Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Als er wieder ausschaute, begegnete er den mutlosen Blicken der Jucunde. «Und jetzt geht Ihr also wieder heim?» murmelte sie niedergeschlagen.

Er erstaunte. Wer hatte denn von Heimgehen gesprochen? Sie tat ihm leid. «Nein, ich bleibe noch ein wenig», tröstete er.

Sie aber schüttelte traurig den Kopf. «Ihr geht jetzt heim», wiederholte sie trübsinnig. «Ich spüre es. Und kommt dann nie, nie mehr zu mir. Das ist das erste und letzte Mal gewesen.»

«Niemand kann voraus wissen, ob etwas das letzte Mal gewesen ist.»

«Doch, das kann man voraus wissen. Ich weiß, es ist das erste und letzte Mal gewesen. Sonst wäret Ihr nicht aus bloßem Versehen zu mir gekommen, aus eitel Trotz und Widerspruchsgeist, weil es zufällig daheim Verdruß gegeben hatte. Das weiß ich jetzt, denn ich habe es gehört.»

Dann plötzlich wurde sie wieder weich. «Nehmt mir's nicht übel», bat sie flehentlich, «daß es mir weh tut, wenn Ihr mich verlaßt! Ich danke Euch gleichwohl. – Also, Ihr bleibt noch ein klein, klein wenig?»

Conrad blieb, aber nur noch mit dem Körper. Sie hatte recht. Es wollte ihn etwas heim. Irgend etwas Mannigfaches ließ ihm keine Ruhe mehr. Die Neugierde, was daheim geschehe, das bewegte Leben auf der Terrasse vor seinen Augen, das Bedürfnis mitzutun und mitzuhelfen, das Gelüsten, wieder mit Cathri zu verkehren. Das und noch manches Derartige, was ihm nicht völlig ins Bewußtsein trat, regte sich in ihm, während Jucunde ängstlich jede seiner Mienen bewachte.

Horch, jetzt ging oben im «Pfauen» am hellen Nachmittag der erste Tanz los, eine aufgeregte Polka, aber noch ohne Überzeugung, schwächlich und freudlos im leeren Saale hallend. Sofort begann Jucunde mit näselnder Stimme mitzuträllern, automatisch, aus Schlappheit, nach Art hirnloser Dirnen, so daß er ihre Dummheit, von welcher er bisher bloß reden gehört, selber ermessen konnte.

Im Gärtchen hatte sich mittlerweilen wieder eine Anzahl Leute eingefunden, deren Blicke beim ersten Geigenbogenstrich sich sämtlich nach den Fenstern richteten, von woher der Schall kam. Dadurch stockten die Gespräche, und nur abgebrochene Sätze wurden laut, gedämpften Tones, als fürchteten sie, die Musik zu beeinträchtigen. Bis allmählich, bei längerer Weile und Wiederholung des Rhythmus, die Unterhaltung wieder aufwachte. Aber die Gedanken blieben an den musikalischen Tanzboden gebunden, so daß sich jede Rede an langer Leine um den «Pfauen» drehte wie ein Pferd in der Reitschule.

Eine bedächtige Bauernstimme sagte in lehrhaftem Ton: «Wenn man überdenkt, wenn man vergleicht, was der ‹Pfauen› vor zwanzig, dreißig Jahren war, ehe ihn der alte Reber übernahm, und was er jetzt ist! Und alles ganz aus sich selber, ohne Unterstützung, ohne Geld, nichts als zwei fleißige Hände, ein aufgeweckter Kopf und eine ehrliche Leber. Acker für Acker einzeln erworben, heuer ein Feld und übers Jahr eine Wiese, aus den Ersparnissen, je nachdem das Geschäft günstig war, und die Wirtschaft allmählich vergrößert.»

«Gehört die Matte unterhalb der Terrasse auch dazu?»

«Alles von oben bis unten, von der Terrasse bis an die Bahnlinie, der Rain und der Anger und noch ein Stück vom Rebberg dazu.»

«Was ist denn eigentlich mit der ‹Pfauen›-Wirtin? War sie immer so?»

