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Beim Stationsübergang überstieg sie schlankweg die geschlossene Barriere. «Heda, he! halt, halt!» wehrte aufgebracht der Wächter, «es kommt ein Zug.»
«Meinetwegen», erwiderte sie kurz und war schon über dem Geleise.
Eine ziemliche Menge Volkes war vor der Station versammelt, in feierlicher Haltung, wie zu einem Begräbnis, gedämpft sprechend, ereignisschaudernd und neuigkeitslüstern. Obschon der «Pfauen» von hier aus nur stückweise sichtbar war und das sichtbare Stück überdies in der Dämmerung versank, schaute doch alle Welt nach dem Gasthof empor, auf der äußersten Kante der Wartehalle stehend, Belehrungen über die Ortsverhältnisse, wo sich das Ereignis begeben hatte, austauschend. Cathris Ankunft weckte ein Flüstern, und während aller Augen sich nach ihr richteten, machte man ihr ehrerbietig Platz.
Der Vorstand nahm höflich grüßend die Mütze ab. «Ist es denn wirklich wahr?» wagte er schonend.
Cathri erhob die Stimme: «Wahr ist», rief sie, «daß auf dieser Welt die Besten unterliegen und die Schlechtesten obenauf sind.»
Die Neuberin, die Pintenwirtin, ergriff sachte ihren Arm. «Wolltet Ihr nicht lieber ein bißchen aus dem Gedränge, bis Euer Zug kommt? Es dauert noch reichlich eine Viertelstunde.»
«Der Zug Nummer zwölf hat überdies zweiundzwanzig Minuten Verspätung», ergänzte der Vorstand verbindlich.
«Kommt», drängte die Neuberin. «Sitzt ein wenig ab, Ihr habt Ruhe nötig.»
Da ließ sie sich wegführen, über die Straße ins Gärtchen, ins Läubchen. «Hier seid Ihr vollkommen ungestört», tröstete die Neuberin einladend; «Ihr müßt freilich sehr, sehr vorlieb nehmen», entschuldigte sie, «es ist halt alles gar entsetzlich einfach bei uns, im Vergleich mit Euch im vornehmen Kurbad.»
Aber Cathri stutzte und rümpfte die Nase. Ein unordentliches Weibsbild in schlampigem Rock mit ungekämmten Haaren lag drinnen auf den Knien, die Arme auf die Bank gelegt, den Strubelkopf zwischen den Armen verborgen, und schluchzte, als hätte sie die ewige Seligkeit verwirkt. Die Neuberin puffte, rüttelte, schüttelte die Daliegende hin und her, stupfte auch nachhelfend mit dem Fuß. «Jucunde, so steh doch endlich auf», belferte sie ärgerlich, «du machst ihn ja doch nicht wieder lebendig mit deinem unsinnigen Gebaren.»
Jucunde ließ sich schütteln, daß ihr Rumpf hin und her wackelte, gab jedoch kein anderes Lebenszeichen, als daß ihr Schluchzen in Wehgeschrei überging.
Die Neuberin, ihre Ohnmacht einsehend, gab weitere Versuche auf.
«Ihr müßt Euch nicht daran kehren», bat sie seufzend, «es ist halt in Gottes Namen die Jucunde. Ein unvernünftiges Tier hat mehr Verstand.»
Da ließ sich Cathri auf das äußerste Ende der Bank nieder, einen mißtrauischen Blick nach Jucunde werfend, als fürchtete sie, ihre Augen mit dem Anblick zu verunreinigen.
«Darf ich Euch vielleicht ein Gläschen Wein aufwarten?» schmeichelte die Neuberin.
«Nein, ich danke.»
«Oder etwa eine Kerze? Es nachtet zusehends.»
Cathri verneinte.
Die Neuberin aber beharrte mit verschränkten Armen auf dem Platze, schweigend, nur ab und zu einen Seufzer entladend.
«Das ist ein böser Sonntag», ächzte sie. «Von dem wird man wohl noch jahrelang reden, und nicht nur in Herrlisdorf, sondern im ganzen Bezirke.»
Dann hub sie an zu förscheln: «Wie ist es denn eigentlich gekommen?» wagte sie gedämpft und vertraulich.
«Das wird sich vor Gericht erweisen!» erwiderte Cathri barsch, den Fragemut vorabschneidend.
