Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Wie er durch das verwüstete und vereinsamte Gärtchen, wo Bruch und Brocken umherlagen, nach seinem Platze zurücksteuerte, seufzte ihm Jucunde entgegen und warf sich erschöpft neben ihn auf einen Stuhl. Wie sie aussah! Zerzaust und zerrissen, mit Wein übergossen, die Lippen hängend, das Auge glanzlos, und der Schweiß troff ihr von der Stirne.

Das war nun also die verführerische Jucunde, welche das Gerücht wie die leibhaftige Todsünde ausmalte! Eine klägliche Todsünde! Das wenigste, was man von einer Todsünde verlangen kann – nicht wahr? –, ist doch, daß sie zum mindesten appetitlich sei. Pfui, wie sie sich von jedes Waggingers knotigen Armen hatte herumzerren lassen! Freilich, man wußte ja ohnehin, daß sie keine Mutter Gottes war, allein wissen und mit eigenen Augen wahrnehmen ist mitunter zweierlei. Entschieden, hier war kein Aufenthalt für ihn. Was für ein Bock hatte ihn nur gestoßen, sich freiwillig in diese Spelunke zu begeben?

Er sah nach seinem Hut. Siehe, der war zerdrückt, zerknittert, überstäubt. «Eine Bürste», befahl er hochfahrend.

Bestürzt schaute ihn Jucunde an, schlich kleinmütig ins Haus und brachte die Bürste.

Er säuberte Hut und Kleid, ohne daß sie wagte, ihm das Geschäft abzunehmen, so strenge gebärdete er sich. Endlich stammelte sie mit demütiger Stimme: «Oh, seid doch nicht ungehalten, Herr Reber! oh, seid mir nicht böse! Ich bitte Euch tausendmal um Verzeihung. Aber warum mußtet Ihr auch gerade einen Sonntag wählen? Gibt es doch Tage in der Woche genug, ach Gott, wo wir stundenlang hätten zusammensitzen können, ohne gestört zu werden. – Was muß ich nur tun, damit Ihr mir nicht mehr gram seid?»

«Was bin ich schuldig?» heischte er kalt und wollte sich erheben.

Da fiel sie laut aufjammernd über ihn her und drückte ihn nieder:«Nein, nein, nein», wehklagte sie erbärmlich, indem sie ihn verzweifelt umklammerte, «nein, jetzt geht Ihr nicht schon wieder fort. Jetzt, wo wir endlich allein sind, jetzt, wo ich Euch zum ersten Mal in meinem Leben habe.»

Es schrie so viel wahrhaftige Herzensnot aus ihrer Stimme, aus ihren Augen, aus ihren Mienen, daß es ihn erweichte. Schließlich, nach Hause kam er immer noch reichlich früh genug für das, was ihn Liebliches dort erwartete.

Er lehnte sich also wieder zur Ruhe.

Da leuchteten zwei Sternchen der Dankbarkeit aus ihren guten Augen; sie setzte sich neben ihn, schlug jedoch mißtrauisch die Hand über seinen Arm, als ob sie besorgte, er könnte ihr unversehens entschlüpfen, wie ein frisch zugelaufener Jagdhund, der noch nicht vertraut ist. Und um ihm die Abschiedsgedanken zu vertören, überschwemmte sie ihn mit Geschwätz. Zunächst mit vorrätigen Redensarten, dann allmählich, als sie inne ward, daß keine Hinterlist in ihm sei, mit echtem Geplauder aus dem eigenen Seelengrunde.

