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Kritische Streifzüge

 

Die Augen der Rezensierten

Jeder, der den Rezensentenberuf erlitten, kennt sie, die stillen, schönen Augen, die flehenden, vorwurfsvollen Blicke der rezensierten Dilettanten und Pfuscher. Man sitzt, mit dem Kummer der Gerechtigkeit beladen, zwischen Mitleid und Wahrheit, bangen Geistes das Urteil wägend: «Nein, wirklich, es geht nicht, das ist eine unleugbare Stümperei; hier ist eine kräftige Abweisung am Platz», da kommt ein Blick – und die Sorge beginnt von neuem.

Wie sie vornehm sind; wie sie bei aller Ungeschicklichkeit uns schwatzenden Rezensenten weit überlegen sind in diesem Augenblick, die fernen stummen Verfasser! Sie verteidigen ja nicht ihre Sache, sie fallen uns nicht in den Arm, wenn wir zu ihren Ungunsten irren; ruhig halten sie hin, nehmen alles ohne Einspruch an. Aber sie sehen einem dabei ins Gesicht; und wenn man das Unglück hatte, eine Ungerechtigkeit auszusprechen, und wäre sie noch so nebensächlich, so wird man ihre Augen jahrelang nicht los. Glücklich, wer sich niemals täuschte! Aber wer täuscht sich denn niemals? War es kein Urteilsfehler, so lief vielleicht ein sachlicher Irrtum unter; oder das schlimmste, ein Versehen im Ton. Wie kann man es nachher je wieder gut machen?

Eigentlich sollte man es können; man sollte jeden Irrtum, und beträfe er auch nur einen einzigen unrichtigen Satz oder Ausdruck, später verbessern dürfen. Leider ist es nicht Brauch, auf Rezensionen zurückzukommen, die Zeitung und ihre Leser mit einem Urteilsfehler zu behelligen, der einem vielleicht vor manchen Jahren über ein Buch entschlüpfte, das längst begraben und vergessen ist. Aber ich wünschte, es möchte Brauch werden, damit man seine Schulden zahlen könnte. Was meinen Sie zu einem jährlichen Buß- und Bettage für Rezensenten, mit Generalbeichte?

«Ich habe an dem und dem Datum in dem und dem Bericht, über das und das Buch den folgenden Satz ausgesprochen: –. Diesen Satz erkenne ich heute als unrichtig. Und zwar aus folgenden Gründen: –. Mea culpa, mea maxima culpa.

Ich bekenne ferner –» und so weiter. In diesem Stil. Ja, die ungünstig Rezensierten sind uns Rezensenten überlegen, denn sie sind unsere Gläubiger, indem sie uns Fehler begehen lassen. Um so überlegenere, je großmütigere Gläubiger sie sind. Und es gibt großmütige Gläubiger. Häufiger, als man vermuten sollte, geschieht es, daß ein Rezensierter einem herzlich und bescheidentlich für die Wahrhaftigkeit des Urteils dankt, nachdem man ihm schmerzliche Wahrheiten, oder was man für Wahrheiten hielt, über sein Buch gesagt. Nun ist das ja gewiß ein erhebendes Schauspiel, dieses freundliche Verhältnis zwischen dem Tadler und dem Getadelten. Allein wer dadurch erhoben wird, ist der Getadelte; der andere verspürt es als peinliche Beschämung.

Und so wäre denn der Rezensentenberuf eine immerwährende unleidliche Gewissensqual, gäbe es nicht an seltenen Festtagen eine schöne Aufgabe zu lösen: einem Meisterwerk, ehe es berühmt ist, den gebührenden Preis darzubringen oder einen unbekannten Namen, wenn er ein außerordentliches Talent bezeichnet, laut und deutlich auszurufen. Da liegt unsere Rechtfertigung. Wer in diesem Ausnahmefall mutig vorgeht, ohne sich durch kleinliche Mäkeleien ein Hintertürchen offen zu behalten, ohne sich vor dem überlegenen Lächeln seiner Bekannten zu fürchten, der hat Ablaß für die unvermeidlichen täglichen Sünden, und mehr als Ablaß: er darf seiner Rezensentenleistungen froh und stolz bewußt sein. Denn dazu hauptsächlich ist ja im Grunde der Rezensent da.

 

Das Prosaepos von Scharkân und Dau el-Makân

Man braucht durchaus kein Märchenfreund und Phantast zu sein, um dem gewaltigen Unternehmen des ‹abgeschmackten› Herrn Mardrus, der Europa zum ersten Male die unverfälschten Märchen der Tausendundeinen Nacht darbietet, die wärmste Teilnahme entgegenzubringen und auf das Erscheinen eines neuen Bandes jedesmal mit wahrer Spannung zu harren. Was für eine Welt von neuartiger Schönheit; was für eine Fülle von Leben, von wirklichem wie geträumtem! Und was für eine Menge von altbekannten Themen, die wir in den Schöpfungen europäischer Dichter bestaunten und deren erstmaliges Auftreten in der Literatur wir nun hier in der ursprünglichen Form belauschen und bedenken können. Kaum irgendein poetisches Motiv, das sich nicht schon in diesen Märchen als Keim vorfände! Als ob wir das Hauptsaatfeld neueuropäischer Poesie vor uns hätten; stofflich jedenfalls gibt es kaum eine Sammlung, die befruchtender auf die Weltliteratur gewirkt hätte. Wäre zum Beispiel der abendländische Roman überhaupt ohne die Tausendundeine Nacht möglich geworden? Ich bezweifle es, trotz antiken Rudimenten. Denn die Galanterie, die Haupttriebfeder des Romans, findet sich in der griechisch-römischen Welt nicht vor, wohl aber im Orient. Jene Liebe, die sich auf Phantasie gegründet, die Anbetung des schönen Weibes, das Sterbenmögen für eine Geliebte: hier, in den Märchen der Tausendundeinen Nacht, ist es schon vorhanden. Und wenn wir nach dem Datum fragen, so lautet die Zahl: im Mittel tausend nach Christo. Die arabische Galanterie ist mithin älter als die christliche. Den gegenseitigen Einwirkungen nachzuforschen aber ist Sache der Gelehrten.

Von den sechzehn Bänden, auf welche das Gesamtwerk vorausberechnet ist, sind bis heute erst drei erschienen. Aber wenn es auch nur ein einziger wäre! Zum Beispiel der dritte, der ganz und gar von der einzigen Geschichte 'Omars ibn en-Nu'mân und seiner Söhne Scharkân und Dau el-Makân ausgefüllt wird, ja sie nicht einmal zu Ende bringt, so daß die Fortsetzung auf den vierten Band fallen wird. Ich habe in der Überschrift diese Geschichte ein Epos genannt. In der Tat, es fehlte ihr nur die Schlußprägung durch den Kunstverstand und die Individualität eines geschulten Dichters, also ein orientalischer Tasso, um die Geschichte zu einem Werk und zu einem Stolz der Weltliteratur zu stempeln. Die Elemente sind alle vorhanden, und darunter solche allerersten Ranges.

Wir haben das Seitenstück des «Befreiten Jerusalems», aus muselmännischer Perspektive geschaut, den Krieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen, Bagdads gegen Konstantinopel und das mit letzterem bald verfeindete, bald verbündete Cäsarea in Kleinasien, kurz, Arabiens gegen Rom. Anlaß alles Haders ist auch hier das Weib. Die Tochter des Kaisers von Konstantinopel wird geraubt und kommt in den Harem von Bagdad, worüber der Vater begreiflicherweise höchlich ergrimmt und Krieg und Tücke spinnt. Sogar ein Parallelmotiv oder, sagen wir doch deutscher und gescheiter: eine Verdoppelung des Hauptmotivs ist hier in dem Rohstoff schon gegeben; nämlich die Tochter des christlichen Vasallen, des Königs von Cäsarea, gerät in denselben Harem des alten Sünders 'Omar. Neben diesem mehr zufälligen Anlaßmotiv wird die Handlung ferner noch durch ein Teufelsweib, natürlich christlicher Religion, fortgetrieben, eine alte, häßliche, eingefleischte Bösewichtin, ‹Mutter des Unheils› geheißen. Eine förmliche Hexe, die uns dominikanisch anmutet und stark nach dem Scheiterhaufen riecht; die Schilderung dieses Teufelsweibes ist äußerst burlesk und derb gehalten, so daß etwas von Thersiteshumor die wirklichkeitsunmögliche und unflätige Figur erheitert. Unsere Erzählung besitzt mithin Schwung, Spannhöhe und Horizontweite; Religionskriege, in großen Linien leicht faßlich als Untergrund der Handlung hingeworfen, das kann einem Epos nur gut tun. Da setzt es neben Gewaltschlachten Überfälle, Einzelkämpfe, Zweikämpfe und dergleichen, ja sogar einen Zweikampf des christlichen Kaisers mit einem mohammedanischen Prinzen ab.

Nun ließe sich ja denken, nur zu leicht denken, denn die Gefahr liegt nahe, daß das alles kunterbunt durcheinander rasselte, in wirrem Harnischlärm, wie in einem schlechten Hohenstaufendrama. Daß dies aber nicht der Fall ist, daß viel mehr in dem großen Rahmen individuelle Helden von unwiderstehlicher Anziehungskraft handeln, daß diese Helden nicht bloß Arme, sondern auch ein Herz haben, in welchem Güte ein Plätzchen findet, daß die Helden untereinander durch innige Geschwisterliebe verbunden sind, das hebt die Erzählung des Krieges auf epische Höhe. Durch sie, die Helden, und einzig durch sie, wird die Handlung fortgeschoben. Aber auch epische Höhen können kahl sein, epische Helden monoton geraten. Statt dessen weiß unsere Geschichte Situationsschönheiten ersten Ranges und Szenen von unvergleichlicher süßer Innigkeit, von lyrischem Schmelz zu finden. Als solche glänzende, berückende Augen der Erzählung sind zu nennen: zunächst, zu Anfang, das Zusammentreffen des verirrten Prinzen Scharkân mit der Tochter seines Feindes, der Prinzessin Abrizah, der Äbtissin im Walde, beim Mondschein. Aber, beiläufig gesagt, was für Sitten die Araber den griechischen Nonnen zutrauten! Als zweites Auge möchte ich bezeichnen: die Szene, wo Prinzessin Nuzhat ez-Zamân und ihr Bruder Dau el-Makân, die einander schmerzlich suchen, unbewußt in derselben Karawane reisen und die Schwester allabendlich dem wehmütigen Gesang des Bruders von ferne lauscht, ohne die Stimme zu erkennen. Das sind Erfindungen, um welche unsern anonymen Araber der größte Dichter beneiden dürfte.

Und nicht als ob dergleichen wie Oasen in der Wüste schimmerte. Keineswegs: auf Schritt und Tritt begegnen wir entweder der Schönheit oder dem Interessanten oder dem Humor. Ich nenne aus der Überfülle nur, was mir gerade aus dem Gedächtnis in die Feder läuft: Das Tankredmotiv, wo hundert Moslem gegen hundert maskierte christliche Jungfrauen kämpfen, die aus ihrer Jungfräulichkeit Unbezwingbarkeit schöpfen und deren Anführerin, als sie, zu Boden fallend, von Scharkân getötet werden soll, sich als seine Geliebte enthüllt. Dann der ergötzliche Sandbeduine von Jerusalem, eine Bereicherung der Pastoralidyllen, wie sie weder die Griechen noch Geßner geträumt haben! Wie der Spitzbube in Jerusalem die schöne Nuzhat ez-Zamân anlockt und, kaum vor dem Stadttor angekommen, sie entführt; sein Halunkenstolz, der das vornehme Kind mit ‹gemeines seßhaftes Stadtmensch› anredet; der Humor, wie er einerseits zu seinem Opfer nie anders als mit der haarsträubendsten Grobheit und Unflätigkeit spricht, aber anderseits von seiner Umgebung verlangt, sie sollten säuberlich mit dem Mädchen reden wie er: dieser einzige Sandschuft, in der humoristischen Beleuchtung, wie er da geschildert wird, lohnt es für sich allein, das Buch anzuschaffen. Oder das Mißgeschick des Prinzen Scharkân, dem die Unannehmlichkeit passiert, unwissentlich seine Schwester zu heiraten, so daß er sich dann plötzlich als seines Söhnchens Onkel dastehen sieht. Da machen Papa und Mama verdutzte Gesichter, scheiden sich so schnell als möglich, nennen das fatale Neffenkind ‹Macht des Schicksals› und heiraten hurtig anderswo hinüber. Oder die feingebildeten Jungfrauen, deren Weisheitsruhm Sultane und Emire anlockt, und die dann als Probe ihrer Bildung hinter einem Vorhang die ledernsten Moralanekdötchen zum besten geben, wie sie etwa in unsern Schulchrestomathien stehen. Und überhaupt, diese neue Sorte Weiblichkeit: lilienreine, engelschöne Prinzessinnen, mit Perlen belastet, nach allen Wohlgerüchen duftend, nur von Konfitüre sich nährend, aber, wenn sie den Mund auftun, so drastisch sprechend, daß ein betrunkener Matrose erröten würde. Und dann die eingestreuten Dichterstrophen, wo die Dichtkunst nach Zuckerkandel schmeckt und die Vergleichungen vom Juwelier bezogen werden. Was aber unsern Neid erweckt: die Dichterstrophen gelten bei den Arabern als über der Kritik stehend, was man von uns leider nicht sagen kann. Mehr noch: Dichtersprüche haben juridische Beweiskraft. Du willst einen Menschen morden? Nichts einfacher: Zitiere einen Dichterspruch des Inhalts: «O du, dessen Antlitz mein Herz vergiftet hat». Falls aber der andere nicht gemordet werden will, so muß er einen Gegenspruch zitieren: «O du, der du mich verfolgst, wann wirst du aufhören?» Aber es muß in rhythmischer Rede geschehen, sonst gilt es nicht.

Und was sagen Sie zu folgender moralischer Anekdote: Zu einem Hirten kommt ein Käufer, ihm ein Schaf abzukaufen, das dem Hirten nicht gehört; der Hirt weigert sich, ein nicht ihm gehöriges Schaf zu verkaufen, worauf er am königlichen Hof zu hohen Ehren kommt, dieser unglaublichen Ehrlichkeit wegen. Dagegen ist beim Bazar der Karawanen die Ehrlichkeit, der Kredit und die polizeiliche Überwachung recht bemerkenswert. Kurz, alles, bis auf den einzelnen Satz, bis auf die Interjektionen, die fast alle auf a assonieren, bis auf die stereotypen Einleitungs- und Übergangsphrasen, die episch viel wichtiger sind, als man wohl meinen sollte, sind hier entweder direkt poetisch genußreich oder nachdenkenswert. Aber die Leserin sei gewarnt. Sei sie auch noch so verheiratet, ehe sie sich ein paar Buchseiten hat herausreißen lassen, darf sie keinen dieser Bände zur Hand nehmen.

 

Der lehrhafte Zug in der französischen Literatur

Frankreichs Literatur hat einen ausgeprägt lehrhaften Zug. Denken Sie, abgesehen von Boileaus «Art poétique», einem stilistischen Meisterwerke der Weltliteratur, an die Wichtigkeit der pomphaft predigenden Kirchenfürsten und Kirchenketzer, Jesuiten und Jansenisten, an die Popularität der nüchternen Lafontaineschen Fabeln mit ihrer aufdringlichen Nutzanwendung, an die Berühmtheit des Tugendboldes Télémaque, an die «Proverbes» von Musset und ihre vielen Nachahmungen, an die dramatischen Thesen des Jüngern Dumas, an die pädagogischen Umdeutungen des Märchens, an die stereotype Zusammenstellung von Unwissenheit und Dummheit. Nur die ephemere Literatur der Franzosen ist frivol; die höhere französische Literatur ist gouvernantenfähig, mitunter auch gouvernantenmäßig.

Das Gymnasium, für uns eine Zwangsjacke des keimenden, ungebärdigen Talentes, gilt dort für einen gradus ad Parnassum; so daß gute Zeugnisnoten als ein günstiges Horoskop für die zukünftige geistige Bedeutung eines Buben ausgelegt werden. Wir schließen, wenn einer durchs Examen fällt, daraus auf eine gewisse Begabung, der Franzose auf eine gewisse Dummheit. Wohlverstanden, ich halte es in diesem Punkt mit der deutschen Ansicht. Vielleicht aus autobiographischen Gründen.

 

Wie ein Meister irrt

Wenn man vor fünf Jahren eine gewisse «Madame Bovary» den bedeutendsten französischen Roman und Flaubert den größten Romancier seit Balzac nannte, so wurde man vielfach belächelt. Das hat sich seither gewendet, hüben und drüben. Frankreich, das noch im Jahre 1880 nicht so viel Teilnahme für Flaubert empfand, um sich bei dessen Leichenfeier irgendwie vertreten zu lassen, dasselbe Frankreich verkündet ihn heute als den unbedingt nachahmungswürdigen, doch unnachahmlichen Meister, und in Deutschland wird er von allen Seiten täglich neu entdeckt; ja, es gibt schon eine hübsche kleine auserlesene Schar von Flaubertfanatikern und Flaubertpedanten. Wie ist das so spät und dann plötzlich so rasch gekommen? Nun, Flaubert genießt eben seit vier Jahren die Wirkung der stärksten literarischen Reklame, des Todes. Wie sich doch, sobald ein verschollener Jemand die Augen zudrückt, auf einmal alle kritischen Federn in Bewegung setzen! Nämlich die Kritik ist ein sonderbarer Vogel: als Mitwelt blinzelt er stumm und neidisch nach einem originalen Dichter, dann und wann etwas von ‹Willkürlichkeit› und ‹Sonderbarkeit› glucksend; kaum ist er aber Nachwelt geworden, so kräht er gewaltig laut über der Leiche. So ist es Grillparzer ergangen, so ergeht es Flaubert, und so wird es anderen ergehen. Aber Zola wird es ewig zur Ehre gereichen, daß er vereinzelt und vereinsamt dem Sarge des Dichters folgte und als erster die Überlegenheit des Meisters deutlich und klar anerkannte. Ihm folgte in der «Revue des deux mondes» der ritterliche, feinfühlige Maxime du Camp mit seinen gemütvollen Aufsätzen zum Andenken des Verstorbenen («Souvenirs littéraires»), welche wir nicht warm genug empfehlen können, nicht allein zur Kenntnis Flauberts und der literarischen Zustände Frankreichs seit den dreißiger Jahren, sondern zugleich als eine Stilprobe französischer Anmut und Liebenswürdigkeit.

Unter solchen Umständen, bei so junger Wertschätzung, ist der tote Dichter wie ein neu auftretender Schriftsteller zu behandeln, zumal für Deutschland, wo sich der Wunsch nach der Bekanntschaft, eventuell nach dem Verständnis des höchst originellen Künstlers mehr und mehr regt und wo der unvorbereitete Leser Gefahr läuft, seine Zeit an einem jener Nebenwerke zu verschwenden, welche nur vom Ruhm des Autors ins Schlepptau genommen werden. Und gerade bei Flaubert liegt diese Gefahr sehr nahe; denn außer seinem klassischen Hauptwerke «Madame Bovary» sind alle übrigen Erzeugnisse bedenklich, wenn nicht von Grund aus verfehlt, freilich auch das wieder in so eigentümlicher Weise und in so unglaubhaftem Grade, daß zugleich mit dem Bedauern über die verschwendete Arbeitskraft das höchste Interesse an dem irrfahrenden und eigensinnigen Talente einhergeht. Die nachfolgende Auseinanderlegung der «Tentation de Saint-Antoine» ist diesem Interesse entsprungen; sie bezieht sich auf dasjenige Werk Flauberts, welches Maxime du Camp für das tauglichste zum Verständnis des Dichters erklärt; und ihre Veröffentlichung an dieser Stelle verfolgt zu dem doppelten Zweck: einmal über den Inhalt des Buches zu orientieren und einige Aufklärungen zu versuchen, dann aber auch denjenigen Teil des deutschen Publikums, der nicht Zeit und Geduld zur Bewältigung der oft herzlich langweiligen Schrift vorrätig hat, davor zu schützen, daß er sich von Enthusiasten neuesten Datums als geniale Leistung anpreisen lasse, was nur als lehrreiches Beispiel eines merkwürdigen Fehlgriffes unser ästhetisches Interesse beanspruchen darf.

 

Die «Tentation» ist der Form und dem Inhalte nach ein fortlaufender Monolog des Eremiten Antonius, meistens reflektiert als Gespräche seiner Visionen und unterbrochen von den notwendigen Parenthesen, die das Gebärdenspiel, den Szenenwechsel, die Erscheinung der Phantome und so weiter anzeigen, ganz so, wie wir das aus unseren Buchdramen kennen. Nun erwartet natürlich der Leser, daß in einem solchen Monstermonologe von dreihundert Seiten der Einsiedler uns seine arme Seele bis in die letzten Falten aufdecken werde, und das war auch ohne Zweifel der ursprüngliche Plan des Künstlers.

Antonius fängt bei Sonnenuntergang damit an, seine Lebens- und Leidensmüdigkeit darzulegen und seine Duldergeschichte zu erzählen; er hält sich die weltliche Glückseligkeit vor Augen, gegen welche er diese endlosen Entbehrungen eintauschte; er findet selbst in der Heiligen Schrift Bilder irdischen Glanzes; dann werden seine visionären Dispositionen, seine Halluzinationen aus dem Reiz des Hungers, aus dem Drange nach Freundschaft und Liebe, verbunden mit bestrickenden Jugenderinnerungen und so weiter, entwickelt und der Übergang in das vollständige Delirium vorbereitet. Dies alles scharf und schön gezeichnet, wenn auch stark rhetorisch gefärbt. Endlich, als es schon längst Nacht geworden, auf einen zufälligen lauten Ruf des Eremiten, erscheinen ihm die Visionen; der Leser, in der meisterhaften Exposition gefangen, teilt dieselben in gespannter Erwartung. Und nun? Stimmen unsichtbarer Wesen reden ihn an: Die erste: «Willst du Weiber?» Die zweite: «Oder willst du lieber große Haufen Geldes?» Die dritte: «Ein glänzendes Schwert?» Die übrigen nennen ihm hastig die politische Größe und was darum und daran hängt; dann verschwinden sie, ohne nur eine Antwort abzuwarten. Hier dürfte das Buch abschließen, denn mehr kann man dem armen Antonius wohl nicht anbieten. Wenn aber der Dichter diese lakonischen Anfragen nur als eine Art von Überschrift zu den folgenden ernsteren Anfechtungen meinte, und ich bin überzeugt, daß dies der Fall ist, so hat er sich bedenklich versehen, denn es ist eine Ungereimtheit, einem Menschen die Versuchung vorher ankündigen zu lassen. Was ist das für ein Teufel, der sagt: «Mein Herr, ich werde in einer halben Stunde die Ehre haben, Ihre Tugend ein wenig auf die Probe zu stellen, studieren Sie einstweilen das Programm.» Es ist wahr; der Flaubertsche Teufel hält sich nicht streng durch das skizzierte Programm gebunden. Erst zeigt er Antonius auserlesene Speisen, dann köstliche Schätze, darauf entführt er ihn auf einen Königsthron, endlich erscheint die Königin von Saba mit Liebesanträgen; alles das noch teilweise auf psychologischer Grundlage, mit manchen wahren Zügen. Nachdem alle diese Versuchungen oder besser Zumutungen abgewiesen, denn der Satan macht es dem Helden nicht sonderlich schwer, was dürfen wir da noch Neues erwarten? Und doch haben wir erst den fünften Teil des Buches hinter uns. Ach, wir vergaßen die gefährlichste Versuchung: die Glaubenszweifel. Zu dem Ende maskiert sich der Satan als Hilarion, den Lieblingsschüler des heiligen Antonius; er raubt dem Vorkämpfer der Orthodoxie, dem großen Athanasius, seinen Heiligennimbus durch Aufzählung seiner menschlichen Schwächen; er deckt dem Gläubigen die Widersprüche der Bibel auf, er reizt seinen Wissensdrang und verteidigt denselben aus der Heiligen Schrift und aus den Worten der Kirchenväter. Damit hat er den Geist des Antonius jeder Ketzerei geöffnet. Und jetzt kommen sie selbst, die Irrlehrer mit ihrer subtilen Logik, einer um den anderen ohne Gnade, von Manes bis Apollonius, ein gründliches dogmenhistorisches Defilee, als wenn es sich für den Teufel darum handelte, den armen Einsiedler zum theologischen Examen vorzubereiten. Dies alles durch hundert Seiten, unbarmherzig, mit der Anmut des Heidelberger Katechismus. Von der Ketzerei zum Heidentum führen viele bequeme Brücken; diesen Gedanken nimmt der gelehrte Satan zum Anlaß, während weiterer anderthalbhundert Seiten sämtliche Religionen des Erdballs durchzunehmen: nach der Dogmengeschichte die vergleichende Religionsgeschichte, im Abriß natürlich und ohne Ausfälle gegen Volkmann, Renan und Feuerbach, aber reich an Namen und sachlichen Einzelheiten, eine Art Apollodorus redivivus. Die Götter selber übernehmen den Anschauungsunterricht; einzeln oder zu zweien und dreien stellen sie sich als lebende Bilder vor Antonius hin, erklären ihm rasch das Allernötigste, dann machen sie flugs dem folgenden Platz. Auch unsere Freunde, die zwölf Olympier, fehlen nicht. Was wird Flaubert aus ihnen machen? Ei, welche Frage! Gibt es etwas Einfacheres als das? Man läßt den Olymp aus einer Versenkung emportauchen und setzt die Olympier darauf, jeden mit seinen eigentümlichen klassischen Instrumenten und entsprechenden Gebärden. Es lohnt sich der Mühe, wörtlich anzuführen, wie banal ein großer französischer Schriftsteller zu sein wagt, wenn es sich um Klassisches handelt. Ich zitiere: «Mars im ehernen Gewande schwingt mit wütender Miene seinen breiten Schild und sein Schwert; Herkules, etwas weiter unten stehend, betrachtet ihn, gestützt auf seine Keule; Diana, im aufgeschürzten Rocke, kommt mit ihren Nymphen aus dem Walde hervor», und so geht das fort. Könnte man eine bessere Apologie für «Orpheus in der Unterwelt» erfinden? Nun wird Flaubert durch sein System gezwungen, die Götter auch sprechen zu lassen; da weiß er sich nicht anders zu helfen, als ihnen Lamentationen über ihr frühzeitiges Ende im Stile altitalienischer Rezitation in den Mund zu legen. Und welche Allegorien! Mars hat einen blutenden Kopf, jammert und ersticht sich; Venus, fröstelnd, blau vor Kälte, spricht einige Worte, setzt sich weinend zur Erde und seufzt: «Die Welt ist abscheulich, ich habe keine Luft», dann legt sie den Finger an den Mund und stürzt, eine gewaltige Parabel beschreibend, in den Abgrund. Nach den Griechen kommen zum Schluß die rohen etruskischen Götzen an die Reihe: Tages, Nortia, Kastur und Pulutuk und viele andere, die wir aus Gründen des Geschmacks gern entbehrten. Man halte fest; diese Ketzer- und Götterregister füllen reichlich zwei Drittel des Buches.

