Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Draußen auf dem weiten Dorfplatze im grellen Vormittagssonnenschein unterhielten sich Gruppen steifgekleideter Sonntagsbauern, das Kirchengesangbuch in der Hand. Ohne sich zu rühren, glotzten sie ihn an. «Prächtiges Kirschenwetter heute», rief Conrad im Vorübergehen leutselig. Antwort erhielt er keine. Da runzelte er die Stirn. «Mach dich gemein, laß dich herab, sei freundlich und zuvorkommend, sofort lassen sie dich's büßen.»

An der Hausecke des «Pfauen», gegen die Terrasse, balgten sich unter wieherndem Gelächter der Portier und Benedikt, der Kutscher. Der Portier, die Mütze schief auf dem Hinterkopf, schlenkerte das Bein gegen Benedikt, das dieser zu packen trachtete. Beim Anblick des jungen Meisters trat der Kutscher grüßend zur Seite, der Portier dagegen, nachdem er erst unwillkürlich nach seiner Mütze gegriffen, besann sich anders, behielt sie auf dem Kopf und setzte das rohe Spiel fort.

Der Leutnant bedachte ihn mit einem scharfen Blick, dann schwenkte er nach dem Seitenpförtchen neben der Küche ins Haus.

Vor der Schwelle stockte er mit einem Ausruf der Entrüstung. Nämlich Taubenfedern lagen herum, und einige rote sternförmige Tropfen Blutes bedeckten die oberste Stufe.

«Hat da wieder einmal so ein armes unschuldiges Täubchen sein junges Leben lassen müssen, damit irgendein verwöhnter Lecker seinen schalen Gaumen mit dem magern Bissen kitzle!»

Ehe er eintrat, schöpfte er, rund um sich blickend, einen großen Atemzug freie Luft. «Mut!» murmelte er, während ihn Ekel durchschauderte.

Hernach schritt er leise über die Schwelle in den Hausgang, wo er argwöhnisch lauschte wie auf Feindesboden. Nichts Verdächtiges in der Nähe; Leere ringsum und Stille in den Räumen. Das Unheil schlief also irgendwo in einem entlegenen Versteck, unter einem Strohwisch. Nur von der Küche, aus verwinkelter Ferne drang der Zank der Basen an sein Ohr.

Aber wenn das einen «wohlmeinenden» Zank bedeutete, wie lautete dann ein «übelmeinender»? Ein Duett, als ob zwei tropfnasse Katzen mit verknoteten Schwänzen durch einen Affenkäfig gepeitscht würden.

Belustigt, mit der Wonne des Gemaßregelten, wenn seine Zuchtmeister aneinander geraten, weidete er sich an dem Konzert. «Jetzt laßt sehen, wer wird Meister? die Hexenbase oder die Rosinenbase?», und er ließ mit erhobenen Händen die Zeigefinger gegeneinander fechten, wie das Krokodil und der Teufel im Kasperletheater.

Darüber flog die Küchentür auf, und Flucht und Verfolgung tanzten in den Korridor. Den erläuternden Text gewährte die grölende Stimme der Hexenbase: «Pack dich! drück dich! hüpp! alehoppla, marsch!»

«Wart nur», drohte es zurück, im greinenden Ton eines gesteinigten Propheten, «wart nur ganz ruhig, bis der Conrad einmal Meister wird. So jagt er dich aus dem Hause, wie du mich heute aus dem Hause jagst.»

«Amen, es geschehe!» betete Conrad und begab sich ins Speisezimmer.

Es war noch menschenleer. Ein Gemisch von kühlem Frühling und warmem Sonnenstrahlenbad – «frappierter Sommer», dachte er – zog durch das saubere, wohnliche Gelaß aus und ein. Freundliche Reinheit um und um. Auf den gedeckten Tischen funkelten die Gläser und Wasserflaschen wie Nebensonnen. Ein kleiner Tisch für die Familie, ein langer, etwas getrennt davon, für das Gesinde der Aufwärterinnen. Beide mit Fliedersträußen geschmückt und das Besteck so regelrecht geordnet wie mit dem Zollstab abgemessen.

Da überkam ihn eine Pulswelle Lebenslust, daß er anfing, eine muntere Marschweise vor sich hin zu pfeifen. Wie er indessen an der Wohnstube vorübergeriet, zuckte er zusammen, verstummte und schlich sich verstohlen ans nächste Fenster hinüber. Er hatte durch die klaffende Lücke der nur zu drei Vierteln geschlossenen Tür die Gestalt des Vaters wahrgenommen, der drinnen in der Wohnstube im Lehnstuhl saß. Nur einen Augenblick, allein es hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen. Und nun schwebte ihm das verhaßte Bild, von der Phantasie vergrößert, in ungeheuerlichen Umrissen nach, riesenhaft und schwarz. Dabei drehte sich etwas in ihm um, feindselige Gefühle an die Oberfläche fördernd; und mit klopfenden Pulsen, die Stirn an eine Fensterscheibe gedrückt, starrte er auf die Terrasse hinab.

