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Inzwischen schritt Hofmeister gesenkten Hauptes nachdenklich durch die stillen Straßen, raschen Ganges, als eile er einem bestimmten Ziele zu. Aber vergeblich riefen die Fiakerkutscher, an denen er vorüberkam, ihm ihr halb kollegiales, halb bittendes »Fiaker gefällig, Euer Gnaden« zu. Trotz der Eile, die er zu haben schien, zog er es vor, zu gehen. Diejenigen, welche den Detektiv kannten, hätten daraus den Schluß gezogen, daß wichtige Gedanken sein Gehirn erfüllten, denn er pflegte zu sagen, nie urteile er so logisch und ruhig, wie unter freiem Himmel, im Spazierengehen, wo er seine Gedanken viel besser konzentrieren könne, als in der engen Stube.
An einer Straßenecke stand ein alter Dienstmann, die rote Mütze tief ins Gesicht gezogen und halb verschlafen vor sich hindämmernd. Hofmeister sprach ihn an und trat mit ihm in ein in der Nähe befindliches Volkskaffeehaus, welches aber der Dienstmann schon wenige Minuten später wieder verließ. Seine Bekannten hätten sich freilich gewundert, wie rasch und wie elastischen Schrittes der Alte die Straßen durcheilte, und wenn sie sein Gesicht gesehen hätten, wäre es ihnen sonderbar verändert und verjüngt vorgekommen.
Es war Hofmeister, der sich unter Vorweisung seiner Legitimation von dem Dienstmann die blaue Bluse und die rote Mütze entliehen hatte, während der Alte, zufrieden mit dem Tausche und schmunzelnd in einer warmen Ecke des Kaffeehauses saß und seinen Tee mit Rum trank.
Inzwischen war der falsche Dienstmann am Ziele angelangt. Er zog heftig an der Hausglocke und holte dann die Visitkarte hervor, welche er vor kurzem von Jobst erhalten hatte.
Nach einigen Minuten nahte sich ein schlurfender Schritt, unter knarrendem Geräusch wurde das Tor geöffnet und nur notdürftig bekleidet, in der Rechten ein Licht haltend, erschien der Hausmeister auf der Schwelle.
»Was woll'n S' denn, he?«
Der falsche Dienstmann hielt ihm die Karte unter die Nase. »Wohnt hier der Herr Doktor?«
Es dauerte geraume Zeit, ehe der Mann den Namen zusammenbuchstabiert hatte.
»Dös stimmt scho', dös is' der Advokat aus dem zweiten Stock, aber der is' nöt daham.«
»I' weiß scho',« gab Hofmeister zur Antwort, den Wiener Dialekt meisterhaft kopierend. »Er hat mi' ja selbst herg'schickt. Er is' beim Ronacher, mit a Freilein, so a großen, schwarzaugeten, sakra, die g'fallet mir a.«
Der Hausmeister, nun ganz ermuntert, lachte vergnügt vor sich hin. »Aha, dös is das Freilein Meta. San's wieder guat miteinander, die zwei? Na, mir kann's recht sein. Aber zu was schickt er Sie denn her in der Nacht?«
»Ich soll a Papier aus sein' Schreibtisch holen. Er braucht's noch heut' abends.«
»Ja hat er Ihna denn den Schlüssel zur Wohnung 'geben?«
Der Dienstmann ließ die Hand in der Hosentasche verschwinden und klapperte mit einem Schlüsselbund. »Dös glaub 'i'. Und den Schreibtischschlüssel a. Na, i' dank schön, Sie brauch'n mi' nöt zu begleiten, legen's Ihna lieber bei dera Kält', halb nackt wie S' san, ich find' die Tür scho' so. Höchstens d' Kerze'n wenn S' mir borgen wollen.«
Hofmeister stieg die Treppe empor, stellte das Licht auf den Boden, und nach wenigen fehlgeschlagenen Versuchen hatte er mit dem Sperrhaken die Vorzimmertüre aufgeschlossen, und, um eine Überraschung zu vermeiden, von innen den Riegel vorgeschoben. Dann betrat er, die Kerze hochhaltend, die Wohnräume.