Was tut aber während dieser ganzen Zeit Antonius? Es ist nur zu klar: er ist mehr als unnötig; die archäologische Julienne wird ja über seinen Kopf hinaus dem Leser serviert, und das mindeste, was man von dem Helden verlangen darf, ist, daß er wenigstens nicht störe. Ab und zu eine kurze Frage oder einen Ausruf des Erstaunens oder eine Ohnmacht vor Schrecken kann man ihm ja gestatten.

Nachdem der letzte Gott verschwunden, hoffen wir endlich ans Ende zu gelangen. Mit nichten. Ein Donnerschlag erschallt, der Satan ladet den Helden auf die Hörner und trägt ihn durch die Lüfte. Man sollte nicht sogleich über Willkürlichkeit klagen, sobald ein wahrhaft origineller Dichter etwas ausführt, das einen wie ein Balken an den Kopf stößt. Ein Mann von der Größe Flauberts arbeitet ernst, überlegt, und mit heiliger Gewissenhaftigkeit.

Unser Dichter glaubte eben, die Verführung zum Unglauben in ihrem ganzen Umfange bringen zu müssen. Nun kommt jemand erfahrungsgemäß zum überzeugten Unglauben sowohl durch theologisch-philosophische Gelehrtheit (Renan und Strauß) als durch die Erkenntnis der Naturgesetze; das letztere bleibt also dem Verfasser noch zu behandeln. Aber wie? Das Richtigste und Schönste wäre gewesen, die Natur selbst, personifiziert, zu zitieren, das Bequemste, die alten Naturphilosophen aufmarschieren zu lassen. Freilich, zur Erfüllung der ersteren Aufgabe fehlt nun einmal dem modernen Dichter die Gestaltungskraft, davon wollen wir ja gar nicht reden; warum indessen vermeidet unser Autor die zweite Auskunft? Sieht er vielleicht endlich die Langweiligkeit der endlosen Prozessionen ein? Schwerlich, sonst würde er nicht einige Seiten später wieder die Ungeheuer herbeinötigen. Ich hege die Überzeugung, daß Flaubert vor dem Gedanken zurückschreckte, die ganze griechische Philosophie, die ihn wohl nicht sonderlich anmutete, eigens zu dem Zwecke durchstudieren zu müssen. Bei seiner peinlichen Gründlichkeit hätte das zwei verlorene Lebensjahre mehr bedeutet. Dazu kamen Bedenken wegen des Raumes; er konnte die griechische Philosophie nicht kurz abtun, der Namen sind zu viele und zu berühmte, und wenn man den christlichen Gnostikern einen Platz von hundert Seiten zugestanden, so beanspruchen deren große Lehrer das Doppelte. Allen diesen Schwierigkeiten ging Flaubert dadurch weit genug aus dem Wege, daß er Antonius auf dem Teufel durch die Welt reiten läßt, bei welchem Anlaß er ihm zwischen den Hörnern hinauf die Grundbegriffe der Gravitation beibringt, nebst einigen Andeutungen über Pantheismus und Materialismus. Nach dieser kurzen metaphysischen Exkursion findet Antonius sein Bewußtsein wieder und mit demselben das Gefühl seines Elendes und seine Verzweiflung. Dabei sucht ihn das Bild seiner Jugendgeliebten Ammonaria heim, Sehnsucht und Begierde nach ihr ergreifen ihn, ein Blick in den Abgrund zu seinen Füßen erweckt in ihm den Gedanken an Selbstmord, eine kurze, schöne Einleitung, von der wir leider nur nicht wissen, weshalb sie gerade hier hinten stehen soll; was ihm das Herz einflüstert, das spiegelt ihm dann die exaltierte Phantasie sogleich wieder als Wirklichkeit vor. Zwei Frauen erscheinen, eine häßliche alte: die Vernichtung, und eine junge schöne: die Wollust, die ihn gegenseitig um die Wette harangieren, die eine mit der anderen zankend, wie Tugend und Laster im altdeutschen Trauerspiel. Vor allem ist hier die nochmalige Einführung der Liebeslockung vom Übel. Dieses dankbarste aller Motive hat Flaubert durch Verkünstelung jeder Wirkung beraubt. Er bringt nämlich dasselbe nicht weniger als fünfmal in kleinen Bruchstücken, die sich gegenseitig beschränken und dämpfen müssen, um sich nicht allzusehr zu gleichen. Was soll man dann dazu sagen, daß zwei sich gegenseitig verneinende Anfechtungen den Menschen vereint anfallen, Sinneslust zugleich mit Lebensüberdruß? Ich bete inständig zum heiligen Antonius, daß er mir meine Tugendproben auch so einrichten möge, ich werde sicherlich weiß wie eine Taube daraus hervorgehen. Und die schönen Allegorienzettel, welche den beiden Damen aus dem Munde hängen: «Die Vernichtung – die häßliche Alte –, die Arme öffnend: ‹Komm, ich bin der Trost, die Ruhe, die Vergessenheit, die ewige Seligkeit.› Die Wollust, ihre Brüste darbietend: ‹Ich bin die Bezauberin, die Freude, das Leben, das unerschöpfliche Glück›.» Oder wieder später: «Die Vernichtung kichert, die Wollust brüllt, sie umfassen sich, dann singen sie miteinander:

Wollust: Ich beschleunige die Zerstörung der Materie.

Vernichtung: Ich erleichtere die Zerstreuung der Keime.

Wollust: Du vernichtest für meine Wiedergeburten.

Vernichtung: Du zeugst für meine Vernichtungen.

Wollust: Belebe meine Kraft.

Vernichtung: Befruchte meine Zersetzung.»

Nachgerade brüllen sie so laut, daß Antonius vor Entsetzen auf den Rücken fällt. Er hat nichtsdestoweniger aus dem Duett spitzfindig die Kontinuität des Lebens und die Einheit der Substanz herausgehört. Woher stammt aber die Verschiedenheit der animalischen Formen? Diese wird erklärt durch die mystischen Ungeheuer als Urtypen. Darum fährt jetzt die mythologische Menagerie vor: Sphinxe, Chimären, Greifen, Einhörner, Basilisken, Pygmäen und so weiter, ein vollzähliges monstrologisches Museum, mit den merkwürdigsten Seltenheiten, die Flaubert, Gott weiß bei welchem klassischen Trödler, für seinen Heiligen zusammengesucht. Ein hübsches Tier ist zum Beispiel der Katoblepas, ein schwarzer Büffel mit einem Schweinskopf, der auf die Erde fällt, mit den Schultern nur durch einen langen dünnen Hals zusammenhängend, schwampig wie ein leerer Darm. Das Tier liegt platt auf dem Bauche im Schmutze, und seine Beine hat es zwischen seiner Borstenmähne im Gesicht versteckt; kein Wunder, daß es sich selbst die Tatzen abfrißt.

Das Ergötzlichste ist aber der verunglückte Hochzeitsversuch der Sphinx mit der Chimäre, unter Bellen und Grunzen, beinahe auf der Nase des heiligen Antonius. Das liest sich wie eine Burleske von Pulci oder Berni. Dabei darf man nicht vergessen, daß die französische Sprache allem Augenschein zum Trotz beharrlich le sphinx› sagt. Also der Sphinxerich, der geheimnisvolle Philosoph, der sich entsetzlich langweilt, fängt mit der koketten, flatterhaften Chimäre, welche natürlich die Phantasie bedeutet, ein Gespräch an:

«Sphinx: Laufe nicht so schnell, fliege nicht so hoch, belle nicht so laut.

Chimäre: Ruf mich nicht, ruf mich nicht, da du ja immer stumm bleibst.»

Bei diesem Satze ist mir die Frage aufgestoßen, ob er schon an sich besonders gescheit sei, oder ob man erst den berühmten französischen Esprit darin suchen müsse. Nach einigen philosophischen Schäkereien verlieben sie sich ineinander, der Philosoph setzt sich auf den Rücken der geflügelten Phantasie, ist aber natürlich viel zu schwer, so daß er die arme Ungeheuerin halb zerquetscht und selbst im Sande versinkt. An dieser Stelle wird wohl mancher Leser ausgerufen haben: «Entweder der Verfasser meint das ernst, und dann ist er ganz einfach verrückt, oder aber er macht sich über den Leser lustig!» Gemach! Bedeutende Geister fühlen oft sehr kompliziert. Ohne Zweifel war es Flaubert mit dem Gedankenkern, der unter der allegorischen Hülle liegt, ernst. Aber seine urwüchsige Bouffonerie, von der uns Maxime du Camp drollige Anekdoten erzählt, fühlte sich durch das possige Paar so fröhlich angeregt, daß er während der Ausarbeitung ins Parodieren geriet, versteht sich, in der Hoffnung, dieselbe Stimmung dem Leser mitzuteilen. Mit Unrecht, denn der Leser, wenn ihm nicht vorher deutlich angekündigt wird: «Jetzt kommt Humor» oder wenn er nicht die konventionellen ‹köstlichen› Typen vorfindet, ist meist ein mürrischer Gesell, der jeden frohen Einfall auf den Verstandesbazillus hin analysieren möchte.

Was soll nach den Bestien noch kommen? Der Ozean bemüht sich zu dem Einsiedler, um ihm sein Aquarium zu zeigen. Die Einladung überbringen die Fische, auf dem Sande kriechend. Ein sehr hübsches Bild aus der Traumpsychologie. Da hätte nun Antonius vieles Interessante sehen können, aber leider bleibt ihm zu wenig Zeit übrig, denn die Sonne ist im Aufgehen, womit sich natürlich der Spuk zu Ende neigt. Daher muß er sich mit einem einzigen flüchtigen Einblick begnügen, der indessen die überraschende Wirkung ausübt, den halbtoten Selbstmordkandidaten plötzlich in einen enthusiastischen Allerweltsoptimisten zu verwandeln. Er möchte fliegen, bellen, heulen, einen Rüssel, einen Schildkrötenpanzer tragen, einerlei, nur leben. Darüber erscheint die Sonne, in der Sonne das Gesicht des Erlösers, und Antonius ist gerettet.

Jetzt wissen wir es also: Wenn ein Mensch vor Verzweiflung sich das Leben nehmen will, nur schnell ins Aquarium mit ihm! Ich beklage Schopenhauer, aber ich begreife ihn: er sah kein Aquarium.

 

Wer wohl bei dem Erscheinen des Buches mehr staunen mochte, das Publikum über Flaubert, oder Flaubert über das Publikum? Er hatte ja während langer Jahre alles so wohl durchdacht, so logisch ausgesponnen, so gewissenhaft gearbeitet. Dumm war er doch auch nicht, und an Kunst nahm ers mit einem Dumas, Feuillet, Daudet und Zola auch noch auf, das hatte er bewiesen.

Ich denke, nach unserer einfachen Inhaltsangabe wird niemandem der Grundfehler des Buches entgangen sein: Antonius ist ja gar kein Mensch, sondern eine Brosche mit Namenszug, nur dazu vorhanden, Flauberts unchristliche Studien zusammenzuhalten; der Satan aber ist des Autors Bibliothekdiener, der die gewünschten Zitate vom Schranke holt. Dem entsprechen die Versuchungen. Eigentliche Versuchungen kommen kaum vor; die bösen Geister sind harmlose, eitle Gesellen, welche sich nur mit sich selbst beschäftigen. Wenn ausnahmsweise einer Zeit findet, den Heiligen zur Sünde zu bereden, so sagt er sein Verslein so matt auf, daß man gleich merkt: der Erfolg ist ihm gleichgültig; der Satan hat vergessen, ihm eine Tantieme zu versprechen. Da ist zum Beispiel die Königin von Saba. Anstatt sichs ein wenig neben dem alten Kirchenjunggeseilen bequem zu machen, zählt sie ihm das Inventar ihres reichhaltigen Mobiliars auf, als hielte sie ihn für einen Versicherungsagenten. Indem nun Flaubert in seiner «Tentation» die psychologische Basis verschmäht oder wenigstens gar bald aufgibt, hat er sich jeder Möglichkeit beraubt, sein Werk zu organisieren. Von Mitte, Umschwung und Schluß kann keine Rede mehr sein; ja, die «Tentation», so wie sie vorliegt, ist kaum noch ein belletristisches Werk zu nennen; sie ist vielmehr ein mythologisch-archäologisches Realwörterbuch, und dieses Wörterbuch könnte ebensowohl vier Bände füllen als hundert Seiten. Ich mache mich anheischig, eine kleine, eine mittlere und eine große «Tentation» herzustellen, nach dem Beispiele eines Weber und Ploetz. Wie konnte aber der unsterbliche Dichter von «Madame Bovary» in solch einen ungeheuerlichen Fehler fallen, welchen auch der geringste Romanstümper würde vermieden haben?

Die langjährigen wissenschaftlichen Vorarbeiten haben dem Meister das Konzept verrückt, die reichgestaltige Historienwelt nahm allmählich das Interesse weg, welches der Dichter dem Antonius zugedacht hatte; was erst nur Brücke und Weg sein sollte, wurde Ziel. Ähnlich ist es ihm mit «Salammbô» ergangen: auch dort finden wir Museen von Altertümern; aber «Salammbô» hat doch wenigstens eine deutliche Handlung, die sich wie eine schimmernde Schlange schwerfällig, aber sichtbar durch das Museum hindurchwindet. Hier aber fehlt die äußere Handlung; als Gegenwehr gegen den Druck solcher Gelehrsamkeit diente einzig ein Seelenvorgang, dessen Entwickelung der Dichter offenbar noch nicht klar durchdacht hatte, ehe er mit seinen unglückseligen historischen Studien begann. So vermochten dieselben das zarte Leben zu ersticken. Zudem verlangt die ausgedehnte Charakteristik einer Idealfigur eine gewaltige Seelenenergie. Diese Energie hat Flaubert nicht gefunden, sei es, wie Maxime du Camp zu verstehen gibt, daß seine traurige Krankheit (Epilepsie) ihm die Schwingen des Genius gelähmt, sei es seine echt französische Überschätzung der wohltönenden Satzperioden, welche ihm statt der schwierigen poetischen Charakteristik den bequemen rhetorischen Stil in die Hand drückte, oder sei es endlich, daß er einfach die eigentliche dichterische Durchdringung des Stoffes hinter die Vorstudien verschob und dann später, nach all den riesigen Exkursen, geblendet vom Glanz der eingeheimsten Wissensschätze, ermattet von zahllosen Änderungen und Weglassungen und ungeduldig, nach so langen Jahren das Werk vollendet zu sehen, schließlich den Willen zu so mühevoller, intensiver Arbeit nicht mehr vorfand, die ihn nachträglich neun Zehntel seiner langjährigen Studien als unnütz hätte verwerfen lassen. Ich halte dafür, daß dies alles zusammenwirkte.

Es bleibt immer noch die merkwürdige Vorliebe eines echten Dichters für archäologischen Wust zu erklären, und hauptsächlich um dieser Erklärung willen habe ich die Feder ergriffen. Es ist kein gelehrtes Interesse, das unseren Meister hierzu verleitet; Flaubert hat mit Ebers nichts gemein; er ist auch nicht der realistischen Möbelpedanterie Untertan, denn Flaubert war kein Realist; seine Beziehung zu den Dingen ist eine andere, innigere. Er war eben selbst ein Einsiedler; einem solchen, wenn er zugleich Poet ist, bedeutet jedes Substantivum, das ein konkretes Ding benennt, ein ganzes Epos; er erfaßt es mit dem Herzen und umwebt es mit tausend Gedanken und Gefühlen, und indem er nun das Substantivum ausspricht, glaubt er in dem Leser ein ähnliches Phantasieleben anzufachen. Man lese einmal Flaubert auf diese Voraussetzung hin: all die Tausende von antiquarischen Nippsachen in «Antonius» und «Salammbô», die den Leser langweilen, ihm sind sie durch die Phantasie und das Herz gegangen, für ihn sind sie von reichhaltigem Leben umstrahlt, und es würde mich nicht wundern, zu vernehmen, daß er ob der Beschreibung eines assyrischen Rockes in Tränen ausbrach. Will man einen Beweis? Was ist es denn, das «Madame Bovary» so gründlich von allen anderen Romanen unterscheidet? Wäre es die Charakteristik? Oder die psychologische Entwicklung der Heldin? Gewiß nicht. Das können andere auch, und vielleicht noch besser. Weiß ja doch der gewöhnliche Pfuschleser, der doch auf Charakteristik und Kokettenpsychologik ziemlich gut eingeschult ist, nicht das mindeste mit «Madame Bovary» anzufangen. Nein, es ist die ideale Parallellinie des Gefühls, die auf Schritt und Tritt die Handlung begleitet, unausgesprochen – denn Flaubert ist ein viel zu vornehmer Künstler, um uns seine Gefühle als Reflexionen aufzudrängen –, aber unzweifelhaft vorhanden, sonst würden wir sie ja nicht spüren. Das ist denn auch das Charakteristikum, welches Flaubert himmelweit von Zola trennt; Zola schildert nach einem kalten System, nüchtern und mit unbarmherziger Pedanterie; Flaubert gibt uns nur dasjenige, was ihm aus irgendeinem Grunde lieb geworden. Freilich, wenn er nun in seinen späteren Schöpfungen seine Liebe auf das Lexikon wirft und von uns erwartet, daß wir bei der bloßen Aufzählung von Wort- und Sachregistern stets alles das nachfühlen, was er selbst dabei gefühlt hat, so ist das eine eigentümliche Zumutung. Man verachte sie nicht, denn mancher edle Gewinn lohnt den Versuch. Aber gesetzt auch den Fall, daß wir Wort für Wort die Gemütsstimmung des Autors errieten und mitgenössen, so kann uns doch eine solche Substantiveis nimmermehr für ein Kunstwerk gelten.

Der müde Dichter in seiner Einsamkeit überschätzte den Phantasieeindruck der Namen und den poetischen Wert der konkreten Vorstellungen. Das war der verhängnisvolle Irrtum des großen Mannes; dieser hat ihn um die Früchte seines mühevollen Schaffens betrogen. Wir aber betrachten mit Wehmut und Ehrerbietung die letzten matten Regungen des gelähmten Genies, wie wenn wir an dem Schmerzenslager eines teuren Angehörigen stehen würden.

 

Die Charakterzüge der französischschweizerischen Literatur

Während die deutsche Schweiz vermöge ihrer größeren Bevölkerungszahl und dem näheren Zusammenrücken ihrer namhaften Schriftsteller zu örtlichen und zeitlichen Gruppen wiederholt vor der Versuchung stand, ein literarisches Schisma gegenüber Deutschland zu vollziehen, haben im Gegenteil die französischen oder, wie man heutzutage lieber sagt: die ‹romanischen› Kantone bis auf die neueste Zeit ihre Schriftsteller bloß als vereinzelte Zugaben zu der allgemeinen französischen Literatur empfunden. Noch im vorigen Jahrhundert stritt man sich darüber, ob es überhaupt eine besondere Literatur der französischen Schweiz gebe, und die Frage wurde damals vielfach verneint. Wenn gegenwärtig die Rollen vertauscht erscheinen, indem einerseits Bächtold eine «Geschichte der deutschen Litteratur in der Schweiz», andererseits Godet eine «Histoire littéraire de la Suisse française» ankündigt, so bestätigt das nur auf Umwegen die Tatsache. Denn beide Titel müssen als ein Protest aufgefaßt werden; Bächtold protestiert gegen allfällige schismatische Gelüste, Godet will das Selbstbewußtsein der welschen Kantone aufrütteln.

An beiden Stellen wird nun das schweizerische literarische Leben durch zwei gemeinsame Grundbedingungen modifiziert und gegenüber dem deutschen oder dem französischen variiert: durch die Zentrifugalkraft, welche über die Landesgrenzen hinauslenkt, und durch den kantonalen Partikularismus. Es fehlt nicht bloß der Gesamtschweiz, sondern auch jeder der beiden Hälften ein Zentrum. Wie Bern, Basel, Luzern (mit den inneren Kantonen) und Zürich (mit der Ostschweiz) einander selbständig und im Prinzip gleichwertig gegenüberstehen, so verhält es sich auch mit Genf, Lausanne und Neuenburg; das eine oder andere dieser Kleinzentren mag wohl in einem gegebenen Zeitalter dem andern tatsächlich geistig und literarisch überlegen sein, allein darum erkennt man ihm gleichwohl nicht von anderer Seite eine geistige und literarische Vorherrschaft zu. Unter solchen Umständen führt der Hauptstrom des literarischen Lebens von einem der genannten kleinen Mittelpunkte unmittelbar in die weite Ferne, hier nach Deutschland, dort nach Paris, und erst von da sucht er den Weg rückwärts in die übrigen Schweizerstädte; der unmittelbare literarische Verkehr von Stadt zu Stadt und Kanton zu Kanton ist zwar nicht null, aber doch gering im Vergleich zu dem Verkehr, wie er in andern Ländern innerhalb der Grenzen stattfindet, so gering, daß ein Fremder dem tatsächlichen Verhältnis kaum mit der ratenden Vorstellung nachzukommen vermag. Unsere größten Schriftsteller erringen sich nur mühsam und namentlich langsam ein Publikum in den übrigen Kantonen, und ohne die Mithilfe des Auslandes – des überwältigenden Ruhmes – und der unaufhörlichen redlichen Bemühungen der Tagespresse würde das Tempo ein noch weit langsameres sein. Ähnlich verhält es sich mit unsern französischen Schriftstellern. Noch vor zwanzig Jahren durfte Eugene Rambert sagen: «Ein Kanton bedeutet in literarischer Beziehung ein Gefängnis. Ein Buch kann in Lausanne populär und jenseits der waadtländischen Grenze so gut wie unbekannt sein. Jeder Kanton spielt seine Schriftsteller wie feindliche Schlagwörter gegen den andern aus; es gibt Waadtländer, denen alles verdächtig erscheint, was von Genf oder Neuenburg kommt. Überall geheime Vorurteile und Eifersüchteleien! Ich gebe zu, daß sich die Zustände allmählich bessern, allein mit welcher Langsamkeit!» Allgemeine Literaturgeschichten der deutschen und der französischen Schweiz, wie sie in diesen Jahren zutage treten, bedeuten daher nicht bloß eine literarische, sondern eine politische Tat. Wie steht es denn – um diese naheliegende Frage beiläufig ebenfalls herbeizuziehen – mit dem Wechselverhältnis zwischen der deutschen und der französischen Hälfte? Besser, als man nach dem geschilderten Zustande erwarten dürfte. Die landesübliche Sitte nämlich, Söhne und Töchter der deutschen Schweiz nach dem ‹Welschland› in ‹Pension› zu schicken, schafft manche Berührungspunkte, und mancher Deutschschweizer weiß besser Bescheid über die neuesten literarischen Ereignisse in Neuenburg als über diejenigen eines andern deutschen Kantons; immerhin handelt es sich hier bloß um zufällige, unvollständige und meist auch oberflächliche Kenntnisse, wie sie eben in einer Pension unter dem Nimbus eines unfehlbaren, angebeteten Pastors gedeihen. Dagegen bestrebt sich die französische Schweiz mit rühmlichem Eifer, von der deutschschweizerrischen Literatur in ihrem ganzen Umfang fortlaufend Notiz zu nehmen. Es wird sich eben nicht abstreiten lassen, daß das Interesse an der Literatur überhaupt in der französischen Schweiz durchschnittlich ein regeres ist. Das wird einfach und deutlich genug durch den Umstand bewiesen, daß einerseits die französische Schweiz mehrere literarische Revuen der vornehmsten Art zu erzeugen und zu unterhalten versteht, unter ihnen obenan die alte «Bibliothèque universelle», andererseits die deutsche Schweiz trotz ihrer gewaltigen Überlegenheit an Bevölkerungszahl keine einzige.

Während nun die Charakterzüge der deutschschweizerischen Literatur in Deutschland, wenn schon vielleicht noch nicht in ihren Entstehungsursachen begriffen, so doch jedenfalls als fertige Erscheinungen bekannt sind, werden sich wohl nur wenige auch nur eine annähernde Vorstellung davon machen können, durch welche Eigentümlichkeiten sich die Literatur der französischen Schweiz von der allgemeinen französischen Literatur unterscheidet. Und doch hat jene auf die Richtung der letzteren keinen geringeren Einfluß ausgeübt als einst die deutschschweizerische auf die deutsche. Die soeben erschienene «Histoire littéraire de la Suisse française» von Godet (Paris, Fischbacher, 1890) in Verbindung mit den Betrachtungen, welche dieselbe in der Presse der französischen Schweiz veranlaßte, gibt mir die Anregung, eine kurze Charakteristik zu wagen.

Schon im persönlichen Verkehr mit den französischen Schweizern spürt man einige Verschiedenheiten des Sprachgebrauchs gegenüber dem Französischen, wobei wir kleine dialektische und lokale Symptome und dergleichen, wie sie bei Ungebildeten etwa vorkommen, gar nicht in Betracht ziehen wollen. Der französische Schweizer spricht durchschnittlich farbloser, blasser als der Franzose; er verfügt über einen geringeren Wortschatz; er kennt nicht oder vermeidet urwüchsige Gallizismen, vielmehr lehnt er sich an das Lateinische und Akademische an, und für Abstrakta beweist er eine Vorliebe; dabei redet er rein, ja sogar gewählt, hinsichtlich der Grammatik wie der Aussprache – wie gesagt, ich habe allein die Gebildeten im Auge –; die Genfer Aussprache wird sogar von Pedanten gegen die Pariser ausgespielt. Wenn also ein französischer Schweizer von Erziehung und Bildung nach Paris gerät, so wird er dort zugleich als Fremder und als Gentleman empfunden; als Fremder, weil er ein entseeltes Französisch spricht, als Gentleman, weil er alle unfeinen Ausdrücke vermeidet. Kurz, das Schweizerfranzösisch ist eine Art Buchfranzösisch, eine unterbundene Sprache, und bildet hierdurch den stärksten Gegensatz zum Schweizerdeutschen, welches sich bekanntlich nicht durch Reinheit, wohl aber durch den Reichtum naturwüchsiger Kraft auszeichnet. Den nächsten Erklärungsgrund für die Blässe des Französischen in der Schweiz liefern die ethnologischen und geographischen Verhältnisse. Die welschen Kantone haben sich in ihrem eigenen Innern zweier Feinde zu erwehren: des Patois und des Deutschen, denn das Deutsche schlängelt sich unter der Oberfläche durch den ganzen Jura bis nach Genf, und sogar längs dem Nordufer des Genfer Sees wird mehr Deutsch gehört und verstanden, als dem Französischen zuträglich ist. Überall da aber, wo eine Sprache Inseln in einem Völkergebiet darstellt, wo sie nicht die hintersten Winkel und die untersten Schichten durchdringt, steht in oberster Linie die Sorge um die Reinerhaltung derselben; und diese Sorge läßt zunächst keine Bestrebungen in der Richtung nach der Kraft und dem Reichtum aufkommen. So wird das Schwedische in Finnland und das Deutsche in den russischen Ostseeprovinzen zwar beispiellos rein, aber gleichzeitig dürftig und blaß gesprochen; etwas Ähnliches würde in der deutschen Schweiz der Fall sein, wenn die Gebildeten anfingen, das Buchdeutsch zur Alltagssprache zu erheben. Daß politische Grenzen ebenfalls die Isolierung und hiermit die geistige Aushungerung fördern, wofern das ausgeschlossene Gebiet ein minimes ist, bedarf keines Beweises. Die Karikatur des Schweizerfranzösischen und als Karikatur recht lehrreich ist das berüchtigte ‹français fédéral›, das heißt das Französische der eidgenössischen Staatsmänner von beiderlei Herkunft, worunter man sich weniger ein Übersetzungsfranzösisch, das nach dem Deutschen röche, vorstellen muß, als eine völlig entseelte, leblose, blutarme Sprache, welche auf den französischen Vollblutschriftsteller einen ähnlichen Eindruck macht, wie das Rabbinerhebräisch auf den Kenner des Alten Testaments.

