muß ihn verheiraten und bald, auf den Tag nach dem Leidjahr,« murmelte das Nettele.

So eifrig sich das Nettele aber Mühe gab, so große Hilfe es auch fand in den Fermen und Nestern ringsum, Daniel war taub und blind für alle versteckten Anpreisungen. Von Gérardmer kam im September der Wirt zum »canon d'or« auf die Höhe und brachte seine Nichte in die Kur, eine Tante aus Labaroche ging als garde-dame mit. Das Mädchen war stark und hübsch, mit einem Völklein goldglänzender Sommersprossen auf der feinen Nase, braunen Augen und einem zierlichen Leib.

Daniel wurde bald gewahr, daß die Angel ausgeworfen war. Aber er zuckte die Achseln. Heiraten, wenn einmal ein neues Haus stand und eins allein nicht mehr nachkam, wenn die Gäste die Wirtin entbehrten und der Haushalt die Meisterin, dann war es Zeit, daran zu denken. Aber dann ging er auf die Schau und dann – pah, was gab's da zu sinnieren – qui vivra, verra! Und er sah an der demoiselle du canon d'or vorüber, so heiß ihm auch zuweilen das Herz brannte, wenn sie wie ein scheuer Vogel an ihm hinstrich, ein heimliches Verlangen in den braunen Augen. 34

Der Léon lag oft im Arme des Mädchens, Floflo aber ging wie ein mißtrauisches Hündlein um sie herum und war durch keine Freundlichkeiten zu gewinnen.

»Elle est méchante, cette petite,« sagte Mademoiselle Denise zum Nettele.

»Wer hat das gesagt? Florence ist ein rechtes Kind. Jalouse ist sie, das ist alles,« antwortete das Nettele, und von diesem Augenblick an war auch für es das windige Ding mit seinen Café-Chantant-Manieren – wie es auf einmal hieß – abgetan.

Acht Tage später fuhr der Sepp die Tante heim, die Nichte war schon am frühen Morgen mit der Post über den Berg.

Floflo war eifersüchtig gewesen. Das Nanettele hatte recht gesehen. Das Kind war in die Höhe gewachsen, es hatte einen Schuß getan wie der Spargel im Mai, und als im Oktober der Klavierstimmer kam, um das alte Piano im Gastzimmer zu flicken, meinte er, jetzt wär' es hohe Zeit, ihm Tafel und Griffel in die Hand zu geben.

»Das Kind ist neunjährig. Ihr müßt es in die Schule schicken. Die Preußen sind gar scharf drauf, daß die Kinder aufs Bänkle kommen,« sagte er zu Daniel.

»Drei Stunden nach La Motte hinunter und im Winter, das könnt' mir einfallen.«

Daniel wollte nichts davon hören.

»Und die Religion, wie ist's mit der?« fragte der Stimmer, der seit Jahr und Tag auf den Berg kam, wenn die Sommergäste fort waren, und so viel galt wie ein Hausfreund.

»Das ist Weibersach',« antwortete Daniel, »der Abbé Wetzel, der hat ihm auch schon gesteckt, was es wissen muß.«

»Ihr seid ein Heide, Daniel,« entgegnete der andere lachend.

»Tant pis pour moi,« versetzte der Wirt gleichmütig.

Dann sprachen sie von den Zeitläuften, den Deputiertenwahlen für den »Landesausschuß«, den Bismarck 35 den Elsässern als ›chambre particulière‹ eingerichtet hatte, wie der Klaviermacher boshaft bemerkte, von dem und jenem, der für Frankreich optiert hatte, aber nicht ausgewandert war und nur den Deutschen spielen mußte, von dem Herbst, der in diesem Jahre mäßigen Ertrag gezeitigt hatte, von Frankreich, wo die Nationalversammlung just die Verfassung fertig stellte, und von der Wunderquelle in Lourdes, zu der erst vor acht Tagen wieder dreißig Elsässer aus dem Sankt Amarintal gepilgert waren.

»Noch zwei, drei Jahre, dann ist die Armee prête pour la guerre, dann kommt die revanche,« sagte der Klavierstimmer und klopfte die Asche aus seiner kurzen Pfeife.

Daniel schwieg.

»En doutez-vous?«

Da trank Junt sein Glas aus und erwiderte:

»Ich hab' keinen Herrn hier oben. Ob ich dem Preuß steuere oder dem Franzos, das kommt auf eins heraus. Das ist wie eine Assekuranz, die gezahlt wird. Aber daß man einen nicht gefragt hat, daß so ein Stück Land abgerissen und einem anderen zugeschlagen wird mit aller Lebware wie auf der Auktion, das geht mir nicht ein. Ich hab' gegen den Napi gestimmt, aber er hat einen wenigstens gefragt, jetzt ist alles eins. Meinetwegen. Ich hab' keinen Herrn hier oben. Und revanche? Wir wollen's erwarten. Sie trägt mir den Schlaf nicht weg.«

»Und Euer Sohn, wenn er zu den Soldaten muß, zu den Prussiens?«

»Der Léon kann noch auf keinem Bein stehen. Ihr sagt ja selbst, in drei Jahren ist der Schuß draußen und der Preuß aus dem Land. Warum echauffiert Ihr Euch, Monsieur Schuffenecker? Macht Euch kein böses Blut, das verschlägt Euch den Wein.«

»Daniel, ich versteh' Euch nicht,« schrie Schuffenecker erregt und stieß den Stuhl zurück. »Böses Blut, 36 Himmeldonnerwetter, Ihr habt doch sonst auch kein Wasser in den Adern und fahrt auf wie Pulver! Vous vous faites vieux dans cette baraque, mon ami!«

»Cette baraque?«

Daniel Junt stand plötzlich aufrecht. Seine Brauen drohten, die Zornader lief auf, und er ballte die Faust.

