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Seite an Seite schritten die beiden Männer die Straße hinab. Während der Kommissär, freudig erregt, dem andern mitteilte, auf welche Weise er den Beweis für die Unschuld Neuberts erbracht oder vielmehr gezeigt hatte, daß noch ein dritter die Hand im Spiele gehabt haben mußte, gewann der Advokat, an Selbstbeherrschung gewöhnt, seine Fassung wieder.
»Wenn also nicht Neubert, wer denn sonst?« fragte er, als der Kommissär geendet hatte.
Jobst überlegte. Die Frage war naheliegend und zu erwarten gewesen, aber er wußte doch nicht, ob er den Advokaten ins Vertrauen ziehen sollte. Rasch überdachte er die Vorteile und Nachteile eines solchen Beginnens. Es ist immer besser, einem Verdachte nicht früher Worte zu verleihen, bis man die Möglichkeit hat, den Verdächtigen zu fassen, denn eine Indiskretion von Seite des Dritten kann ihn warnen und zur Flucht veranlassen. Andererseits mußte der Kommissär trachten, sich ein möglichst genaues Bild der Vergangenheit zu verschaffen, und der Advokat, welcher im Hause Kipferls verkehrt hatte, welcher vermöge seiner Intelligenz und scharfen Beobachtungsgabe gewiß manches Wichtige zu berichten hatte, konnte ihn dabei sehr unterstützen. So entschloß er sich denn, Dr. Weiß ins Vertrauen zu ziehen.
»Die Straße ist wenig geeignet für derartige Gespräche,« begann er. »Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir hier in dieses Restaurant eintreten und uns irgend eine stille Ecke aussuchen.«
Das Lokal war um diese Zeit fast ganz leer, so konnte der Kommissär ruhig reden, ohne befürchten zu müssen, belauscht zu werden.
»Sie haben viel im Hause des Ermordeten verkehrt, Herr Doktor. Da sind Sie auch mit einem seiner Freunde wohl öfters zusammengekommen, einem gewissen Baron Keröpesy?«
Ein rasches Zucken, das Jobst nicht entging, dessen Bedeutung er aber nicht zu enträtseln vermochte, flog über das Gesicht des Advokaten, als er, ohne eine direkte Antwort zu geben, die Gegenfrage stellte: »Nun, und?«
Der Kommissär war einigermaßen in Verlegenheit, was er sagen sollte. Der Verdacht, den er gegen den Ungarn hegte, war sozusagen mehr Instinktsache, denn irgend einen auch nur entfernten Anhaltspunkt dafür, daß er der Mörder Kipferls sei, besaß er nicht und wollte deshalb auch nicht geradezu eine so schwerwiegende Beschuldigung aussprechen. Darum räusperte er sich verlegen und begann: »Ich habe ein großes Vertrauen in Ihren Scharfblick und Ihre Menschenkenntnis, Herr Doktor. Darum wäre es für mich sehr wichtig, zu wissen, was Sie von dem Charakter Keröpesys halten.«
Dr. Weiß zuckte mit den Achseln. »Ich spreche nicht gern über Abwesende,« sagte er zurückhaltend. »Doch sehe ich nicht ein, welches Interesse mein Urteil für Sie haben könnte.«
»Einfach das, mir ein genaues Charakterbild von jenem Mann zu verschaffen, den ich im Verdacht habe, den Mord begangen zu haben. Jetzt wissen Sie es. Ich habe noch zu niemandem davon gesprochen und muß natürlich auch Sie bitten, strengste Diskretion zu wahren. Ich sehe selbst ein, daß mein Verdacht nur auf schwachen Füßen steht, aber der Instinkt des Fachmannes hat mich noch selten irre geleitet. Keröpesy gehört längst zu jenen Persönlichkeiten, auf welche die Polizei ihr Augenmerk gerichtet hat. Er ist ein Abenteurer, ohne Vermögen, ohne Beruf, der trotz alledem ein kostspieliges Kavalierleben führt, mit einem Wort eine Hochstaplerexistenz. Freilich hat er es bis jetzt verstanden, jene Grenze nicht zu überschreiten, die das Erlaubte vom Strafbaren scheidet, oder wenigstens konnte ihm derartiges nicht nachgewiesen werden. Sicher ist, daß er zu jenen dunklen Ehrenmännern gehört, denen alles zuzutrauen ist. Mein Verdacht gründet sich außer auf diese Charaktereigenschaften noch auf die beiden Umstände, daß er mit Kipferl sehr intim verkehrte und sich im Hause auskannte, was nach der Sachlage der Mörder ebenfalls tat, und darauf, daß er unmittelbar nach der Tat, noch vor der Entdeckung derselben aus Wien verschwunden ist.«