Zu diesen Erklärungsgründen, die sich schon dem Beobachter der gegenwärtigen Zustände aufdrängen, fügt nun die Literaturgeschichte neue von höchstem Wert hinzu. Mehr als irgendwo sonst in der Welt hat in der französischen Schweiz die Reformation den Geist, die Sitten und die Sprache der Bevölkerung gestempelt. Zwar die alte burgundische Natur gänzlich auszurotten, ist den Reformatoren selbstverständlich nicht gelungen; sie zeigt sich noch heute in dem lebhaften Temperament, in der Geselligkeit und Höflichkeit, in der geistigen Feinnäsigkeit, in dem vorzüglichen Geschmack für Kleidung, in der Zierlichkeit und Zierfreude der eigenen Person, welche zu dem beständigen Kummer über das nahe bevorstehende Jüngste Gericht einen gar seltsamen Gegensatz bildet; allein was in einem Volkscharakter nicht niet- und nagelfest ist, das haben die Reformatoren den ‹Welschen› gründlich ausgetrieben, um an dessen Stelle die calvinistischen Eigentümlichkeiten zu pflanzen. Von Calvin ist über die französischen Schweizer ein dogmatischer und doktrinärer Zug gekommen, den sie heutzutage noch nicht losgeworden sind und der sich in ihrer Sprache und Literatur deutlich genug abspiegelt. Vernehmen wir hierüber, was ein ausgezeichneter Schriftsteller der französischen Schweiz selber bekennt («Gazette de Lausanne», 12. November 1889): «Zwei Hauptcharakterzüge herrschen in der Literatur der französischen Schweiz: der Protestantismus und der Dogmatismus. Stets ertappt man unsere Schriftsteller beim Predigen oder beim Spintisieren. Sogar Madame de Staël, obschon fast gänzlich französisiert, muß unbedingt räsonieren und Glaubensbekenntnisse formulieren; ohne Belehrungen, ohne Tendenzen und Ermahnungen geht es auch bei ihr nicht ab. Der französische Schweizer huldigt dem nüchternen Verstände mit Fanatismus («il est férocement raisonnable»), mit einem Stich ins Dogmatische, ja Pedantische; nicht die Kunst, sondern die Propaganda für irgendetwas ist sein Ziel. Neun Zehnteile aller namhaften Schriftsteller, welche unsere Literaturgeschichte aufzählt, waren und sind entweder Pfarrer oder Pfarrerssöhne; wenn das nicht, doch zuverlässig Lehrer oder Lehrerssöhne. Das Studium des Menschen und seiner Leidenschaften ist so viel wie Null bei unsern Romanschriftstellern und Dichtern; die Liebe behauptet in dieser Belletristik einen verschwindend kleinen Raum.»

Das klingt nicht sonderlich erhebend, aber es ist interessant; mehr noch: es ist wichtig, denn es hat einmal am Steuerruder der großen französischen Literatur gestanden und dem Steuerruder eine Wendung gegeben. Trägt wirklich Rousseau in dem Maße die beschriebenen Charakterzüge, daß er schlechthin als ein Exempel des französischschweizerischen Geistes angeführt werden darf? Ich hatte es bezweifelt. Godets Literaturgeschichte hat mich gelehrt, meinen Zweifel zu halbieren, indem er einesteils zugibt, daß die Phantasie und die Sinnlichkeit Rousseaus das savoyische Wappen führe, andernteils jedoch einen glänzenden Beweis für die echt genferische und calvinistische Herkunft seiner revolutionären Eigenschaften beibringt. Für Godet ist Rousseau nichts anderes als der gewöhnliche Genfer in vergrößerten Verhältnissen. Seinen maßlosen Bürgerstolz, seinen fanatischen Haß gegen das Theater, seine Verachtung des Luxus, und mit dem Luxus, der Künste und der Wissenschaften, seinen abstrakten, dogmatischen, zwar hinreißenden, aber durch und durch ungallischen Stil bezieht er aus der calvinistischen Tradition; seine Theorien über Kirche und Staat, über Moral und Gesellschaft stammen aus derselben Quelle; sogar sein Temperament ist dasjenige des ‹Genfer Plebejers›; denn der Genfer Plebejer, ganz wie Rousseau, ist stolz, empfindlich und reizbar, leidenschaftlich, mißtrauisch, dabei offen, loyal, rechtschaffen, fleißig und aufopferungsfähig. «Selbst in Rousseaus Ausschreitungen lassen sich noch in der Umkehrung die Einflüsse einer ernsten Religion, einer freien Verfassung und patriotischer Sitten erkennen.» Demnach hätte Savoyen der Welt den Dichter der «Confessions» und der «Nouvelle Héloïse», Genf den andern Rousseau, den Vater Robespierres geschenkt; Calvin aber wäre der Urgroßvater der Jakobiner.

Neben dem beschriebenen Hauptcharakter der französischschweizerischen Literatur finden sich übrigens ausnahmsweise auch vereinzelte Ansätze zu einer rein künstlerischen Produktion, und ich will gleich hinzufügen, daß allerneuestens die welschen Schriftsteller diese Ausnahmen zum Vorbild erheben und den Nebenweg zum Hauptweg erwählen. Das glänzendste literarhistorische Symbol dieser neuen Richtung, welche das Lehrhafte zu vermeiden und die Kunst um der Kunst willen zu pflegen anstrebt, ist Töpffer, der Dichter der «Genfer Novellen». Die dichterische Gestalt Töpffers verdient übrigens nicht allein durch seine vorbildliche Bedeutung für die neue französischschweizerische Literatur oder durch den bleibenden Wert seiner «Genfer Novellen» die Aufmerksamkeit des deutschen Lesers; Töpffer bildet in mancher Beziehung ein Pendant zu Gottfried Keller, wenn auch die Größenverhältnisse verschieden sein mögen. Hier wie dort ein seliges Sicheinspinnen in eine eigene Welt, die wahrlich keine realistische ist, wohl aber aus dem Nächstliegenden Poesie zu schöpfen weiß; hier wie dort echter, der eigenen Natur entquellender Humor, eine eigentümliche Sprache, ein Erdgeschmack, eine mutige Unbekümmertheit um die jeweiligen Bullen der ästhetischen und kritischen Päpste. Töpffer hat es als einziger seiner Zeit gewagt, dem damaligen Pariser Papste Jules Janin fröhlich zu trotzen und sich einen Teufel darum zu scheren, wie man in Paris über ihn urteile. In Genf lebte er, Genf liebte er, und die Anerkennung Genfs genügte ihm. Freilich fand Töpffer dennoch in seinen rüstigen Mannes jähren in Paris, was Gottfried Keller in seinen rüstigen Mannesjahren in Deutschland nicht fand: einen großen und weitherzigen Kritiker, welcher die Spezialität pflegte, unbekannten Schriftstellern ‹den Ruhm einzuläuten› – eine seltene kritische Spezialität! –, und ein Publikum, welches sofort schaute, schätzte und begriff. Der große Kritiker aber, welcher jene edle Spezialität übte, hieß Sainte-Beuve.

Bei den merkwürdigen Handbewegungen, welche der Säemann, der das Genie und das Talent in die Völker streut, ausführt, halte ich es nicht für unwichtig, wenn irgendwo, und wäre es in einem noch so kleinen Ländchen, die Erkenntnis im Gebiet der Kunst und Literatur sich Bahn bricht, und von der neuesten Wendung der französischschweizerischen Literatur läßt sich das Beste hoffen; denn an Geist und Talent hat es im Jura und am Genfer See nie gefehlt. Freilich stößt der Versuch, Sprache und Dichtkunst mit lokalen Elementen zu durchtränken, im Französischen bei der akademischen Starrheit der Stilgesetze und der Uniformität des Publikums auf größere Schwierigkeiten als im Deutschen. Und die theologische Krawatte und das sittenpuritanische Vorhemd werden die Herrschaften bei der Gelegenheit ebenfalls über den Zaun werfen müssen, sonst werden sie nach wie vor den muffigen Calvingeruch in der Feder behalten.

 

Schweizerisches

Von den Schriftstellern

Der Grundzug des schweizerischen Schriftstellers ist das Schamgefühl, so daß es den einzelnen große Überwindung kostet, sein Inneres der Öffentlichkeit bloßzulegen, daß hie und da das Pseudonym als schützender Schleier vorgelegt wird, daß die intimsten Erlebnisse, namentlich Herzensangelegenheiten, unbenutzt, die leidenschaftlichsten, lebensblutigsten Werke ungeschrieben bleiben. Aber auch bürgerliches Schamgefühl. Ich sage etwas Gewagtes, aber wage, etwas Gewagtes zu sagen. Wir schämen uns alle im Grunde unseres Dichternamens, wohlverstanden nicht etwa der Dichtertätigkeit oder gar der Dichtkunst, wohl aber der landläufigen Vorstellung, die an dem Dichternamen haftet. Dieser Vorstellung nicht zu entsprechen, ihr vielmehr zu widersprechen, einen kräftigeren, männlicheren und von dem übrigen arbeitsamen Volke weniger verschiedenen Typus darzustellen, ist unser aller eifrige, ja ängstliche Sorge. Keine willkommenere Schmeichelei, als wenn man uns versichert, daß man uns den Dichter nicht ansehe, noch anmerke.

Durch den Abscheu vor dem Dichternamen, durch das Bemühen, Entschuldigung dafür zu gewinnen, und durch die Überzeugung, daß es keine andere triftige Entschuldigung hierfür gibt als die Rechtfertigung, Rechtfertigung durch solche Werke, mit welchen man Ehre einlegt, wird nun jeder einzelne zu hohen Ansprüchen an sich selbst gezwungen; nicht in der Richtung des Ehrgeizes und der hochfliegenden Hoffnung, sondern im Sinne der Redlichkeit, also der Echtheit des Strebens, des Willens, des Fleißes. Man will sich nicht vor der Nation, vor seinen Kollegen, vor sich selber schämen müssen.

Da wir nun nach unseren Rechnungsgewohnheiten nicht glauben, daß mehrere Nullen, die sich zusammentun, eine Summe ergeben, da wir ferner talentvollen Versprechungen keinen Kredit gewähren, da wir endlich Meisterschaft als eine individuelle und daher als eine nur auf eigenen Wegen zu erringende Eigenschaft betrachten, fallen bei uns für den angehenden Dichter die Bündnisse weg; er vermeidet auch sorgfältig, die Kokarde aufzustecken. In den hintersten Winkel der Einsamkeit versteckt sich der angehende Schriftsteller und mausert dort wie ein krankes Huhn, bis er mit seiner Kunst, seinem Stil, seinem Stoffgebiet im reinen ist, und tritt erst dann hervor, wenn er überzeugt sein darf, etwas leisten zu können, was ihn nicht verunehre.

Mit Schamhaftigkeit ist Sprödigkeit verbunden. Dahin gehört die Abneigung, über das zu sprechen, was einem das Heiligste ist, über das eigene Werk, über die Überzeugungen der Poesie, über Kunst und Ästhetik, das Unbehagen gegenüber mündlichen Lobsprüchen, während für gedruckte große Empfänglichkeit herrscht, der Haß gegen die Reklame, die Verachtung derer, die sich ihrer bedienen, endlich, wenn es die Individualität erlaubt und die Stimmung erfordert, die Grobheit, als die einfachste und nationalste Abwehr gegen Eindringlichkeiten.

Wo jeder das Dichten als eine Ausnahmetätigkeit inmitten der nationalen Arbeit und sich selbst wieder als eine Ausnahme unter den Dichtern empfindet, kann von einem Schriftstellerstande oder gar von einem Standesgefühl keine Rede sein. In unserem vereinsseligen Volke, wo kaum einer ist, der nicht Präsident oder Aktuar von etwas wäre, wo der Hirt auf den Alpen die Statuten eines Turnvereins zu Hause hängen hat, weiß ich zwar von einem Journalistenverein, nicht aber von einem Schriftstellerverein. Niemand verspürt eben das Bedürfnis danach, teils, weil uns nun einmal die Vereinzelung im Blute liegt – wir sind geborene Dachse –, teils, weil wir uns von Zusammenkünften keine geistige Förderung versprechen, materielle Förderung aber anderswie zu finden oder zu vermitteln nicht verzweifeln, hauptsächlich wohl, weil wir die Vorstellung nicht ertragen, Dichter zu Dutzenden in einem Saale beisammen zu sehen. Davor schaudert der Gedanke. Wenn wir nicht verbunden sind, sind wir wenigstens befreundet? Da ist zu unterscheiden: Literarisch befreundet im Sinne eines Dioskurentums, so daß gemeinsamer Fortschritt, gegenseitige Förderung durch Ideenaustausch einträte – kaum, es wäre denn vorübergehend und in nebensächlichen Einzelheiten. Persönliche Freundschaften aber, warum sollten sie hier nicht ebenso gedeihen wie in anderen Berufskreisen? Indessen verbindet uns alle fester als Genossenschaft, haltbarer als selbst die Freundschaft, etwas anderes: die Hochachtung. Wir verlangen sie für uns und gewähren sie den anderen. Der bescheidenste Anfänger, wofern er nur selbstvergessenes ehrliches Streben im Dienste der Kunst bekundet, weiß, daß er diese Hochachtung genießt; persönliche Abneigungen oder private Streitigkeiten vermögen dieses Gefühl nicht anzutasten. Und die Hochachtung betätigt sich auch. Versuche einmal einer, einen geachteten Schweizer Schriftsteller zu beleidigen! Wie da alle die einsamen Dachse aus ihren Höhlen hervorjucken, schäumend vor Zorn.

Ich glaube mich nicht zu täuschen, daß die Hochachtung, namentlich die Hochachtung von seiten der Kollegen, für den Schweizer Dichter das höchste Gut bedeutet, höher selbst als Ruhm, Ehre und Popularität. Wenn dem aber so ist, und ich bin überzeugt, daß es so ist, so erklärt sich die Überzeugungstreue, die Festigkeit gegen Versuchungen, die ich wohl als eine unserer Eigentümlichkeiten glaube beanspruchen zu dürfen. Tagesruhm, Reichtum und Ehren zu gewinnen, aber dabei von seinesgleichen als Verräter an der Kunst angesehen zu werden, dieser Tausch hat hier nichts Verlockendes.

Vom Dilettantenstil

Woran erkennt man sofort den Dilettanten? Nicht, wie er meint, an Sprachfehlern, sondern an Geschmacksfehlern.

Dem Dilettanten, weil er nur ausnahmsweise schreibt, ist es ein Ereignis, wenn er zwanzig Zeilen in eine Zeitung setzt. Er meint demgemäß, etwas Außerordentliches leisten zu müssen, und indem er zu diesem Zwecke seinen Geist aufhetzt, hat er schon einen Hauptfehler begangen, nämlich Einfachheit, Natürlichkeit und Sachlichkeit verloren.

Der Schriftsteller von Beruf oder Erfahrung und ebenso jeder bedeutende Mann eines jeden anderen Berufes sagt, was er zu sagen hat, deutlich und bündig, und damit fertig. Das scheint selbstverständlich und leicht. Und doch ist das so selten, daß, wenn ich irgendwo eine gesunde, gerade Abhandlung über irgendein Thema, und wäre es das trockenste, zu Gesicht bekomme, ich mich erkundige, was für ein bedeutender Mensch das geschrieben habe. Nämlich der Dilettant mutzt alles auf. Sehen wir, mit was für Mätzchen. Zunächst rundet er seinen Bericht zu einem Aufsätzchen ab. Das Ende stimmt lieblich mit dem Anfange überein, oder es klingt patriotisch aus, oder stimmt heimatlich, oder läuft in ein Zitat und ähnliches. Solche Abrundungen, überhaupt den Aufsatzstil, verabscheut ein Schriftsteller.

Im einzelnen verziert der Dilettant seinen Stil mit Schnörkeln. Unter diesen Schnörkeln sind die beliebtesten folgende:

Die geistreichen Schnörkel, also allerhand harmlose Witzchen und Späßchen. Namentlich die ‹Korrespondenzen vom Lande› pflegen derart mit Witzchen umwunden zu sein, daß man ob dem verdrehten Getu oft gar nicht mehr zu verstehen vermag, was der Schreiber eigentlich mitteilt. Regel: Man sei nur dann geistreich, wenn man schlechterdings mit dem besten Willen nicht anders kann.

Ferner die poetischen Blümchen, besonders bei Damen beliebt. Poetische Blümchen im Prosastil, also zum Beispiel im Feuilleton und im Brief, sind immer Unkraut und riechen am ersten Tage schon altmodisch. Regel: Man werde niemals ‹poetisch›.

Ferner anmutige, zierliche Wendungen. Harmonische Gedänklein, ebenfalls meist weiblichen Geschlechtes.

Ferner der Bilderschmuck, mehr noch im politischen als im belletristischen Dilettantenstil wütend. Wo dann die buntscheckigen Dinger gar widerwärtig mit der abstrakten Vorstellung in Krieg geraten, selbst dann, wenn das Bild an sich nicht unrichtig durchgeführt wird, zum Beispiel: ‹das Schifflein der Eisenbahnpolitik in das richtige Fahrwasser lenken›. Was ist das für eine aquatische Brühe auf eine Eisenbahn! Da entgleist ja die Lokomotive der Vernunft vor der Überschwemmung der Gedankenschienen! Regel: Wenn man von abstrakten Dingen handelt, so rede man ehrlich abstrakt! Solche Dinge mit leckern Bildern aufmuntern zu wollen, das ist, als ob man das schweizerische Obligationenrecht mit farbigen Illustrationen herausgäbe.

Ferner der Schwulst. Man nennt uns wohl ‹nüchterne Schweizer›. Wenn wir aber schreiben, sind wir eher ‹bombastische Schweizer›. Wir werfen uns in die Festrednerbrust. Da aber der Dilettant in demselben Augenblicke, da er sich patriotisch oder moralisch aufschwellt, sich gleichzeitig seiner stilistischen Unbeholfenheit bewußt ist, so bedient er sich, um uns pompös zu kommen, altbewährter, niemals versagender Mittel, mit anderen Worten, der Gemeinplätze. Consules videant! – Sapienti sat!

Überhaupt Gemeinplätze! Das ‹nasse Element› (statt Wasser), oder ‹der unheimliche Gast› (für den Blitz), oder der ‹Jupiter Pluvius›, der ‹hoffentlich ein Einsehen haben wird›, oder ‹Limmatathen›, oder gar ‹Luzern die Leuchtestadt›. Hochgeehrter Leser, wollen wir miteinander einen feierlichen Schwur leisten, daß keiner von uns beiden sich jemals des Wortes ‹Leuchtestadt› schuldig mache.

Zu warnen bleibt endlich vor zwecklosen, um der Sonorität oder Bequemlichkeit wegen gebrauchten Fremdwörtern.

Und namentlich vor Fremdgedanken, den Zitaten. Ich sage wie der Zahnarzt von den Zähnen: Der schlechteste eigne Gedanke ist besser als der beste fremde. Ich wenigstens habe mir zum Gesetz gemacht, niemals zu zitieren. Und habe mich wohl und gesund dabei befunden.

Also, ich fasse zusammen: Keine Schnörkel, keine graziösen Gebärden, keine poetischen Blümchen, keine Schnödigkeiten, kein Bilderschmuck, keine geistreichen Witzchen, keine Zitate, keine ausgetretenen Geleise, keine landläufigen Redensarten, keine heimeligen oder patriotischen oder pompösen Akzentuationen und vor allem, bleiben Sie standhaft, niemals ‹Leuchtestadt›!

 

Kunst und Patriotismus

Unbelehrt hat jedes Volk die Neigung, die Kunst in den Dienst des Patriotismus oder Nationalismus einzuladen oder zu nötigen, also von den Künstlern patriotische Stoffe zu verlangen, und zwar selbstverständlich in einer Behandlung, welche einer Verherrlichung der nationalen Eigentümlichkeit gleichkommt. Diese Forderung tritt überall auf, und selbst, wo man sie längst überwunden glaubt, zeigt sie sich ab und zu von neuem, wie zum Beispiel gegenwärtig in Deutschland. In unsrer Schweiz, wo das Verständnis für Kunst und Poesie noch jung ist, hat sie länger und stärker gewaltet als anderswo. Es ist noch nicht lange her, daß unsere Maler meinten, mit Sempacherschlachten, mit Tellen und so weiter ihre vaterländische Gesinnung betätigen zu müssen, und wer von ihnen die Muskeln der Schweizer Helden zu den größten Würsten zu spannen vermochte, war der beliebteste. Im Schweizer Drama wimmelt es noch heute von Waldmännern und Karlen den Kühnen. Bloß die Musik hält sich unabhängig, aber doch auch nicht gänzlich. Hat man doch neulich wahrhaftig den Versuch anstiften wollen, Nationallieder, Kuhreigen und Jodler in die Kammermusik einzuführen!

 

Salomon Geßner

Warum es einem Geßner so über die Maßen antut? Nun, wir verehren ihn nicht bloß um dessen willen, was er ist, sondern auch um dessen, was er bedeutet. Er wirkt wie ein Symbol auf uns; freilich legen wir das Symbol anders aus als die Zeitgenossen, welche in Geßner hauptsächlich einen Propheten der Natur und der einfachen tugendhaften Sitte erblickten, oder als die nachfolgenden Generationen, welche Geßner als einen zwiespältigen Dilettanten in den Papierkorb werfen; wir betrachten Geßner – und hiebei werden wir durch die scharfsinnigen Betrachtungen Wölfflins über den Geßnerschen Literarstil bestärkt – als Symbol einer besonderen traulichen heimatlichen Kunst von eigentümlich inniger Beschaffenheit. Geßner war vor allem ein geborener Maler, das ist der Schlüssel seines ganzen Wesens; die technische Ausbildung kam leider zu spät, um das echte Talent vom reinsten kostbarsten Golde zur Geltung zu bringen; in den Figuren blieb Geßner ein Dilettant, in der Landschaft ein Fragment oder, wenn man lieber will, ein fehlerhafter, mangelhafter und namentlich zaghafter Meister. Aber was für ein Fragment! Und wie tut es uns dieser verkümmerte Meister in seiner geschrumpften Gestalt noch an! Geßner, von Jugend auf einer richtigen Malerschule anvertraut, würde einer der größten Landschaftsdichter geworden sein, neben dem göttlichen Claude und dem titanischen Ruisdael; jetzt trägt er in der Kunstgeschichte das bescheidene Gewand eines Dieners; allein dieser Diener schiebt ein Zipfelchen Vorhang zurück, hinter welchem ein Paradies leuchtet; solche liebe heimelige Himmelswinkelchen in Hain und Wald und Garten hat kein anderer entdeckt. Es ist ein Mikrokosmos, ja; aber alle Kunst hat es einzig mit dem Mikrokosmos zu tun; der andere, der große Kosmos gehört der Religion, der Philosophie und der Wissenschaft. Zu all dieser landschaftlichen Innigkeit bildet die Geßnersche Poesie bloß eine unvollkommene Übersetzung; kein Wunder, wenn der Übersetzungsstil blasser aussieht als jeder dichterische Originalstil.

 

Gedichte von Heinrich Leuthold

Das erste Gefühl, welches die Lektüre dieser Gedichte in uns erweckt, ist ein unmäßiges Staunen. Ist denn das alles auch möglich, was wir hier vor Augen sehen? Kann man wirklich in dem Grade alle Klippen vermeiden, alle Schwierigkeiten aufheben und alle Gesetze erfüllen? Diesem Dichter gehorcht willig jede Form, und die verwickeltsten Strophen gewinnen durch ihn Leben. Und zwar wird hier nicht mit Rhythmus und Vokalen geklingelt, wie das so oft bei Rückert und Platen vorkommt, wo die edelsten Versmaße zuweilen mit den schlottrigsten prosaischen Gedanken ausgefüllt werden, sondern bei unserem Autor herrscht überall der Inhalt, und der Ausdruck schmiegt sich lächelnd und schmeichelnd zu dessen Füßen. Damit will ich nicht behaupten, daß der Ausdruck stets die gebührende Bescheidenheit bewahre denn man kann jemand zu Füßen liegen und recht anmaßend sein –, und wirklich verliert auch unser Dichter häufig das Maß, so daß man vor all den glänzenden, flimmernden Reimen geblendet zurückweicht; aber man fühlt es dem Autor nach, wie er es unbewußt getan, einzig und allein verführt durch seine allzu große Virtuosität, und darum entschuldigen wir ihn so gerne.

Was fangen wir nun aber mit einem so kritikwidrigen Menschen an? Ist es auch erlaubt, so glatt und rein vor dem Gericht zu erscheinen?

Wir müssen uns, denk ich, wohl oder übel Leuthold gefallen lassen und uns je eher, desto besser an diesen Namen gewöhnen. «Johann! Wie stehts auf dem schweizerischen Parnaß? Sind noch Plätze frei?» «Du lieber Himmel! Der Berg ist zu drei Vierteln leer, und auf den meisten Stühlen liegt fußdicker Staub.» «Nun, so gehe rasch hin, wo die numerierten Plätze sind, und hefte den Namen ‹Leuthold› auf einen Fauteuil der vordersten Reihe!»