Mit tonloser Stimme fuhr er fort: »Ihr habt recht, es ist eine Baracke.«

Und mit schweren Schritten durchmaß er die Stube, hörte nicht mehr auf das, was der Klavierstimmer noch sprach, und trat endlich ans Fenster, lehnte die Stirn an die Scheibe und starrte in den Tag hinaus. Der Vogelbeerbaum an der Straße glänzte von roten Früchten. Eine Amsel schluckte gierig die mehligen Beeren, die Herbstzeitlosen wucherten auf den Matten, und in der Ferne, auf dem ersten Stein, gaukelte eine schlanke Gestalt, Floflo, die auf den breiten Rücken des Granitbrockens hinaufgeklettert war und sich singend im Kreise drehte.

Die Sonne glänzte am wolkenlosen Himmel, klar war die Ferne, man sah in jede Talschlucht, über Wälder und Wiesen ins Weite. Tief unten schimmerte zwischen zwei dunklen Bergnasen ein Stück Ebene mit weißen Häusern und einem blitzenden Fluß. Eine weiße Wolke stieg, geballt wie eine Kugel, in mächtigem Drang aus der Tiefe und verschwand plötzlich in der leeren Luft. Es war der Dampf einer Lokomotive gewesen, die den Bahnzug aus der Talbahn aufwärts zog.

Der Klavierstimmer saß wieder an dem Instrument und spannte eine zerrissene Saite, das Mariele hatte schon lange den Tisch abgeräumt, Daniel stand noch am Fenster und starrte blicklos in die Ferne. Floflo tanzte noch als Erdweiblein auf dem schwarzen Stein und sang ein eigenes Lied, seine helle Stimme klang weit über die einsame Höhe.

Dem Mann fuhr ein Schauer über die breiten Schultern. Solange die Frau lebte, hatte er die Einsamkeit nicht 37 so stark empfunden. Er hatte den Drang zu schaffen nicht so heftig gespürt wie jetzt. An fünfundzwanzig Jahre saß er auf der Höhe, zwölf davon als eigener Haushalter, und immer mehr war das Bedürfnis nach stärkerer Tätigkeit, nach Schaffen und Werken in ihm gewachsen. Und seit die Louise unter dem Boden, das Kind aber im Korb lag, seit diesem Augenblicke würgte ihn die tatenlose Ruhe, das stumpfe In-den-Tag-leben und kümmerliche Sorgen zum Ersticken. Da unten in La Motte war seit Jahren kein neues Dach aufgerichtet, und seit der Seuche, die im Kriegsjahr das Vieh heimgesucht hatte, war keine einzige Kuh mehr eingestellt worden. Sie hausten von heut auf morgen, vom Sommer auf den Winter, und dachten nicht über ihre Nase hinaus. Ihm machte das nicht heiß und nicht kalt, aber daß sie auch ihm den Atem verhielten und auf seinen Plänen hockten wie die Schratzen, bis sie darunter erstickten, das fraß an ihm. Sollte der Bub auch in der alten Hütte hausen, auf die er neue Ziegel und Schindeln kleben, die er mühsam zusammenhalten mußte, wie die Weiber ihre Zuber, wenn der Ostwind bläst, daß sie nicht aus den Reifen fallen! Das war ja kein Leben wert. Besser gleich die Füße von sich strecken und zu Grab fahren!

Als am anderen Tage der Klavierstimmer über den Berg weiterzog, in anderen Vogesengasthäusern seine Kunst auszuüben, fragte Daniel ihn noch um die Adresse eines Advokaten in Kolmar.

»Oho, Monsieur Daniel, wollt Ihr prozessieren?« neckte ihn Schuffenecker erstaunt.

»Mein' Sach',« antwortete er kurz.

Er notierte sich die Adresse und fuhr in der nächsten Woche hinab nach La Motte.

Der Maire saß daheim über einem Schnaps, als er kam.

»Tiens, der Dani! Ist Euch eine Kuh umgestanden, oder fahrt Ihr mit den Melkern ins Tal, noch vor Michaelitag?« 38

»Das Vieh steht auf den Füßen, und wenn's mich Anno einundsiebzig oben gelitten hat, als einem der Schnee am Dach stand, danach bringt's einen in keinem anderen Winter ins Tal. Die Sonne hitzt, die alten Weiber wollen auch noch ihren Sommer haben.«

Daniel setzte sich auf die Bank hinter dem Schiefertisch und wischte mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn.

»Ein Kirsch zum Verkühlen,« sagte der Bauer, und seine Tochter füllte dem Gaste das Glas.

Durch die kleinen blinden Fenster der Stube brannte der Tag. Dichte Fliegenschwärme fuhren umher und erfüllten den niedrigen Raum mit einem geisterhaften Summen. Die alte Stockuhr auf der Kommode hinkte wie seit Jahren. Daniel kannte ihren knackenden Pendelgang.

Eine Weile hockten sie stumm hinter den Gläsern, dann sagte der Maire, indem er seinem Gesicht einen gleichgültigen Ausdruck gab:

»Eh bien, was gibt's Neues auf dem Hof?«

Daniel antwortete mit dem gleichen verschlossenen Gesicht:

»Er hält noch zusammen.«

»Tant mieux.«

»Bis die Gemeind' baut,« fuhr Daniel ruhig fort.

Der Wiesbauer zuckte die Achseln, als wollte er sagen: da sind wir wieder so weit.

Daniel tat, als sähe er die Bewegung nicht.