»Für den letzteren Umstand kann ich Ihnen eine Erklärung geben,« entgegnete der Advokat. »Die Sache ist mir zwar im Vertrauen mitgeteilt worden, aber unter den obwaltenden Verhältnissen halte ich mich für berechtigt, davon zu sprechen. Heute morgen suchte mich ein Klient auf, ein Ausländer, der sich einer Prozeßsache halber nur vorübergehend in Wien aufhält. Er ist vor einiger Zeit durch einen Bekannten in den Klub der »Harmlosen« eingeführt worden und hat dort vor wenigen Tagen an Keröpesy eine beträchtliche Summe verloren. Nachträglich tauchte in ihm der Verdacht auf, sein Partner habe falsch gespielt, und er verabredete mit einem Freunde, demselben eine Falle zu stellen. Tatsächlich gelang es ihm am selben Abend, als auch Kipferl das letzte Mal im Klub war, den Ungarn beim Falschspiel zu ertappen. Da mein Klient keinen unnötigen Skandal provozieren wollte, begnügte er sich damit, Keröpesy aufzufordern, ungesäumt die Gesellschaft zu verlassen und binnen drei Tagen aus Wien zu verschwinden, widrigenfalls er mit der Anzeige bei der Polizei drohte. Die Szene hatte nach der Aussage des Mannes nur wenige Zeugen und blieb den andern Anwesenden, unter ihnen auch Kipferl, verborgen. Da aber der betreffende junge Mann wußte, daß ich der Rechtsfreund des Fabrikanten sei und in dessen Hause verkehrte, teilte er mir den Tatbestand mit, um Kipferl vor dem angeblichen Freunde zu warnen. Es geschah dies am Morgen, zu einer Zeit, wo der Mord noch nicht entdeckt war. Sie sehen also, daß die Abreise Keröpesys, sein plötzliches Verschwinden, sich natürlich erklärt.«
Der Kommissär fuhr sich gedankenvoll über die Stirne. »Ich weiß nicht, aber trotz alledem will mein Verdacht nicht schwinden. Ich werde jedenfalls in der angedeuteten Richtung weiter forschen. Ihre Mitteilung ist für mich insofern von der größten Bedeutung, als sie der Polizei eine Handhabe bieten würde, den Verdächtigen zu verfolgen und verhaften zu lassen, wegen Falschspiels nämlich, denn die andere Beschuldigung steht auf zu schwachen Füßen, als daß man deshalb gegen den Mann vorgehen könnte. Den Namen Ihres Klienten wollen Sie mir wahrscheinlich nicht nennen?«
»Das kann ich allerdings nicht, bevor ich nicht seine Erlaubnis erlangt habe, schon deshalb nicht, weil auch ihm wegen des Hazardspieles Unannehmlichkeiten bevorstehen könnten. Doch will ich ihn noch heute fragen, ob er mich ermächtigt, was ich Ihnen derzeit vertraulich mitgeteilt habe, offiziell bei der Polizei zur Anzeige zu bringen.«
Jobst nickte befriedigt. »Im Vornherein besten Dank, Herr Doktor. Eine etwaige Nachricht erbitte ich direkt ans Polizeibureau auf meinen Namen. Doch jetzt muß ich gehen; ich habe wichtiges zu tun und auch Sie habe ich lang genug aufgehalten.«
Der Kommissär entfernte sich, während Dr. Weiß noch sitzen blieb und nachdenklich vor sich hinstarrte. So saß er, in tiefe Gedanken versunken, wohl eine ganze Stunde, bis auch er sich entschloß, zu zahlen und das Lokal zu verlassen.
Jetzt schien er plötzlich Eile zu haben, denn er rief einen vorüberfahrenden Fiaker an, nannte ihm die Adresse und versprach ihm ein Extratrinkgeld, wenn er ihn so rasch wie möglich an sein Ziel brächte. Eine Viertelstunde später stieg er vor dem Hause aus, in dem Meta Falkinsky wohnte.
Mit einem Freudenschrei fuhr die Sängerin empor, als ihr das Stubenmädchen den Besuch Dr. Weiß's meldete. Mit strahlendem Lächeln auf dem schönen Gesicht und mit leuchtenden Augen eilte sie ihm entgegen und streckte beide Hände nach ihm aus.
»Du, Karl? O ich wußte es, daß Du wieder zu mir zurückkehren würdest. Fürchte nichts; ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich bin ja so glücklich, daß Du gekommen bist, so glücklich – – –«
Und da er mit finsterer Miene stehen blieb, ohne die dargebotenen Hände zu ergreifen, schlang sie die vollen Arme zärtlich um seinen Nacken und zog ihn zu sich hernieder.