«Die ‹Pfauen›-Wirtin? Die Frau Reber? Die ‹Pfauen›-Wirtin von Herrlisdorf? Ich sag' Euch, das war zu meiner Zeit die jovialste, lebenslustigste Frau im ganzen Kanton. Immer freundlich, munter und wohlauf. Und fleißig und tätig! Ja, der hat der Alte viel zu verdanken.»

«Lebenslustig? Wer? Die ‹Pfauen›-Wirtin Reber? Lebenslustig? Was ist denn da gegangen?»

«Ach, sie ist schwermütig geworden, seit dem Kindbett ihres Sohnes, Conrad, glaube ich, heißt er. Zuerst hat man sie in einer Anstalt versorgt, hernach, wie es etwas besser ging, hat man sie ein paar Jahr lang in den Bädern herumgeschleppt. Jetzt lebt sie, soviel ich weiß, seit Jahr und Tag daheim im Hause. Aber mit der Schwermut ist es immer noch beim alten, seufzt den ganzen Tag, schafft sich Sorgen über jede Kleinigkeit, macht sich und der Umgebung das Leben zur Qual und redet beständig von nichts als vom Sterben. Gütiger Himmel, wenn man einem das vorausgesagt hätte, vor dreißig Jahren! So kann sich der Mensch ändern! Ein Glück, daß der Alte so geduldig mit ihr ist, so ein Wüterich, als er sonst sein mag. Es ist geradezu rührend, wie sanft er mit ihr umgeht, alt und krank, wie er selber ist.»

Conrad erbleichte, in ernste Gedanken versunken, indem er sich vornüber lehnte, um kein Wort zu verlieren. Das weckte Jucundens Eifersucht. «Wollen wir nicht lieber einen andern Platz aufsuchen, wo man ungestört ist?» schlug sie übellaunig vor.

Er gebot ihr ärgerlich mit der Hand Stillschweigen. Die zweite Stimme setzte wieder an: «Und der Junge? der Sohn? Was hört man von dem? Ist etwas hinter ihm?»

«Man weiß noch nicht recht, wo es mit dem hinaus will. Zwar von seinem Militärdienst verlautet nur Gutes, es hat ihn alles gerne, seine Vorgesetzten wie seine Untergebenen. Dagegen daheim...»

Jetzt verlor Jucunde die Fassung: «Schweigt doch, ihr albernen Menschen», platzte sie mit ungezügeltem Ärger heraus. «Seht ihr denn nicht, daß er selber dasitzt?»

Da ward eine gewaltsame Stille der Verlegenheit im Gärtchen.

«So, jetzt kann man doch wenigstens wieder sein eigenes Wort verstehen», murrte Jucunde.

Allein Conrad hörte sie nicht mehr; eine peinliche Ungeduld, heimzukehren und vor allem loszukommen, hatte sich seiner bemeistert.

«Ich werde nun auch aufbrechen müssen», sagte er schonend, indem er gleichzeitig aufstand. «Also denn, Jucunde, was ist meine Schuldigkeit?»

Sie verzog den Mund und warf feindselige Blicke auf die Geldbörse, die er hervorkramte.

«Ich habe Euch noch etwas Wichtiges mitzuteilen», entgegnete sie ernst, mit rätselhaftem Ton, «aber Ihr müßt Euch erst setzen.»

Hierauf, nachdem er sich widerstrebend niedergelassen, wandte sie ihm plötzlich ihr Gesicht zu, mit riesengroßen Augen, die ihn drohend anstarrten, wie die Mündung eines gewaltigen Doppelgeschützes, in dessen Innerem Feuer und Schwefel wohnt. Und während er betroffen herumriet, was das bedeute, schob sich hinterlistig ein Bein über das seinige. «Bleibt diesen Abend bei mir», flüsterte sie.

Sein Blut geriet in Aufruhr. Doch tat er sich Gewalt an, blickte weg und nickte ein verneinendes Zeichen.

«Ich will aber, daß Ihr bleibt. Ich will es einfach», zischelte sie dringender und schmiegte sich ihm noch enger an. Nun begann er zu kämpfen. Und seine eigenen Sinne wollten ihn in dem Kampfe verraten. Da gedachte er des Jawortes, das er der Feuerwehrmannschaft gegeben, und blitzschnell warf er sie mit beiden Armen brutal von sich, denn er wußte sich ihrer nicht anders zu erwehren.