Es ist in Form und Inhalt eine zerfahrene Gedichtsammlung, die wir da vor uns haben; von jeder denkbaren Lyrik finden wir ein paar Pröbchen. Der verdienstvolle Gelehrte, der uns mit diesem Autor beschenkt hat, mochte sich noch so sehr bemühen; er konnte nicht geben, was dem Dichter selbst gefehlt hat, nämlich: Einheit und Folge. Denn diese eine Tatsache können wir leider nicht umstoßen: Leuthold ist ein Fragment, und all sein Dichten war Stückwerk. Ihn hat das größte Unglück getroffen, welches einem strebenden Menschen widerfahren kann, das Unglück, viel zu bedeuten, aber wenig zu leisten. Was Leuthold vermocht hätte, das ist Großes; was er uns hinterlassen hat, das sind Scherben, die nach seinem Tode mußten zusammengesucht werden. Und auch das dürfen wir nicht verschweigen, daß Leuthold selbst in der Lyrik nicht mit Melodikern ersten Ranges kann verglichen werden; denn wenn er im allgemeinen über dem Durchschnitt eines Platen und Rückert steht, wie ich bestimmt glaube, so reicht er doch anderseits nicht an deren Meisterstücke heran; es fehlt eben auch den schönsten seiner Gedichte dieses kleine unsichtbare und ungreifbare Etwas, welches eine Produktion in die Ewigkeit hinüberrettet. Schwerlich wird eines seiner Lieder in den Volksmund kommen, und seine künstlichen Maße erfreuen zwar den Gebildeten, aber vermögen nicht, dessen Phantasie zu dominieren. Bleibenden Wert werden die Leutholdschen Miniaturen, trotz all dem echten Gefühl, das sie enthalten, nur insoweit besitzen, als sie andern Autoren zum Muster und zum beschämenden, strafenden Beispiel dafür dienen können, wie man Sprache, Rhythmus, Metrum und Reim in Freundschaft gewinne.

Auf welche Weise bin ich jedoch so unversehens in den Tadel hineingekommen? Ich habe den Mann nach leutholdschem Maße gemessen.

Vor den einzelnen Gedichten schweigt hingegen aller Tadel. Da strömt uns der reinliche, duftige Hauch der Vollendung aus jeder Seite entgegen; sogar die aberwitzige, pedantische Ghasele ist hier durch Kunst, durch Geist und vor allem durch feinen Geschmack zu einem anmutigen Mädchen geworden. Ich stehe nicht an, Leuthold für den geschicktesten Ghaselendichter zu erklären.

Die zweite Auflage hat dem Buche neben vielen Übertragungen aus verschiedenen Literaturen auch ein kleines Epos «Penthesileia» mitgegeben, wofür wir Herrn Bächtold mehr Dank zollen, als er in Anspruch genommen. Denn mag auch das artige Geschöpf kein episches Hütchen tragen, so gefällt es uns doch. Die Phantasie verweilt nicht ungerne bei den zwölf sittsamen, mutigen und schönen Amazonen, und das Versmaß galoppiert gar munter mit den Damen in den Reihen der Achäer herum. Es ist eine wahre Lust, mitanzusehen, wie Penthesileia auf dem Schlachtfelde ventre à terre herumkutschiert und links und rechts Köpfe und Arme wie Mohnblumen heruntersäbelt. Selbst eine kleine Reminiszenz aus dem Zirkus verdrießt mich nicht, da uns die Königin geschildert wird, wie sie Stehends vier Pferde gleichzeitig reitet und den emporgeschleuderten Speer im vollen Laufe wieder auffängt. Ob sie wohl auch die Sohlen mit Kreide bestrichen hat? Wir brauchen uns bloß noch Thersites mit einem roten Tuch und einem Papierreif hinzuzudenken, und die Szene ist fertig. Schade, daß ein so großes Talent in Kleinasien verkümmern mußte! Penthesileia würde in Paris und London Aufsehen gemacht haben.

Übrigens ist das Gedicht überreich an tausend graziösen Einzelheiten, und die Verse fließen so süß wie Honig.

Von der Rhapsodie «Hannibal» würden wir eine Zugabe auch schon angenommen haben: das wenige, was wir davon lesen, schmeckt nach mehr. Gleich der Anfang ist einschmeichelnd:

Um den Garganus streichen
Die Adler beuteschwer.
Noch treiben Römerleichen
Im Aufidus zum Meer.

Raubtier und Geier lauern
Am Strand des trägen Stroms,
Und Jammer füllt und Trauern
            Die Mauern
Und alle Straßen Roms.

Einige andere Beispiele Leutholdscher Lyrik:

Aus «Penthesileia»:

Jetzt stürzt, wie ein Dämon, voll Rachegefühl
Sich Penthesileia ins Vordergewühl
            Unbändig  ... und rächt
Die Freundinnen zehnfach im Männergefecht.

Nicht wahr, das galoppiert?

 

Folgen: ein Spruch, eine Ghasele, «Von der Riviera» und der Anfang der «Entsagung».

 

Gottfried Keller

Rede zum hundertsten Geburtstag

Während in diesen Wochen das gesamte Schweizervolk einmütig den Namen Gottfried Keller preist, denkt derjenige, der es erlebt hat, an die Zeit zurück, wo es anders lautete. Als ich im Jahre 1865 als Student nach Zürich zog, stritten sich meine Mitstudenten darüber, welcher von den beiden der wahre Keller wäre, der Augustin oder der Gottfried. Auch Professor Biedermann, als er im Kolleg beiläufig von Keller sprach, mußte einer Verwechslung vorbeugen: «Nicht der Augustin, sondern der Staatsschreiber.» Ähnlich wie ein paar Jahre später in Basel mit dem Namen Meyer: «Nicht der Meyer-Merian, ein anderer Meyer, ein Zürcher.» Kurz, ich erfuhr in Zürich, daß es dort einen kleinen Staatsbeamten namens Keller gebe, der sich nebenbei auch mit Poesie beschäftige. Auch hieß es, ein Pfarrerkollegium hätte sich entrüstet gewehrt, von einem ‹solchen Menschen› ein Bettagsmandat anzunehmen. Der ‹solche Mensch› war Gottfried Keller.

Und doch war damals der «Grüne Heinrich» schon seit Jahrzehnten im Buchhandel!

Heute fragt man sich erstaunt: Wie war es menschenmöglich, daß ein Buch wie der «Grüne Heinrich», dem die Poesie aus allen Poren leuchtet, Jahrzehnte lang verschollen bleiben konnte? Das mußte doch sogar ein Blinder sehen. Ja, wenn der Augenarzt dem Blinden eine schwarze Brille vorschreibt und barmherzige Schwestern ihm den Kopf mit Binden umwickeln, dann sieht es sogar ein Blinder nicht.

Vergegenwärtigen wir uns doch einmal den Lebenslauf eines Buches wie «Der Grüne Heinrich». Das tritt ja nicht mit Posaunen in die Welt, sondern erscheint ganz still und leise bei irgendeinem Verleger, meistens bei einem Verleger zweiten oder dritten Ranges. Gleichzeitig aber erscheinen Tausende von andern Büchern; je gebildeter ein Zeitalter ist, um so mehr Tausende. Von diesen machen dann einzelne einen gewaltigen Lärm. Wenn ein Gutzkow, ein Auerbach, oder ein Hamerling, ein Scheffel, ein Ebers ein neues Werk veröffentlicht, so ist jedesmal die gesamte Literatur des Jubels über das herrliche Ereignis voll. Man hört und sieht nur das. Und das nächste Jahr geht es wieder so.

Wenn aber nur zwei Jahre vorüber sind, ohne daß ein Buch beachtet wurde, dann ist es für die Mitwelt überhaupt nicht mehr vorhanden. Erst die Zukunft kann es wieder entdecken. Denn den Zeitungen legt ja der Verleger die Aufgaben aufs Pult. Die Zeitungen besprechen jeweilen nur das, was frisch herauskommt. Es ist ausgeschlossen, daß der literarische Teil einer Zeitung von sich aus ein Wort über Schiller sage. Wenn aber einem Verleger eine neue Ausgabe von Schiller beliebt, dann ist augenblicklich von Schiller die Rede. Auf unser Beispiel angewandt: Blieb Keller anfänglich unbeachtet, so kann er hinfort gar nicht mehr beachtet werden.

Es legt sich also Jahr für Jahr eine neue Decke auf das stille schöne Buch, bis es haustief begraben liegt. Ein Wunder, wenn es endlich trotzdem ans Tageslicht kommt. Wie wird das Wunder möglich? Keller meinte: «Ein gutes Buch frißt sich schließlich durch.» Also so etwas wie ein kleines tapferes Würmchen, das sich seinen Weg durch die Rinde bohrt. Eigentlich bohrt ja das Würmchen nicht, das Buch bleibt nach wie vor still liegen, aber der Schutt, worunter es begraben liegt, verfault. Er verfault sicher, aber es kann lange verziehen. Jacob Burckhardt pries es als beneidenswertes Glück der Griechen, daß bei ihnen, wie er sich ausdrückte, «die Mittelmäßigkeit rasch krepierte». Bei uns ‹krepiert› sie nicht rasch. Das Verfaulen der gesamten Schuttdecke braucht durchschnittlich fünfundzwanzig Jahre.

Damit aber, daß ein Werk endlich offen zutage liegt, ist es noch lange nicht getan. Erst muß noch erlaubt werden, es zu sehen. Es gibt eine ästhetische Dogmatik und gibt literarische Päpste. Glücklicherweise wechseln die Päpste, und die Dogmatik predigt auf einer Drehscheibe. Durch den Wechsel und die Drehungen wird zwar die Lage nicht besser, aber sie wird anders. Die Änderung aber kann bewirken, daß auf ein Buch, das bisher im Schatten lag, jetzt das Licht fällt. Damit Kellers Wert erkannt wurde, war nötig, daß die Versdichtung in Verruf geriet und an ihrer Statt Roman und Novelle auf dem Thron gehoben wurde, daß man den poetischen Wert des Humors einsehen lernte, daß zwei der berühmtesten und gelesensten Novellisten öffentlich in vornehmer Bescheidenheit sich vor Keller verbeugten, daß ein literarischer Papst jahraus, jahrein den Studenten, also den künftigen Literaturdozenten, Keller eintrichterte, daß ein allmächtiger Verleger und eine übermächtige Zeitschrift sich seiner annahmen. Dann geht es.

Wie, wann und durch wen Keller schließlich zum Ruhm gelangte, wissen Sie alle. Aber nicht unterlassen wollen wir, hervorzuheben, daß Kellers Ruhm aus Berlin kam. Mit dem Ruhm die Unabhängigkeit und die Ermöglichung und Ermutigung zu neuem Schaffen. Es gibt Werke Kellers, die wir ohne die Anregung aus Berlin überhaupt nicht hätten. Daß dann die Anerkennung sofort wieder in Ausschließlichkeit ausartete, indem man fortan keinen als Dichter anerkannte, der nicht Novellen mit Erdgeschmack schrieb, versteht sich von selbst. Das soll uns unsere Dankbarkeit nicht vergällen. Das war eine schöne Zeit, als uns Jahr um Jahr die «Deutsche Rundschau» neue Werke von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer schenkte. Nie war das Verhältnis zwischen Deutschland und der deutschen Schweiz herzlicher, nie die Verbindung inniger.

Sie erwarten schwerlich von mir Auslassungen über Gottfried Kellers Werke. Wo nähme ich schon die Zeit dazu her? Anderseits wieder darf nicht ein Dichter über den Dichter gänzlich schweigen. Wollen Sie mir den Ausweg gestatten, Ihnen einige der Eigenschaften zu nennen, die nach meinem Dafürhalten den Dichter Gottfried Keller kennzeichnen?

Da ist vor allem die Bescheidenheit, die Grundbedingung der Echtheit. Je echter einer ist, desto demütiger fühlt er vor dem Antlitz der Kunst. Genieware ist Schundware. Bei den ganz Großen wirkt der Gegensatz ihrer gewaltigen Größe und ihrer tiefen Demut auf uns ergreifend. Für Kellers Bescheidenheit eine Probe: Mit zorniger Verachtung sprach er von den ‹Kingsmakern›, die ihn zu einem Dichterfürsten aufblasen wollten. Von seinem Besucher setzte er nie voraus, daß er ein Buch von ihm gelesen hätte. Konnte er eine Erwähnung nicht umgehen, so sagte er: «Ich habe auch einmal etwas über dieses Thema geschrieben», und nannte den Titel einer seiner berühmtesten Novellen.

Dann die Wahrhaftigkeit. Kein Satz, der nicht genau dem Gedanken folgte. Kein überflüssiges Ton- oder Schmuckwort. Seiner Wahrhaftigkeit verdankt es Keller, daß es gänzlich Unbedeutendes bei ihm nirgends gibt, daß jede Zeile von ihm lesbar ist. Wegen der Wahrhaftigkeit jedes Satzes macht sein Vaterlandslied einen so tiefen Eindruck.

Dann die Gewissenhaftigkeit. Keller will ehrlich lernen. Er bemüht sich. Er quält sich sogar mit dem Sonett. Fehlen kann er, pfuschen nie.

Dann das Malerauge. Nach meinem Urteil gar nicht hoch genug anzuschlagen. Es kommt ja nicht darauf an, ob man seinen malerischen Erzeugnissen einen höhern oder geringem Kunstwert beimesse. Entscheidend ist, daß er seine Seele gewöhnt hatte, das Weltbild auf seine optischen Eigenschaften hin anzuschauen. Sein Sonnenschein ist nicht äußerlicher Glanz und Glast, er hat ihn erschaut und erlebt. Er weiß auch den Sonnenstrahl in einem geschlossenen Raum zu beherzigen. Licht und Farbe durchtränken seine Figuren und Szenen. Auch Kellers Realismus und Optimismus quillt aus dem Auge.

Dann die Sprache. Die Sprache eines Dichters ist keine grammatische Angelegenheit. Auch nicht ein Anleihen aus der Volksbank. Der Dichter bezieht seine Sprache von innen. So sehr, daß ein bedeutender Mensch, ob er will oder nicht will, auch eine bedeutende Sprache spricht. Bei Keller ist die Fähigkeit, für alles und jedes augenblicklich den einzig richtigen Ausdruck zu finden, bewunderungswert und beneidenswert. Ein Wort, und es sitzt, ein Bild, und es steht.

Dann der Humor. Der echte, der poetische Humor ist ein würziges Blümlein, das in Ruinen wächst. Er setzt eine Enttäuschung oder Entsagung oder einen Verzicht voraus. Im Leben ist der Humor eine typische Alterserscheinung. In der Jugend pathetisch, im Alter humoristisch, ist normal. So Böcklin. In der Literatur entsteht Humor, wenn eine mit poetischer Innigkeit gefüllte Seele sich eines realistischen Stoffes und der prosaischen Rede bedient. Die Humoristen schreiben Prosa: Don Quichotte, Jean Paul, Keller, Raabe. Humor ist die Poesie der Prosa. Prosa aber bedeutet einen Verzicht. Bei Keller tritt der Humor besonders stark in Tätigkeit, weil bei ihm der Gegensatz zwischen poetischer Seele und realistischem Vorwurf extrem ist. Den Gegensatz aber bedarf der Humorist. Je unwürdiger, objektiv gemessen, seine Figuren aussehen, desto ergiebiger für ihn.

Endlich die Unabhängigkeit, Weitherzigkeit und Treffsicherheit des Urteils. Seine Unabhängigkeit stammt nicht aus Widerspruchsgeist, sondern aus Wahrhaftigkeit. Seine Weitherzigkeit grenzt ans Fabelhafte. Keller weiß seine Antipoden zu würdigen. Der realistische Novellenschreiber befürwortet die Klassiker der französischen rhetorischen Tragödie, vermag einen mythologischen Dichter zu schätzen, beglückwünscht Widmann dazu, daß dieser die Marlitt verteidigte.

Die Treffsicherheit seines Urteils ist unheimlich. Ich weiß ein Wort davon zu erzählen. Von den Personen eines meiner Bücher – «Extramundana» – urteilte er, sie wären Nürnberger Puppenfiguren. Ich fand den Vergleich reizend, das Urteil richtig und besserte mich.

Das Glück hat dann erlaubt, daß Keller nach vielen Fehlversuchen durch weise Selbstbeschränkung dasjenige Kunststüblein entdeckte, in welchem er alle seine Fähigkeiten meisterhaft betätigen konnte. Seine erzählende Prosa ist trotz manchen Schnurren wohl das Höchste, was jemals auf diesem Gebiete in deutscher Sprache geschrieben worden ist. Sie gehört der Weltliteratur an. Und uns erscheint sie als unsterblich. Ich bin geneigt, Fritz Mauthner Recht zu geben, der die Kellersche Prosa noch über die Prosa der Goetheschen Romane stellte. Ein eigentümlicher Spruch Jacob Burckhardts über «Romeo und Julia»: «Weinend schön.»

Und jetzt in diesen Jubiläumstagen strahlen ja die Vorzüge Kellers übers ganze Land in bengalischer Beleuchtung mit verstärktem Nationalorchester.

Die Beteiligung eines ganzen Volkes an einer Dichterfeier hat etwas Erhebendes. Es ist rührend, daß Deutschland heute in seinem Unglück unserm Dichter nach dreißig Jahren nicht minder huldigt als einst im Glück, wenn auch weniger geräuschvoll. Es ist vornehm, daß die französische Schweiz die Feier eines solchen deutschschweizerischen Dichters, der besonders ausgesprochen germanisch fühlte, mit großherziger Sympathie begleitete.

Trotzdem kann ich bei diesem Anlaß eine ernste Warnung nicht unterdrücken. Obschon ich weiß, daß ich mich von Seiten solcher, die nur kleinliche Motive begreifen, der Unterschiebung solcher aussetze. Nicht zwar mit meinen Geschmackseinwendungen gegen Datumepidemien und Kalenderorgien will ich Sie behelligen – Einwendungen, die mir das Schweigen empfahlen: wäre nicht der in jedem Sinne des Wortes berufene Redner plötzlich erkrankt, so daß ich eilends in die Lücke springen mußte, ich spräche nicht vor Ihnen. Es handelt sich um Wichtigeres, um eine Gefahr. Die Gefahr heißt:

Wenn es in der Schweiz dahin kommen sollte, daß wir unsern Keller vergötzen wie Deutschland seinen Goethe vergötzt, dann ist es mit der schweizerischen Poesie zu Ende. Wir werden nie mehr einen großen Dichter erhalten.

Dieser Spruch wird Sie befremden. Sie wünschen eine Erklärung, verlangen eine Begründung.

Ich will versuchen, Ihnen einige Fingerzeige zu geben, muß aber vorausschicken, daß man Warnungen nicht mit Beweisen stützt, sondern mit seiner aus der Erfahrung oder Beobachtung bezogenen Überzeugung; daß die logische Begründung eines solchen Themas kopfbrecherische Denkoperationen erfordern würde, denen ich nicht gewachsen bin, ja, welche vielleicht überhaupt unmöglich sind; daß die Wahrheit eines Satzes nicht davon abhängig ist, ob einer den Satz geschickt oder ungeschickt entwickelt; daß Wahrheiten, wenn man sie klar formulieren will und kurz aussprechen muß, paradox und schroff lauten, folglich zu kinderleichten Einwendungen einladen, mit welchen, wer da mag, stolzieren kann. Dies vorausgeschickt, fange ich an.

Was meine ich unter ‹Vergötzung› eines Dichters? Nicht etwa die übertriebene Wertschätzung. Die Wertschätzung eines echten poetischen Wertes kann gar nicht übertrieben werden. Auch nicht die einseitige Wertschätzung. Es mag einer sein Leben lang sich in einen einzigen Meister der Kunst oder Poesie versenken, das bringt keinen Schaden, nur Gewinn. Vergötzung ist die Erhebung eines Dichters in absolute Höhe, so daß er und die Poesie in der Vorstellung sich decken, daß man sich außerhalb dieses Einzigen nichts Großes mehr denken kann, daß man aus ihm den Maßstab des Urteils bezieht, nichts schätzend, was nicht ihm gleicht, nichts duldend, was anders aussieht. Der Gipfel der Vergötzung ist die Vorausentwertung der Zukunft. Wenn wir einen Dichter zum Größten ausrufen, der da ist, der da war, der da sein wird, so haben wir die Vergötzung in ihrer schönsten Blüte. Diesem Ideal ist man in Deutschland schon bedenklich nahe gekommen. Einem Fritz Mauthner zum Beispiel genügt es nicht mehr, Goethe für den größten aller Dichter der ganzen Weltgeschichte zu erklären. Er möchte, daß man von Goethe schlechthin sage: « Der Dichter.»

Symptome beginnender Vergötzung sind: die Abdankung der Kritik vor dem Einzigen und ihre empörte Ahndung als Majestätsverbrechen, mit der Verdächtigung der Gesinnung eines jeden, der einen Zweifel, eine Aussetzung, einen Dämpfer wagt; die Hintansetzung der Wahrheit hinter die Verherrlichung des Favoriten; der Wetteifer im Rühmen, Schmeicheln und Höfeln um den Einen; das Hinzulügeln von schönen Eigenschaften, die jener nicht hatte; die Parteilichkeit, die in Streitfällen dem Genie gegen den Zivilisten zum vornherein recht gibt. Und so weiter.

Die Vergötzung aber erzeugt Unglauben, Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit bei den nachgeborenen Talenten. Denn, wenn einer der Größte ist, der da ist, der da war und der da sein wird, so sind ja zum voraus sämtliche künftigen Dichter zu Unteroffizieren degradiert. Auch vergiftet das Höfeln und Lügeln die gesamte Atmosphäre. In solcher Luft gedeiht nichts Rechtes mehr.

Nun gibt es große Menschenklassen, die dem Vergötzungsprozeß Vorschub leisten, weil er ihnen dient. Da sind die Unzähligen, welche Poesie nur genießen, weil sie Schanden halber müssen; die sind gottefroh, wenn die Mahlzeit mit einem einzigen Gang vorüber ist, wenn sie nur einen einzigen Kelch zu trinken brauchen. Dann die Monarchisten, die durchaus einen Dichterfürsten haben müssen. Zwei nebeneinander zu schätzen, eine solche Gewaltleistung geht über menschliche Kraft. Das hätte sogar Herkules nicht vermocht. Endlich Martha, die fleißige, ewig geschäftige Schwester der Poesie. (Martha ist der Vorname der Literaturwissenschaft.) Sie meint es herzlich gut mit der Schwester, und was die im Jahre alles zusammenschafft, ist staunenswert. Nur leidet sie an einem angeborenen Gebrechen: Sie hat die Augen hinten im Kopf. Mit denen sie dann in rührender Anhänglichkeit nach ihren verstorbenen Lieblingen ausschaut, vor allem nach Ihm, dem Herrlichsten von allen, dem Einzigen. Vorn ist sie blind. Neue Bekanntschaften kann Martha nicht leiden, die stören sie in ihren Küchengeschäften. Darum schließt sie die Haustür. Erblickt sie durchs Küchenfensterlein auf der Straße einen Fremden, so mault sie. Klopft er an die Tür, so belfert sie und will nicht aufmachen. So ist Martha, die Treue, die Fleißige.

Umgekehrt hat es die Poesie mit den Dingen zu tun, die noch nicht da sind, mit den Möglichkeiten. Der Dichter glaubt mit ganzer Seele an die Möglichkeiten, weil er sie ahnend schaut. Und aus den geglaubten Möglichkeiten schafft er.

Seine Erfahrung lehrt ihn aber auch, daß alles, was er in seinem kurzen Menschenleben schafft, und hieße er Homer oder Shakespeare, nur ein winziges Teilstücklein aus dem unendlichen Reich der Möglichkeiten bedeutet. Darum hofft er und wünscht er ebenbürtige Nachfolger.

«Schon sehe ich neue Sonnenadler fliegen», jauchzte Goethes freudige Hoffnung. Martha sieht keine neuen Sonnenadler fliegen, höchstens Aaskäfer um die Grabdenkmäler.

Ich glaube, jetzt habe ich mich Ihnen verständlich gemacht. Ich wiederhole, zusammenfassend: Die Vergötzung eines bestimmten Dichters gebärt Unglauben, Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit. Mit einem Wort: den Tod.

Beiläufig nach dem Warnefinger ein Fragefinger. Tut man wirklich gut, hat man das Recht, dem Volke die Werke von Gotthelf und Keller aufnötigen zu wollen, wie einem blassen Kinde den Lebertran? Mich dünkt, man versieht sich in der Medizin. Das Volk bedarf keineswegs, in der Poesie vom Volke zu hören. Im Gegenteil, es bedarf das Hinaus und Hinauf. Warum geht es denn am Sonntag in die Kirche? Etwa um vom Volke zu hören? Nein! Um Erhebung zu gewinnen. Nun, die Erhebung, die es in der Kirche sucht, sucht es auch in der Poesie. Das Herz des Volkes lechzt nach Idealpoesie.

(Ich bitte, mich gefälligst nicht mißverstehen zu wollen. Ich beabsichtige nicht, einen Kanal nach meiner Mühle zu graben. Daß die nicht fürs Volk mahlt, ist mir bewußt.)

Wie steht es mit dem Lernen an Gottfried Keller?

Ja, was heißt in der Poesie ‹lernen›? Nicht nachmachen, das gibt bloß lebenslängliche Schüler. Sondern sich an einem bewunderten Meister emporschämen.

Das hat Widmann mit Keller getan und ist damit über sich selbst hinausgewachsen. Aus Schamgefühl vor Keller hat sich der gesamte Prosastil der schweizerischen Schriftsteller um eine Stufe gehoben. Man schreibt seither durchschnittlich besser als vorher.

In der Lyrik wirkt Keller hauptsächlich hygienisch. Als Magenbitter nach den Zuckerschleckereien. Bei diesem Anlaß möchte ich, dem hundertjährigen Kalender zum Trotz, daran erinnern, daß wir noch einen zweiten hochragenden Schweizer Lyriker besitzen, einen, der dem Lyriker Keller mindestens ebenwüchsig ist, dessen Lyrik durch persönliches Pathos uns ergreift und durch Meisterschaft uns zur Bewunderung nötigt: Conrad Ferdinand Meyer. Aber weder der eine noch der andere singt. Es ist also noch Platz da. Überhaupt ist immer Platz da.

 

Es läßt sich nicht umgehen, bei einem Schriftsteller, der mit politischer Lyrik begann und mit einem politischen Roman schloß, der sich die Weltregierung eingestandenermaßen als eine Republik vorstellte, auch vom Politiker zu reden. In diesen Tagen sind ja auch die politischen Eigenschaften Kellers sehr stark, auffallend stark betont worden.

Warum wohl so stark?

Weil den Adamssöhnen die Politik wichtig ist, die Poesie entbehrlich. Aristoteles hat klipp und klar gesagt: «Der Mensch ist ein politisches Tier.» Er hat sich gehütet, zu sagen: «Der Mensch ist ein poetisches Tier.»

Auch fühlt man sich ja an einem Jubiläum ein wenig wie auf einer patriotischen Festwiese.

Unter solchen Umständen ist begreiflich, daß sich alles Männliche eifrig um den Politiker Keller bewirbt. Jeder nach seinem Herzen; jeder zu seinem Zweck.

Den Freisinnigen, denen Keller ohne jede Frage gehört, bemühen sich die ‹Genossen› den Rang abzulaufen, indem sie ihn mit dem Konjunktiv angeln: «Wenn er heute lebte, so würde er –.» Die Bürgerschaft ihrerseits verspricht sich von dem Bildnis des Erzbourgeois und Seidwylers Wunder der Erlösung von dem Bösen, so etwas wie die eherne Schlange Mosis, bei dessen Vorzeigen das giftige Gewürm zerwimmelte. Ob es helfen wird? Es wird helfen, wenn wir die Hilfe nicht nötig haben. Haben wir überhaupt Hilfe nötig, dann hilft auch das nicht.