Die Neuberin kratzte sich, um Zeit zu gewinnen. Darauf setzte sie wieder an: «Was wohl der Vater, der alte ‹Pfauen›-Wirt, dazu gesagt haben mag? Und erst die ‹Pfauen›-Wirtin! die ohnehin schon alles schwarz sieht?! Und die Schwester, die schöne Anna, die nicht höher geschworen hat als auf ihren Conrad! – Das wird jetzt wohl auch im weiten Feld sein, das mit dem Doktor Inderwyler, die Verlobung...»
Da indessen Cathri auf keine dieser Angeln anbiß, wandte sie sich ein wenig um, als ob sie sich entfernen wollte. Allein sie brachte es doch nicht übers Herz, den Auskunftsposten zu verlassen. Und als der kleine Conrad, das Büblein, auf unsichern Beinchen durch das Gärtchen pendelte, lud sie ihn auf den Arm und zeigte gegen den «Pfauen»: «Denk, Büblein», bedauerte sie, «der schöne Reiter, der heute mittag über den Balken sprang – weißt du noch? –, der ist jetzt tot.»
Bei diesen Worten schrie Jucunde in den höchsten Tönen, wie ein Ferkel, das von der Köchin abgestochen wird, während ihr Cathri einen feindseligen Blick in den Nacken bohrte. Das Büblein aber juckte auf dem Arm: «Hü, hü», lallte es.
Endlich verzog sich die Neuberin doch, obschon ungerne. «Ich komme Euch dann mahnen, wenn Euer Zug einfährt.»
Kaum spürte sich Jucunde mit Cathri allein, so reckte sie, ohne den Kopf zu erheben, ihre Hand mit gespreizten Fingern aus, Cathris Arm suchend, den sie krampfhaft drückte. So wie Verwandte an der Leiche eines Angehörigen zu tun pflegen, um die Gemeinsamkeit des Schmerzes zu bekunden, wenn die Worte versagen. Allein Jucundens Finger waren naß von Schleim und Tränen. Cathri riß sich unwillig los, stand auf, und indem sie mit dem Taschentuch angelegentlich die Stellen wischte, wo Jucundens Finger sie beschmutzt hatten: «Ich verbitte mir dergleichen!» erklärte sie empört.
Hierauf setzte sie sich wiederum, indessen noch weiter am äußersten Rand der Bank, so daß sie nur auf dem linken Schenkel ruhte. Um aber ähnlichen Vertraulichkeiten vorzubeugen, bemerkte sie strenge mit nachdrücklicher Betonung: «Ich liebe nicht Zudringlichkeiten von fremden Personen.»
Jucunde verübelte ihr die kränkende Abfertigung nicht, sondern demütig ihr nasses Antlitz erhebend: «Euch also hat er liebgehabt», bewunderte sie mit dem Ton ehrerbietigster Unterwürfigkeit.
«Das geht Euch nichts an!» herrschte Cathri.
Jucunde ließ ihren Kopf wieder auf den Arm sinken.
«Dort an jenem Tisch, an jenem Tisch, dort ist er gesessen», erzählte sie zwischen herzbrechendem Weinen. Hernach wies sie ihre wunde Hand vor, war aber vor Tränen nicht imstande, die Erklärung hinzuzufügen.
«Oh, hätte ich ihn doch nicht ziehenlassen!» schluchzte sie. «Warum war ich nur so kalt! So keusch! So zurückhaltend! Warum lief ich ihm nicht nach und holte ihn ein und warf mich ihm in den Weg und hielt ihn an den Knien fest! Er säße jetzt hier im Garten, gesund und lebendig. – Und ohne Abschied, ohne Gruß! Oh!» – Sie schlug den Kopf auf die Arme. «Und er schaute sich noch nach mir um, und ich zeigte mich nicht! Oh!» Sie raufte sich die Haare und tat wie wahnsinnig.
Von nun an sprach sie nichts mehr, sondern weinte beständig. Es schien unmöglich, daß ein Geschöpf erbärmlicher weinen könnte. Und doch, wenn sie von Zeit zu Zeit den verstörten Blick nach dem «Pfauen» richtete, dessen weiße Mauern noch durch die Spätdämmerung schimmerten, so barsten immer wieder frische Schleusen ihres Leides, daß die Tränen und Schluchzer sich jählings verdoppelten. Und unwillkürlich strebten immer von neuem ihre breiten, plumpen Finger nach Cathris Arm, wie ein verstümmeltes Tierchen, das den Stummel vorstreckt, aber ängstlich wieder zurückzieht, weil es erfahren hat, daß es dort außen weh tut.