«Es macht schönes Wetter heute», warf sie ihm als ersten Brocken hin. «Und wüchsiges. Das Gras steht so hoch und saftig wie selten im Maien. Und den Kirschen hat die letzte Woche ebenfalls gutgetan; wenn nur nicht wieder der Regen alles verdirbt. – Wie es grumselt von allen Seiten, schwarz von Volk, dem ‹Pfauen› zu! Ja, Ihr seid reich, Ihr seid glücklich, Euch winkt das Leben. Wie kommt es übrigens, daß Ihr an einem solchen Tage nicht daheim seid? Habt Ihr vielleicht wieder einen kleinen Verdruß gehabt mit dem Vater? Es heißt, er sei böse gegen Euch. Ich kann nicht begreifen, wie es jemand übers Herz bringen kann, böse gegen Euch zu sein. Nun, es kommt mir zugute; ich hätte nie zu hoffen gewagt, daß Ihr jemals zu uns kämet, so ein stolzer Herr zu so geringem Volk.» Mit einem Male jedoch trübte sich ihr Auge, und sie sah ihn vorwurfsvoll an, als ob er ihr etwas gestohlen hätte. «Das ist wohl eine Freundin Eurer Schwester, die Bernerin, die heute zur Aushilfe gekommen ist? Schön ist sie, das ist wahr, sehr schön sogar; so Schöne gibt es hierzulande keine außer höchstens Eure Schwester. Und einen prächtigen Staat hat sie ebenfalls. Ist sie denn reich? Aber wenn sie reich ist, warum dient sie denn? Man sagt, sie sei sonst für den Sommer im Kurbad, als Büfettdame. Ich kann es begreifen. So ein Paradiesvogel zieht natürlich alle Männer an. Es heißt, sie lasse sich vom Badewirt selber den Hof machen. Freilich, er ist ja seit zwei Jahren Witwer. Aber den wird sie doch hoffentlich nicht nehmen! So viele Körbe, wie der schon erhalten hat, trotz all seinem Vermögen. Puh, der Greuel. Übrigens, so schön sie ist, wenn ich ein Mann wäre und die Wahl hätte: ich fände Euere Schwester doch noch schöner. Es kommt ja nicht einzig alles auf die Regelmäßigkeit an, sondern auch ein wenig auf den ‹Ausdruck›, wie man bei uns daheim sagt. Sie hat so etwas Liebliches um die Augen und den Mund; ich muß immer an Euch denken, wenn ich sie sehe. Nun, dafür ist sie ja auch Euere Schwester.»

Sie hielt an und schwieg. Nach einer Weile fuhr sie fort, mit einem kleinen Seufzer: «Ich kann's begreifen, daß Ihr nur ein rechtschaffnes Mädchen nehmen wollt. Und daß Euch keine absagt, davor seid Ihr sicher. – Es würde noch manche andere gerne in den ‹Pfauen› hineinsitzen, in das fürstliche Heimwesen!»

Empfindlich kehrte sie sich von ihm ab und blickte mit verschränkten Armen düster zu Boden. Einsmals aber schaute sie ihn wieder freundlich an: «Übrigens will ich dankbar sein, daß Ihr überhaupt gekommen seid. Wenn Ihr wüßtet, wie wohl mir das tut, wie wohl; ich kann Euch gar nicht sagen, wie wohl. – Aber schämt Ihr Euch denn nicht, am hellen Tage neben der Jucunde zu sitzen, so offen vor aller Welt?»

Er errötete. In der Tat, sie saßen wie in einem Schaufenster. Allein Furcht vor den Leuten war nicht seine Schwäche. Nach kurzem Bedenken rückte er vielmehr noch etwas näher an sie heran.

Da strahlte sie wie ein Sommermorgen.

«Wie mich das freut», hauchte sie, «in die innerste Seele hinein freut, daß Ihr Euch meiner nicht schämt.» Und jeder Vorübergehende frischte ihren Blick auf.

Hierauf sagte sie nichts mehr, sondern stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und schaute ihm mit ihren übergroßen Rehaugen unverwandt ins Gesicht, um seine Gegenwart gründlich auszukosten.

Auch er begann sich an seinem Plätzchen anzuheimeln. Seine Glieder, noch etwas vom Wein beschwert, gerieten in höckrige Stimmung, sein Wille entschlummerte, und das einfältige Geschöpf an seiner Seite, aus dessen treuem Herzen ihn Liebe in warmen Strömen wie Märzensonnenschein überflutete, tat ihm trotz allem auch wohl, sehr wohl sogar, offen gestanden. Mein Gott, sie sahen ihn anders an, zu Hause, der Vater und die Mutter. Und um seine ursprüngliche Härte wettzumachen, reichte er ihr gütig die Hand hin.

Gierig ergriff sie dieselbe und liebkoste sie unaufhörlich mit schmeichelnden Wangen, glückselig, ihn berühren zu dürfen, wie ein Hund sich an seinem Herrn zu reiben liebt.

Also beharrten sie hinfort voreinander – schweigsam und zufrieden, vergessend und genesend. Sie in seinem Anblick schwelgend, er vor dem Bilde Cathris feiernd, das unbehindert von Jucundens Gegenwart ruhig und deutlich in seinem Gedächtnis leuchtete.