Er brauchte nicht lange zu suchen. Gleich das erste Zimmer, in welches er kam, enthielt in einer Ecke einen großen, massiven Schreibtisch. Das primitive Schloß war beim ersten Griff geöffnet.
Ohne den Inhalt zu berühren oder ein Blatt in die Hand zu nehmen, musterte der Detektiv die Papiere, welche die Schublade füllten. Aber er schien nicht zu finden, was er suchte, denn er schüttelte den Kopf und wandte sich dann den andern Fächern zu, die er in der gleichen Weise musterte.
»Nichts, auch hier nichts,« murmelte er enttäuscht. Dann verschloß er die Laden wieder, eine nach der andern.
Im Begriffe, das letzte Fach zu verschließen, blieb sein Auge an einem Umschlag haften, dessen weißes Papier einen schwarzen Fleck zeigte, wie von Ruß oder Kohlenstaub. Er schlug sich mit der flachen Rechten vor die Stirne.
»Wie mir nur das entgehen konnte. Gewiß, hier habe ich das Gesuchte.«
Vorsichtig, ohne ein Blatt zu verschieben und ohne den Umschlag zu berühren, zog er mit den Fingerspitzen den Brief heraus, den das Kuvert barg. Es waren mehrere eng beschriebene Bogen, plumpe Schriftzüge, flüchtig hingeworfen und häufig durchstrichen und korrigiert. Beim flackernden Scheine der Kerze las der Detektiv ihren Inhalt, dann versenkte er die Blätter in seine Brusttasche, verschloß auch noch das letzte Fach und verließ die Wohnung, sorgsam darauf achtend, daß nirgends eine Spur zurückbleibe, die dem Advokaten seine Anwesenheit verraten konnte.
Der Hausmeister, welcher ihm das Tor wieder aufschloß, wunderte sich darüber, wie wortkarg und mürrisch der früher so gesprächige Mann geworden war. Kaum daß er auf die Frage, ob er das Gesuchte gefunden habe, antwortete.
Auch die wenigen Passanten, welche zu dieser späten Stunde noch auf der Straße waren, musterten neugierig den Mann in der roten Kappe, der, die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf gesenkt, langsam durch die Straßen ging, als sinne er irgend einem großen Rätsel nach.
*
Die Morgenblätter des folgenden Tages brachten spaltenlange Berichte über die aufsehenerregende Wendung im Mordprozeß Kipferl. Die öffentliche Meinung schlug ebenso rasch zu Gunsten Neuberts um, als sie vorher bereit gewesen war, ihn zu verdammen. In der »Neuen Freien Presse« bewies ein namhafter Jurist im Leitartikel, daß die Indizien gegen Neubert eigentlich gar keine Indizien gewesen wären, im »Neuen Wiener Tagblatt« donnerte ein Philosoph sein Anathema gegen die Menschheit, die sofort bereit sei, auf die nichtigsten Verdachtsgründe hin auch den Edelsten zu verdammen, und die »Arbeiterzeitung« konnte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne die Frage aufzuwerfen, ob man auch im umgekehrten Falle so rasch mit Beschuldigung und Verhaftung vorgegangen wäre, wenn nämlich der Ermordete ein armer Angestellter und der Verdächtigte ein millionenreicher Fabrikant gewesen wäre.
Da die Zeitungen auch die genaue Stunde angaben, zu welcher der als Täter so gut wie überführte Keröpesy aus Böhmen in Wien ankommen werde, so hatte sich zur bezeichneten Zeit eine nach Hunderten zählende Menschenmenge am Bahnhofe eingefunden. Aber die Leute kamen nicht auf ihre Rechnung.