Mit einer brüsken Bewegung riß er sich los und rief mit brutaler Stimme: »Laß das, Meta, wenn Du nicht willst, daß ich sofort wieder gehe.«
Die strahlende Freude verschwand aus ihren Mienen und sie duckte sich, wie ein Hund, dem der Herr mit der Peitsche droht. »Nein nein, bleib',« flehte sie. »Ich will ja alles tun, was Du willst, nur bleib'!«
Er schien ihre Worte gar nicht zu hören, denn, die Hände auf dem Rücken gefaltet, die Stirne in Runzeln gezogen, schritt er im Zimmer auf und ab. Sie folgte ihm mit den Augen, ohne ein weiteres Wort zu wagen.
Endlich begann er: »Keröpesy ist aus Wien verschwunden; ich weiß, daß er in der letzten Zeit wieder viel bei Dir war, darum nehme ich an, daß Du auch weißt, wohin er sich gewendet hat.«
Sie wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. »Schweig', ich will nichts wissen. Ich bin nur hergekommen, um Dir zu sagen, daß die Polizei ihn sucht. Er ist gestern beim Falschspielen erwischt worden und noch ein anderer Verdacht liegt auf ihm.«
Die Sängerin zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Was liegt mir daran? Meinetwegen mögen sie ihn einsperren. Desto besser.«
Dr. Weiß warf ihr einen so schrecklichen Blick zu, daß sie erbleichend zusammenfuhr und stammelte: »Verzeihe Karl, ich wußte nicht – – – aber wenn Dir daran liegt, daß ich ihn warne, so will ich es gerne tun, sofort, gleich jetzt. Ich kann ja telegraphieren.«
Der Advokat hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Mache, was Du willst; ich habe mit dem Menschen nichts zu tun und will auch nichts mit ihm zu tun haben. Sein Schicksal ist mir gleichgültig. Wenn ich Dich warnte, unter Verletzung meiner Berufspflicht, die nur Schweigen gebietet, so tat ich es nur Deinetwillen, weil ich fürchtete, auch Du könntest in einen Prozeß verwickelt werden.«
Die Augen der Sängerin strahlten bei diesen Worten und dankbar streckte sie ihm die Rechte entgegen. »Wie gut Du bist, Karl! Dank, vielen Dank. Du hast recht, ich will sofort an ihn schreiben!«
»Telegraphiere lieber, das ist sicherer. Er soll sich so rasch wie möglich aus dem Staube machen, soll einen andern Namen annehmen. Hörst Du?«
Meta nickte stumm.
Der Advokat nahm seinen Spaziergang durch das Zimmer wieder auf. »Ich brauche Dir wohl nicht einzuschärfen, daß mein Name niemals bei der Sache genannt werden darf, niemals, hörst Du?!«
Sie beeilte sich zu antworten: »Aber selbstverständlich. Ich bin Dir ja soviel Dank schuldig.«
Schüchtern hatte sie sich ihm genähert und stand jetzt vor ihm, mit dem Blicke eines geschlagenen Hundes, um Liebe flehend. Er dachte an jene andere, die ihn vor einer Stunde zurückgewiesen, die vor ihm zurückgewichen war, er schloß die Augen und vergegenwärtigte sich, wie es sein würde, wenn diese andere so vor ihm stünde, ganz Liebe, ganz Hingebung.
Mit einer wilden Bewegung riß er Meta an sich, die jubelnd in seine Arme stürzte und verzückt seine leidenschaftlichen Küsse trank, nicht ahnend, daß sie einer andern galten, daß sie nur seinen Körper umschlungen hielt, während sein Herz und seine Seele weit weg weilten bei einer andern.
*
Jobst hatte sich nach der Unterredung mit Dr. Weiß zum Untersuchungsrichter auf den Weg gemacht, um mit ihm die weiteren Schritte zu beraten. Während er durch die Straßen ging, verarbeitete sein nie ruhender Geist die Tatsachen, weiche er soeben erfahren, und suchte sie zu erklären, mit dem Morde in Zusammenhang zu bringen.
Obgleich er es nicht zugestehen wollte, hatte ihn die Erzählung des Doktors doch in seinem Verdachte zweifelhaft gemacht. Wenn die plötzliche Abreise Keröpesys sich so natürlich erklärte, was blieb dann noch von belastenden Momenten gegen ihn übrig? Vergebens zermarterte er sein Gehirn, er konnte keine Tatsache finden, die seinem Verdacht eine sichere Stütze verlieh.
