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6. Kapitel.
Ein Nebenbuhler.

Das Feuer im Kamin war längst erloschen und über dem kleinen Salon lag jener Hauch von Unbehaglichkeit, der während des Winters in kalten, ungeheizten Räumen herrscht. Die Frauengestalt aber, welche, die Stirn gegen die Scheiben gedruckt, am Fenster lehnte, schien nichts von der Kälte zu verspüren. Unbeweglich wie ein Steinbild stand sie da, den Blick in die Weite gerichtet, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu fühlen, ja ohne zu denken. So plötzlich waren die schrecklichen Ereignisse, der Tod des Bruders, die Verhaftung des Bräutigams, über die Arme hereingebrochen, daß sie ihr alle Besinnung geraubt hatten. Hirn und Herz schienen erstorben, ausgebrannt, jeder Regung unfähig.

Sie war allein im ganzen Hause. Die Dienerschaft hatte sich insgesamt aufs Gericht begeben, um einvernommen zu werden, sie selbst hatte alle Einladungen, in befreundeten Familien Zuflucht zu suchen, abgelehnt und ebenso die gutgemeinten Anträge von Freundinnen, bei ihr zu bleiben, zurückgewiesen. Jede Gesellschaft war ihr peinlich. Und Furcht? Wovor sollte sie sich fürchten? Schrecklicheres als geschehen, konnte ihr nicht mehr widerfahren.

Sie überhörte die Tritte auf der Treppe, überhörte das Klopfen an der Türe und wandte sich erst um, als eine wohlbekannte Stimme an ihr Ohr schlug.

»Fräulein Elisabeth!«

Mit einer müden Bewegung reichte sie dem Freunde, der sie in dieser schweren Stunde aufsuchte, die kalte Rechte. »Nehmen Sie Platz, Herr Doktor.«

Eine heiße Glut loderte im Blicke des ernsten Mannes auf, während er die liebliche Mädchengestalt mit den Augen förmlich verschlang. Er mußte an sich halten, um sie nicht an seine Brust zu reißen und ihre traurigen Wangen, den geschlossenen Mund mit seinen Küssen zu bedecken. Minutenlang fand er vor Erregung die Sprache nicht wieder und Schweigen herrschte in dem kleinen, frostigen Gemache.

»Fräulein Elisabeth,« begann er endlich. »Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, streifen Sie diese tötende Starre ab; finden Sie endlich Trost, finden Sie endlich Tränen, die Ihr Herz erleichtern, Ihren Kummer lindern werden. Gewiß, was in diesen Tagen über Sie hereingebrochen ist, ist schrecklich. Aber die Zeit heilt, Sie werden auch diese bösen Tage vergessen.«

»Sie schüttelte traurig das Haupt. »Nie, nie!«

»Sagen Sie das nicht; Sie sind noch so jung, ein langes, langes Leben liegt noch vor Ihnen, ein Leben, das Ihnen Glück und Freude in Fülle bringen wird.«'

Sie machte eine abwehrende Bewegung. Aber Dr. Weiß fuhr eindringlich fort: »Es sind nicht leere Trostesworte, die ich zu Ihnen spreche, gewiß nicht. Es ist meine innerste Überzeugung. Sie werden vergessen; ein Mann, den Sie lieben und der Sie liebt, wird das Bild des Bruders aus Ihrem Herzen verdrängen – – –«

Mit einem Wehlaut fuhr sie empor. »Schweigen Sie, ich bitte Sie, schweigen Sie. Sie ahnen nicht, wie Sie mich quälen. Der Mann, den ich liebe und der mich liebt – – –«

Sie brach ab, aber der Zuhörer erriet die Fortsetzung aus dem unbeschreiblich schmerzlichen Tone ihrer Rede. Das Blut stieg ihm ins Gesicht und seine Brust atmete schwer und keuchend. Wieder herrschte minutenlang Stille.

Dann erhob sich der Advokat, trat ans Fenster und lehnte, wie vorhin Elisabeth getan, die fiebernde Stirn an die kalten Scheiben. Lange stand er so, bis er seine Fassung wiedergewonnen. Als er sich umwandte und von neuem zu sprechen begann, verriet nichts in seiner Stimme die Stürme, die soeben sein Inneres durchtobt hatten.