Die Polizei, welche wenn möglich jedes Aufsehen vermieden wissen wollte, hatte die Verfügung getroffen, daß der Verhaftete nicht in Wien selbst, sondern schon in der vorhergehenden Station den Zug verlassen solle, von wo ihn ein Wagen ins Polizeibureau führte. Während sich vor dem Bahnhofe die Neugierigen trotz der Winterkälte stauten, stand Keröpesy bereits dem Untersuchungsrichter gegenüber.
Außer diesem befanden sich noch der Staatsanwalt und Jobst im Zimmer, sowie der Detektiv Hofmeister, dem die erbetene Erlaubnis gerne gewährt worden war. Er hielt sich, wie das seine Gewohnheit war, schweigsam im Hintergrund.
Keröpesy zeigte seine gewöhnliche Sicherheit im Auftreten, ja eine gewisse Überlegenheit, die sich in dem spöttischen Tone äußerte, mit welchem er die vorbereitenden Fragen über Namen, Alter, Geburtsort und dergleichen beantwortete.
Jetzt lehnte sich der Untersuchungsrichter in seinem Stuhle zurück und den Ungarn scharf musternd, sagte er, jedes Wort betonend: »Sie wissen, weshalb Sie verhaftet sind?«
Keröpesy lächelte überlegen. »Ich würde darum bitten, den Grund noch einmal aus Ihrem Munde zu hören.«
»Sie stehen im Verdachte, Ihren ehemaligen Freund, den Fabrikanten Leopold Kipferl, in seiner Wohnung überfallen, durch einen Hieb mit dem Schürhaken getötet und nachher beraubt zu haben.«
Tiefe Stille herrschte nach diesen Worten im Zimmer. Nur Keröpesy lächelte noch immer malitiös, ohne irgend eine Antwort zu geben.
»Nun, was haben Sie darauf zu erwidern?«
»Daß die ganze Anklage einfach lächerlich ist.«
Jobst sprang zornig empor und auch der Untersuchungsrichter runzelte bei diesen frechen Worten die Stirn. »Ihre Keckheit wird Ihnen vergehen, wenn ich Ihnen die Vorgänge schildere, wie sie sich, nach unsern Recherchen zu schließen, wahrscheinlich abgespielt haben.«
Keröpesy legte ein Bein über das andere, nahm eine bequeme Stellung ein und entgegnete kurz: »Ich bin begierig, Ihre Ausführungen zu vernehmen.«
»So hören Sie denn. Sie haben am kritischen Abend zusammen mit dem Ermordeten den Klub der »Harmlosen« besucht, denselben aber schon frühzeitig verlassen. Dann haben Sie sich wahrscheinlich zur Villa begeben, wo Kipferl wohnte, und die Gelegenheit benutzt, als die Haustüre einen Moment offen stand, sich in das Haus und in das Zimmer Kipferls zu schleichen. Dort haben Sie seine Heimkunft abgewartet. Was sich in dem Raume zwischen Ihnen und dem Toten abspielte, wissen wir natürlich nicht. Aber das Resultat haben wir schaudernd gesehen.
Nach vollbrachter Tat haben Sie den Haustürschlüssel vom Schlüsselbunde des Ermordeten losgelöst, mit demselben das Tor aufgeschlossen, sind in das Hotel zurückgekehrt, wo Sie gegen zwei Uhr eintrafen, haben Ihre Rechnung mit dem Gelde bezahlt, das aus der Brieftasche des Toten verschwunden ist, und sind mit dem nächsten Zug geflohen. Sie sehen, unsere Kenntnis der Vorgänge des Abends ist, wenn auch nicht lückenlos, so doch hinreichend genau, um darauf die Anklage gegen Sie aufbauen zu können. Erleichtern Sie Ihr Gewissen durch ein offenes Geständnis und erschweren Sie Ihre Lage nicht dadurch, daß Sie leugnen.«
Keröpesy hatte den andern ruhig zu Ende sprechen lassen. Sein Gesicht verlor keine Sekunde das spöttische selbstbewußte Lächeln. Als der Richter geendet hatte, nahm er das Wort: »Allen Respekt vor dem Spürsinn der Polizei. Ich sehe, daß Sie große Mühe verwendet haben, zu erfahren, was meine unbedeutende Persönlichkeit an jenem Abend getan hat. Aber trotzdem Sie verschiedene Tatsachen ganz richtig dargestellt haben, ist doch die Kombination gerade in ihren wichtigsten Punkten falsch. Ich will Ihnen eine zusammenhängende Darstellung meines Tuns an jenem Abend geben, aus der Sie ersehen werden, daß ich vollständig unschuldig bin.