»Eine neue wichtige Entdeckung,« rief ihm der Untersuchungsrichter beim Eintreten ins Bureau entgegen. »Wenn nicht alles täuscht, ist der Ermordete auch beraubt worden.«
»Beraubt? Wieso? Wie konnte das bisher entgehen?«
»Ganz einfach; wir waren wohl alle zu sehr in die Idee verrannt, daß wir es mit einem Racheakte Neuberts zu tun hatten, und so achteten wir nicht auf den Umstand. Da der Tote die kostbaren Ringe, Uhr und Busennadel, sowie das Portemonnaie bei sich hatte, dachte man auch gar nicht an eine Beraubung. Als Sie fortgegangen waren, überlegte ich mir den Tatbestand noch einmal, und dabei fiel mir etwas ein, woran wir noch gar nicht gedacht hatten. Graf Trautheim gab, wie Sie sich vielleicht erinnern, zu Protokoll, daß er am betreffenden Abend an den Ermordeten eine bedeutende Summe verloren habe. Nun aber war der Betrag, den das Portemonnaie barg, verhältnismäßig gering und die Brieftasche enthielt nur Papiere, kein Geld.«
Jobst sprang auf und begann, wie es seine Gewohnheit war, aufgeregt im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Ein Raubmord?« murmelte er vor sich hin. »Und warum nicht? Der Bursche mußte fort, aber es mangelte ihm an Mitteln. Woher sie so schnell verschaffen? Der Gedanke war wohl sehr naheliegend. Damit wäre das fehlende Bindeglied hergestellt. Ja, zwischen dem Ertappen beim Falschspiel und dem Morde zeigt sich ein direkter und logischer Zusammenhang.«
In diesem Augenblick läutete es am Telephon. Der Untersuchungsrichter sprang auf. »Das wird Siebert sein. Ich habe ihn sofort in die Wohnung des Ermordeten geschickt, um nachzuschauen, ob nicht das Geld vielleicht im Schreibtisch liegt, der bekanntlich offen stand. Es wäre ja immerhin möglich, daß Kipferl es noch vor dem Tode dorthin gelegt hat.«
Er trat ans Telephon und nahm die Meldung entgegen. Dann wandte er sich mit befriedigter Miene zu Jobst. »Ganz, wie ich es mir gedacht habe. Ein Raubmord! Das Geld ist nirgends zu finden. Es muß doch ein Strolch gewesen sein, der sich ins Haus geschlichen hatte.«
Der Kommissär schüttelte den Kopf. »Ein Strolch? Nein. Wie hätte der wissen sollen, daß der Fabrikant zufällig eine so große Summe bei sich hatte? Wie hätte der vom Schlüsselbunde gerade mit unfehlbarer Sicherheit den einen Schlüssel losgelöst, der zum Haustor paßte?«
Der Untersuchungsrichter lauschte erstaunt, während Jobst eifrig fortfuhr: »Was bis jetzt nur vager Verdacht war, verdichtet sich allmählich zur Gewißheit. Ich zweifle nicht länger daran, daß der Mann der Mörder ist, welchen ich vom ersten Momente an im Verdacht hatte. Nur ein so intimer Bekannter konnte alle die nötigen Details kennen. Ich glaube, wir haben unseren Mann.«
Der Eintritt des Amtsdieners, welcher meldete, Graf Trautheim sei draußen und wünsche den Herrn Untersuchungsrichter zu sprechen, unterbrach die Ausführungen.
»Sehr gut; ich lasse den Herrn Grafen bitten.« Und zu Jobst gewendet fügte der Beamte hinzu: »Ich habe den Grafen nochmals vorladen lassen, um die Höhe der verlorenen Summe festzustellen.«
Graf Trautheim nahm auf dem angebotenen Stuhle Platz und erzählte auf die Aufforderung des Beamten hin folgendes: »Die Höhe der verlorenen Summe kann ich nicht genau angeben, aber es dürften vier bis fünftausend Gulden gewesen sein.«
»Können Sie sich vielleicht daran erinnern, aus welchen Münzsorten respektive Banknotenarten sich diese Summe zusammensetzte?«
»Das kann ich mit ziemlicher Genauigkeit angeben. Mit Ausnahme zweier oder dreier Tausendkronenbanknoten hatte ich nur Scheine von hundert Kronen bei mir. Ich erinnere mich, daß Kipferl die größeren Noten zusammengefaltet in die Tasche legte, die Hunderter aber in einen Pack ordnete, den er durch kreuzweisgelegte Papierstreifen verschloß, wie man es in Banken zu tun pflegt. Er ließ sich das nötige Klebpapier dazu vom Klubdiener bringen.«
Jobst hätte gerne danach gefragt, ob der Ermordete etwas davon wußte, daß sein Freund als Falschspieler ertappt worden sei. Aber da ihm die Mitteilung von Weiß nur im Vertrauen gemacht worden war, hielt er sich zu einer direkten Frage nicht berechtigt, sondern begnügte sich, den Grafen auszuforschen: »Irgend etwas Besonderes, irgend ein außergewöhnlicher Vorfall hat sich gestern im Klub nicht ereignet?«
Das unverhohlene Erstaunen, das sich auf dem Gesicht des Gefragten ausprägte, bewies besser als seine verneinende Antwort, daß, wie es Weiß schon betont, die wenigen, welche Zeugen der Affaire gewesen, bis jetzt geschwiegen hatten.