Die Deutschdeutschen wieder benützen ihn, der keine andere Sprache als deutsch konnte, als Agenten für ihre deutsche Propaganda. Und ja nicht zu vergessen: die vielen, die unter ‹Patriotismus› vaterländische Grobheiten verstehen und denen Keller durch sein wüstes Wirtshausmaul menschlich näher rückt.

Sie sehen, an Abnehmern fehlt es dem Politiker Keller nicht.

Was sollen wir nun dazu sagen? Das, daß alle Welt in der Überschrift den Patrioten Keller rühmt und hernach im Text vom Politiker redet. Als wäre beides das nämliche. Es ist aber nicht das nämliche.

Patriotismus (Vaterlandsliebe) ist eine natürliche, selbstverständliche Eigenschaft jedes normalen Menschen. Das offenbart sich in der Gefahr, wo alle ohne Ausnahme patriotisch fühlen. Wenn daher Patriotismus eine Tugend ist – ich möchte ihn eher eine Tüchtigkeit, eine Gesundheit nennen so teilt man diese Tugend mit Hunderttausenden, ja Millionen. Man braucht also kein besonderes Aufheben davon zu machen.

Die Äußerungen des Patriotismus sind unabsehbar mannigfach. Die üblichste, alltägliche und in Friedenszeiten die wichtigste ist allerdings die Politik. Also die eifrige Anteilnahme an den öffentlichen Geschäften und Aufgaben und das Schimpfen auf den Kandidaten der Gegenpartei.

Andere Äußerungen sind: die begeisterten Kundgebungen. Also die Verbrüderungen, Reden, Toaste, Gesänge und ähnliches; überhaupt Feste und Vereine. Auch die Naturbegeisterung beim Anblick der Alpen zählt bei uns ein wenig zum Patriotismus. Der Jura gilt nicht.

Leider gibt es auch ein patriotisches Getränk, den Alkohol. Süße Getränke sind unpatriotisch. Keller knurrte, wenn einer Schokolade trank statt Wein.

Keller nun hatte den besondern politischen Patriotismus der vierziger Jahre, damals, als die Politik – natürlich nur die revolutionäre – an sich, unter dem Namen ‹Freiheit›, schon als Ideal wirkte, folglich eine Begeisterung weckte, von welcher wir uns heute kaum eine Vorstellung machen, damals, als man sich von Verfassungsänderungen die Goldene Zeit versprach.

Jenem Patriotismus, besser gesagt: idealen Politizismus der vierziger Jahre, schulden wir, obschon wir ihn weder zurückrufen können noch zurückrufen wollen – Naivität läßt sich nicht aufwärmen –, ein pietätvolles Andenken. Denn er war das Ideal unserer Väter, die in den Kirchhöfen begraben liegen. Ihm verdanken wir Kellers Vaterlandslied, ihm den einheitlichen Schweizerbund.

Der Patriotismus braucht übrigens nicht notwendig sich irgendwie zu äußern. Er kann auch latent bleiben. Deswegen ist er dem rührigen und begeisterten nicht minderwertig. Oder halten Sie etwa Wilhelm Tell und Niklaus von der Flüe für mindere Patrioten? Nun, das waren keine Politiker, keine begeisterten Redner, sondern stille Menschen. Aber als das Vaterland einen Mann und eine Tat brauchte, waren sie da.

Gewisse Berufe fordern nun geradezu, daß der Patriotismus latent bleibe. Dazu gehören die Dichter und Künstler. Ihnen politische Teilnahme oder Kundgebungen zur Pflicht machen zu wollen, wäre erstens eine ungerechte, zweitens eine törichte Zumutung.

Eine ungerechte, weil Kunst und Poesie den ganzen Menschen beanspruchen; eine törichte, weil dem Vaterland mehr damit gedient ist, unsterbliche Werke zu erhalten, die ihm zum Ruhm und zum Stolz gereichen, als zu den Tausenden von tüchtigen Politikern noch einen dazu.

Nun höre ich Sie mir zurufen: «Das eben ist ja das Schöne, das Herrliche, das Erhebende, das Einzige an Gottfried Keller, daß er ausnahmsweise beides, die Poesie und die Politik, in seiner Person zu vereinigen wußte!»

Gemach! Wieso ist ihm das gelungen? Deshalb:

Weil bei ihm die poetische Quelle nicht konstant flutete.

Weil ihn keine herrisch zwingenden Inspirationen heimsuchten.

Weil er keine großangelegten Werke unternahm, welche Willen und Energie erfordern.

Ein Schiller, ein Beethoven und viele andere der Großen, Größten und Allergrößten sind Gegenbeispiele. Wir dürfen mithin Kellers Doppelspurigkeit nicht einfach als reinen Gewinn buchen. Vollends sie als Vorbild zur Nachahmung anzupreisen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.

Das allerdings gebe ich Ihnen zu: Mannhaftigkeit kann nirgends schaden. Und Charakter muß sein. Wenn wir in den literarischen Spitälern nachfragen, wo der oder jener der vielversprechenden Talente hingekommen sind, so lautet die Diagnose: Nicht Talentschwund, sondern Konstitutionsschwäche. Charäkterchen, statt Charaktere.

 

Wir werden also in Zürich ein ‹Kellerhaus› erhalten.

Segen auf das Kellerhaus! Ich habe ja selber den Aufruf unterschrieben. Allein es gibt eine Stätte, welche für die schweizerische Poesie noch unendlich viel wichtiger ist als der schönste Kellerpalast: ein immergrünes Wäldchen, wo es geistert, wo die Ahnungen schweben, wo die Bäume singen, wo die Quellen ewigleuchtende Bilder sprudeln.

Sie fragen mich, wo das Zauberwäldchen zu finden sei?

Machen Sie die Augen zu und das Herz auf, so werden Sie es schauen!

 

Die Eigenart Conrad Ferdinand Meyers

Da es in neuester Zeit allmählich Sitte wird, Keller und Meyer gegeneinander auszuspielen, wie ehedem Goethe und Schiller, eine Sitte, welche bei einem dilettantischen Leser entschuldbar ist, nicht aber bei der öffentlichen Kritik, so sehe ich mich veranlaßt, ausdrücklich voranzuschicken, daß die folgende Charakteristik Meyers nicht im entferntesten der Bewunderung Kellers Abbruch tun will. Ich begreife, wenn ich mich vor jemand hochachtungsvoll verneige, die Notwendigkeit nicht, seinem Nachbar heimtückisch eine Schnödigkeit zu versetzen; denn der Weg zur Anerkennung eines Talentes wird nicht mit Ellenbogenstößen und Fußtritten frei, und große Schriftsteller sitzen nicht in einer Waage, wo jede Erhöhung des einen die Erniedrigung des andern bedingte; vielmehr ruhen sie auf dem sichern, unerschütterlichen Grund ihrer Verdienste, aller Welt zum Gewinn und dem Kollegen zur ganz besondern Freude. Nachdem ich mich dergestalt verständigt, überlasse ich mich rückhaltlos meiner Aufgabe, einen großen Meister der Erzählung – nicht zu loben, denn dazu schätze ich ihn zu hoch, sondern zu verstehen und denselben dem Leser nahezulegen.

Das Auffallendste an Meyers Kompositionsstil ist die beispiellose Bewußtheit des Schaffens. Da ist kein Motiv, das nicht seinen bestimmten, genauen Zweck hätte, sei es nun ein Zweck der psychologischen Erklärung oder des Wahrscheinlichkeitsbeweises für den Verstand oder des malenden Reizes oder des historischen Kostüms oder was für einer sonst; immer ist ein Zweck nachzuweisen, und jede Einzelheit bedeutet mehr als sie selbst, nämlich zugleich ein Mittel. Daß nun jenseits dieser Motivierung überhaupt gar nichts vom Autor geduldet wird, das gibt seinen Werken einen dramatischen Charakter; daß trotz dieser Bewußtheit einerseits und dieser Knappheit anderseits die betreffenden Novellen dennoch reich und farbig und imposant erscheinen und weder die poetische Dürftigkeit noch die Phantasielosigkeit eines Schuldramas bekunden, das scheint rätselhaft. Versuchen wir das Rätsel zu lösen.

Das Unbewußte gilt in der neuesten Poetik für das spezifisch Poetische. Hartmann selbst hat schon sein Allerweltsprinzip mit großem Glück auf Kunst und Poesie übertragen, und die hervorragendsten Denker sind ihm darin nachgefolgt, unter anderen Brandes und Hillebrand. Die Methode Meyers scheint nun diesem Grundsatz schnurstracks entgegenzuarbeiten; und in der Tat fehlt es an Kritikern nicht, welche sich durch ihre ästhetische Dogmatik verleiten lassen, die verstandesrichtige Arbeit unseres Autors für das Symptom eines Mangels an Unmittelbarkeit anzusehen. Hierin aber täuschen sie sich durchaus. Meyer nämlich konzipiert ebenfalls in jenem Sinn ‹unbewußt›, daß die plötzliche innere Vision seine Arbeit beherrscht.

Aber zufolge seiner durch Dichten und Trachten, Denken, Deuten, Schauen und Sichten, Lernen und Leiden durchfurchten Innenwelt entstehen jetzt in ihm die Visionen in solcher Menge, daß es ihm erlaubt ist, unter den vorhandenen die passendsten zu wählen, und in solcher Spontaneität, daß er hoffen darf, die zur Ergänzung nötigen werden sich seinerzeit ob der Arbeit einstellen.

Ähnlich rechnen alle Meister der Form. Es wirkt ebenfalls erkältend, wenn wir lesen, wie die Musiker des vorigen Jahrhunderts nüchtern darüber verhandeln, ob man da noch ein Menuett oder eine Arie einsetzen solle, und dann gelassen hingehen und dergleichen pünktlich machen. Allein jeder wahrhaft schöpferische Mensch, zumal ein solcher, der wie Meyer seine poetischen Kräfte während eines Lebensalters zurückgehalten, verfügt über einen unendlichen Überschuß latenter Bilder und Bilderkeime, welche nur auf den Anlaß warten hervorzutreten; der Anlaß aber ist die Arbeit. Energie des Willens ist dabei keine zu unterschätzende Macht, weil sie den Brunnen aus dem Felsen schlägt, und diese Macht besitzt Meyer in erstaunlichem Grade.

Damit glaube ich den Hauptschlüssel zum Verständnis unseres Meisters gefunden zu haben. Doch fahren wir fort: Die Historie ist eine bequeme Unterstützung für den Produktionstrieb, insofern sie nach verschiedenen Seiten zumal anregend wirkt, nach der Idee, nach dem Bild, nach dem Dramatischen und Tragischen, nach der Kuriosität, nach der metaphysischen Moral. Den Ideen- und den Moralgehalt der Geschichte kann unser Autor allerdings gemäß seinem Kunststil, der objektiven Erzählung, nur indirekt als Untermalung, das heißt Voraussetzung verwerten; dagegen erlaubt ihm das Gesetz der Novelle, aus der Geschichte das Bild, die Tragik und die gelehrte Kuriosität zu benützen.

Zu den letztern drei Dingen nun hat Conrad Ferdinand Meyer ein so dringendes persönliches Verhältnis, daß wir wohl verstehen, warum er die geschichtlichen Stoffe allen andern vorzieht, da eben die Geschichte mehr als die Gegenwart die genannten Elemente begünstigt: die Tragik, weil die Geschichte große Konflikte bietet, die Bildschönheit, weil sie farbigere Szenen ermöglicht, das Kuriositätsinteresse, weil es für einen gelehrten Künstler kaum etwas Reizenderes gibt, als tote Geschlechter bis auf die kleinsten Einzelheiten Wiederaufleben zu lassen. Tragik, Bilderglanz und historische Illusion, diese materiellen Auszeichnungen der Meyerschen Novelle sind, ich wiederhole es, durch die Persönlichkeit des Autors bedingt.

Die Tragik zieht Meyer vor, indem er ein geborener Dramatiker ist, welcher lange, oft und viel über Tragödien brütete und nur deshalb nicht die Bretter versucht hat – das wage ich zu behaupten –, weil die Überweisheit unserer Dramaturgien das Drama verzwickt und verstrickt und mithin fröhlichem, energischem und leidenschaftlichem Schaffen unzugänglich gemacht hat.

Der Bilderglanz der Meyerschen Kompositionen stammt aus höchst komplizierten, individuellen Faktoren, und wir müssen unterscheiden: Erstens die malerisch und künstlerisch gelehrte Vision, durch Reisen und Nachbildung erworben. Dieser Faktor tritt sehr in den Vordergrund, gehört jedoch nicht zu den unbedingten Vorzügen der Meyerschen Eigenart, sondern zu den unzweifelhaften Effektmitteln. Zweitens die landschaftliche Vision, aus natürlicher Gesichtsbegabung entsprungen und durch die Gewohnheit, in großer Natur zu leben, gestärkt. Die Energie des Autors, mit dieser Begabung und Gewohnheit vereint, vermag dann in der Landschaft jene Herrlichkeiten hervorzuzaubern, die wir in der «Richterin» bewundernd genießen. Drittens eine Farben- und Lichtvision. Diese gehört zu den merkwürdigsten Eigentümlichkeiten Meyers; sie wirkt Wunder und erregt Kopfschütteln. Nämlich diese Vision ist ebenso magisch als faktiös; es ist eine elektrisch-historische Glanzbeleuchtung von unbeschreiblichem, übernatürlichem Duft und mit so genauem Geschmack verwendet, daß jedem Leser der Atem vor entzücktem ‹Ah› und ‹Oh› stillesteht. Das geht so weit, daß in der «Richterin» das ‹graue› Altertum den Farbengrundton bildet, während die «Hochzeit des Mönchs» in Paolo Veronese funkelt. Aber es ist nicht das wahre ruhige Tageslicht, welches, durch das Gemüt des Dichters beseelt, dem Leser das Herz erwärmt; es ist Blendlicht. Ist es darum theatralisches Licht? Glücklicherweise nein. Da bewährt sich eben der Segen, daß Meyer niemals für die Bretter geschrieben hat. Denn nicht die grelle Theaterbeleuchtung gibt er, sondern eine dilettantisch-malerische, welche sich immerhin von den Farben eines Heyse durch das magisch-elektrische Funkeln unterscheidet. Wir finden ferner eine opernhafte Vision, welche sich in der Gruppenbildung offenbart, vor allem in der Katastrophenszene der «Richterin». Selbstverständlich gehört dieselbe zu dem Bedenklichsten und streift hart an die Grenze des Annehmbaren. Wir würden sie auch von einem andern nicht annehmen, aber Meyers runde Kunst weiß auch hier uns zu versöhnen, sei es durch Geschmack und Sobrietät oder durch ein glückliches markiges Wort, das sich gerade in dem Augenblick zu unserer Bestechung einstellt, wenn wir tadeln wollen, und so weiter.

Die Vorliebe für das historische Detail erkläre ich aus der gründlichen gelehrten Bildung des Autors; doch hier braucht es der Erklärung gar nicht; gibt es doch aus dem ganzen Bereiche des Wissens nichts, was an sich interessanter wäre als die Geschichte, geschweige denn für einen Dichter. Erstaunlich aber und jeder Nachahmung spottend ist die Meisterschaft, mit welcher stets das Prägnanteste unter dem historischen Detail gewählt wird, und zwar aus dem Gedächtnis gewählt. Andere sind gelehrt und werden schwerfällig oder wissen nichts Ersprießliches und gebären Anachronismen. Bei Meyer hat das Heu der Wissenschaft seit langen Jahren den Boden gedüngt, und jetzt braucht er sich bloß zu bücken, wofür ein anderer vorläufig in den Bibliotheken herumstudieren muß.

Über das Prinzip der Auswahl unter den historischen Stoffen ließe sich manches reden; man hat stereotype Vorliebe, ja sogar dogmatische Befangenheit für die Stoffwahl anführen wollen, allein die Motive der Stoffwahl gehen das Kunsturteil gar nichts an, sondern bloß die Berechtigung derselben. Hier kann man denn über die ‹glückliche›, das heißt sichere Hand des Künstlers nur staunen; Meyer greift überhaupt, seit er in die Öffentlichkeit getreten, niemals fehl. Eine Beschränkung, die teils die Auswahl, teils die Behandlung trifft, muß ich doch aussprechen: die Methode, die Intrige mit großen historischen Namen zu verknüpfen, etwa Dante oder Karl der Große, die als Trumpfkönige das Spiel entscheiden oder einen literarhistorischen Lorbeergeruch verbreiten, hat nicht allgemeine Billigung gefunden; sie bewährt sich zwar ohne Zweifel gut, gilt aber bei vielen Lesern für nicht fein genug gefühlt.

Wir wollen noch von dem poetischen Instrument handeln: der Sprache. Herb, körnig, kurz, energisch, originell bis zur Manier, in jedem einzelnen Fall zutreffend, und mehr als das: sinnerschließend und Gestalten formend, – das ist Meyers Stil, ein Lapidarstil im eigentlichen Sinn des Wortes, da die Logik mit Meißel und Hammer gehandhabt wird. Meyer ist der Tacitus der Novelle. Und wunderbar, dieser Rustikaauftrag, der in dem Streben nach Frischem, Unabgenütztem und Unabgeschliffenem sich nahe ans Gesuchte wagt, der von zwei Synonymen stets das Ungebräuchlichere vorzieht, um der Trivialität zu entgehen, der mitunter sogar undeutlich wird, mundet selbst unsern Leserinnen. Und wie! Das zeugt auf der einen Seite für die hohe ästhetische Bildung der letztern und auf der andern Seite für ein besonderes Kunstgeheimnis dieses Stils. Dieses Geheimnis aber heißt Kontrast. In Meyers Kompositionen ist der Inhalt von düsterer Tragik, die Sprache von rauhem Marmor; dazwischen aber leuchten die Personen, die Kostüme, die Szenen und die Landschaften von der ersten bis zur letzten Seite in so wunderbaren duftigen Glanzfarben, daß der Leser und auch die Leserin mitten in dem Sühne- und Rachewerk des Lebens fröhlich wird, als wandelte man durch einen Garten des Frühlings am Morgen.

Conrad Ferdinand Meyers Gedichte

Das wäre ein herrliches Leben für einen Kritiker, wenn ihm dergleichen häufig auf den Tisch fiele! Doch wer auch nur eine entfernte Ahnung davon hat, was für Unsummen von Begabung, von Arbeit, von Leid und von Glück die Vorbedingung dichterischer Größe bilden, wagt auf regelmäßige Wiederkehr, und wäre es auch nach langen Pausen, von Werken ersten Ranges nicht zu hoffen. Es ist ein unermeßlicher Schatz, einen einzigen Conrad Ferdinand Meyer unter den Lebendigen zu besitzen; wenige auserlesene Literaturepochen haben dergleichen im Doppel, keine in der Vielzahl besessen. Sehen wir nur zu, daß wir die Gabe auch mit dem entsprechenden Dank aufnehmen, und lassen wir vor allem nicht aus den Augen, daß, was aus Kilchberg kommt, und wäre es räumlich noch so anspruchslos, allemal einen ersten Rang unter sämtlichen literarischen Erzeugnissen der Gegenwart verdient. Die beispiellose Selbstzucht neben der unvergleichlichen Kunst des Verfassers, die keine Nieten in die Öffentlichkeit schlüpfen lassen, geben ihm zum voraus ein Anrecht auf ausnahmsweise Berücksichtigung, selbst für denjenigen Beurteiler, der alles eher als Autoritätsglauben mitbringt.

Obschon ich nun im allgemeinen den Brauch verdamme, neuen Auflagen wie literarischen Neuigkeiten von frischem eine ausführliche Besprechung zu gönnen, da eine neue Auflage doch nur ein buchhändlerisches, kein dichterisches Ereignis bedeutet, so ergreife ich nichtsdestoweniger mit Begierde diesen äußern Anlaß, um, was mir längst Bedürfnis war, endlich auszusprechen, nämlich meine von Jahr zu Jahr wachsende Bewunderung für diese Gedichte, welche nach meiner Ansicht nicht bloß unter den Werken der Lebenden ihresgleichen nicht haben, sondern auch ein Unikum in der Literaturgeschichte bilden. Es ist nämlich meiner Meinung nach durch Conrad Ferdinand Meyer eine neue Gattung von Lyrik der Lyrik unserer Klassiker an die Seite gestellt worden, eine Lyrik des größten Stempels, andersartig und ebenbürtig. Worin ich aber das Neue erblicke, möchte ich hier anzudeuten versuchen. Zu diesem muß jedoch vor allem durch Negation der richtige Platz der Meyerschen Gedichte gefunden werden.

Gewiß nicht im Ton, nicht in der Musik liegt ihre Bedeutung. Im Lied weicht unser Verfasser Hunderten; ja sogar die episch-lyrische Ballade, hinsichtlich deren man meinen sollte, daß der eminente Novellist das Beste leisten würde, und die er auch mit psychologisch leicht erklärlicher Vorliebe pflegt, ist ihm nach meinem Urteil nicht gegeben. Alle die vielen geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Anekdoten, die in der Gedichtsammlung enthalten sind, überzeugen den Leser nicht, sie befremden ihn bloß, weil ihnen bald das Bindeglied des Gedankens mit der Stimmung, bald die Einfachheit, meistens die natürliche Form und immer der Ton fehlt. Vollends, so oft der schwungvolle daktylische oder anapästische Vers gewählt wird, tritt die Kluft zwischen Inspiration und Ausführung schroff zutage. Wo Schiller mit seiner glanzvollen Rhetorik, mit seiner sprachlichen Sonorität das Höchste leistet, gerade da sinkt Conrad Ferdinand Meyer unter sein eigenes Niveau; ihm ist nicht bloß das Singen, sondern auch das Rufen und Reden fremd, damit er einzig sage oder auch bloß andeute und verschweige.

Dieses Sagen jedoch, und namentlich das konzentrierte, verdichtete Sagen, macht seine eigenartige Genialität in der Poesie aus, vermöge einer Vorbedingung, die leichter zu nennen als nachzuahmen sein wird: die Vorbedingung persönlicher Größe, sowohl hinsichtlich des Gedankens wie des Charakters. Es ist etwas von der stolzen, spröden, keuschen Herbigkeit des Hugenotten in unserm großen Landsmann, der zwar den blühenden Reichtum der Renaissance vermissen läßt, dafür jedoch den Willen und die Charakterfestigkeit hinzubringt. Wo einmal die Phantasie versagt, da bleibt immer noch die Gebärde, um den Adel der Persönlichkeit zu bekunden. So haben die Tyrannen und Condottieri, so hat ein Michelangelo, so haben die großen Frauen der Renaissance gedichtet, mehr mit der Energie als mit der Phantasie, hauptsächlich darauf bedacht, den Inhalt des zu Sagenden klar, knapp und genau mitzuteilen, ohne blumige Zutaten, besonnen in der Begeisterung, allezeit mit der Gesamtheit der denkenden Persönlichkeit schaffend. Darum wirkt auch Meyers Poesie männlicher als jede andere. Wenn wir aber beiläufig fragen, woher Conrad Ferdinand Meyer seine literarische Männlichkeit bezieht, so stehe ich nicht an – und auch das stimmt zum Hugenotten – zu sagen: aus Frankreich. Je öfter ich seine Novellen lese, desto unbedenklicher urteile ich: das ist französisch, nicht deutsch, französisch bis in den Bau des Satzes; wohlverstanden, nicht modern-französisch, sondern französisch aus der klassischen und vorklassischen Zeit, das Französisch der großen Memoirenschreiber und das Französisch von Navarra. In den Gedichten erscheint die Herkunft durch den deutschen historisch-humanistischen Fortbildungsstoff etwas maskiert; wenn wir indessen näher zusehen, so wird auch hier die italienische Renaissance durch das Medium französischer Erziehung angeschaut und dementsprechend modifiziert. Überhaupt möchte ich die gesamte Kunstweisheit unseres Dichters, vor allem sein eminentes Formgefühl, auf französische Ursprünge zurückführen.

Wie sehr sich unser Dichter selbst bewußt ist, wo seine Stärke liegt – und bewußter als Conrad Ferdinand Meyer kann man ja überhaupt nicht schaffen –, das beweist eine Vergleichung der nachträglichen Veränderungen seiner Balladen mit ihrer frühesten Form, wie sie im Jahre 1864 veröffentlicht wurde. Ein weiser Mann hat jüngst in der «Münchner Allgemeinen Zeitung» herausrechnen wollen, daß sämtliche Veränderungen Verbesserungen seien. Das ließe sich im höchsten Grade bestreiten, indem im Gegenteil einige davon an Wohlklang und Natürlichkeit verloren; dagegen sind die Veränderungen samt und sonders Assimilationen an denjenigen personellen Stil, in welchem Conrad Ferdinand Meyer später sich selbst gefunden hat. Die Musik, weil zu unpersönlich, zu wortreich, wird zugunsten des keuschen, spröden Ausdrucks korrigiert, und bei dieser Umwandlung selbst Härte, Schwerverständlichkeit und Fremdartigkeit nicht gescheut.

Hier taucht nun die Frage nach der Manieriertheit des Meyerschen Individualstils auf. Ich möchte nicht rundweg leugnen, daß hie und da etwas selbstgefällige Koketterie mit dem Herben und häufiger noch einige Draperie und Pose stattfinde, allein daß dergleichen eitle, fehlerhafte Ziererei wäre, muß ich bestreiten. Vor allem in der Prosa, also in den Novellen, wo die Sonderbarkeiten der Sprache am auffallendsten auftreten, läßt sich ein sehr guter Daseinsgrund dafür finden: der Umstand, daß Prosa, wenn sie zur Kunst erhöht werden soll, einer Umwandlung aus der vulgären Alltagssprache schlechterdings nicht entbehren kann. Das leuchtet freilich demjenigen nicht ein, der nur des flüchtigen Unterhaltungsgenusses wegen liest; ein glatter Konversationsstil wäre ihm erwünschter; auch will ich gerne zugeben, daß Geschraubtheit als Unnatur stets etwas Unangenehmes behalten wird; dem steht jedoch die Tatsache gegenüber, daß die glatten Romane, und wären es selbst diejenigen eines Goethe, merkwürdig rasch veralten, daß es überhaupt noch keinem Volke und keiner Zeit gelang, in Prosa Werke zu schaffen, die nach Jahrhunderten noch frisch erscheinen, Don Quichotte nicht ausgenommen, welcher ja überhaupt bloß noch im Auszug fortlebt. Unsere großen Schweizer Prosaiker suchen nun den Prosastil mit Wortgewichten künstlich zu beschweren, damit er sich weniger rasch verflüchtige. Ob das Mittel sich bewährt, wird die Zeit lehren. Jedenfalls ist das eine ernste, wohlüberlegte Maßregel, keine eitle Spielerei.