Wahr ist, daß ich den Klub frühzeitig verließ, weil ich eine Nachricht erhalten hatte, die meine sofortige Abreise nach Prag notwendig machte.«
»Das ist eine Lüge,« fiel ihm Jobst ins Wort. »Der Grund, warum Sie so bald gegangen sind, ist ein ganz anderer. Das werde ich Ihnen noch beweisen. Aber fahren Sie fort.«
Zum ersten Mal verlor der Ungar seine Fassung. Er erbleichte und versuchte in den Zügen des andern zu lesen, was diese Drohung bedeuten solle. Dann gewann er seine Sicherheit zurück, zuckte mit den Achseln, und fuhr fort: »Ich spreche die Wahrheit und werde sie beweisen. Als ich aus dem Klub weggegangen war, fiel mir erst ein, daß ich auf meiner Reise eine größere Geldsumme brauchen würde, als ich momentan bei mir oder zu Hause hatte. Zurück in den Klub wollte ich nicht, so ging ich denn in das »Café Habsburg«, wo, wie ich wußte, mein Freund Kipferl beim Nachhausegehen vorüber mußte, setzte mich dort ans Fenster und wartete. Vom Fenster aus hat man einen Ausblick über die durch die elektrischen Bogenlampen taghell erleuchtete Straße, so daß man jeden, der aus jener Richtung herankommt, aus welcher Kipferl nahen mußte, schon von weitem sieht.
Gegen ein Viertel zwei sah ich ihn kommen. Ich schickte den Pikkolo hinaus und ließ den Freund bitten, zu mir herein zu kommen, was er auch sofort tat. Ich teilte ihm meine bevorstehende dringende Abreise und die Verlegenheit mit, in der ich mich wegen meines geringen Kassabestandes befand. Er war sofort bereit mir zu helfen und, da er zufällig am gleichen Abend eine bedeutende Summe gewonnen hatte, so lieh er sie mir. Ich wollte ihm eine schriftliche Empfangsbestätigung ausstellen, aber er wies dies Ansinnen zurück mit der Behauptung, dessen bedürfe es nicht zwischen Freunden. Dann blieben wir noch eine kurze Zeit zusammen sitzen, worauf sich Kipferl zu Fuß auf den Heimweg machte, während ich einen Wagen kommen ließ und direkt vom Kaffeehaus ins Hotel fuhr.
Es wird Ihnen ein Leichtes sein, die Wahrheit meiner Aussagen zu überprüfen. Der Zahlkellner im »Habsburg«, der mich genau kennt, wird bestätigen, daß ich in der Zeit von elf Uhr abends bis etwa halb zwei nachts das Lokal nicht verlassen habe. Also kann ich mich auch nicht vorher ins Haus geschlichen haben. Übrigens dürfte der Mann oder sonst einer der Kellner oder Gäste es vielleicht beobachtet haben, wie Kipferl mir das Geld übergab. Auch der Kutscher wird sich wohl ausfindig machen lassen, der bestätigen kann, daß ich direkt vom Kaffee ins Hotel fuhr. Sie sehen also, ich bin imstande, mich auf natürliche Weise über die Herkunft des Geldes auszuweisen und im übrigen einen lückenlosen Alibibeweis zu führen. Ich fordere, daß die entsprechenden Nachforschungen sofort eingeleitet werden, damit ich aus der Haft befreit werden kann.«
Bei dieser unerwarteten Erklärung, die den Stempel der Wahrheit oder wenigstens der Wahrscheinlichkeit an sich trug, war der Untersuchungsrichter nicht minder betroffen, als Jobst und der Staatsanwalt. Der erstere ließ Keröpesy noch das aufgenommene Protokoll unterschreiben, dann antworte er: »Ihre Behauptungen werden noch heute nachgeprüft werden. Im übrigen bin ich gezwungen, Sie vorläufig noch ins Untersuchungsgefängnis abführen zu lassen.«
»Aber nicht auf lange,« lautete die Antwort. Dann verließ der Ungar, vom Gerichtsdiener geleitet, mit einer höflichen Verbeugung das Zimmer.