Die Neuberin wuselte wichtig heran: «Habt Ihr's gehört?» meldete sie außer Atem. «Sie sind noch einmal aneinandergeraten, die Wagginger und die Waldishofer, hinter den Reben in den Rubisthaler Flühen. Die Waldishofer seien durch den Wald und hätten ihnen den Weg abgeschnitten. Sie sollen ganz unvernünftig gehaust haben, die Waldishofer, wie die wilden Tiere, nicht wie Menschen, besonders der Christian, der Wachtmeister. Das ist doch wahrhaftig auch nicht recht. Es sind ja schließlich doch auch Menschen, die Wagginger; wenn auch vielleicht ein bißchen lustig und übermütig. Sie sind halt jung. Wir wenigstens, sooft sie bei uns einkehrten, haben uns niemals über sie zu beklagen gehabt. – Es seien ein paar im Rebberg liegengeblieben; den Fürsprech von Oberwaggingen haben sie auf dem Fuhrwerk heimgetan, und den Matthiesen-Michel hat man nach Herrlisdorf tragen müssen; er werde schwerlich mehr aufkommen.»
«Das ist recht, das freut mich», bemerkte Cathri.
Da zitterte die Luft und bebte die Erde, elektrische Signale tingelten, durch die Finsternis rollte unter Zischen und Brausen eine unförmliche, schwarze Masse mit roten Augen daher, jählings ins Riesenhafte wachsend, wie aus dem Boden steigend.
«So, das ist jetzt Euer Zug», mahnte die Neuberin. Cathri machte sich hastig auf, einen kurzen Dank zurückwerfend.
«So wollt also Ihr mich auch verlassen!» jammerte Jucunde, «so habe ich denn niemand auf der ganzen Welt mehr, der mich ein klein wenig versteht und mich ein bißchen tröstet!»
In dem Augenblick, da Cathri über die Straße eilte, fuhr ein Chaisechen flink auf leisen Rädern heran, mit klingenden Schellen und trippelndem Rößlein.
«Ist der Conrad noch in der Pinte, oder ist er wieder daheim?» rief ihr Benedikt wohlgemut entgegen.
Sie hielt sich indessen nicht mit einer Antwort auf, sondern gewann die Station, wo eben der Zug bremste.
Noch hatten die Räder sich nicht vollends beruhigt, so flogen bereits aufgeregte Rufe hin und her.
«Wißt ihr's schon?» – «Was?» – «Wo?» – «Wann?» – «Nicht möglich!»
Allein der Vorstand wetterte: «Wir haben jetzt keine Zeit zu vermischten Nachrichten. Der Zug hat mehr als eine halbe Stunde Verspätung. Heraus, wer heraus will, und hinein, was hinein gehört!» Dazu strapazierte er wie besessen die Stationsglocke.
Es folgte eine kopflose Verwirrung von kreuz und quer stürmenden Menschen.
«Dritte Klasse», heischte Cathri.
«Dritte Klasse hinten einsteigen», verwies der Schaffner grob. «Aber schneller ein wenig!»
«Dritte Klasse», wiederholte sie, als sie aufgeregten Atems hinten anlangte.
Der Schaffner fuhr sie wütend an: «Dritte Klasse vorn einsteigen», brüllte er.
«In einem Schweinestall herrscht mehr Ordnung und Manier», rief Cathri aufgebracht.
Darob entspann sich ein Schimpfgefecht zwischen den beiden Schaffnern, während Cathri gebieterisch nach dem Zugführer verlangte.
Außer sich über die Verzögerung, eilte der Vorstand herbei. Sowie er Cathri erkannte, grüßte er verbindlich und geleitete sie persönlich in eine Abteilung erster Klasse.
«Fertig, fort!» schnarrte er.
«Wijüh!» bestätigte die Pfeife des Zugführers.
Und mit mächtigem Stampfen setzte sich der schwere Zug in Bewegung, begleitet von Grillengezirp und Sternengeflimmer, hart an der Lissi vorbei, die ihre heimatgierigen Nüstern ungeduldig über den Hemmbalken vorschob, und an der Pinte vorüber, wo Jucundens trostloses Wehklagen weithin durch die schwarze Nacht zitterte – dem Kurbade entgegen.