»Zwei Winter mag's noch angehen, im Frühjahr danach muß es sein. Die Gemeind' baut, ich zins' mit fünf vom Hundert.«

»Die Gemeind' hat keinen Sou zum Verspekulieren. Alles geht hinter sich, seit der Preuß im Land ist. Die Livres wachsen nicht am Hag.«

Jetzt zuckte Daniel die Achseln.

»Ich diskutier' nicht mit Euch. Der Gemeind'rat spricht. Fünf vom Hundert und fünfhundert Livres mehr für 39 die Pacht. In der nächsten Sitzung bring' ich's vor. Ihr seid avisiert.«

Der Maire blieb auf der Schwelle stehen, bis Daniel aufgestiegen war. Als der Bergwirt den Gaul wandte und die Gasse hinunterfuhr, rief er ihm nach:

»He, hinterwärts geht's heimzu!«

Da deutete Daniel mit der Peitsche ins Tal, wo die Schwüle des heißen Spätherbsttages als rötlicher Dunst über der Ebene hing, und entgegnete:

»Und da geht's zum Notar!«

Und talab trabte der Gaul.

 

Acht Tage nach dem Engelfest wurden die Fermen verlassen. Da trieb auch Daniel Junt sein Vieh bis auf zwei Milchkühe zu Tal. Der Melker ging mit der Sommermagd jauchzend hintendrein, und dem Mariele war das Herz schwer, als ließe es seine Heimat zurück auf dem Berg.

Am Mariabaum scheuerte sich die Leitkuh das Fell, warf den Kopf in die Höhe und brüllte laut. Ihre Glocke klang hell, und aus der Ferne kam ein Echo. Talab drängte die ganze marcarie. Die Fermen standen leer vom Tännchel bis zum Kahlen Wasen. Nach Osten und Westen, ins Elsaß und auf die welsche Seite zogen die Melker, wie seit unvordenklichen Zeiten, und die Dorfställe füllten sich mit dem glänzenden, von Alpgras und Bergluft gerundeten Vieh. Einsam lagen die Alpweiden der chaumes, verschlossen die Hütten, nur wo gewirtet wurde, wie auf dem Florimont, am Weißen See, an der Schlucht und auf dem großen Belchen, da blieb Leben unter den grauen Dächern.

Daniel hatte vor der Wettereiche dem Sepple die Geißel aus der Hand genommen.

»Bleib' und nimm das Kind mit heim, ich geh' mit hinunter.« 40

Der Knecht traute seinen Ohren nicht, der Meister aber rief Floflo, die mit einem Buchenzweig hinter der Bläß hertrottete. Sie jauchzte wie ein Melkerbub, und er hieß sie heimgehen.

»Laß mich mit ins Dorf, Vatterle!«

»Nein, bleib' du nur da oben.«

Und der Sepple zog es am Zopf und sagte:

»He, hüstherum, Kälble!«

Da tat es einen großen Seufzer, kitzelte die Bläß noch einmal mit dem Laubzweig und stapfte dann neben dem Knecht wieder heim zu.

»Warum führt der Vater das Vieh nach La Motte?« fragte Florence nach einer Weile, als sie zwischen den Zwergkiefern aufwärts stiegen.

»Er meint, es gäb einen strengen Winter und will keine Leut' auf dem Hof haben bis im Märzen.«

»Gar keine? Und du, Sepple?«

»Ich bleib' unten beim Vieh.«

»Und der Joli und wir?«

»Ja, für's Roß und für die zwei Schwarzen, die euch die Milch geben, sorgt der Vater selber. Und du und 's Nettele und die Catherine, ihr bleibt selbdritt oben.«

Die Sonne hatte es aufgegeben, die Dünste zu verzehren. Ihre blasse Scheibe verschwand, und nun füllten sich die Täler mit weißen Wogen, die langsam dahinrollten und Dörfer und Rebhalden, Wälder und Weiden bedeckten, bis nur noch die Gipfel und Kuppen sichtbar waren. Lange, seidige Strähnen strichen durch den Kiefernbusch und umwoben die Arven, die zerstreut auf der Matte standen.

»Jetzt ist wieder Erdwibele-Zeit,« sagte das Kind und drückte sich dichter an den Alten.

»Ja, jetzt gehen sie wieder ihre Leinwand an die Bäume hängen. Und dann fliegen die weißen Fäden,« erwiderte der Knecht.

»Sag', erzähl' mir, Sepple, ist's wahr, das von dem See?« schmeichelte Floflo dem Wortkargen und wies mit 41 der Hand in die Ferne, über den Tannengrund und den Kreuzbühl, wo der biantsche mâtsRomanisches Patois, zu deutsch weißer See. auf dem Reisberg schlief.

»Die Catherine, die weiß alle Alte-Weiber-Geschichten, die erzählt dir vom Weißen See und von dem goldenen Wagen, der drin liegt und alle Jahr in der Johannisnacht aufs Land rollt, und was das für dumme Späß sind.«

»Dumme Späß?« fragte Florence klagend.

»Ein goldener Wagen, und wer ihn Johanni in der Geisterstund' packt und so weit auf den Berg herauf zieht, daß er Stand hat, eh' es in Orbey eins schlägt, der führt ihn heim! Zwei Brüder aus Pairis haben's einmal gewagt. Der See hat sie behalten.«

Der Knecht bröselte es vor sich hin und schleifte das lahme Bein durchs feuchte Heidekraut.

Das Kind schwieg eine Weile. Es war so still, daß das Wasser im Brunnentrog bis zu ihnen herrauschte und -gurgelte, als das Haus noch klein und grau über ihnen am Wegrain hockte.

Auf einmal tat Floflo einen Atemzug.

»Aber der Vater, wenn der will, der führt ihn heim,« sagte es, und seine Stimme hatte einen warmen Klang.