»Verzeihen Sie mir, Fräulein Elisabeth. Ich ahnte es nicht, daß es weniger die Trauer um den Ermordeten als der Schmerz über den Mörder ist, der Sie so versteinert hat. Nein, unterbrechen Sie mich nicht. Lassen Sie mich reden. Neubert hat im Jähzorn Ihren Bruder erschlagen, ist zum Mörder geworden – – –«

Das Steinbild bekam Leben; eine glühende Röte schoß in die Wangen des jungen Mädchens und aufspringend rief sie: »Nein, nein, es ist nicht wahr, Josef ist kein Mörder. Und wenn es die ganze Welt sagt, wenn er selbst es sogar zugesteht, ich glaube es nicht.«

Ein jäher rasch verlöschender Blick tauchte in den Augen des Mannes auf. »Ich fürchte, Ihre Liebe verführt Sie dazu, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie leider in Wirklichkeit sind, sondern so, wie Sie in Ihrer Mädchenphantasie existieren. In Romanen, ja, da sind die Menschen, je nachdem, Engel, die keiner Sünde fähig sind, oder Teufel, jedes besseren Gefühles bar. Im Leben aber ist dem nicht so. Eng nebeneinander leben Gut und Böse in einer jeden Menschenseele. Die Verhältnisse sind es, die bestimmen, ob die eine oder die andere Seite des Charakters zum Vorschein kommt. Glauben Sie, der Verbrecher, meinetwegen der Mörder handelt aus Lust am Bösen? Nein, stets sind es dunkle Gewalten, unwiderstehliche Triebe und Neigungen, die ihn aus die Bahn des Verbrechens treiben. Mag er sich auch noch so sehr dagegen sträuben, die Macht des Augenblickes ist stärker als er. Glauben Sie mir, die Menschen, welche den Verbrecher verfluchen und verdammen, würden von hundert Fällen neunundneunzigmal in der gleichen Lage ebenfalls Verbrecher werden. Das sagt Ihnen ein Mann, der – – –«

Er hatte sich in eine hochgradige Erregung hineingesprochen, jetzt faßte er sich wieder und fuhr geänderten Tones fort: »– – – der durch seinen Beruf viel mit Verbrechern in Berührung gekommen ist und einen tiefen Blick in ihr Seelenleben getan hat.

Und darum, Fräulein Elisabeth, so leid es mir auch tut, Ihnen Schmerz bereiten zu müssen, Ihre Illusionen zu zerstören, darum muß ich als treuer Freund auf die Gefahr hin, Sie zu erzürnen und mir Ihr Mißfallen zuzuziehen, auf diese Gefahr hin muß ich sagen: »Nach menschlichem Ermessen kann kein anderer die Tat begangen haben als Neubert.«

Elisabeth war unter der unerbittlichen Last dieser Worte auf einem Stuhle zusammengebrochen, verhüllte das Gesicht mit beiden Händen und stöhnte leise wie ein zu Tode getroffenes Wild.

»Halten Sie mich nicht für unbarmherzig und mitleidslos,« begann Dr. Weiß von neuem, und seine Stimme bebte vor verhaltener Leidenschaft. »Ich ließe mir lieber die rechte Hand abhacken, als daß ich Ihnen den geringsten Schmerz bereitete. Aber ein barmherziger Arzt ist ein schlechter Arzt und ich erachte es als meine Pflicht, Ihre Seele zu heilen. Besser einige Stunden, ja selbst Tage und Wochen voll schlimmer Qual, als ein ganzes Leben voll Enttäuschung, welches unstreitig Ihr Teil sein müßte, wenn Sie an der Meinung festhalten, Neubert sei unschuldig.