Jetzt änderte sie handkehrum ihre Haltung, erhob sich ruhig, setzte eine harmlose Miene auf, als wäre nichts gewesen, und geschäftsmäßig, mit einem verblüffenden Sprung über all die Verwirrung weg, die sie angestiftet, verkündete sie kühl: «Ein Fränklein und vierzig Rappen.»

Er beglich das und tat ein angemessenes Trinkgeld hinzu, für welches sie bescheiden dankte. Dann schritten sie miteinander davon, ziemlich eilig, denn ihm war schwül, und er lechzte nach Erlösung. Entschieden, hätte er ahnen können, wessen er sich von Jucunde zu versehen hatte, er wäre nie in der Station eingekehrt. Beim Hause angelangt, überfiel sie ihn nochmals, unbekümmert um die Anwesenden. «Kommt einmal des Abends, wenn's dunkel ist, zwischen zehn und elf Uhr, nach dem letzten Zug. Zum Beispiel morgen.»

Aber wieder schüttelte er verneinend den Kopf.

Nun gab sie alle Hoffnung endgültig auf und fügte sich: «So nützt denn alles, alles nichts?» schmollte sie verzweifelt. «So muß ich Euch denn wirklich ziehen lassen? Immerhin, es hat mich innig, innig gefreut. Daran werde ich nun noch lange, lange zehren, wochenlang, monatelang, vielleicht noch länger.» Hiermit ergriff sie mit beiden Händen seine Rechte und drückte sie zärtlich, aber fest an ihr Herz, ließ sie auch nicht mehr los. So zogen sie durch den Hausgang, unbequem, weil eines des andern Schritte hemmte, bis vor die Haustür.

«Leb wohl, Jucunde», grüßte er. Sie erteilte ihm keine Antwort, gab ihn auch nicht frei.

«Leb wohl», wiederholte er bittend und etwas gereizt. «Laß mich los, sonst muß ich dir weh tun, denk an deine Wunde.»

Allein es war, als hätte er gegen ein unvernünftiges Tier hingeredet, so daß sich schließlich ein förmlicher Kampf entwickelte, zwischen ihm, der seine Hand schonend aus ihrer Umklammerung zu befreien trachtete, und ihr, die ihn mit verzweifelter Anstrengung halten wollte. Als er sich endlich durch einen unvorhergesehenen Ruck befreit hatte, schwenkte sie beleidigt ab und verschwand im Hausgang; kam auch nicht wieder zum Vorschein, ob er schon ihr zu Gefallen noch ein wenig vor der Schenke verharrte.

So entfernte er sich denn, aufgeregt und betroffen. Es lag ihm etwas nicht recht. Einesteils war er ja froh, diesen wollust-peinlichen Anfechtungen glücklich entronnen zu sein, aber andrerseits tat es ihm doch auch leid, von dem wunderlichen Geschöpf mit dem treuen Herzen unter den abgefeimten Buhlkünsten so ohne Gruß und Abschied davongezogen zu sein, flüchtlings, beinahe im Streit. Sie mochte sein, was sie wollte, sie hatte ihn halt doch lieb, auf ihre Art. Und der weite, reine Frühling um ihn her kam ihm jetzt, wie soll ich sagen, nüchtern, gewissermaßen herzlos vor, so daß ihn beinahe sein Sieg gereuen wollte.

In der Tat zauderte er, vor der Eisenbahnlinie angekommen, indem er nach hinten schielte, ob sie nicht vielleicht nachträglich unter der Haustür stände.

Sie stand nicht dort. Und wie gesagt, er hatte ja den Waldishofern sein Wort verpfändet.

Da raffte er sich auf und schlich niedergeschlagen über das Geleise, als ob er einen wertvollen Gegenstand verloren hätte.

Jenseits der Schienen tauchte Jucunde in die Vergangenheit, und der «Pfauen» rückte aus der Zukunft in die Gegenwart.

Einen Gewinn aber trug er doch aus der Pinte mit heim: den Entschluß, nun seinerseits dem Vater ein freundliches Wort zu gönnen, dafür, was er an der Mutter Gutes getan hatte und etwa noch tun würde.


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