So schritten sie selbander zur Höhe.

Kühl kam die Luft über den Grat, und als der Knecht mit dem Kinde den Hof erreichte, lag ein feuchter Glanz auf Floflos Haar. Hinter ihnen schritten die Nebelfrauen.

In der Nacht begann es zu regnen. Eintönig rauschte es hernieder, klopfte und polterte in den Dachrinnen, lief tropfend ums Haus und sang im Tannenwalde, wo höhnisch der Kauz schrie. Am Tage darauf blies der Nordwind, große Flocken tanzten leicht zwischen den schweren Tropfen, und eine setzte sich Floflo auf die ausgestreckte Hand. Es hatte lange auf der Schwelle 42 gestanden und schoß nun mit dem Schneestern in die Stube.

»Lug, Nettele, das ist gewiß eine von zu oberst aus dem Himmel, so groß ist sie.«

Aber als es der Mamsell die Flocke zeigen wollte, war sie verschwunden. Ein Tropfen rann zwischen den Fingern herab und traf den kleinen Léon, der auf Netteles Schoß lag, auf die Nase.

Da lachte Floflo und tanzte von einem Bein aufs andere, indem sie die Hände zusammenschlug und sang:

»Tschuk, tschuk, tschuk, der Wind geht kalt,
Maidele, flick' di Ärmele!
Nimm doch dü kei' alte Mann,
E junger git dir wärmer . . .«

»Jesus, nein, was singst du da, du wüstes Kind!« rief das Nettele zwischen Lachen und Schelten.

»Das ist schön, n'est-ce pas? Das hab' ich vom Melker,« erwiderte Floflo.

»Halt deinen Schnabel, Flo! Ah, der Xaveri, so ein Fink, dem Kind seine Schelmenliedlein vererben!«

Das Nettele erhitzte sich ganz.

»Wart' nur, im Frühjahr kommst du nach Kolmar in die Schule zu den frommen Schwestern, die werden dir dafür tun.«

Nanette sah Florence mit bösen Augen an, aber dann zuckte ein trauriges Lächeln um ihren Mund.

Floflo war verstummt. Jetzt fragte sie ganz verzagt und piepte wie ein armes Vögelchen:

»Nanette, ist's wahr, ich komm zu den Schwestern?«

»Du weißt es doch, es ist ja alles schon geordnet,« antwortete das Nettele.

»Und der Léon?«

»Ja, der kann doch nicht zu den Schwestern. Der bleibt hier auf dem Berg.«

Floflo schwieg. 43

Die alte Mamsell wiegte den Knaben und sah mitleidig auf das ernste Kind. Daniel hatte ihnen schon auf Michaeli gesagt, daß es nach Kolmar zu den frommen Schwestern in die Schule solle. Und zwar auf den Frühling. Florence war sehr erstaunt gewesen, als sie davon erfuhr, aber jetzt erst schien dem Kinde klar zu werden, daß es hinab müsse von dem Berg und fort von daheim.

Und nachdem sie einmal von der Übersiedlung gesprochen hatten, redeten sie täglich davon. Netteles Phantasie erschöpfte sich bald, aber Floflo wußte sie durch neue Fragen immer wieder anzuregen, bis sich alles so lebendig anhörte, daß das Kind selbst zu erzählen begann. Es sprach mit der Catherine darüber und erzählte dem Léon und sogar dem Bello davon, der ihm lange zuhörte und nur dann und wann die gestutzten Ohren bewegte, die kalte schwarze Schnauze auf Floflos Knie legte und mit dem Stummelschwanz die Dielen wischte.

Der Winter kam mit Schneestürmen und klarem Frost. Der Hof lag verschneit, und Tatine backte Brot trotz einem Bäcker. Daniel betreute den Joli und die beiden Milchkühe, die in dem Verschlage, dicht an der Küche, standen. Wenn sie mit den Ketten rasselten, hörte man es in dem dunklen Raum, wo Catherine einsam die Kaffeemühle drehte. Zuweilen kam ein Schmuggler und klopfte am späten Abend an die Läden, trank einen Schnaps und huschte wieder ins Dunkel. Dann stapfte ein Zöllner durch den Schnee und schmetterte einen Bittern, wischte den Bart und ging wieder hinaus in den Wintertag. Alle Mulden und Hänge, alle Schluchten und Wälder lagen voll Schnee, und wenn der Wind sang, glitzerte die Luft von aufgescheuchten Kristallen, die aus den Tannen stoben und in der kalten Sonne tanzten.

Floflo hockte an hellen Tagen auf ihrem Schlitten und sauste vom Grat in die Mulde hinunter, die Beine 44 mit den Holzschuhen und den dicken roten Strümpfen vorgestreckt, den geschmeidigen Leib zurückgeworfen, mit fliegenden Haaren und wildem Zuruf. Und wenn sie sich mit dem Schlitten überschlug und in die Schneewehe hineinplumpste, daß der silberne Staub glitzernd aufstob, dann jauchzte sie laut, und der Bello raste belfernd im Kreise um sie herum und tanzte auf allen Vieren wie ein Geißbock.

Daniel Junt saß über seinem Hauptbuch, einem dickleibigen Folianten, der einen altersgrauen Einband hatte und schon vom Vater selig angelegt worden war. Floflos Jauchzen drang durch die Doppelfenster zu ihm herein.

Er raffte die Papiere zusammen, die Police der Pariser Assekuranz lag zu oberst. Seit fünfundzwanzig Jahren war die Prämie aus dem Sack der Junt bezahlt worden. Der aigle d'or über dem Türpfosten war hundert Napoleons wert, soviel hatten sie schon dafür gezinst. Die Gemeind' war um keinen Sou angegangen worden. Wäre die Budik abgebrannt bis aufs Mauergerüst, es hätte keiner drum leid getragen.