Die Natur tat das Ihrige, um Unruhe zu stillen und Unrast zu bannen. Die Kunst des Lenzes, zu prangen, ohne zu blenden, entfaltete sich nach der langen Regenzeit mit besonderer Kraft. Allüberall strotzte verhaltene Fülle, aus welcher Glut und Schatten gleicherweise Düfte lockten, nur andere. Man roch es wachsen. Eine hochschwebende, schneeweiße Schönwetterwolke schwamm herbei, um gleich einer Insel die Sonne wegzutragen, die Scheibe verhüllend, bloß an den Rändern einen blitzenden Strahlenkranz erlaubend. Darunter saßen sie nun wie unter einem Baldachin oder einem mit farbigen Gazen gedämpften Kronleuchter, kurz, unter etwas Großem, Hohem und Holdem, das sie vereinte und segnete. Sie urteilte offenbar nicht so strenge über die Jucunde wie die Menschen, die Sonne.

Ein paar Dutzend große silberne Tropfen sprühten aus der Wolke herab in weiten Zwischenständen wie durch ein Sieb. Obgleich sie augenblicklich verdunsteten, so daß sie kaum die Erde erreichten, wurden sie doch von sämtlichen Amseln des Tales mit einer verzückten Symphonie empfangen. Mit Wohlgefallen schaute sich Jucunde um: «Jetzt kann man bald mähen.»

«Herr Reber, Ihr verliert ja Euere Sporen!» belehrte der Knecht, der in Gemeinschaft mit der Neuberin aufräumte.

Das erwies sich als richtig. Der rechte Sporn war weg, vermutlich von den Bauern abgetreten; der linke, schiefgedrückt und über die Hälfte eingerissen, hing schlaff über den Absatz. Conrad bückte sich, um ihn vollends abzuknappen. Doch Jucunde kam ihm zuvor, indem sie wie ein Wiesel glittlings unter den Tisch schlüpfte. Oder vielmehr wie ein Murmeltier, denn für ein Wiesel war sie zu fett.

«Halt, das ist meine Sache», wehrte sie unter dem Tisch hervor, «dazu bin ich auf der Welt, Euch zu bedienen.»

Mit einem einzigen Ruck hatte sie den Sporn los, aber in ihrem Handballen klaffte eine häßliche Rißwunde, aus welcher Blut quoll. Erschrocken fuhr er auf und griff nach ihrem Arm. Sie aber entwand sich ihm lachend: «Oh, das ist gar nichts, das heilt in zwei Tagen», scherzte sie, «wenn man nur gesundes Blut hat!» Und da er immer noch bedenklich auf die Wunde starrte, deutete sie auf seinen Stuhl, daß er sich niedersetze. Er gehorchte, wenn auch zögernd. Hernach war alles wieder beim alten, außer daß sie von Zeit zu Zeit mit innigem Entzücken die verletzte Hand betrachtete, als wollte sie rufen: «Das hab' ich von Euch, als Geschenk, zum Andenken, wenn Ihr nicht mehr da seid», und daß er mitunter einen bedauernden Blick zu ihr hinübersandte, wobei sie jedesmal von erneutem Glück aufleuchtete, heiter und lustig.

 

Benedikt, der Kutscher von daheim aus dem «Pfauen», guckte über den Hag, sich räuspernd.

«Was gibt's schon wieder?» fragte Conrad unwillig.

Benedikt hüstelte: «Ich soll Euch ersuchen», munkelte er, «ob Ihr nicht vielleicht so gut wäret, die Lissi dem Herrn Regierungsrat abzulassen, ausnahmsweise für heute, aus Gefälligkeit. Er hätte schon dreimal am Telephon danach gefragt. Man habe es ihm halt doch eigentlich sozusagen versprochen, wenn auch vielleicht mit Unrecht.»

«Wenn man in anständigem Ton mit mir redet, wenn man mich anfrägt, wenn man mich manierlich darum ersucht, so ist das anderlei», erklärte Conrad. «Wer hat Euch geschickt?»

«Euere Schwester, die Jungfer Reber.»

«So nimm das Rößlein, es steht im Stall. Aber er soll gemach fahren, der Regierungsrat, damit er die Lissi nicht in Schweiß jagt.»

«Ich fahre selber.»

«Dann ist's gut.»

Doch Benedikt rührte sich nicht. «Und noch eins läßt Euch Eure Schwester sagen», meldete er, mit dem Lachen kämpfend. «Ob es nämlich durchaus nötig wäre, daß Ihr mit der Jucunde auf dem Sperrsitz säßet, damit Euch ja die ganze Welt bewundere, oder ob Ihr Euch nicht lieber in eine Galerie zurückziehen möchtet.»