Da, während er also ziellos hinbrütete, tauchte unversehens der frevelhafte Spruch seiner Schwester in seinem Gedächtnis auf. «Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt!» Ob er das Wort noch so heftig verbannte, es kam wieder und hüpfte unablässig in seinem Ohr. Gewiß nicht als Wunsch und Hoffnung – pfui! –, sondern einfach als eine Frage. Und schließlich, im Grunde, warum sollte er sie nicht beantworten? Eine unbezwingbare Neugierde wuchs in ihm heran, so daß er sich eine Schrittlänge seitwärts am Fenster zurückstahl, bis sein Blick durch die Türspalte den Vater streifend erreichte, die rechte Seite des Körpers und, je nachdem jener sich bewegte, auch den Kopf. Und nun begann er ihn verhaltenen Atems zu beobachten, wie er ihn noch nie beobachtet hatte, mit dem lauernden Blicke des Spions, welcher nach des Feindes Schwächen späht. Im einzelnen prüfte er ihn, von oben bis unten, um es schließlich zusammenzurechnen: das schreckliche Antlitz, glatt und bartlos, mit braunen Flecken schauerlich getigert, die fürchterlichen, rot unterlaufenen Doggenaugen, den gedunsenen Leib, der unter keuchenden Atemzügen seitwärts wogte, wie der Busen eines Weibes, die unförmlichen Klumpenbeine, welche trotz der sommerlichen Wärme in Pelzstulpen steckten. Und heimlich zählend, überflog er sein Alter: vierundsechzig im Herbst. Jedesmal, wenn zufällig sein Blick den des Vaters kreuzte, schnellte er den seinigen erblassend zurück, während der Vater geräuschvoll schnurfelnd ausspuckte.

«Männlein, was sinnst?» rannte ihm die Schwester ins Ohr.

Da fuhr er wie ein bleichsüchtiges Mädchen schreckhaft zusammen, daß ihm das Herz stillestand.

Sie aber beschrieb mit ihren seelenvollen Händen eine wischende Bewegung vor seiner Stirn, wie der Zauberkünstler, wenn er etwas verschwinden läßt. «Infernalibus», flüsterte sie. Dann erhob sie drohend den Zeigefinger: «Männlein, sei lieb», mahnte sie. «Wenn du lieb bist, aber sehr, sehr lieb, will ich dir etwas Schönes zeigen.» Das sagte sie in einem Ton, als ob sie ein Geschenk hinter dem Rücken verborgen hielte.

«Was?» fragte er zerstreut, noch vom Schreck verstört.

Sie wies neckisch nach der Landschaft, daß ihr Finger seine Nase streifte. « Zum Beispiel der rosarot gesprenkelte Apfelblust dort unten in der Matte, ist der etwa nicht schön?»

Hiernach huschte sie fröhlich nach dem Eßtisch hinüber, unterwegs die Wohnstubentür unauffällig schließend, und machte sich mit dem Besteck zu schaffen, indem sie nachträglich Kuchenmesser auflegte, sowohl für das Gesinde wie für die Herrschaft. Und während er nach wie vor in finsterer Verbohrtheit zum Fenster hinausstierte, sang sie hinter seinem Rücken über der Arbeit ein Liedchen, bald leise summend, bald mit nachdrücklicher Betonung, je nachdem der Wortlaut oder ihre Willkür es begehrte:

«Weißt, was der Kucker im Frühling singt?
Kein Mensch weiß, was ihm der Sommer bringt.
Der Sommer, der schläft hinterm Gitzlisberg.
Gar vieles kommt anders und überzwerch,
Doch manches wieder kommt plötzlich gut,
Wenn's niemand erwartet und hoffen tut.

Januar und Februar:
Gotts Segen ins Jahr.
Im März und April
Gibt's Wetter, wie's will.
Im Maien der Schnee
Tut der Apfelkammer weh.
Brachmonat, August –
Trag willig, was mußt.
Im Herbst wächst die Nacht,
Bis es Winter macht.
Der Ofen tut not,
Die Blümlein sind tot.

Die Blümlein, die sind halt den Frost nicht gewohnt.
Wenn's nur meinen Liebsten, meinen Einzigen verschont.»

Statt «Einzigen» aber setzte sie «Conrad», indem sie jedesmal bei diesem Namen einen herzinnigen Blick dem Bruder zuschickte, glückzufrieden, unbekümmert, ob er es bemerke.

Jetzt bimmelte die Eßglocke, und nach einer kleinen Schicklichkeitspause rauschten die Kellnerinnen ins Zimmer, einzeln und gruppenweise. Beim Eintritt wünschte eine jede dem jungen Meister ein treuherziges «Guten Tag», nicht ehrfürchtig, vielmehr kameradschaftlich und vertraulich, wofür er jedesmal mit lauter Stimme dankte, übrigens ohne sich umzuwenden. Ein anmutiges Summen flüsternder, schwatzender, trällernder Mädchenstimmen bewegte sich hinter ihm hin und her. Mit der Zeit schob sich in seine Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hielt, ein Blumenstengel. Weil aber ein Fensterflügel spiegelte, erkannte er die Täterinnen. «Josephine», urteilte er, «das errät man an der Narretei.»