»Die Gemeind' muß bauen,« stieß er zwischen den Zähnen hervor, warf die Schriften in die Lade, rannte sie mit dem Knie zu und zog den Schlüssel ab. Am ersten Sonntag im Hornung war die Sitzung, in der sein Gesuch verhandelt wurde. Noch acht Tage. Er stand auf und reckte sich, als müßte er seine Kräfte prüfen. Im buschigen Haar traten die ersten weißen Fäden hervor, ein Netz von Fältchen zuckte in seinen Augenwinkeln, aber straff spannte sich die Haut über den Backen, unter dem Bart brannte die Lippe, und in den Halsadern schwoll ihm das rote Blut, wenn er den Atem in die breite Brust zog und die Fäuste ballte, als müßte der Spruch des Gemeinderates mit Dreinschlagen verdient sein.

»Morgen fahr' ich nach La Motte,« sagte Daniel am Samstagabend zu Nanette. 45

»Und wann kommt Ihr wieder heim, Daniel?« fragte sie.

Einen Augenblick zauderte er mit der Antwort. Er hatte noch kein Wort verlauten lassen von Ziel und Zweck der Fahrt. Auch mit seiner Frau hatte er nie von seinen Plänen gesprochen. Das war seine Sach' ganz allein. Aber jetzt lag ihm eine Erklärung auf der Zunge. Doch er zwang sie zurück, schämte sich der Schwäche und erwiderte:

»Wenn's nachtet.«

Das Nettele fragte nicht weiter.

Da bat Florence, die aufmerksam zugehört hatte:

»Nimm mich mit, Vatterle.«

Und als er dem Kind in die Augen sah, kam's wie ein abergläubischer Zwang über ihn. Vielleicht brachte ihm das Kind Glück.

»Meinetwegen.«

Mit starken Armen stieß Daniel am Sonntagmorgen den Schlitten auf den Hof hinaus. Ein Huhn, das sich auf die Heubühne verirrt hatte, flatterte und schrie über ihm im Sparrenwerk, als er das Tor schloß. Plötzlich flog es schwerfällig aus einer Luke im Dach auf den Hof herab, stäubte mit den roten Flügeln den gefrorenen Schnee auf und flüchtete vor der Peitsche Daniels auf die Straße hinaus und auf die Hausschwelle. Hier blieb es stehen und gluckste triumphierend.

»Nicht anders, als wär' einem das rote Feuer von der Bühne gefallen,« murmelte Daniel und schirrte den Joli an.

Die Sonne trat klar aus den Morgendünsten und überstrahlte die weißen Berge, da klingelte der Schlitten talab. Neben dem Daniel hockte Floflo, die Hände in einem mächtigen Muff, eine gestrickte, rote Kappe über die Ohren gezogen und die Augen voll glänzender Freude. An der großen Kehre, wo die Straße am Absturz hinlief, begegnete ihnen der Postschlitten, der mit schwitzenden Gäulen zu Berg kroch. 46

»He, M'ssieu Junt!«

Der Postillon kramte in der Ledertasche, und als Daniel langsamer fuhr, warf er dem Kind zwei Briefe in den Schoß.

Der Joli kannte den Weg und trabte ohne Zügel. Daniel streifte die Fausthandschuhe ab und griff nach der Briefschaft. Einer trug die Aufschrift der Feuerassekuranz. Er riß ihn auf. Grosjean schrieb ihm, daß er die Repräsentanz für das obere Elsaß niederlege und als Generalagent nach Altkirch übersiedle. Es war ein offizielles Schreiben, von Grosjean nur die Unterschrift und darunter stand von seiner Hand: »Le faire-part vous dira le reste!«

»Tiens, Flo, halt' das Leitseil,« sagte Daniel und drückte ihm die Zügel in die Hände.

Dann schlug Damel die schwarzgeränderte Todesanzeige auseinander, auf die Grosjean ihn hingewiesen hatte.

Und er zuckte mit dem ganzen Oberleib, als er den Namen las, ein Schwall roten Blutes stieg ihm plötzlich vom Herzen auf.

Das Berthele Witwe!

»Madame Berthe Alleman, née Grosjean« stand an der Spitze der Leidtragenden. Charles Alleman war nach kurzer Krankheit gestorben.

Floflo hielt das Leitseil krampfhaft fest. Sicher nahm der Joli die Kehren, und schon tauchte der Schlitten in die Wälder, spann die Sonne sich ein, kamen die Täler näher. Unter den Kufen sang der Schnee, hell klangen die Schellen am roten Kummet.

Daniel starrte über den Gaul ins Leere. Das Berthele war Witwe geworden, noch ehe sein Hochzeitstag sich gejährt hatte.

»Vatterle!«

Er fuhr aus seinen Gedanken, und Floflo sprach mit kläglicher Stimme:

»Vatterle, meine Händ' sind ganz steif, nimm du's Leitseil.« 47

»Gib!«

Er nahm ihr die Zügel aus den rotangelaufenen Fingern und fuhr plötzlich fort:

»Kennst du Mamsell Berthe noch, Floflo, die im Sommer auf dem Berg war und dich immer herumgetragen hat?«

Floflo schüttelte den Kopf. Nach einer Weile fragte sie leise:

»Kommt sie wieder, Vatterle?«

Er war einen Augenblick betroffen, dann fragte er mit leiser Stimme:

»Wär's dir denn recht, wenn sie käm', für immer am End'?«

Heftig schüttelte sie den Kopf:

»Nein, für immer nicht!«

Da fuhr Daniel Junt mit einem Peitschenknall in Floflos kindliche Rede, daß der Joli einen wilden Satz tat und der Hall durch die Täler lief.