Als er gegangen war, herrschte einige Minuten lang tiefes Stillschweigen, welches zuerst von dem sanguinischen Jobst unterbrochen wurde, der aufspringend und mit der Faust auf den Tisch schlagend seinen Gefühlen in dem Ausruf Luft machte: »Donnerwetter, ist das wieder eine Geschichte.«
Auch der Untersuchungsrichter fuhr sich nervös durch die Haare. »Ich fürchte, mein lieber Jobst, wir haben auch diesmal wieder einen Fehlgriff begangen. Der Teufel soll doch alle Indizienbeweise holen; auf den ersten Blick erscheinen sie so klar und unwiderlegbar, daß man seiner Sache gewiß zu sein glaubt, und dann wirft ein Wort das Ganze wieder über den Haufen.«
Der Staatsanwalt nickte. »Wenn sich die Behauptungen Keröpesys als richtig erweisen, dann werden wir ihn einfach freilassen müssen.«
Jobst fuhr empor. »Unter keiner Bedingung. Ich halte an meiner Beschuldigung fest. Der Kerl besitzt nur einfach eine großartige Frechheit und hat sogar uns damit imponiert. Übrigens hat er noch etwas auf dem Kerbholz, was ihn sicher ins Kriminal bringt und was er nicht wegleugnen kann – Falschspiel!«
»Hm, ganz recht. Der Kerl scheint ja ein Lump zu sein, darüber sind wir uns alle klar, aber ich muß gestehen, meine Überzeugung, daß er der Mörder sei, ist stark erschüttert. Seine Angaben waren zu präzis und ergeben, wenn sie sich bewahrheiten, ein untrügliches Alibi. Das läßt sich nicht leugnen.«
In diesem Augenblick trat ein Polizeibeamter mit allen Anzeichen der Aufregung in das Zimmer.
»Denken Sie sich nur, Herr Untersuchungsrichter, was mir da passiert ist,« rief er. »Gestern abend habe ich auf Ihren Befehl sämtliche Papiere im Zimmer des Ermordeten in ein Paket gepackt, um dasselbe heute hierher bringen zu lassen. Wie ich nun die Schnur löse, fällt aus dem Bündel dies hier heraus.« Und er überreichte dem Richter einen Schlüssel.
»Der fehlende Haustürschlüssel!« riefen Staatsanwalt und Untersuchungsrichter wie aus einem Munde und »der fehlende Haustürschlüssel!« ergänzte Jobst, aufs tiefste erschüttert.
Inzwischen fuhr der Beamte fort, offenbar bemüht, sich vor seinem Vorgesetzten zu entschuldigen: »Ich begreife gar nicht, wie mir der Schlüssel entgehen konnte. Er muß zwischen den Papieren des Schreibtisches verborgen gelegen und beim Zusammenraffen mit in das Bündel gekommen sein. Bekanntlich stand der Schreibtisch offen, als der Ermordete aufgefunden wurde und – –«
Der Staatsanwalt unterbrach ihn: »Durch diese neue Entdeckung wird die Möglichkeit, daß Neubert doch der Täter gewesen, wieder in den Vordergrund gerückt,« begann er ernst. »Ja, da der Schlüssel offenbar nie entwendet war, so – –«
Er kam nicht dazu, seine Rede zu beenden, denn ehe Jobst, dem der Widerspruch auf den Lippen lag, den Mund hatte öffnen können, mischte sich Hofmeister, der bis jetzt geschwiegen hatte, ins Gespräch.