Dann kreiste ihm eine Hand übers Gesicht. «Solch eine vorsintflutliche Patsche hat einzig in der Welt Brigitte», erklärte er.

«Betrug!» verkündete ein empörter Ausruf «Er sieht uns im Fenster.» Und sofort zerstreute sich der Schwarm. Dagegen erschien jetzt seine Schwester neben ihm.

«Nun denn, was sagst du jetzt dazu?» forschte sie.

«Wozu?»

«So sperr doch endlich deine Guckaugen auf, Tolpatsch!»

Er drehte sich nachlässig um, und wie sein Blick über den Mädchenhaufen glitt, bunt und fröhlich wie ein Junimorgen im Garten, entdeckte er unter den Kellnerinnen eine neue: hochgewachsen, stattlich und bolzgerade aufrecht, in reichster Bernertracht, lötig Silber und Samt und Seide, steifgewölbtes Vorhemd, panzerhartes Mieder, gestickte Halbhandschuhe, alles genau bis ins einzelste, wie in einem Trachtenbilde für die Fremden hinter einem Schaufenster von Interlaken.

«Aus was für einer Spielschachtel hast du die bezogen?» bemerkte er beifällig, doch gleichgültig.

«Gelt?» lachte sie. «Oder habe ich dir denn nicht versprochen, etwas Schönes zu zeigen? – Aber nichts da von Spielschachtel, loses Menschenkind! Potztausend, damit wird nicht gespielt, hörst du? Nur zum Ansehen. Und sorgfältig mit umgehen, wohlgemerkt, denn das ist eine kostbare Präsidententochter, spröd und stolz. Übrigens für sie ist mir nicht bange, denn sie hat drei Reihen Nadeln auf der Zunge wie ein Hecht – um so mehr für dich – wehe deinem Herzen! armer Conrad!» Hiermit hüpfte sie triumphierend von ihm weg, singend in jauchzenden Oktaven.

Er aber behielt die Bernerin im Auge, und jählings von übermütigem Selbstgefühl gepackt, manövrierte er sich angriffslustig zu ihr hinüber.

«Also wahrscheinlich Bäbeli oder Marianneli», machte er plötzlich, indem er unvermutet vor sie hintrat, so nahe, daß seine Stirn beinahe die ihrige berührte, damit sie ihm weiche.

Sie hielt ihm jedoch trotzig stand, mit zusammengezogenen Brauen. «Weder Bäbeli noch Marianneli, sondern Cathri», erwiderte sie barsch und wich ihm nicht um Zolles Breite.

«Von Langnau oder von Signau?» stocherte er weiter.

«Ich an Eurer Stelle», rief sie hitzig, «wenn ich mich aufs Raten nicht besser verstände, ließe es bleiben. Von Melchdorf bin ich.»

«Melchdorf? Von Melchdorf? Wo ist doch Melchdorf? Übrigens wo von Melchdorf? Aus der Säge oder aus der Mühle? Nämlich Melchdorf, müßt Ihr wissen, Melchdorf ist groß.»

«Jetzt sagt Ihr eine Dummheit; denn Melchdorf ist klein. Besitzt auch überhaupt weder eine Säge noch eine Mühle. Übrigens, wenn Ihr denn so wundergierig seid, es ist kein Geheimnis, man darf's wissen: im Taubenhof bin ich daheim.»

«Im Taubenhof? Ach so, im Taubenhof. Im Taubenhof also. Keine fehlgeratenen Täubchen, fürwahr, in jenem Taubenhof.» Und indem er sie vom Kopf bis zu den Füßen musterte, auf und ab: «Hat er noch mehr dergleichen saubere, milchweiße Riesenvögelein, Euer Vater, der Präsident, in seinem Taubenschlag, von dieser Höhe?»

Freudiger Stolz erhellte ihr Antlitz: «Unser sechs Geschwister sind wir, immer eins bäumiger als das andere. Mag leicht sein, unser Ältester, der Hans, ist noch einen halben Kopf größer als Ihr.»

Conrad kniff zweifelnd ein Auge zu.

«Es steht jedem frei zu blinzeln, der blöde Augen hat», bemerkte sie zornig. «Ich aber behaupte, was ich weiß und was Tatsache ist. Unser Hans schaut mir bequem über den Scheitel. Hiernach könnt Ihr's selber ausrechnen, wenn Ihr rechnen gelernt habt.»

«Oder abmessen?» meinte er.

«Meinetwegen.»

Und beide streckten sich herausfordernd auf den Zehen, halb im Spaß, halb im Ernst.

«Nicht so», schalt Josephine, «sondern rechtschaffen, Rücken an Rücken, wie es Brauch ist.» Hiermit drehte sie keckerhand die beiden um, drängte sie an die Wand und stieß sie rücklings zusammen. «Einen Schemel, ein Lineal und einen Bleistift her!» befahl sie. «Schnell!»


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