Als sie eine halbe Stunde später in La Motte ankamen, stampften die Weiber gerade an den Haustüren die Stollen von den Schuhen und schüttelten die von den Kirchbänken zerknitterten Röcke. Der Schulmeister sah den Schlitten, er hatte sein Halstuch über die Ohren gezogen und ging nun aus der Sakristei geradewegs ins Gemeindehaus. Daniel sah noch, wie er den Maire auf der Schwelle einholte und ihm erzählte, daß der Bergwirt da sei. Ja, er war da! Das war sein Recht, und seit einer Stunde lag ihm noch mehr daran. Ums Verrecken hätte er jetzt nicht nachgegeben, die Gemeind' mußte bauen, ein neues Leben sollte anheben auf dem Berg, und wenn sie nicht baute, dann zwang er sie, wie es vorbedacht war. Jetzt erst recht!

Als er Floflo vom Schlitten hob, sagte das Kind, während es nach dem kleinen Gottesacker hinüberzeigte, der weiß im weißen Feld vergraben lag:

»Der Stein und alles ist weiß, wo's Mütterle darunter schläft.« 48

Daniel reckte die Arme, daß er das schlanke Mädchen schwebend hielt, hielt es, so hoch er konnte, und seine Stimme klang klar und fest:

»Sie schläft, und wir, der Léon und du und ich, wir sind noch im Leben!«

Dann stellte er das Kind in den Schnee und führte es zu seinem Vetter Antoine in die Stube. Hier blieb es, bis sie heimfuhren.

Drei Stunden saß der Gemeinderat über der Sache, dann fiel Daniels Gesuch mit allen gegen zwei Stimmen. Solange der Antrag strittig war, hatte er die Worte nicht gespart, jetzt nahm er den Entscheid ohne Zucken und Widerspruch hin, aber eine senkrechte Falte schnitt in seine Stirn, seine Zähne bissen hart aufeinander, und in den Fingern pochte ihm das Blut, als säße unter jedem Nagel ein Eiterwurm.

Er ging in den großen Stall, wo er sein Sommervieh eingestellt hatte. Der Sepple berichtete ihm vom Wohlergehen jeder Kuh.

»Im Märzen, am ersten linden Tag treibst du auf den Berg,« sagte der Wirt, und der Knecht horchte erstaunt auf den stählernen Klang in der Stimme des Wortkargen.

Die Luft ging feucht, als der Schlitten wieder bergan klomm. Am Maul des Joli hing flockiger Rauhreif, und wenn er schnaubte, stieg eine silberne Wolke auf. Das Kind schwatzte. Sie hatten ihm warmen Zuckerwein zu trinken gegeben, der plauderte aus ihm.

»Ist das wahr, Vatterle, daß ich nicht dein rechtes Kind bin?« fragte es auf einmal.

Daniel hatte noch kein Wort gesprochen, doch als es die Frage wiederholte, sprach er rauh:

»Wer sagt solche verrückte Betisen?«

»Dem Vetter sein Jaköble, und der hat's vom Maire seinem Fritz.«

»Galgenbrut, alle zwei. Du bist unser Kind.«

»Und keins von Zigeunern und Kesselflickermannen?« 49

»Nein!« und aufbrausend schrie er: »Sackerlot, jetzt halt's Maul!«

Floflo schwieg. Schweigend fuhren sie bergan. Zuweilen stieg Daniel ab, um dem Gaul die Fracht zu erleichtern. Die Dünste blieben hinter ihnen, klar spannte sich der Himmel über die Höhen, eine rosafarbene Glut lief von der sinkenden Sonne an den Gipfeln hin und rötete den Schnee. Als sie auf die Paßhöhe kamen, brannte die Himmelsglut nieder wie ein Fastnachtfeuer. Zuckende Lichter spielten in den Fenstern des Bergwirtshauses. Ein Hühnervogel strich mit pfeifendem Jagdruf über das Gehöft und zog seine Kreise in dem grün verblassenden Abendrot.

Der gold'ne Adler fliegt ab, schoß es Daniel durch den Kopf, und mit der Faust drohte er ihm nach. Er hätte die alte Jagdflinte, die über seinem Schreibtische hing, zur Hand haben mögen. Das war alles, was er verriet. Kein Wort fiel von seinen Lippen, er ging seinem Tagwerke nach, und nur das Nettele merkte, daß ihn etwas würgte.

Nach Wochen drang dann die Kunde von der Gemeinderatsitzung auch zu ihr.

»Das verwindet er nicht,« sagte sie zu Catherine, aber es ging ihr nicht so nah' wie die Erzählung, die Floflo von der Fahrt heimgebracht hatte: daß Daniel Junt ihr von Madame Berthe gesprochen, und daß die Buben in La Motte dem Kind die arge Frage von seiner Geburt ins Ohr gesetzt hatten.

Am Todestage der Frau gingen alle nach La Motte hinab zur Messe; der März war lind, und acht Tage darauf trieb der Sepple das Vieh auf den Hof. Die Fermen standen noch leer, die Weide gab noch kein Gras, aber die Kühe rannten, daß der Knecht mit seinem krummen Fuß ihnen kaum folgen konnte. Ungern traten sie in den niedrigen, alten Stall, wo die beiden Winterlinge unruhig mit den Ketten klirrten, als die Stände sich füllten und die Eimer klapperten.

Acht Tage später kam der Melker aus Labaroche, und die Sommermagd stellte sich ein. Daniel hatte in 50 Türkheim zwei Maurer gedungen, die begannen die schadhafte Hauswand zu flicken, und Floflo half ihnen den Brei rühren. Die Weide sproßte, in hellen Nächten tönte die Luft von Vogelrufen, und als der Palmsonntag kam, war auch Floflo bereit zur Reise.