In den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers kann ich von Geziertheit schlechterdings nichts finden; denn was manchen fremdartig, was sonderbar, was gesucht erscheinen möchte, braucht darum noch nicht Unnatur zu sein. Jedes Dichters Natur ist eine komplizierte; und zu Conrad Ferdinand Meyers Natur gehört nun einmal ein gewisses Pathos auch der äußern Gebärde. Wer möchte das tadeln? Ich nicht, denn es ist die Kehrseite und teilweise die Bedingung seiner Größe. Mag auch der Pfau stolzieren; das gibt ihm den stolzen Gang und zeigt das prächtige Gefieder um so besser. Man darf den Meistern der Kunst nicht die demütige Haltung eines Vergißmeinnichtes zumuten.

Zum Vorteil der Meyerschen Gedichte kommt mit jeder neuen Ausgabe in verstärktem Maße noch ein besonderer Ausnahmeumstand hinzu: der Kalender des Dichters. Gewiß gab und gibt es ja der Autoren genug, die in ihrem Alter dichten, allein einzig ist, daß ein Dichter seine geistige Jugend erst in gereiftem Mannesalter beginnt. Dadurch wird eine eigene Mischung von instinktiver Kraft und von reflektorischer Resignation erzielt, die nicht bloß rührend wirkt, sondern einzigartige Perspektiven der Stimmung und des Gedankens eröffnet. Gegenüber der krankhaften Nervenmelancholie lyrischer Jünglinge, gegenüber der müden Klage des scheidenden Meisters tritt hier das lebendige Bewußtsein höchster Kraft und Kunst unmittelbar vor den Anblick des wirklichen unvermeidlichen Endes. Ein unbeschreiblicher Ernst ist das Ergebnis; durch die Locken des Greises, der nicht gleich andern gebeugt und matt dem Ziel entgegenschleicht, sondern mehr als je das Haupt im Bewußtsein jungen Verdienstes und jungen Ruhmes erhebt, weht eine Luft aus anderer Welt; seine Augen schauen ferner, höher vorwärts und rückwärts, und was zufällig in den Gesichtskreis tritt, erhält den Abglanz dieser metaphysischen Perspektive. Je länger, desto mehr tragen die Gedichte diesen feierlichen Charakter, vor allem die neu in die Sammlung herzugekommenen. Und ein Dichter, auf dieser physischen und geistigen Höhe stehend, in einer Gemütsatmosphäre, die ich mich getraue ‹heilig› zu nennen, da sie sich aus Gott und Welt, aus Liebe und Abschied zusammensetzt, sollte ‹gesucht› schreiben? Warum nicht gar! Der hat genug zu tun, die Ahnungen, die sein Herz überfüllen, als getreuer Buchhalter der Kunst aufzuzeichnen. Ich werde bei der literarischen Gestalt Conrad Ferdinand Meyers eine Vergleichung nicht los: diejenige eines knorrigen Apfelbaumes, der lange Jahre für tot gehalten wurde und plötzlich eine entzückende Ernte prächtiger Blüten treibt; das ist nicht ein Apfelbaum wie ein anderer; es hat seine eigentümliche Schönheit, das helle saftige Blütenrot auf dem schwarzen, verwitterten, bemoosten Stamm; und so möchte ich auch die Mischung von frischer Saftigkeit und verwittertem Mark in unserm Dichter nicht missen und nicht tauschen.

Eine allgemeine Charakteristik ist eine fruchtlose Charakteristik, und ein genialer Dichter ist jedesmal auch in irgendeiner Besonderheit ein virtuoser Formkünstler. Darum muß sich Conrad Ferdinand Meyers Größe auch in technischer Beziehung greifen und darlegen lassen. Da zaudere ich nun wieder nicht, nachdem ich die Gedichte Jahr für Jahr auf mich wirken ließ, diejenigen für technisch am vollkommensten zu halten, die am meisten auf den lyrischen Schmuck verzichten, vor allem die in ungereimten fünffüßigen Jamben einherschreitenden. Über den Meyerschen fünffüßigen Jambus ließen sich ganze Abhandlungen schreiben. Er hat ihm Lyrik entlockt. Die Kunst, ohne jeden Ton, ganz allein durch das Wortbild, in einem anspruchslosen Metrum, das überdies noch nach Kräften durch Überleitungen durchbrochen wird, die erhabenste Stimmung zu erzielen, ist hier zu absoluter Vollendung ohne überflüssigen Rest eines Wortes gediehen. Und diese Kunst ist neu. Die Klassiker zeigen uns nichts Ähnliches. Gedichte wie «Stapfen» oder «Erntegewitter» oder «Das begrabene Herz» sind inhaltlich wie technisch von mustergültiger Vollendung, neue Gebiete der Lyrik für alle Zeiten eröffnend. Ein Dichter, der sich auf seinen Vorteil versteht, wird Conrad Ferdinand Meyers Gedichte neben den Klassikern und Romantikern beständig auf seinem Pult liegen haben. In den «Nachtgeräuschen» verstärkt eine dumpfe Assonanz der Endsilben den Eindruck. Der von Conrad Ferdinand Meyer besonders bevorzugte Paarreim mit vorwiegend männlichen Endungen ist charakteristisch für die bewußte, absichtliche Schlichtheit und Kraft der Sprache, die auf das tändelnde Geklingel verzichtet. Mehr und mehr offenbart sich eine sehr zu billigende Vorliebe für den Trochäus, der infolge gelehrter Klügeleien in Deutschland ohne vernünftigen Grund in Mißkredit steht; Meyers Beispiel könnte wohl eine durchschlagende Reform in dieser Beziehung bewirkt haben, wenn sein Ton überhaupt voller und seine Neigung zum Trochäus etwas frühzeitiger aufgetreten wäre. Dagegen bemerken wir die heilsamen Einflüsse unserer schweizerischen Lyriker und besonders Meyers auf die deutsche Lyrik an manchen andern Orten, so namentlich in der Richtung nach Einfachheit oder, was dasselbe besagt, in der Abkehr von Verskünsteleien. Namentlich der paarweise Reim und die männliche Endung wird allmählich zur löblichen Gewohnheit. Auch das übrigens ist, beiläufig gesagt, alterklassischer französischer Brauch.

 

Die Volkserzählung in der Schweiz

Während der draußenstehende Beobachter an den schweizerischen Schriftstellern Familienähnlichkeiten aufsucht und vielleicht auch auffindet, fällt uns Schweizern im Gegenteil einerseits die Verschiedenartigkeit unserer Kunstdichter unter sich und anderseits die weite Kluft zwischen ihnen und unsern Volkserzählern auf. Die ersteren betrachten, bekennen und gebärden sich, ob sie schon mit ihren bürgerlichen Anschauungen noch so tief in der heimatlichen Erde wurzeln mögen, in Beziehung auf ästhetische Bildung, auf Kunst und Poesie einfach als Mitglieder der allgemeinen deutschen Literatur, zwar als reichsfreie unabhängige Städter, ja mitunter sogar mit andern Nachbarn geistige Bündnisse schließend, immerhin derart, daß ihr literarisches Wesen die deutsche Literatur zur Vorbedingung hat und daß die Heimat bloß modifizierend mitwirkt. Hierin lasse man sich ja durch stoffliche Lokalitäten nicht täuschen; selbst Gottfried Keller, der persönlich am unzertrennlichsten mit dem Stadtbürgertum verknüpft erscheint, ist als Dichter nicht etwa als ein Nachkomme des Jeremias Gotthelf oder irgendeines andern Schweizers, sondern als ein Kind der deutschen Literatur, insbesondere der deutschen Romantik aufzufassen. Umgekehrt steckt der volkstümliche Erzähler, einerlei ob Dilettant oder Gewohnheits- oder Berufsschriftsteller, bis über den Kopf in der heimatlichen Scholle, weiß von der historischen deutschen und ausländischen Literatur nicht mehr, als was er in der Schule lernte, das heißt, verzweifelt wenig, erfährt von der neuesten deutschen oder internationalen Literatur gar nichts, kennt keine Ästhetik, kaum einige zufällige Elemente von Gesetzen und Regeln und kümmert sich bewußterweise nur um das, was ihm die Wirklichkeit bietet, was freilich ausgiebige unbewußte Einwirkungen alter deutscher Kunstregeln aus dritter Hand nicht ausschließt. Seine allgemeine Bildung ist zuweilen, ja meistens nicht gering, er kann und wird wahrscheinlich Lehrer oder Journalist oder Pfarrer sein, aber seine literarische Bildung hält mit der übrigen bei weitem nicht Schritt, und sein geistiger oder gemütlicher Horizont deckt sich mit der Kantonsgrenze.

Zwischen beiden Klassen gibt es keine Bindeglieder und innerhalb jeder derselben wenig Zwischenstufen. Wir haben weder in der einen noch in der andern Reihe namhafte, geschickte, fabrikmäßige Sudler, sondern entweder Meister oder unbeholfene dilettantische Pfuscher, bei den Volkserzählern sogar häufig beides in einer Person. Während jedoch keiner unserer Kunstdichter aus dem Handgelenke arbeitet, zeigen unsere Volkserzähler einen verhängnisvollen Hang zur Vielschreiberei, die sie auf derjenigen Stufe festnagelt, auf welcher sie zum ersten Male die Popularität errangen, vorausgesetzt, daß sie nicht von ihrer eigenen spezifischen Höhe hinabsinken.

Nun reizte mich schon seit langer Zeit unwillkürlich die Frage, ob vielleicht der auffallenden Blüte, deren sich gegenwärtig die schweizerische Kunstdichtung erfreut, eine gleichzeitige Erhebung der volkstümlichen Erzählungskunst entspreche, in welchem Falle ohne Zweifel die letztere teilweise zur Erklärung für die erstere dienen könnte, so daß wir einen allgemeinen produktiven Impuls von unten nach oben in der Schweiz zu verzeichnen hätten. Ich habe inzwischen Gelegenheit gefunden, mir hierüber ein Urteil zu bilden.

Von dem papiernen Stil des Fabrikromans angewidert, empfand ich zuerst eine Erzählungsweise, die sich um keine Kunst und Ästhetik schiert, um lediglich das nüchterne Leben zu schildern, als ein Labsal; um so mehr, als mir wiederholt bei gänzlich unbekannten und anspruchslosen Verfassern ländlichen Standes und Wohnortes Szenen von entzückender realistischer Meisterschaft aufstießen. So liefert zum Beispiel ein gewisser Hans Nydegger, ein blutarmer bäurischer Familienvater in einem Dorfe des Kantons Bern, Beschreibungen von Wettheuen, von Schwingkämpfen, von Sennenfahrten und dergleichen, welche ihresgleichen suchen. Und er steht keineswegs vereinzelt da; wo man es am wenigsten erwartet, überraschen einen ähnliche Prachtzüge. Auf solche Wahrnehmungen gestützt, durfte ich eine Weile hoffen und sogar versuchen, ein Schweizer Feuilleton ausschließlich mit Schweizer Volksschriftstellern zu bestreiten. Hierbei leitete mich wahrlich nicht etwa patriotische Engherzigkeit, sondern der Wunsch, guten vernachlässigten Pflänzchen ein bißchen Sonne zu gönnen.

Der Versuch ist nicht in dem Maße gelungen, als ich erwartet hatte, und meine kühnen alpinen Hoffnungen fliegen nur noch in flatternder Wildentenhöhe.

Nämlich den mitunter entzückenden Einzelschilderungen stehen tiefgreifende allgemeine Mängel entgegen. Vor allem eine unglaubliche Unsicherheit und demzufolge eine vollständige Unzuverlässigkeit selbst der begabtesten und beliebtesten Volksschriftsteller. In jeder andern Nation darf, wer ein- oder zweimal etwas Tüchtiges geschrieben hat, als ein Schriftsteller begrüßt und empfohlen werden. Bei uns schreibt der nämliche populäre Erzähler, der soeben durch seine Kraft erfreute, das nächste Mal nicht etwa bloß etwas Schwaches, sondern etwas gänzlich Unbrauchbares, Dilettantisches. Es fehlt eben die Selbstkritik, das Kunstgefühl und das Pflichtbewußtsein gegenüber dem eigenen Rufe. Der Erfolg, statt zu erziehen, wirkt hier meistens verderblich, indem der Verfasser, gewohnt, in allen Dingen die Majorität des Volkes als oberste Gerichtsbehörde zu betrachten, das Bedürfnis der Masse befriedigt, sobald er einmal mit dem Publikum Fühlung gefunden hat. Hierzu kommt noch der logische und philologische Trugschluß, über den Wert einer Volkserzählung habe das Urteil ‹des Volkes› allein zu entscheiden, womit natürlich der Familiärtrivialität und einem schönfärberischen Optimismus die Tür geöffnet wird; denn das Volk, wie jede andere bestimmte Klasse einer Nation, stimmt demjenigen unter seinen Zeichnern am eifrigsten zu, der sein Porträt retuschiert. Satire verbittet man sich da energisch, und selbst wohlwollend neckender Humor ruft entrüsteten Protest hervor. Alle unsere Volkserzähler sind in denjenigen Gegenden, die sie mit ihren Erzählungen bevorzugen, mißliebig, trotz ihrer peinlichen Vorsicht. Das Volk will nun einmal nur im Hochzeitsfrack, nicht in der Werkeljacke konterfeit sein.

Trotzdem müßte bei der beträchtlichen Anzahl ganz bedeutender Talente und bei dem starken Wirklichkeitsbewußtsein, dem unermeßlichen Reichtum an echten Anschauungen, die naive Erzählungskunst auf rein instinktivem Wege eine ungleich höhere literarische Stufe erreichen, als es tatsächlich der Fall ist, wenn nicht der Instinkt mannigfach verunreinigt und gefälscht würde. Da sind zunächst merkwürdige Geschmacksroheiten, namentlich im Gebiete des Humors, ferner Harmlosigkeiten und Anspruchslosigkeiten im Reiche des Witzes, durch welche unsere Erzähler unterhalb des Spiegels der Durchschnittsbildung geraten und aus diesem Grunde einem städtischen Publikum vielfach ungenießbar werden. Es ist kein vorteilhaftes Zeugnis für die landläufige Erzählungskunst, daß in der alles Heimische so eifersüchtig hegenden Schweiz die Ankündigung einer Volkserzählung mißtrauischen Bedenken begegnet.

Das sind ja nun freilich Nebensachen; Hauptsache ist, daß der Volkserzähler eine Sprache zu schreiben gezwungen ist, die er in Wirklichkeit weder spricht noch hört, nämlich das Buchdeutsch, daß er folglich seine gesamten Anschauungen übersetzen muß. Die buchdeutsche Sprache kennt ja der Mann aus dem Volke nicht vom Klang, er beherrscht sie auch in ihrem Wortschatze nur unvollkommen, fühlt sich demzufolge eingeengt, ‹geniert›, verliert mit dem Gefühl der Sicherheit den Mut und greift deshalb gierig, wenn auch unbewußt, die fertigen Buchschablonen auf, die ihm wenigstens Untadelhaftigkeit versprechen und die ihm von der Schulbank her imponieren. Dadurch kommt in die kräftige, gesunde, realistische Volkserzählung eine Schulluft und eine pathetische Trivialsentimentalität, bei denen den stilistisch Gebildeten ein Schauer überläuft, die aber von den Verfassern und von den ländlichen Lesern gar nicht als ein Mangel oder Widerspruch verspürt werden, vielleicht weil wir von Jugend an gewöhnt worden sind, die Begriffe ‹hochdeutsch› und ‹gewählt› für unzertrennbar zu halten. Unser Volk spricht naiv und natürlich im Dialekt, aber es redet pathetisch oder rhetorisch geschraubt in der Schriftsprache, als wollte es einen Toast ausbringen oder einen dramatischen Monolog hersagen. Mit einem Wort: das Buchdeutsch fälscht den naiven Erzählungsinstinkt durch das Angelesene, und zwar, wie wir gleich sehen werden, an allen Enden und Ecken.

Warum aber bedient sich der Volkserzähler nicht des natürlichen Dialektes? Aus dem einfachen Grunde, weil das Volk denselben ablehnt. Der nämliche Schweizer, der Dialekt spricht, duldet ihn nur höchst ungern in der Schrift. Zum kleinern Teil kommt das davon, daß seine Augen nicht gewohnt sind, den Dialekt zu entziffern; zum größern Teil aus der Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit der Dialekte innerhalb der Schweiz, verbunden mit einer gewissen spottlustigen Rivalität gegenüber außerkantonalen Mundarten. Ein Basler empfindet den Zürcher Dialekt nichts weniger als gemütlich, und umgekehrt; weit abliegende Gegenden verstehen einander sogar nicht einmal in allen Einzelheiten, so daß ein Dialektdichter im besten Falle sich zum Stadt- oder Kantonsdichter aufschwingt. Dieser beste Fall wird übrigens wiederum von Jahr zu Jahr seltener; wie denn zum Beispiel heutzutage eine Erzählung in Zürcherdeutsch, von einer großen Zürcher Zeitung den Zürchern vorgeführt, von den Gebildeten als eine unehrerbietige Vertraulichkeit würde empfunden werden.

Die Probe auf die Richtigkeit dieser Beobachtungen liefert die Tatsache, daß unsere Volkserzähler zwar regelmäßig mit dem Dialekt beginnen, denselben jedoch, sobald ihr Ruf über die Kantonsgrenze dringt, endgültig verlassen. Die Dialektschriftstellerei ist bei uns zwar noch nicht tot, aber sie befindet sich in den letzten Zügen. Wenn gerade gegenwärtig unsere Gelehrten dem Dialekt besondere Aufmerksamkeit schenken, so widerspricht das nicht dem Gesagten, sondern bestätigt es, da philologisches Interesse meistens hippokratischer Herkunft zu sein pflegt. Freilich mag es der allmächtigen Natur in ihrer souveränen Willkür gefallen, zu guter Letzt noch Dialektdichter ersten Ranges zu erschaffen, wie wir denn tatsächlich eben jetzt in Meinrad Lienert einen solchen besitzen.

Also vom Dialekt kann schlechterdings für einen schweizerischen Volkserzähler, der über die Kantonsgrenze hinauszielt, nicht mehr die Rede sein; das Buchdeutsch zwingt sich ihm mit Naturnotwendigkeit auf, und mit ihm das Angelesene. Das letztere nun übt hauptsächlich auf folgenden Wegen seinen angedeuteten verderblichen Einfluß.

Nachdem womöglich irgendeine moralische oder vaterländisch gemeinnützige Tendenz im Stile Gotthelfs den Verfasser angeregt hat, bändelt er die erste beste Liebesintrige nach dem landläufigen importierten, mehr oder weniger illustrierten Romanmuster an, wobei er die aus vorsintflutlichen Zeiten ererbte Grundregel, daß der Held und die Heldin Tugendspiegel sein müssen, gläubig ins Werk setzt. Unsere Volkserzähler sind nicht nur aus patriotischen, sondern auch aus literarischen Gründen überzeugte Schönfärber, und vor dieser Überzeugung muß selbstverständlich die eigene Beobachtung weichen. Wo ein Dogma mit den Augen in Konflikt gerät, da behält ja bei dem Menschen immer das Dogma Recht. Nicht bloß der Held und die Heldin, sondern jede Gruppe junger Bursche und Mädchen wird da ideal ausstaffiert als Choristen zu einem schillerschen Wilhelm Tell. Zum Ideal gehört aber bei uns unbedingt muskelstrotzende Gesundheit. Der Held und die Heldin würden bei einem Preis turnen gute Figur machen. Eine eigentümliche Mischung von Käse und Rosenwasser.

Und in diesen kindlichen Allerweltsroman-Aufbau werden nun die herrlichen Ergebnisse eigener Anschauung, wo und wie sie Platz finden, als Nebensachen kümmerlich eingeschmuggelt, mitunter in meisterhaften Episoden! Daß diese Episoden den Hauptwert besitzen, daß ohne das angelesene Liebestechtelmechtel die Lebensschilderungen zugleich leichter und vollkommener geraten würden, zu solcher Erkenntnis wäre eben jene raffinierte ästhetische Einsicht nötig, die nur durch die höchste persönliche literarische Bildung erreicht werden kann, wenn man die Errungenschaften und die Schlagwörter der Gegenwart nicht kennt.

Wie ohnmächtig die glänzendste Erfahrung gegenüber ererbten und dogmatisierten Gewohnheiten dasteht, davon gibt die Naturschilderung das sprechendste Zeugnis.

Man sollte denken, die schweizerischen Volksschriftsteller müßten über einen unvergleichlichen Reichtum an Naturbildern verfügen. Weit gefehlt. Sowie die Sonne oder ein anderes sanktioniertes Requisit der heiligen Natur aufmarschiert, erhalten wir einen blumigen, begeisterten Allgemeinenthusiasmus, der seine Herkunft aus dem deutschen Schulaufsatz nicht verleugnet. Vollends die Alpen werden stets dekorativ zu patriotischer Symbolik verwertet, als Kulissen zu einer Volksfestbühne. Dem entspricht auch der Stil im engern Sinne: die Verschwendung schmückender Adjektive zugunsten der ‹fröhlichen Jungknaben› und der ‹holden Jungfrauen›; die Vorliebe für effektvolle Gleichnisse aus der griechischen Mythologie – ein Volkserzähler zaudert bei uns keinen Augenblick, eine dralle Bauerndirne mit Venus oder Juno zu vergleichen –, die Hineinziehung blasser Abstrakta mitten in den echten markigen Satz; die mühsame, meist zugleich unbeholfene Aneinanderkuppelung sämtlicher Sätze mit ‹und›, in der aus der Schule hergebrachten Meinung, als wäre es ein Schnitzer, zwei Sätze unverbunden nebeneinander zu stellen; endlich die Aufnahme fertiger Trivialphrasen.

Wenn wir diese buntscheckige, mühselige Erzählungsweise überschauen, von welcher selbst Jeremias Gotthelf nicht jederzeit frei ist, wenn wir ferner wissen, daß an eine Rückkehr in die einfältige echte Volkssprache, also in den Dialekt, nicht gedacht werden kann, wenn wir endlich sogar die Dialekterzählung und die Dialektumgangssprache hie und da von den nämlichen Fehlern angesteckt sehen, so bleibt kaum ein anderer Schluß übrig, als daß der modernen Schweiz keine Hoffnung mehr winkt, neben oder unter der Kunstdichtung noch eine Volkserzählung von literarischem Gehalt zu erzielen, daß also dem populären Erzähler kein anderes Mittel zur Erlangung literarischen Rufes mehr übrigbleibt als dieses: sich aus einem naiven Erzähler zum bewußten künstlerischen Schriftsteller auszureifen. Es gibt in der Schweiz nur noch einen einzigen Weg zur Natur, und dieser führt über die höchsten Gipfel der Kunst und Bildung. Das Gefühl hiervon ist auch in unserem Volke verbreitet, da die begabtesten Volksschriftsteller nach der allgemeinen deutschen Literatur emporstreben, wie die Pflanze nach dem Lichte. Der erstaunliche, die Herausgeber selber überraschende Erfolg, den die vor einem Jahre gegründete «Schweizerische Rundschau» bereits zu verzeichnen hat, zeugt ebenfalls für die Macht des Bedürfnisses nach der Literatur höchsten Stils in allen Gegenden der deutschen Schweiz. Das übersättigte Deutschland sehnt sich nach Natur, Kraft, Erdgeschmack und dergleichen, die Schweiz lechzt nach Kunst und Erkenntnis.

 

Meinrad Lienert, mein Lyriker

Als ich mit der Leitung des Feuilletons der «Neuen Zürcher Zeitung» betraut war, im Jahre 1890, kam eines Tages unter dem entmutigenden Wust der täglich einlaufenden Manuskripte eine Erzählung zum Vorschein, die sofort, schon nach den ersten zwei Seiten meine herzliche Sympathie für den Verfasser aufleuchten machte. Zwar so ziemlich das Gegenteil dessen, was ich selber ausübte, außerdem auffallend unbeholfen und unbelesen geschrieben, ohne die mindeste Ahnung, wie andere Menschen zu erzählen pflegen, oder was Zeitungsleser wünschen, oder was man nach allgemeiner Ansicht darf und soll, überdies in einem so eigenartigen Dialekt verfaßt, daß ich, der Schweizer, für Schweizer Leser meinte zum Verständnis Worterklärungen beifügen zu müssen, kurz, vollkommene literarische Naivität. Aber aus der literarischen Naivität, die wohlfeil und wertlos ist – tausend Dilettanten haben sie –, jauchzte zugleich die echte, die seltene Naivität hervor, die poetische. Und diese sprang wie ein Bergbach so frisch, so kräftig, so lustig aus dem heimischen Boden. Daß der Verfasser, Meinrad Lienert mit Namen, ein ganz ausnahmsweise begabter Dichter und dazu ein Sprachbeherrscher von seltener Treffsicherheit sei, das stand mir über allem Zweifel. Zu meiner großen Freude wurde meine begeisterte Wertschätzung allgemein geteilt: die Schweiz zählt schon seit zwanzig Jahren Meinrad Lienert zu den beliebtesten Erzählern, seine Sprache gilt in der Sprachwissenschaft auf dem Gebiet der Mundart als Autorität, so daß seine Ausdrücke von unseren Sprachgelehrten als Beweise der Echtheit zitiert werden, manche seiner Worte sind zum sprachlichen Gemeingut geworden und werden als solches von anderen Schriftstellern benutzt.

Ob Lienerts Kunst der Erzählung seiner Begabung zur Erzählung gleichkommt, dies zu beurteilen muß ich anderen überlassen, denen es gewährt ist, sich gründlicher in seine Werke zu vertiefen. Ich glaube eine gewisse Wertungleichheit bemerkt zu haben, namentlich zuungunsten seiner historischen Erzählungen, und glaube erwarten zu dürfen, daß strengeres Zusammenraffen der Kraft noch Vollkommeneres erzielen werde. Wie hoch ich aber seine Begabung zur Erzählung einschätze, davon ein kleines Pröbchen. Ich hatte, ehe Meinrad Lienert hervortrat, in einer meiner Erzählungen einen Schwyzer Hirten über den Berg nach Mailand geführt. Das hätte ich, nachdem ich die entzückende Gotthardfahrt eines Schwyzers aus Meinrad Lienerts Feder gelesen, wohlweislich unterlassen. Denn man reist nicht auf Meinrad Lienerts Wegen, auf seinem Stoffgebiet ist er der Meister, dort kommt ihm keiner gleich, und dorthin geht ihm niemand nach.