Er ist ein Mörder. Seine Tat mag dem Denkenden begreiflich, ja sogar entschuldbar erscheinen. Aber das Gesetz muß ihn strafen und es wird es tun. Und selbst wenn dies nicht geschähe, zwischen der Schwester des Ermordeten und dem Manne, der der Tat verdächtig erscheint, gähnt eine unüberbrückbare Kluft; auch wenn Neubert freigesprochen, wenn ihm seine Schuld nicht bewiesen werden könnte, für Sie, Elisabeth, ist er verloren, verloren auf ewig.«

Sie stöhnte auf. Wie tausend scharfe Messerklingen drangen ihr die unbarmherzigen Worte ins Herz, gegen die sich ihr Inneres aufbäumte und deren unerbittliche Logik, deren grausame Wahrheit sie doch nicht leugnen konnte.

»Warum quälen Sie mich so? Warum sagen Sie mir alles das?«

Wieder flammte der Strahl verzehrender Leidenschaft in den Augen des Mannes auf. Er schien sich auf sie stürzen, sie umschlingen, ihr zurufen zu wollen: »Weil ich Dich liebe, weil ich Dich zu besitzen wünsche, weil ich diese Mordtat nicht bedauern kann, die meinen Nebenbuhler beseitigt.«

Elisabeth war nicht Menschenkennerin genug, um all dies herauszulesen aus den Blicken des Mannes, die auf ihrem Gesichte brannten. Unwillkürlich aber erschrak sie vor der düsteren Glut und wich rückwärts schreitend einige Schritte zurück. Das brachte den Advokaten wieder zur Besinnung. Bitter lächelnd fuhr er fort: »Ich habe Sie erschreckt; verzeihen Sie mir. Und fürchten Sie nichts. Um keinen Preis der Welt könnte ich diesen schönen Augen Tränen entlocken, ich, dessen sehnlichster Wunsch es ist, daß Sie mir einmal süße Gewährung lächeln, wenn ich dazu komme, die größte Frage zu stellen, die ein Mann überhaupt einem Weibe stellen kann.«

Er sah ihr Erwachen bei dieser so unerwarteten Liebeserklärung, zu der ihn seine Leidenschaft hingerissen und ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, schloß er: »Nein, nein, antworten Sie jetzt nichts, ich will keine Antwort. Vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Oder nein, vergessen Sie es nicht, denken Sie daran, befreunden Sie sich mit dem Gedanken, daß ein Mann bei Tag und Nacht, im Wachen und Träumen stets nur Ihr Bild vor sich sieht, daß er die Minuten zählt bis zu dem Augenblick, da Sie ihm Gewährung lächeln, daß er aber stumm warten will, ohne zu drängen, ohne ein zweitesmal zu sprechen, was heute nur die Erregung seinen Lippen entrissen hat.«

Eine unendliche Bangigkeit ergriff das junge Mädchen, hier so allein mit diesem Manne, dessen düstere, leidenschaftliche Glut sie erschreckte. Sie fühlte sich so einsam, so verlassen, die Sehnsucht überkam sie, nach einem starken Arm, auf den sie sich stützen, nach einer treuen Brust, an der sie sicher ruhen konnte, und alles Geschehene vergessend, dem Drange des Augenblickes nachgebend, rief sie den Namen des Geliebten: »Josef, Josef!«

War es eine Täuschung des Ohres, eine Phantasie, welche die aufgeregten Nerven ihr vorspiegelten, oder antwortete ihr wirklich seine Stimme: »Elisabeth.«

Auch Dr. Weiß hatte den Ruf gehört; totenbleich fuhr er empor und lauschte. Was halte das zu bedeuten?

Da klangen schon hastige Männertritte draußen auf dem Gange, die Türe flog auf und im nächsten Augenblick lagen die beiden Verlobten einander in den Armen, schluchzend vor Seligkeit und Schmerz zugleich, ohne zu fragen, ohne zu erklären.

Hinter Neubert war noch ein zweiter Mann ins Zimmer getreten, der an der Schwelle stehenbleibend, gerührt die Wiedersehensszene betrachtete. Es war der Polizeikommissar Jobst.

»Was bedeutet das? Wieso ist Neubert wieder frei?«

Der Gefragte faßte den Advokaten beim Ärmel und zog ihn mit sich aus dem Zimmer, die Türe leise schließend. »Lassen wir die beiden allein, sie werden einander viel zu sagen haben. Kommen Sie mit, ich will Ihnen erklären, wie die Unschuld Neuberts erwiesen wurde.«


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