«Durchaus nötig ist's nicht», erwiderte er trocken, «aber angenehm. Übrigens hat der Platz den Vorteil, daß er jeden Vorwand nimmt, auszustreuen, wir täten etwas Heimliches im Verborgenen. Sagt das meiner Schwester und einen freundlichen Gruß dazu. – Wie steht's im ‹Pfauen›? Viele Gäste auf der Terrasse, wie es scheint?»

«Es wimmelt! Man vermißt Euch schmerzlich an allen Ecken. Ja, und daß ich es nicht vergesse, Euer Vater hat darum herumgeredet, es würde Euch wahrscheinlich auch nicht das Leben kosten, wenn Ihr heimkämet und ein bißchen bei der Aufsicht behilflich wäret. Er habe bis dato keinen Menschen aufgefressen und hätte es auch heute nicht im Sinne. Es wäre ja Platz genug vorhanden für zwei.»

«Das hat er gesagt? Der Vater? Zu Euch? Das klingt ja beinahe glimpflich, das heißt, ich meine verhältnismäßig, an ihm selber gemessen.»

«Zu mir, so wie ich dastehe. Die Neue, die Bernerin, die Cathri oder wie sie heißt, hat ihn herumgebracht. Eine Viertelstunde lang hat sie ihm zugesetzt und ihm alle Schimpf und Schande ins Gesicht gesagt, daß unsereiner vor Angst sich hätte verkriechen mögen. Aber er hat alles geduldig über sich ergehen lassen wie ein Schulkind, das der Lehrer abkanzelt. Nur so vor sich hin gemökt dann und wann, wenn es allzu grob hagelte. Bis er sich zuletzt zu dem Versprechen herbeiließ, Euch ein gutes Wort zu geben.»

«Und das soll nun vermutlich das gute Wort vorstellen, die Versicherung, mich nicht auffressen zu wollen?»

Benedikt lachte mit breitem Maul. «Ja, er spendiert sie nicht mit dem Scheffelmaß, Euer Vater, die guten Worte! Er ringt's mühsamer zum Vorschein, ein gutes Wort, als der Armenverein einen Dublonen. Man sollte fast meinen, es erstickt ihn.»

Conrad schwieg nachdenklich. Ihm war, als wäre er die längste Zeit von Hause fort und es müßte inzwischen in seiner Abwesenheit eine Unmenge der wichtigsten Dinge vorgefallen sein, von denen er Nachricht wünschte. «Wißt Ihr zufällig etwas von der Mutter, wie es ihr geht? Ist sie immer noch oben, in der Schlafstube?»

«Man hat sie ins Dorf zur Großmutter getan, damit sie aus dem Geschäft herauskomme, wo sie sich doch nur unnütz selber aufregt und andern Leuten hinderlich ist. Die Bernerin, die Cathri, hat darauf gedrungen.»

«Ein gescheiter Einfall das, der von der Cathri. Wenn etwas Vernünftiges geschieht, so hat doch gewiß sie es angeraten.»

Der Kutscher lachte beifällig. «Ja, das ist eine Resolute. An der ist ein Mannsbild verlorengegangen. Soll ich auch sagen, was sie mir aufgetragen hat? Ich übernehme keine Verantwortlichkeit dafür, ich melde einfach, was ein jeder mir aufträgt. Der eine sagt blau, der andere grün. Ihr sollt Euch lustig machen, läßt sie Euch sagen, und nicht zu früh heimkehren. Es gehe geradesogut ohne Euch und sogar noch viel besser. Jetzt müßt Ihr selber wissen, was Ihr zu tun habt. Mich geht das nichts an, ich mische mich nicht hinein. Also wie steht es jetzt eigentlich? was muß ich daheim ausrichten? kommt Ihr oder kommt Ihr nicht?»

«Ich komme, wenn's Zeit ist», erklärte Conrad ausweichend.

«Und ich gehe denn jetzt also und nehme das Rößlein. Ist es recht so?»

«Es ist recht.» – «Nicht zu früh heimkommen», wiederholte er verstimmt bei sich, nachdem der Kutscher abgetreten war. «Ja, ist ihr persönlich denn gar nichts daran gelegen, ob und wann ich heimkehre?» Und verletzt biß er sich auf die Lippen.


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