Das Nettele fuhr aufgeregt und verstohlen sich die Augen wischend im Hause umher, als gälte es einen ewigen Abschied. Der Catherine hatte in der Nacht auf den Sonntag von den Hühnern geträumt, das bedeutete Glück, und das erzählte sie dem Kind am Morgen der Fahrt. Als Daniel dazukam, wurde sie still und blickte nur scheu, mit einem einfältig glücklichen Gesicht, nach ihm hin. Er hatte sich städtisch angekleidet und sah aus wie ein nobler Herr.

»Allons, Floflo, en route,« sagte er und hieß sie vorausgehen. Nettele brachte den Léon noch einmal herbei, der frisch und rosig auf dem Arme der Alten saß und ihr mit den Beinen gegen den mageren Leib trommelte. Er hatte blaue Augen wie seine Mutter und lachte wie ein Schelm.

Da fing Floflo an zu weinen. Ohne zu wollen, ohne eine Miene zu verziehen, die Tränen liefen in hellen Kügelchen über ihre Backen.

»Aber, Florence, so ein großes Kind und greinen,« sagte Nanette, und dabei wischte sie ihr schnell über das Gesicht mit dem Schürzenzipfel, der noch von ihren eigenen Tränen feucht war.

Floflo erwiderte nichts, sondern wühlte den Kopf in Léons Schoß. Der fuhr ihr mit den Fäusten in die lockigen schwarzen Haare, die sich nur ungern in einen Zopf hatten flechten lassen, und als Nanette eine halbe Stunde später allein war mit ihm, zog sie ihm noch ein Dutzend seiner Haare aus den Fingern, die er der Schwester ausgerupft hatte.

Floflo war schon auf der Fahrt durch den Tannenwald, in dem das frische Harz duftete und die Anemonen in weißen Büscheln blühten. 51

 

Als Daniel in dem Pensionat der Schwestern »Zum guten Hirten« Flo zum letzten Male mahnte, recht zu tun und mutig zu sein, wenn das Heimweh an ihm zupfe, empfand er eine starke, väterliche Zuneigung zu dem blassen Kind, das ihn mit fremden Augen ansah und vor Herzweh nicht antworten konnte.

Er war schon an der Tür, da rief es ihm nach.

»Vatterle, Vatterle,« klang's dünn und schluchzend. Wie der Wind war es hinter ihm her und warf sich wild gegen ihn, strebte an ihm empor und küßte ihn.

Daniel hatte ein Zucken in den Armen verspürt, als die geschmeidigen Glieder sich gegen ihn drängten, und er, der dem Kind nie zärtlich begegnet war, küßte es wie ein rechter Vater auf die Backen, drückte es fest an sich und stellte es dann vorsichtig auf den Boden.

»Da, nehmt es, sœur Amélie, und haltet es gut.«

Er rückte den Hut in die Stirn, ging den hallenden Flur hinab in den Garten, den Hof und durch das Tor auf die Gasse.

In der Judengasse begegneten Daniel zuerst ein paar blauröckige Dragoner, die mit dem Stampfen ihrer schweren Tritte und mit dem Klirren von Säbel und Sporen einen Lärm machten, daß die ganze Gasse davon widerhallte. Dann kam ein Abbé, lang und schwarz, lautlos, mit der Soutane fast das Pflaster fegend. Und dann niemand mehr. Die Haustüren lagen fest im Schloß, die Fenster waren wie blind, so dicht hingen die Gardinen.

Am Haustor Grosjeans funkelte das blanke Messingschild mit der Aufschrift:

»L'Aigle d'or, Compagnie d'assurance contre les incendies, Représentant général du Haut-Rhin J. J. Grosjean.«

Im zweiten Stockwerke lagen Grosjeans Bureau und die Wohnung. Als Daniel hinaufstieg, ging oben die Tür, die von dem Treppenabsatz auf die Hofgalerie führte, und als er aus dem Halbdunkel des 52 Stiegenhauses ins Helle trat, stand eine schlanke, schwarze Gestalt vor ihm, die eben die Glastür zur Wohnung öffnete.

»Mademoiselle Berthe, pardon - Madame,« stieß Daniel überrascht hervor und knüllte den Filzhut zusammen.

Einen Augenblick hatte Berthe gestutzt, dann lief ein roter Schein über das zarte Gesicht.

»Ihr, Daniel, Monsieur – – Junt!«

Auch sie hatte sich verbessert, und als er ihr die Hand reichte, stumm, mit einem heißen Blick, da ließ sie ihm ihre kalten Finger. Aber kaum hatten sie in seiner warmen, kräftigen Faust gelegen, so machte sich Berthe frei, murmelte: »Mon père est là,« wies mit einer scheuen, müden Bewegung auf die Tür des Bureaus und ging hastig den Korridor hinunter.

Daniel stand eine Zeitlang im Flur. Er atmete stärker und preßte die Hand, die er ihr gereicht hatte, zur Faust zusammen. Ein wilder Drang war in ihm. Sie war blaß, noch das schlanke, jungfernhaft zarte Geschöpf, nur Schatten hatte sie unter den Augen und hielt sich ein wenig geneigt, unsicher wie ein Rebenschoß ohne Stütze. Aber das Lächeln, das im ersten Augenblick in ihren Mundwinkeln gezittert, das war noch so jung, so zärtlich wie damals, als sie auf den Berg gekommen war.