»Der vorliegende Fall hat am klarsten gezeigt, Herr Staatsanwalt, wie selbst die scheinbar sichersten Schlüsse falsch sein können. Bedenken Sie das, ehe Sie von neuem den Verdacht auf einen Mann lenken, der so hoch in der Meinung aller steht, daß ihm keiner ein Verbrechen zutraut, und daß die Kunde von seiner Unschuld geradezu Begeisterung erweckt hat.«
Der Staatsanwalt räusperte sich verlegen. »Sie haben ja recht, mein lieber Herr Hofmeister. Aber wenn nicht Keröpesy oder Neubert, wer sollte denn sonst – – –«
»Es bliebe ja noch immer die Möglichkeit übrig, daß irgend ein Strolch, der sich ins Haus geschlichen, die Tat vollführt hat,« warf der Untersuchungsrichter ein.
Dem aber widersprach Jobst. »Nein, alles deutet darauf hin, daß der Täter die Verhältnisse im Hause so genau kannte, daß er nicht nur im Dunklen auf Stiegen und Gängen sich zurecht fand, sondern auch genau wußte, welches der Hausschlüssel sei und daß der Ermordete eine große Summe bei sich hatte. So sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich komme zu keinem andern Schlusse, als daß nur zwei Leute der Verdacht treffen kann: Keröpesy oder Neubert.«
Hofmeister lächelte, ein trübes melancholisches Lächeln, welches durchaus nichts Triumphierendes an sich hatte.
»Vielleicht sehe ich in dieser Sache klarer als Sie alle. Es ist nicht mein Verdienst; ein Zufall oder, wenn Sie es lieber so nennen wollen, eine Schicksalsfügung hat mir das eine Ende des Fadens in die Hand gegeben, dem ich nur nachgehen mußte, um die Lösung zu finden. Ich werde Sie nicht lange darauf warten lassen. Aber da ich meine Sache nicht gerne zweimal erzähle und da noch andere Leute da sind, die ein Anrecht darauf haben, klar zu sehen, so gestatten Sie mir noch einige Minuten, bis diese Leute kommen. Ich habe die Entwicklung voraus gesehen und mir erlaubt, dieselben hierher zu bestellen.«
Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Wenige Minuten später fuhr ein Wagen vor, dem Neubert und seine Braut entstiegen.
»Wir sind jetzt gleich komplett, es fehlt nur noch einer,« sagte der Detektiv.
Zehn Minuten später meldete der Amtsdiener: »Herr Dr. Weiß wünscht den Herrn Untersuchungsrichter zu sprechen.«
»Jetzt sind wir komplett,« sagte Hofmeister mit seiner sanften, melancholischen Stimme. »Der letzte Akt beginnt.«
Dr. Weiß trat ein. Als er die zahlreiche Gesellschaft versammelt sah, zögerte er einen Moment auf der Schwelle, dann aber trat er rasch entschlossen ins Zimmer und sich gegen die Anwesenden verneigend sagte er: »Herr Untersuchungsrichter, Sie haben mich vorladen lassen?«
»Ich tat es,« gab der Detektiv statt des Gefragten zur Antwort. »Ich tat es, weil Ihre Gegenwart bei dem, was ich jetzt zu erzählen habe, sehr notwendig ist. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Wieder flog der Blick des Advokaten fragend in die Runde, da er aber aus den Gesichtern der andern Anwesenden las, daß sie offenbar auch nicht wußten, worauf Hofmeister hinaus wollte, folgte er dessen Aufforderung, und gespannt lauschten alle den Ausführungen des Detektivs.