In Lienerts Erzählungen waren hie und da ein paar Verslein eingestreut, welche anspruchslos gemeint waren – sie kamen nur so beiläufig hervorgeschlüpft –, aber dem Aufmerksamen sofort den echten Lyriker verrieten. Mit der Zeit ist dann unser Dichter mit selbständigen lyrischen Sammlungen hervorgetreten und hat alle Erwartungen übertroffen. Es ist kaum möglich, diese Lyrik zu überschätzen, und es ist schwierig, ihr mit nüchternen Worten beizukommen. Mir wenigstens läuft vor dieser Lyrik einfach mein bißchen Kritik davon. Mich jauchzt es, mich jubelt es, wenn ich an den Lyriker Lienert denke. Ein überquellendes Stimmungsglücksgefühl, wie wenn man über eine Alpenweide wandelt. Das ist nun einmal die wahre Volkspoesie, nicht jene Volkspoesie der romantisch mystischen Legende, welche eine unbewußt dichtende Volksseele annimmt, sondern die Erschließung der stummen, nach Aussprache dürstenden Volksseele durch die Fürsprache einer hochbegabten dichterischen Persönlichkeit, welche die Existenzbedingungen, die Sprechweise, den Gefühlsodem des Volkes nicht bloß ahnt oder kennt, sondern teilt. Lienert ist ein Glied seines Volkes, ein Kind seiner Heimat, seine Gedichte sind Naturgewächse, wie die Tannen und Enzianen der Alpen. Daher ihre entzückende Gesundheit, ihre Frische, ihre Schalkheit. Und wie unglaublich reich sprudelt dieser Quell. Eine ganze Welt für sich; man könnte aus Lienerts Gedichten allein sämtliche Gesetze der volksmäßigen Liederpoesie herauskonstruieren, oder besser: herausfühlen. Ich für meinen Teil tue wirklich so etwas; Lienert ist nämlich mein Lyriker, jener, an welchen ich zu allererst denke, wenn von Lyrik die Rede ist. Das will kein gedanklich abgewogenes Urteil sein und will keinem andern seinen wohlverdienten Ruhm schmälern, ich bekenne einfach eine Tatsache. Vielleicht wirkt da die Ergänzungsfreude mit, da auch in seinen Gedichten Lienert so ziemlich meinen Gegensatz vorstellt.

Wir Schweizer greifen unter den Lienertschen Gedichten unwillkürlich zunächst nach den in der Mundart geschriebenen. Ob mit Recht, das zu beurteilen muß ich wiederum Kundigeren überlassen. Aber selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, daß Lienerts beste Leistungen in der Dialektlyrik zu suchen sind, wäre damit ihr Wert für die große deutsche Literatur noch nicht bestritten, denn reichsdeutsche Leser können sich, wenn sie wollen, mit kaum größerer Mühe in Lienerts Mundart hineinleben als in die Mundart der plattdeutschen Dichter. Und ich meine, sie sollten es wollen, denn es handelt sich um eine alte kerndeutsche Mundart: um die Sprache des ursprünglichsten Kantons der Schweiz, des Kantons Schwyz.

Und zum Schlusse nochmals: Mein Herz verübt einen Freudensprung, wenn ich an Meinrad Lienerts Gedichte denke.

 

Fritz Marti

In unserem lieben Fritz Marti verliere ich nicht bloß einen treuen Freund und Kollegen, mit welchem mich so manche Erinnerung verband, ich verliere in ihm zugleich eine große und, wie ich glaube, berechtigte Hoffnung für unsere Literatur.

Wie bedeutend schon seine Leistungen sein mögen, er selber bedeutete mir noch mehr, nämlich eine Zuversicht, ich meine die Überzeugung, daß Fritz Marti einmal, wenn er sich und seinen Stoff würde gefunden haben, ein durchschlagendes Meisterwerk leisten werde. Ich sagte mir und sagte es andern: «Der ists, der wird es sein.»

Zu dieser Zuversicht wurde ich hauptsächlich durch gewisse Charaktereigenschaften geleitet, die nach meiner Meinung für die hohe literarische Berufung Zeugnis ablegen: Demut angesichts der Kunst, Bescheidenheit gegenüber von kritischen Beanstandungen, Ernstnahme und Wichtignahme des Schaffens, bekümmertes Suchen und Trachten nach künstlerischer Vervollkommnung, mit Perioden einer gesunden Verzweiflung, denn in dem schweren Krieg um Kunstvollendung kommt gerade der Echte, der später siegen wird, ohne schwarze Stunden nicht weg, und ähnliche Tugenden mehr.

Die Spuren dieser Tugenden sind den Lesern seiner wenigen Werke und seiner nicht zahlreichen Aufsätze nicht entgangen. Wann immer Fritz Marti das Wort ergriff, hatte seine Rede einen besondern, persönlichen Ton. Man spürte: wer das schreibt, ist jemand und wird einer sein. Nicht der Ton eines Zuversichtlichen, seiner selbst Sichern, im Gegenteil: nach meinem Eindruck haftete an Fritz Martis Schriften etwas Mühsames, Bekümmertes, fast Zagendes, allein gerade das, obschon es für den Augenblick die Durchschlagskraft beeinträchtigte, sprach für spätere glückliche Leistungen auf poetischem Gebiete. Ich wenigstens halte die demütige Unzufriedenheit mit sich selber für das zuverlässigste Zeugnis poetischer Begabung.

Jetzt ist der grausame, rücksichtslose Tod dazwischengefahren, und nun fragt sich: was ist da und was ist vom Tod vereitelt worden? Vom Tod allein vereitelt? Das Hervortreten von Fritz Marti geschah schon seit Jahren immer sparsamer. Warum? Wegen seiner öftern schweren Erkrankungen? Oder wegen der überwältigenden Anforderungen der Berufsarbeit? Die Feuilletonverwaltung einer großen Zeitung, wenn mans ernst nimmt, und Fritz Marti nahm es ernst, stellt nämlich ungeahnt strenge Anforderungen an die Arbeitskraft. Oder wegen Sorgen und Bekümmernissen um die Seinigen? Fritz Marti hat böse Zeiten durchgemacht wie kaum ein anderer. Oder wegen der Enttäuschung, die ihm der mangelhafte Erfolg seines Hauptwerkes bereitete? Oder wegen gewisser Schranken der Begabung? Das kann ich nicht wissen. Wahrscheinlich wirkte das alles und noch anderes vereint zusammen.

Da ich aber doch einmal das Wort Krankheit ausgesprochen, und da uns jetzt sein Tod erschüttert, kann ich nicht anders als auch der Tapferkeit gedenken, mit welcher der Schwergeprüfte und Oftgeprüfte seine Heimsuchungen hinnahm. Nach einer lebensgefährlichen, schmerzhaften Operation bei gleichzeitiger bedrohlicher Erkrankung eines seiner Kinder hörte ich ihn sagen: «Und trotzdem bin ich mutig, trotzdem bleiben wir alle miteinander fröhlich.» Dieser rührende Frohmut mitten im Unheil hat mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Wirklich, der scheinbar so zaudernde Fritz Marti war ein Charakter, und zwar ein gediegener Charakter. Ich bleibe dabei, er war berufen. Nur muß ich trauernd die Zeitbezeichnung ändern; ich kann leider nicht mehr fröhlich beteuern: «Der ists» oder: «Der wird es sein», sondern muß klagen: «Der wars.»

 

Literarische Gastfreundschaft

1890

Literaturberichte einer deutschschweizerischen Zeitung beginnen gegenwärtig wohl am natürlichsten und billigsten mit der Hervorhebung einer erfreulichen und nach beiden Seiten hin ehrenvollen Tatsache, nämlich des außerordentlichen Einvernehmens, das seit einem Jahrzehnt auf literarischem Gebiet zwischen Deutschland und der Schweiz waltet. Denjenigen Verdienstteil nun an dem intimen Verhältnis, welcher uns zukommt, wollen nicht wir abschätzen und bespiegeln; uns ziemt die Anerkennung dessen, was uns von der Gegenseite geboten wird; und da zwar wohl jedermann von der jenseitigen Zuvorkommenheit eine ungefähre Vorstellung, nicht aber ein deutliches Bild hat, so hoffe ich, mich weder einer Trivialität noch einer Unbescheidenheit schuldig zu machen, wenn ich hiemit meine diesbezüglichen Beobachtungen aus meiner Schriftstellererfahrung mitteile.

Um vor allem den Wert jenes Entgegenkommens zu würdigen, muß man sich die Unentbehrlichkeit desselben für unsere heimische Produktion vergegenwärtigen. Wäre drüben die Disposition anders – sie könnte anders sein, ohne im mindesten einen feindseligen Charakter zu tragen –, so würde unserem Schriftstellertum der Boden unter den Füßen weggezogen, weit gründlicher, als das mit der französischen Schweiz der Fall wäre, wenn Frankreich sich ihr verschlösse. Wir würden wie vor dreißig Jahren auf kantonale Literatur angewiesen sein, die zwar gewiß wie vor dreißig Jahren Meisterwerke hervorzubringen vermöchte, die jedoch der hinlänglichen Anerkennung und der materiellen Existenzbedingungen ermangelte. Beides ist aber zum Gedeihen einer stetigen Literatur nötiger, als man gewöhnlich annimmt; die Anerkennung deshalb, weil sie der Verstimmung, Verbitterung, Verhärtung, Vereinsamung und ähnlichen ungünstigen Gemütszuständen am wirksamsten vorbeugt, die materiellen Existenzbedingungen, weil sie dem Schriftsteller das gewähren, was jeder andere Beruf als erste selbstverständliche Voraussetzung annimmt, nämlich die Möglichkeit, dasjenige und allein dasjenige zu arbeiten, was in den Beruf einschlägt. Wollte einer einwenden, ein gewisses Maß von Opfern und Entsagungen wäre dem Dichter ersprießlich, so lautet die einfache Antwort, daß das gegenwärtige Maß genügt. Soviel über den Wert des freundnachbarlichen Entgegenkommens; ermessen wir nunmehr sein Verdienst.

Das Verdienst besteht zunächst in seiner Freiwilligkeit. Kunstwerke besitzen, falls sie nicht in anspruchsvolle Theorien eingewickelt, mit revolutionären Waffen gespickt und von fanatischen Banden durchs Land getragen werden, keine unwiderstehliche Nötigung gegenüber den Zeitgenossen; sie liegen still und bescheiden da; man kann sie daliegen lassen und unter dem Schutt der Alltagsproduktion begraben, bis eine spätere Generation sie aufdeckt. Das ist vorgekommen und wird wieder vorkommen. Der schweizerischen Literatur der Gegenwart liegt nun aber nichts so fern als das theoretische Geräusch; gerade hiedurch unterscheidet sie sich im modernen Geistesleben von jeder andern; nicht zu ihrem Nachteil, da sie hiemit den Charakter der Vornehmheit gewinnt. Sie unterscheidet sich durch das nämliche Merkmal zugleich von der heimischen Literatur des vorigen Jahrhunderts, deren Hauptbedeutung in den reformatorischen Ideen lag, die sie nach Deutschland hineinwarf. Es war schlechterdings unmöglich, die Schweizer Poeten des vorigen Jahrhunderts zu übersehen, denn sie griffen kriegerisch ein, man spürte ihre Hiebe, und es galt, sich derselben zu erwehren; irgendwie mußte man sich mit ihnen auseinandersetzen. Das ist jetzt ganz anders.

Wir behaupten nicht, neue ästhetische Prinzipien zu besitzen; wir führen keine streitlustigen Scharen in den Kampf; wir halten uns vielmehr von den deutschen literarischen Parteikriegen grundsätzlich fern, ja wir bekunden sogar einen deutlichen Widerwillen gegen die modischen Trommeln und Trompeten, aus welchem Lager dieselben auch ertönen mögen. Wie gesagt, ich bin überzeugt, daß uns das innerlich von Nutzen sein wird; nach außen jedoch setzt es uns in Nachteil, da wir unter solchen Umständen nicht gewaltsam zu imponieren vermögen; dem einzelnen mag sogar bei dieser Gelegenheit sein bißchen Leben gründlich verpfuscht werden.

Noch mehr. Wir stellen uns vor den Nachbarn nicht als eine verbündete Gruppe hin. Wenn man vor hundert Jahren an einem Schweizer Poeten zog, so kamen die übrigen von selbst mit; man konnte zwar unter ihnen auswählen und auslesen, aber man war gezwungen, auch die übrigen anzusehen und zu prüfen. Die Zeiten haben sich seitdem geändert. Der moderne Schriftsteller ist nicht expansiv; ihm fehlt sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als das Bedürfnis des Anschlusses; wir sind männlicher, fester, persönlicher, aber auch egoistischer geworden. Statt der schwärmerischen, gefühlsweichen und freundschaftsdurstigen Elitenbündnisse des achtzehnten Jahrhunderts treffen wir heutzutage außerhalb der Koterien, die Gott sei Dank in unserm Vaterlande keinen Boden finden, die Vereinzelung. Dieselbe bedeutet an sich keine Trennung. Nach wie vor begründet ebenbürtiges Verdienst Verwandtschaft, und Wert neben Wert zeugt gegenseitige Achtung. Auch darf in der Tat das Verhältnis, das zwischen unsern heimischen Schriftstellern unter sich herrscht, geradezu ein musterhaftes heißen. Allein dieser Text, da ihm die deutlichen Bindestriche fehlen, kann von einem Fremden falsch gelesen werden. Und er wird falsch gelesen. Da wird die Vereinzelung als Einzigartigkeit und die Abgeschlossenheit als Ausnahme ausgelegt. Und das schafft uns im Leben Hindernisse, welche unter andern Umständen unüberwindlich sein würden. Einzig auf seine eigene Kraft, auf sein Glück und seine Geduld angewiesen, muß sich jeder besonders Bahn brechen. Begegnete ihm nun in Deutschland statt der vorhandenen Bereitwilligkeit kühle Gleichgültigkeit, erhielte der Neuling dort zur Antwort: «Wir haben der unsrigen genug, bleiben Sie, wo Sie hingehören», so wäre er verloren.

Das Entgegenkommen ist ferner ein beständiges, oder mit einem anderen, schöneren und richtigeren Wort: ein treues. Politische Verstimmungen, wie sie in neuester Zeit obwalteten, haben dasselbe sogar während der bedenklichsten Periode nicht erschüttert. Die schweizerische Abkunft hat noch niemals einem Verfasser in Deutschland zum Schaden gereicht. Die Gastfreundschaft, die wir dort genießen, ist überhaupt weitherzig und großherzig. Von Eifersüchtelei oder Empfindlichkeit, wenn die Kritik einzelne Schweizer Dichter den heimischen voranstellte, ist keine Spur bemerkt worden; und daß drüben die bedeutendsten Schriftsteller selbst in neidloser Bewunderung der unsrigen mit dem Beispiel vorangegangen sind, ist zwar bekannt, darf jedoch zu ihrer Ehre öfters wiederholt werden. Vielleicht machen wirs uns angesichts der bewährten Weitherzigkeit ein bißchen allzu bequem. Zwar sind wir reichlich entschuldigt, indem wir von den literarischen Zänkereien unserer Nachbarn keine Notiz nehmen, ja, ich vermute sogar, daß man uns für diese Neutralität Dank weiß. Wenn wir dagegen ihre eigenen Erzeugnisse so gut wie gänzlich ignorieren, wenn wir ihre besten Bücher nicht lesen, ihre tüchtigsten Theaterstücke nicht sehen und ihre liebsten literarischen Namen nicht aussprechen mögen, so ist das vielleicht schon der Zufriedenheit zu viel. Für den Handel mag es einen Triumph bedeuten, wenn ein Land mehr exportiert als importiert, auf geistigem Gebiet jedoch könnte einige Gegenseitigkeit nicht schaden. Ein Punkt jedenfalls bedarf meines Erachtens einer Remedur. Es gibt in Deutschland mehrere literarische Unternehmungen ersten Ranges, deren Herausgeber nicht bloß die Schweiz bevorzugen, sondern sogar bewußter- und ausgesprochenerweise von dem Streben beseelt sind, das Verständnis für schweizerisches Wesen in Deutschland zu vermitteln. Ich könnte diese Unternehmen nennen, und nur die Erwägung, daß hier in diesem Zusammenhang alles vermieden werden muß, was als eine Empfehlung einzelner ausgelegt werden könnte, hält mich davon ab, es zu tun. Wer übrigens von den illustrierten Journalen aufwärts bis zu den vornehmsten Revuen immer die hervorragendsten Organe auswählt, wird schwerlich weit fehlgreifen. Wenn nun auf der einen Seite dergleichen Begünstigungen aus freundschaftlicher Vorliebe existieren, und ich versichere, daß sie existieren, von der andern Seite dagegen jede Antwort ausbleibt, so ist wohl der Anlaß zur Verwunderung vorhanden. Alle Bibliotheken, öffentliche Lesezirkel, Kaffeerestaurants und Bierhallen in Ehren, hier ist ein Punkt, wo mir die Privatinitiative – man nennt es auch ‹Abonnement› – nicht übel angebracht schiene.

Endlich muß noch hervorgehoben werden, daß sich das Wohlwollen uns gegenüber nicht auf einzelne Landesteile oder auf gewisse Fraktionen beschränkt, sondern sich als ein allgemeines erweist. Wahrscheinlich kostet es den einen oder den andern einige Überwindung, mit den übrigen Schritt zu halten; vielleicht ist auch dieser oder jener Handschuh zur prompten Umkehrung eingerichtet, und jedenfalls gilt bei obwaltender Hyperästhesie mehr als je die Regel, nicht zu blasen, was einen nicht brennt, und nicht zu kratzen, was andere beißt. Wie dem übrigens sei, sicher zeigen uns gegenwärtig alle Klassen und Parteien in Deutschland die nämliche Zuvorkommenheit in literarischen Dingen. Sollte ich von diesem Satz die literarische Partei der sogenannten ‹Realisten› ausnehmen müssen? Ich glaube und hoffe das Gegenteil. Übrigens ist diese Gruppe noch oder schon so zerfahren, daß man die rechte Hand nicht dafür verantwortlich machen darf, was die linke tut. Jeder dieser Herren ist ein Staat für sich und hat seine eigene auswärtige Politik. Von den Berliner Vertretern des Realismus auf theatralischem Gebiete steht fest, daß sie zu den begeistertsten Anhängern der Zürcher Poeten zählen.

Um von der Allgemeinheit der deutschen Gastfreundschaft eine Vorstellung zu gewinnen, braucht einer bloß das Heer der deutschen Zeitschriften zu mustern; es wird eine große Ausnahme sein, wenn er in einer derselben keinem schweizerischen Mitarbeiter begegnet. An auserlesenen Orten dominiert sogar zeitweilig die schweizerische Mitarbeiterschaft. Hiebei fällt allerdings eine Sonderbarkeit hinsichtlich der Wahl und Verwendung auf. Nämlich eine einzige deutsche Monatsschrift, so viel ich weiß, bekundet Appetit nach derjenigen Arbeit, in welcher wir eine gewisse nationale Sicherheit der Hand gewonnen haben, ich meine nach der konzentrierten, Satz für Satz das Bild aufbauenden Erzählung; sämtliche übrigen begehren von uns ausschließlich entweder die gelehrte Abhandlung oder noch dringender den mit Geist und Fröhlichkeit geschriebenen Aufsatz. So angenehm es uns nun berührt, daß wir auch in dergleichen Lieferungen Befriedigung erzielen, so erweckt doch die unerwartete Anfrage stets von neuem unser Befremden, etwa so, wie wenn einer beim Müller Zigarren heischte oder beim Bäcker Pomade. Wir sind germanische Nußkerne, verzuckert mit französischer Kandierung. Der Deutsche nun knuspert begierig an dem welschen Überguß, läßt dagegen den deutschen Kern mit höflichem Danke liegen, falls er ihm nicht nachdrücklich in den Mund geschoben wird. Dieses Bild zeichnet die Absonderlichkeit des waltenden Verhältnisses zwischen diesseitiger Arbeit und jenseitiger Nachfrage ziemlich genau. Item, das hindert keineswegs, die erfreuliche Tatsache anzuerkennen und zu verdanken, daß die bedeutendste und modernste der literarischen Mächte, diejenige, welche sämtliche übrigen zusammengenommen an Einfluß überwiegt, ich meine die Zeitschrift, uns offene Pforten, gastlichen Empfang und die ehrenvollsten Plätze anbietet.

Außerhalb der Zeitschriften verhält es sich, um die Wahrheit zu sagen, anders, teilweise sogar umgekehrt, nicht in der Gesinnung, aber in der Tat. Von dem deutschen Verlags- und Buchhandel zum Beispiel wird der Schweizer Schriftsteller, wenige Ausnahmen abgerechnet, die sich am Daumen und Zeigefinger der rechten Hand abzählen lassen, schwerlich ein Lied im höheren Chor singen. Freilich greift auch der deutsche Schriftsteller, wenn er auf dieses Thema zu reden kommt, nicht zu Harfe und Githith. Es bleibt uns also die Genugtuung, wie das eigene Kind behandelt zu werden, im Sinne jenes Schuhmachers aus den «Fliegenden Blättern», welcher zwar den fremden Lehrjungen erbärmlich prügelte, aber seine eigenen Knaben und Mädchen nicht minder. Anmerkungsweise gehört übrigens hieher die Erinnerung, daß einer der bekanntesten und geehrtesten Schweizer Dichter ursprünglich von einem deutschen Verleger entdeckt und gefördert worden ist.

Das deutsche Theater bedauert, daß wir ihm noch niemals vorgestellt worden seien; ob die Sehnsucht, unsere Bekanntschaft zu schließen, eine fieberhafte sei, dürfen wir füglich bezweifeln. Hier, aber auch nur hier, herrschen noch einige Vorurteile gegen uns, die jedoch auf keiner Böswilligkeit beruhen, sondern einfach auf der hier üblichen Behaglichkeit, so daß ihre Überwindung bloß eine Frage der Zeit und des Talentes sein kann.

Von der deutschen Kritik ein Entgegenkommen zu verlangen, wäre eine schnöde Ungerechtigkeit; denn abgesehen davon, daß es dato in Deutschland keine Kritik gibt, das heißt eine Behörde, welche zugleich Urteilsfähigkeit, Gewissenhaftigkeit und maßgebende Autorität besäße, so huldigt sie der Überzeugung, man müsse, ehe man etwas merke, immer erst abwarten, bis ein halbes Dutzend Schriftsteller von vorn und ein paar Dutzend Schulmeister von hinten einem die Nase darauf stoßen: das ist eine Überzeugung wie eine andere und wie jede Überzeugung ehrwürdig.

Die Neidlosigkeit der namhaften Schriftsteller habe ich voll und ganz und gerne anerkannt; ich möchte auch nicht das mindeste davon zurücknehmen, sondern vielmehr noch die Kameradschaftlichkeit, ja Freundschaft betonen, deren unsere Meister sich von ihnen zu erfreuen haben. Irgendwelche Förderung darf der einzelne freilich bei dem obwaltenden Amerikanismus von dieser Seite nicht erwarten; jedenfalls nicht früher, als bis er bewiesen hat, daß er dieselbe nicht mehr braucht.

Höchst auffallend ist die Beobachtung, wie in demselben Maße als die literarischen Zeitschriften uns begehren, die Feuilletonredaktionen der politischen Zeitungen uns äußerst gerne missen, wenigstens was die Erzählung betrifft. Die Sache erklärt sich teils aus dem lokalen Charakter solcher Unternehmungen, teils aus dem Umstand, daß jene Kohlfelder den Maschinenbetrieb und außerdem eine systematische Bewässerung voraussetzen; wir dagegen arbeiten mit der Hand und versprechen uns mehr vom Sonnenschein als von der Hydraulik.

Untersuchen wir nun zum Schlusse noch auf dem Wege der Vergleichung den Charakter und die Beweggründe der Gastlichkeit. Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß wir trotz aller erwiesenen Gunst dennoch nicht auf der Linie der meistbegünstigten Nationen ständen. Franzosen, Skandinavier und Russen erhalten im literarischen Treiben gegenwärtig auffälligere, hitzigere und öftere Ehrenbezeugungen; vor den ersten wirft man sich auf die Knie, die zweiten hebt man auf die Schultern, und die dritten steckt man auf die Fahne, während man uns einfach bei der Hand nimmt. Im Grunde jedoch liegt gerade darin eine doppelte Auszeichnung. Das Aufsehen, welches jene erregen, verdanken sie nämlich nicht sowohl ihrer Kunst als ihrem ästhetischen Spektakel und ihrem theoretischen Aufputz. Nun läuft zwar die Menge auf der Straße dem Tambourmajor und der Janitscharenmusik weit begieriger nach als dem Offizier, in der Gesellschaft indessen zieht man diesen vor. Indem daher die Erscheinung unserer Meister weder Aufläufe noch Keilereien verursacht, hält man dieselbe offenbar für ernst und vornehm. Das ist die eine Auszeichnung. Die andere ist nicht minder schmeichelhaft. Die Führerrolle im Geisteskampf würde jenen nicht gewährt werden, wenn sie nicht Fremde wären, wenn man sie nicht erfinden und übersetzen könnte. Denn was man übersetzen kann, das sieht man für ein Evangelium an. Wir sind nun dem Deutschen keine Fremden; herzlich und nachlässig wie Familienglieder heißt er uns willkommen; man duzt uns, man zieht unseretwegen nicht den Frack an; heute erhalten wir die rechte, morgen die linke Hand, wie es gerade kommt, und wenn man gerade viel zu tun hat, so läßt man uns wohl auch stehen. Dafür erlaubt man uns aber auch die unbefangene, ungeschminkte Rede und gelegentlich einen herzhaften, vertraulichen Nasenstüber. Ist das nicht die höchste Auszeichnung? Ist das nicht mehr wert als die tiefsten Bücklinge mit Regimentsmusik? Wir wenigstens sind mit der uns zugewiesenen Rolle von ruhigen, stetigen und geachteten Mitarbeitern in Poesie und Prosa reichlich zufrieden. Wie bisher wollen wir gerne gleich den Jungfrauen im Ballsaale auf unsern Isolierschemeln sitzen und warten, ob man uns engagiere oder nicht; unsere Hauptsorge soll bleiben, daß wir anständig sitzen. Wie bisher möge man uns dafür die Erlaubnis gewähren, jenseits der Parteien zu bleiben, unsere Aufmerksamkeit einzig auf die Arbeit zu richten und unsere Werke demjenigen zur Vermittlung anzubieten, der nach ihnen fragt, ohne Rücksicht darauf, ob er eine rote oder eine schwarze Krawatte, einen struppigen oder einen geschniegelten Schnurrbart hat. Mehr verlangen wir nicht, für das aber, was man uns unverlangt gewährt hat, unsern Dank auszusprechen, halte ich für wohl angemessen.

Ein kurzer, doch inhaltreicher Satz muß schließlich noch gesagt werden: dieselbe Gastfreundschaft, deren wir uns in Deutschland zu erfreuen haben, genießen wir auch in Deutsch-Österreich, und zwar, wie es den Anschein gewinnt, je länger, desto mehr.