Er gab sich einen Ruck und klopfte an. Grosjean saß zwischen ausgezogenen Schubladen und abgeräumten Regalen. Er wollte aufstehen, aber Daniel sagte:

»Bleibt nur sitzen, M'ssieu Großjean,« und als der alte Herr ihm freundlich den Stuhl rückte, indem er die Schriften, die darauf gelegen hatten, auf die Dielen warf, saßen sie einen Augenblick schweigend einander gegenüber.

Da wies Grosjean mit einer müden Bewegung rundum.

»Da seht her, Daniel, in acht Tagen sind wir unterwegs. Meinen Reisepaß habt Ihr ja gelesen.«

»Ja, M'ssieu Großjean. Es war ein schwarzer Rand drum.« 53

Großjean seufzte und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

Daniel rückte sich zusammen und sagte:

»Auch ich geb' die Assekuranz auf, M'ssieu Grosjean.«

»Que dites-vous là!« rief Grosjean.

»Ich geb' sie auf, die G'meind soll zahlen, wenn sie die Baracke versichert haben will.«

»Daniel, das ist wie ein Erbteil! Und dann die Gemeinde! Ihr kennt sie ja, die assekuriert nicht.«

»M'ssieu Grosjean, es ist mir nicht um die Prämie. Es ist ein Kampf zwischen mir und denen in La Motte. Ich hab's überlegt. Der aigle d'or kommt von meiner Tür.«

»Überlegt's noch einmal. Es geht doch alles gut auf dem Florimont, Ihr kommt ja in keine Sach' wegen der Versicherung.«

»Ich bin wieder einmal am Flicken,« erwiderte Daniel kurz und zog die Hand zurück.

»Und mit dem Neubau?« fragte Grosjean schlau.

»Die Gemeinde baut nicht. Der Notar sagt, ich könnt' nichts machen,« kam's kurz zurück.

»Ja, ja, die alten Gedinge, Allmend und Markgenossenschaft, c'est du moyen-âge ça,« entgegnete Grosjean, der die Hoffnung auf Umstimmung seines Klienten schwinden fühlte.

»Es wär' schon recht, wenn mehr Verstand in den Leuten wär',« sprach Daniel kurz. Und dann bot er Grosjean noch einmal die Hand.

»Wir bleiben die Alten. Glaubt mir, es ist besser so.«

Ihre Augen trafen sich, und sofort schmolz Großjeans Kälte. Sein Blick wurde freundlich, ein liebenswürdiges Lächeln zog um seinen müden, vom grauen Bart umschatteten Mund, und er ergriff Daniels Hand.

»Ja, Daniel, und jetzt kommt mit, das Berthele gibt uns ein Glas Alten.«

»Sie hat viel ausgestanden, madame Berthe.«

Er seufzte: 54

»Viel zu viel aufs Mal. Aber immer noch besser, es hat jetzt sein müssen, als in einem Jahr, wenn sie ein Kind gehabt hätten. Jetzt trifft es nur sie allein.«

Die junge Witwe empfing den Gast scheu wie einen Fremden und schenkte ihnen stumm den Wein. Der Vater hielt das Gespräch mühsam im Gange, auch Daniel war wortkarg und schlürfte hastig den kühlen Trank.

Aber als sie einander noch einmal die Hand gaben, Berthe und er, beim Abschied, da hielt er die kalten Finger fest und sagte:

»Kommt im Sommer zu uns auf den Florimont, Madame Alleman, da findet Ihr Eure Kräfte wieder. Ich hab' einen kleinen Bub, der wird Euch plaisir machen.«

In ihren braunen Augen leuchtete das goldene Fischlein auf, das Daniel früher so oft darin gesehen hatte. Sie lächelte zaghaft.

»Ihr seid bien aimable, Monsieur Junt,« murmelte sie.

Grosjean aber rief freudig:

»Mais c'est une idée ça, Daniel. Auf dem Berg bei Euch, da findet sie ihre Jugend wieder. Allons, Berthele, fang' nicht an zu weinen, sag' ja, oder ich sag's für dich.«

Berthe machte ihre Hand frei und wandte sich ab. Daniel sah ihre Schultern fliegen. Sie schluchzte auf einmal leise. Da erfaßte ihn ein eifersüchtiger Zorn, und zornig nahm er Abschied.

Der Vater begleitete ihn hinaus.

»Sie kommt zu Euch, Daniel. Wir kommen alle beide. Sorgt nur, daß das Hotel nicht abbrennt bis dahin.«

»Abbrennt?« fragte Daniel Junt argwöhnisch und fuhr sich über das Gesicht, als müßte er etwas wegwischen, das dort zu lesen war.

Da lachte Grosjean, klopfte ihm auf die Schulter und erwiderte:

»Ein Schaden wär's nicht um das alte Haus, und der aigle d'or säß' unterm neuen Dach besser. Aber man wünscht keinem Spatz das rote Feuer ins Nest.« 55

Daniel Junt nahm die arglos gesprochenen Worte mit auf den Weg. Sie liefen ihm nach, wo er ging und stand, saßen in seinem Ohr und bliesen in seine Gedanken, daß sie wie Flammen hoch aufschlugen. Also hatte er doch recht gehabt, recht mit allem, was ihm die in La Motte abstritten. Sein' Sach' war's, und die Junt, die seit Jahr und Tag oben auf dem Florimont saßen, geflickt und angebaut hatten, bis jede Schindel und jede Scheibe, jeder Ziegel und jeder Nagel ihnen gehörte, die hatten dem Teufel nachzufragen bei allem, was sie ließen und taten. Und das Berthele kam auf den Berg! Das Berthele! Und der Notar mit seinen Auslegungen von Recht und Gesetz? Auf dem Berg da war sein Recht, und das trug ihm keiner weg, da war er gut dafür, der Daniel Junt.

 


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