Als der Graf gegangen war, ergriff auch der Polizeikommissär seinen Hut. »Bitte, bleiben Sie hier im Bureau und verständigen Sie auch den Herrn Staatsanwalt, daß er sich bereit halten möge, wenn nötig, sofort einen Haftbefehl auszustellen und telegraphisch zu überweisen. Wohin, das werde ich Ihnen hoffentlich in kurzer Zeit melden können.«
*
Jobst hatte seinen Feldzugsplan fix und fertig. Keine Sekunde war er im Zweifel, wie er weiter vorzugehen hatte.
Er nahm einen Fiaker und fuhr in das Hotel, in welchem Keröpesy gewohnt hatte. Er ließ sich den Portier rufen und es entspann sich folgendes Gespräch: »Bei Ihnen wohnte bis gestern ein Baron Keröpesy?«
»Jawohl, Herr Kommissar. Auf Nummer zwanzig und einundzwanzig. Er ist gestern gegen zwei Uhr nachts heimgekommen, hat seine Koffer gepackt, einen Fiaker holen lassen und ist abgereist.«
»Mit welchem Zuge?«
Der Portier zuckte die Achseln. »Sie wissen ja, Herr Kommissär, bei uns in Wien gehen zu jeder Tages- und Nachtstunde zahlreiche Züge ab. Aber wenn man den Kutscher ausfindig machen würde, der einem sagen könnte, nach welchem Bahnhofe er gefahren ist, so könnte man sich immerhin ein Urteil bilden.«
Jobst wandte sich zum Gehen. Was er erfahren, hatte ihn nur halb befriedigt. Daß Keröpesy erst gegen zwei Uhr nachts ins Hotel gekommen, während er nach der Erzählung des Advokaten sich schon ziemlich bald aus dem Klub entfernen mußte, war ein neues Verdachtsmoment. Dagegen war es immerhin ein umständliches Verfahren, unter den Tausenden von Mietswagen der Stadt denjenigen ausfindig zu machen, welcher gestern einen bestimmten Passagier gefahren hatte.
Im Begriffe, zu gehen, zuckte noch eine Idee durch das Gehirn des Kommissärs. »Der Baron hat seine Zeche beglichen?«
Das Gesicht des Gefragten nahm den Ausdruck einer gewissen Hochachtung an. »O gewiß, ich bitte Sie, der Mann hatte Geld wie Heu. Einen ganzen Pack Hunderter hatte er aus der Tasche gezogen und die Heftstreifen vor meinen Augen abgerissen, die das Bündel zusammenhielten. Und überdies habe ich noch ein paar Tausender in seiner Brieftasche liegen sehen.«
Jobst atmete freudig auf. »Wenn das kein Beweis ist, dann weiß ich nicht, wie ein Schuldbeweis aussieht,« murmelte er, während ihn acht flinke Pferdebeine wieder dem Gerichtsgebäude zuführten.
Der Untersuchungsrichter, welcher zusammen mit dem Staatsanwalt in seinem Bureau saß, war nicht wenig erstaunt, den Kommissär sobald wieder zurück zu sehen. »Was gibt es, was bringen Sie?« rief er ihm entgegen.
Jobst wandte sich an den Staatsanwalt: »Ich bitte Sie sofort nach allen Richtungen telegraphische Haftbefehle gegen den Baron Keröpesy aussenden zu lassen. Ich glaube, ich habe den Beweis dafür, daß er der Mörder Kipferls ist.«
Zur selben Stunde, da die telegraphischen Haftbefehle in alle Windrichtungen des Kontinents flogen, durchlief auch eine zweite Depesche den elektrischen Draht, deren Aufgeberin die Sängerin Meta Falkinsky war und deren Inhalt lautete: »Fliehe sofort und verbirg dich unter falschem Namen. Gefahr im Verzuge.«