 

Der Einfluß der deutschen Einheit auf die Poesie

In den fünfziger und sechziger Jahren, als die deutsche Einheit ein Traum der Phantasie war, bekannten die Ästhetiker mehr und mehr die Überzeugung, daß der nicht eben glänzende Zustand der damaligen Poesie aus der politischen Zersplitterung zu erklären sei. Eine große Poesie-Epoche, so lautete die Lehre, kann nur zu Zeiten eines großen nationalen Aufschwungs entstehen, und die Vorbedingung des Dichtens ist die patriotische Tat. Einzelne, wie Vilmar und Gervinus, gingen darin so weit, daß sie rundweg alle poetische Tätigkeit dermalen für verlorene Mühe erklärten und den Dichter aufforderten, die Feder niederzulegen und lieber ein ‹männliches› Werk zu schaffen. Sollte sich einst das große Ereignis der deutschen Einheit begeben, dann käme die Epoche der Poesie, und zwar freiwillig. Was früher keine Anstrengung hervorzubringen vermochte, das wächst in der goldenen Zeit des nationalen Aufschwungs von selbst aus dem Boden. Jedermann aber stimmte darin überein, daß man zum wenigsten das Epos einstweilen in den Schrank sperren müsse; nachdem die deutsche Einheit geschehen, werde es dann um so glänzender strahlen.

Nun, was man damals kaum zu träumen wagte, ist überraschend schnell Tatsache geworden; und nach einem bald zwanzigjährigen Bestand der nationalen Wiedergeburt sind wir wohl berechtigt, zu fragen, was dieses goldene Zeitalter in Wahrheit geleistet hat.

Was zunächst das Epos betrifft, so steht dasselbe noch immer im Schranke; wir sehen noch nichts davon; wir glauben, es ist dort abgestorben; und das System, gewisse Kunstformen, welche die ästhetische Weisheit für unopportun ansieht, in Konserven einzumachen, hat sich beim Epos jedenfalls nicht bewährt. Nach den glorreichen Schlachten des letzten deutsch-französischen Krieges hätten, der Theorie gemäß, die Homere wie Pilze aus dem Boden schießen müssen. Wo sind sie?

Steht es mit dem Drama, dem begünstigten Lieblingskind der Ästhetiker, besser? Hat der großartige nationale Aufschwung einem analogen Aufschwung der dramatischen Poesie gerufen, wie die Propheten voraussagten? Leider einem geradezu schmählichen Abschwung. Wenn wir die Verhältnisse, wie sie gegenwärtig im deutschen Drama herrschen, sehen, so trauen wir unsern Augen nicht. Das deutsche Drama nationalen Datums treibt einen Franzosenkultus, der schlimmer ist als der Franzosendienst der Gottsched, da Gottsched wenigstens die großen französischen Tragiker bewunderte, während unser neudeutsches Theater jeden Pariser Auswurf gläubig entgegennimmt. Es ist kein Pariser Stück zu schlecht, daß es nicht in Berlin enthusiastisch beklatscht und von der Presse in den Himmel erhoben würde. Das ist der Aufschwung des deutschen Dramas nach den heldenhaften Siegen und nach der Gründung der deutschen Einheit! Soweit geht heutzutage die unwürdige kritiklose Anbetung alles Französischen im Gebiet des Dramas, daß eine Einwendung als Beleidigung empfunden wird, daß demjenigen, der dem Deutschen zuruft: «Schämt euch euerer sklavischen Abhängigkeit von den Franzosen!», geantwortet wird: «Du bist deutschfeindlich». Und das geschieht selbstverständlich mit derselben Zunge, mit welcher man Lessing als einen Halbgott preist.

Was die Lyrik betrifft, so datieren die bedeutendsten der lebenden Lyriker aus den ruhigen Zeiten der ‹deutschen Schmach› oder aus der friedlichen Schweiz, welche unseres Wissens in neuester Zeit kein Heldenzeitalter erlebte. Von der neuen Reichsepoche dagegen haben wir zum Geschenk eine belfernde Schule realistisch-brutaler formloser Lyriker erhalten, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen scheint, den Ruhm und das Verdienst anderer herunterzureißen. Wer dies Gemälde für zu schwarz halten sollte, der verifiziere die Verhältnisse mit einer anderen Kontrolle.

Er bemühe sich zu einem Verleger und erkundige sich bei ihm, wie es mit der Nachfrage nach Poesie im Zeitalter des nationalen Aufschwungs steht. Er wird die Antwort erhalten: Das Epos ist gänzlich unverkäuflich, Lyrik kauft niemand mehr, und ein Drama muß zum vornherein auf den Kauf verzichten. Was sagt hiezu die moderne Ästhetik? Nun, eine moderne Ästhetik gibt es gar nicht; alle Gedankentätigkeit der Literaturfreunde konzentriert sich jetzt darauf, Gedenkschilder an Häuser anzubringen, in denen einmal Goethe ein Omelette gegessen. Die Ästhetik hat zugunsten der Literaturgeschichte abgedankt, und die Literaturgeschichte ihrerseits sieht ihre Hauptaufgabe darin, vor berühmten Namen wettzukriechen. Ein ungedruckter Brief der Witwe des Schneiders, welcher dem Vater von Goethes Friederike die Hosen geliefert: das ist eine würdige Beschäftigung der nationalen Literaturgeschichte. Dergleichen ist ein poetisches Ereignis, davor gerät alle Welt in Aufregung. Wir wollen keineswegs ein Sündenregister aufstellen; wenn aber das literarische Berlin der Kaiserzeit nicht alexandrinisch aussieht, so riecht es byzantinisch. Selbst ein Lobredner aber wird nicht den Mut haben, zu bestreiten, daß die Prophezeiungen eines Aufschwunges der Poesie durch nationale Begeisterung im ganzen ein jämmerliches Fiasko gemacht haben.

Woher kommt das? Ist das neue Deutsche Reich mit seiner nationalen Begeisterung nicht waschecht? Das zu behaupten sei ferne von uns. Aber die ganze Lehre von einer Kausalbeziehung zwischen politisch-nationaler Entwicklung und Poesie war ein Vorwitz, und die Berechnung der Laufbahn des Epos, welches wie ein Komet oder wie ein Vogel Phönix nur alle tausend Jahre einmal auftauchen dürfe, ist ein Aberwitz. Auf welchem Wege kam man indessen zu solchen zuversichtlichen Theorien, deren Haltlosigkeit die Tatsachen so schlagend widerlegt haben? Auf dem Wege einer unreifen Geschichtsphilosophie.

Es gibt Menschen, welche mit einem beneidenswerten Götterblick begabt sind, der ihnen erlaubt, jedes historische Faktum nach seinem Lehrwert zu erkennen und aus zwei bis drei zufälligen und oberflächlichen Analogien ewige Wahrheiten der Völkerpsychologie zu demonstrieren. Leider sind das meistens dieselben, welche auch nicht eine historische Epoche gründlich kennen, und sehr oft dieselben, welche in Verlegenheit kämen, wenn sie die Jahrhunderte voneinander unterscheiden müßten. Aus diesen Gründen, wir meinen aus der durchschnittlich ganz ungenügenden historischen Kenntnis bei den Schreibern und bei den Lesern empfahl sich ganz besonders die griechische Geschichte der Ästhetik; hier konnte man ungestraft und unkontrolliert exemplifizieren. Und aus einer für den rhetorischen Gebrauch zurechtgebürsteten griechischen Geschichte stammen denn auch jene nationalphilosophischen Theorien, welche wir signalisierten und welche noch heute, trotz dem Dementi der Tatsachen, in den Köpfen weiter spuken. Warum nahm die griechische Poesie, so fragte man sich, im fünften Jahrhundert in Athen einen so plötzlichen Aufschwung? Und man antwortete: Weil die glorreichen Perserkriege eine nationale Begeisterung geschaffen und die nationale Begeisterung die Quelle jeder echten Poesie ist. Quod erat probandum. Schade nur, daß sämtliche Tatsachen, sowohl diejenigen des Vordersatzes als des Nachsatzes falsch sind.

Daß nämlich die griechische Poesie nach den Perserkriegen einen Aufschwung genommen hätte, ist nur zum kleinsten Teil richtig; und die Griechen selbst teilten nichts weniger als diese Empfindung. Das Epos, welches zufolge der germanischen Ästhetik damals hätte eine Marathoneis, Salameis, Platäis nach der andern hervorbringen müssen, blieb damals ebenso hartnäckig aus wie in Deutschland nach dem Jahre 1871. Nun tröstet sich freilich die Theorie damit, daß schon Homer das Produkt einer nationalen Völkerwanderungsbegeisterung und der Kämpfe gegen den asiatischen Erbfeind gewesen. Da können wir nur wiederum die Literarhistoriker bewundern, welche von dem psychologischen Zustand Ioniens um das Jahr 1300 bis 800 vor Christo so genau unterrichtet sind, und wir bitten diejenigen, die solches wissen, dringend, uns die Quellen mitzuteilen, woraus sie schöpfen. Was vollends die zeitliche und örtliche Umgebung und das Produktionsklima des Dichters der Homerischen Gedichte selbst betrifft, und darauf kommt es ja im Grunde einzig an, so wissen wir darüber nicht mehr als über den Geisteszustand Simsons. Und ähnlich verhält es sich mit den nationalen und individuellen Vorbedingungen der Nibelungen. Je dunkler die Zeit war, in welcher ein Epos entstand, um so zuversichtlicher glaubte man es aus unbewußten nationalen Instinkten wie aus einer Höhle herleiten zu dürfen. Diese Logik scheint uns nicht überzeugend. Was aber die Lyrik betrifft, so war dieselbe ein Produkt der vorpersischen Zeit, also der Zeit der nationalen Zerrissenheit. Bleibt allein das Drama, genau ausgedrückt: der dramatische Dialog. Dieser aber, wie wir bemerken müssen, ist ein Kind der Rhetorik und Sophistik. Ferner behandeln ja die athenischen Tragiker, so viel ich weiß, keineswegs die Seelenkämpfe des Themistokles oder die ergreifende Schuld des Pausanias, sondern griechische Märchen aus der goldenen Fabelzeit. Das stimmt also wiederum nicht.

Aber selbst die nationale Begeisterung der Griechen während und nach den Perserkriegen, mit welcher man so munter exemplifiziert, suche ich vergebens. Wo und wann fand dieselbe statt? Wer erzählt davon? Herodot, und ich wüßte nicht, von wem sonst die Herren Ästhetiker ihre Nachrichten holen, ist voll der trübsten Bilder und der trübsten Stimmungen. Überall Ratlosigkeit, überall Verrat, überall Uneinigkeit, kleinliche Eifersucht und Schwachmütigkeit. Wenn jemand mehr Glück als Verstand gehabt hat, so waren es die Griechen zur Zeit der Perserkriege. Oder kam die Begeisterung vielleicht nachher? Da weiß ich wiederum keine andere Quelle als Thukydides. Thukydides aber sagt es deutlich und klar, daß die Perserkriege fast spurlos in dem Gemüt der Griechen vorübergingen, daß sie wie eine Naturkalamität wirkten, welche im Moment zwar erschreckt, an welche man aber, nachdem sie glücklich vorüber ist, kaum mehr zurückdenkt. Und solchen Zeugnissen gegenüber exemplifiziert man mit griechischer Nationalbegeisterung, um ästhetische Orakelsprüche zu stützen und über eine große Gesamtkunstform wie das Epos eine Bannbulle zu erlassen!

Wir sind natürlich himmelweit entfernt davon, den jähen geistigen Aufschwung Athens im fünften Jahrhundert bestreiten zu wollen; aber wir bestreiten, zwar nicht jeden Zusammenhang desselben mit den Perserkriegen, sondern den Kausalzusammenhang der athenischen Kunst und Literatur mit den Perserkriegen. Das perikleische Zeitalter war ein Zeitalter des Friedens, und zwar eines Friedens von dreißig bis vierzig Jahren, es hat also einige Analogie mit der Zeit des Julikönigtums. Es war ferner eine Zeit des ökonomischen Gedeihens, des merkantilen Schwindels, der behaglichen Aussaugung abhängiger Bundesgenossen, und speziell die herrlichen Bauten des Phidias verdanken ihr Entstehen der Begeisterung, welche die Ankunft der gestohlenen Bundeskasse in Athen erweckte. Will man das eine nationale Begeisterung nennen, meinetwegen.

Das einzige, was die Geschichte Athens und jedes andern Volkes über den Entstehungsgrund der poetischen Zeitalter mit Sicherheit beweist, ist die Tatsache, daß für ein solches Zeitalter Poeten nötig sind. Mit Wahrscheinlichkeit beweist sie uns, daß die Poesie wie jeder andere Luxusartikel in Perioden des Reichtums, sei es des nationalen oder des fürstlichen oder des privaten, am ehesten Duldung, Schutz und Pflege findet. Wenn daher ein glücklicher Krieg neben nationaler Begeisterung auch Geld ins Land bringt, so kann er auf Umwegen die Poesie fördern; vorausgesetzt, daß Poeten im Lande sind. Denn sonst entsteht trotz aller nationaler Begeisterung und trotz dem Geldstrom einfach ein Gründungsschwindel. Und wenn ich nicht irre, so ist etwas dergleichen nach dem Jahre 1871 in Deutschland geschehen. Die Poesie der deutschen Einheit sang jene Klimpermusik, welche auf die schöne Galatee einen so großen Eindruck machte, nach Banknoten. Noch ein anderes ist wahrscheinlich, nicht bloß aus der Geschichte, sondern auch aus dem Verstande, nämlich: eine nationale Begeisterung für Kunstgeschwätz wird schwerlich der Poesie förderlich sein.

 

Literarischer Streifzug

Stehen wir an einem Wendepunkt in der Literatur? Ist die ‹Epigonenepoche› vorüber und eine neue Ära im Anbruch? Das ist die Frage, über welche seit einigen Jahren in den literarischen Kreisen und Zeitschriften gestritten wird. Das ‹Jüngste Deutschland› ist auf dem Plan erschienen, hat den Alten den Fehdehandschuh hingeworfen und steht in trotziger, kampfesmutiger Haltung da, um den Gegner zu empfangen.

Wenn uns monatelang, jahrelang in die Ohren geschrien wird: «Die Literatur ist verderbt, die Poesie versumpft, es muß anders werden!» – und wenn wir zugleich die Versicherung hören: «Wir sind die Retter, wir wollen euch helfen, wir bringen im Handumdrehen eine neue Blütenperiode der deutschen Dichtung fertig» – dann müssen wir schon aufmerksam werden. Auch ich bin mit einigem Fleiße den Bewegungen des ‹Jüngsten Deutschlands› gefolgt, ich habe die Hauptwerke der Führer der neuen Schule gelesen, und ich glaube deren Dogmen so gut zu kennen, als wäre ich einer ihrer Jünger. Ich muß nun aber gestehen, daß ich mir trotzdem nicht darüber klar bin, was das ‹Jüngste Deutschland› eigentlich unter der Wiedergeburt unserer Literatur versteht. Daß es anders werden soll und muß, habe ich bis zum Überdruß gehört; daß unsere Poesie verkommen, dilettantenhaft und Gott weiß was ist, weiß ich nachgerade auch, und schließlich bin ich mir auch darüber klar, daß unsere gesamte Literatur wert ist, vernichtet zu werden. Nur davon kann ich mir keinen Begriff machen, was für ein Gebäu sich auf den Trümmern des zusammengekrachten ‹Epigonentums› erheben soll. Fragte ich aber die ‹Jüngsten Deutschen›, so wurden mir der Antworten so bunte und mannigfaltige, daß es mir mühlradartig im Kopf herumging und ich schließlich so klug war wie zuvor. Denn – und das ist das Wunderbare, Tragikomische – sobald die ‹Jüngsten Deutschen› beginnen, ihr Programm zu entwickeln, so laufen sie auseinander wie geschmolzene Butter. Der eine will dies und jener das, natürlich wollen der dritte und vierte etwas anderes, und schließlich nehmen sich die Herren selbst bei den Ohren und zerzausen sich so weidlich, daß wir ‹Epigonen› unsere helle Freude daran haben könnten. Hier predigt einer Rückkehr zur Natur, das heißt zur zolaschen Natur, dort tritt wieder die Neigung zu einem vorsintflutlichen Idealismus hervor; der eine, als Lump kostümiert und mit schlottrigen Versen sich spreizend, gabelt die soziale Frage auf und berserkert gegen jeden, der sich eines guten Mittagstisches und eines anständigen Anzugs erfreut, der andere aber gibt sich als nationalen Teutonen, der sich von Juden und rohen Eicheln nährt. Wieder einer zieht mit Glück gegen den reinen Reim zu Felde, und ein Nachbar erklärt ein Gedicht schon deshalb, weil es in genießbarer Form dasteht, für nichtsnutziges Dilettantenwerk. Gemeinsam haben sie alle den Widerwillen gegen die ‹ausgefahrenen Geleise der Poesie›; ‹neue Stoffe, neue Bahnen› ist das Feldgeschrei. Wir müssen modern, der Dichtung sollen bisher unbekannte Gebiete erschlossen werden! Und so weiter. Die Poesie soll mit Dampf auf die Höhe der Zeit hinaufgeschraubt werden, ansonst ist sie nicht mehr daseinsberechtigt, und die ‹Massen› wenden sich noch mehr ab wie bisher.

Wer sich durch diesen Redeschwall betäuben läßt, der wird möglicherweise auf die neue Lehre schwören. Es hört sich ja so ungeheuer zeitgemäß an, wenn dargetan wird, es sei läppisch und abgeschmackt, heute noch die Reize der Rose besingen zu wollen, der moderne Dichter habe andere, höhere Aufgaben. Der Dichter darf ja doch nicht allein zurückbleiben; er muß auf der Höhe der Situation stehen, und so weiter. Schade nur, daß diese Hebammen der Wiedergeburt unserer Poesie von Dichtung keine Ahnung haben; sie wüßten sonst, daß das Unsterbliche in ihr gerade in den einfachsten seelischen und körperlichen Empfindungen beruht. Ja, gerade die Lyrik ist schließlich nichts als die Freude an Fleisch und Blut, und je unmittelbarer sie hervortritt, desto ursprünglicher und berechtigter ist die Poesie. Die Gedankendichtung ist gewiß berechtigt, aber sie muß immer wieder ihre Wurzeln in die lebenswarme Empfindung einsenken, sonst wird sie zum hohlen Phrasenschwulst. Frühling, Liebe, Lenz, Wein, Lied: diese verbrauchten Dinge, welche doch die eigentlichen Genüsse des Menschen in sich schließen, sind ewig jung und werden es bleiben; auch die späteren Dichtergeschlechter werden trotz des ‹Jüngsten Deutschland› hievon singen.

Die Dampfkraft und die Elektrizität können heutzutage so wenig ein Gegenstand poetischer Behandlung sein, als der Kegelschnitt es bei den Alten sein konnte. Die soziale Frage wird durch die Dichter nicht gelöst werden, und so wenig wir dem Poeten verwehren wollen, sie zu behandeln, so wenig hat er doch ein Recht, sie anders behandeln zu wollen als jeder andere Künstler. Alle Kunst ist Selbstzweck: wer die Dichtkunst in den Dienst irgendeiner wissenschaftlichen, politischen oder sonstigen Richtung stellen will, der würdigt sie herab. Sie ist um ihrer selbst willen da. Sie soll das rein Menschliche in uns, unsere Empfindungen, unsere Begierden in künstlerischer Vollendung darstellen und zum Bewußtsein bringen. Sie ist losgelöst von Zeit, Sitte, Wissenschaft, Religion und öffentlicher Meinung. Sie ist absolut, sie ist das Schöne, das Ewige; vergänglich und lückenhaft ist die Wissenschaft: was ist heute Archimedes in den Augen unserer Mathematiker? Und was ist Homer in den unseren!

Es ist eine vermessene Torheit, wie sie nur in einem Menschenschädel entstehen kann, die Poesie und besonders die Lyrik nun auf eine neue Weide treiben zu wollen, weil die alte abgegrast sei. Du lieber Himmel, was soll denn werden, wenn auch einmal die neuen Gebiete erschöpft sind?

 

Literarischer Hader

In der Lesegesellschaft meines Wohnortes liegen auf einem besonderen Tische die Broschüren. Wochen vergehen zuweilen, ehe ich Muße finde, mich mit ihnen zu befassen; so oft das aber geschieht, treffe ich zu meinem Erstaunen regelmäßig eine Streitschrift gegen eine literarische Persönlichkeit von Namen. Heute muß Baumbach, Julius Wolff oder Ebers herhalten, morgen Blumenthal, übermorgen Lindau, ein andres Mal sogar Paul Heyse oder Wildenbruch; mitunter werden wohl auch die Schriftsteller rottenweise abgeschlachtet, den Musen zum Namenstag. Mein Register ist, wie der Leser bemerkt, weit entfernt davon, vollständig zu sein, indessen genügt mir dasselbe schon im Übermaß, um mich befremdet nach der Ursache dieser Bissigkeit zu fragen. Ich sehe gar wohl ein, daß die Herren Verfasser in guten Treuen, um der Sache willen, im Namen des Geschmacks und der Poesie sich ereifern, allein ich kann nicht begreifen, was Geschmack und Poesie dabei gewinnen, wenn ein Schriftsteller den andern in die Waden beißt. «Wir müssen den falschen Größen die Maske herunterreißen, damit das Publikum ihr wahres Angesicht sehe», so lautet jedesmal die Entschuldigung. Allein abgesehen davon, daß es eine unmanierliche Art des Demaskierens ist, wenn man dem Nächsten die Haare mitausrauft, gestatte ich mir, den streitbaren Herren Verfassern einfach nicht zu glauben, daß ein einziger unter unseren Schriftstellern eine Maske trägt. Sie schreiben und dichten vielmehr, wie sie es können und vermögen, jeder nach seinem Talent, und zwar meistens mit einem Talent, das denn doch über dasjenige der geharnischten Heißsporne weit hinausragt, da die letztern kaum über eine geziemende Sprache verfügen.

Mich dünkt, man sollte sich ein für allemal darüber verständigen, ob ein Mensch dadurch, daß er ein Theaterstück aufführen läßt oder ein Buch veröffentlicht, die Pflicht übernimmt, wenigstens zwanzig Jahrhunderte zu erleuchten. Wenn ja, gut, dann schließe man unsere literarischen Verkaufs- und Schaubuden und erlabe sich fortan einzig an der philologischen Textkritik der Klassiker. Wenn aber nein, dann begreife ich nicht, was uns hindern sollte, an jedem Talent in seiner Art Freude zu empfinden und ihm seinen Erfolg zu gönnen, selbst wenn der letztere weit über das Verdienst hinausreichen würde. Das Publikum hat seine Launen und seine Lieblinge und wird dieses Vorrecht bis ans Ende der Tage behalten; ich gebe zu, daß es sich seine Lieblinge nicht durchaus nach ihrem literarischen Wert aussucht, ich gebe ferner zu, daß es besser wäre, wenn es anders wäre; allein ich vermag in diesem Übelstand keinen passenden Anlaß zu unpassenden Streitschriften zu finden, welche oft einem Pamphlet verzweifelt ähnlich sehen; ja noch mehr, ich kann den Übelstand nicht einmal für wichtig halten. Indem ich das sage, wird mich schwerlich jemand der Parteilichkeit verdächtigen, da ich wahrlich nicht zu den Lieblingen des Publikums gehöre. «Aber die falschen Tagesgötzen versperren ja dem wahren Talent den Weg!» Wohl uns Unbekannten, wenn uns nichts anderes im Wege stände, als die zwanzigste Auflage eines Baumbach oder die hundertste Aufführung eines Blumenthal! Aber selbst angenommen, dergleichen stände uns im Weg, so würde es sich immer noch fragen, ob es schön und wohlanständig sei, die Bahn mittelst literarischer Kesseltreiben frei zu machen.

Kurz, je länger ich den Eifer gegen die ‹falschen Tagesgötzen› beobachte, desto mehr befestigt sich meine Überzeugung, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit. Den Geschmack des Publikums hat noch niemand durch Knüttel gebessert, sondern mittelst schöner Werke; übrigens wäre es ein Glück, wenn es keinen schlechteren Geschmack gäbe als denjenigen des Publikums, ich wüßte schlimmere Geschmackssorten zu nennen. Hingegen tut der heftige Hader von Schriftstellern gegen Schriftsteller, selbst wenn er eine prinzipielle Fahne schwingt, unfehlbar der Würde des Standes Abbruch. Wie können wir denn verlangen, daß uns jemand achte, wenn wir einander selber nicht achten, wenn es bald keinen einzigen lebenden Schriftsteller mehr gibt, dem nicht schon von irgendeinem Landsknecht der Musen ‹die Maske heruntergerissen› worden wäre? Es gibt ein altes, bewährtes Mittel gegen den Ärger, welchen einem die angebliche Unzulänglichkeit eines andern verursacht: besser machen. Wem dieses Mittel zu teuer ist, der darf und soll zwar an den Lieblingen des Publikums Kritik üben, wie er es versteht, und wie er es für gerecht hält, allein im Tone der Höflichkeit, ja, ich wage sogar zu fordern, der Achtung.

 

Eine Roseggerhetze

Das Neueste aus dem literarischen Leben Deutschlands ist eine Roseggerhetze. Das Bedürfnis danach war dringend; denn darin, nicht wahr, zeigt sich ja doch das Interesse für die Literatur, daß die wenigen, die etwas sind und können, von denen, die nichts sind und nichts können, verunglimpft werden. Den Anlaß oder Vorwand zu dem Feldzug lieferte das Heinedenkmal. Nachdem man uns nämlich jahrzehntelang Heine wie einen leibhaftigen Teufel in Menschengestalt hingemalt, vor dessen bloßem Namen sich die Frommen im Lande bekreuzten, wird jetzt sein Leichnam plötzlich als heilige Monstranz herumgetragen, vor deren Anblick alle Welt gläubig auf die Knie fallen soll, auf ein Klingelzeichen. Es ist der alte orthodoxe Fanatismus, nur umgewendet, das Futter zu oberst.

Unsere Leser werden von dem unerfreulichen Vorgang kaum etwas erfahren haben; er läßt sich übrigens in zwei Worten berichten. Zugunsten eines Heinedenkmals lief so etwas wie ein Katechismus um, des Inhalts: «Was dünket euch von Heine?»

Rosegger nun antwortete, es dünke ihn überhaupt nichts von Heine, weder in gutem noch in bösem, da er ihn nicht genügend kenne, um sich ein Urteil über ihn zu erlauben. Dieser Ausspruch ist das Corpus delicti, auf Grund dessen er seither in den schnödesten Tonarten geschmäht wird. «Ich vermag beim besten Willen in dem Ausspruch nichts Böses zu erkennen», werden wohl unsere Leser sagen. Das glaube ich gerne, aber mit dem schlechtesten Willen, da gelingt es schon. Man höre, was für Beschimpfungen wegen jenes harmlosen Wortes auf Rosegger regnen: Ignoranz, Unaufrichtigkeit, Doppelzüngigkeit, Feigheit, Antisemitismus und dergleichen. Als süße Zukost wärmt man ihm überdies sein ehemaliges Schneiderhandwerk auf.

Es hat keinen Zweck, die Ignoranz über die Gemütsvoraussetzungen eines schöpferischen Talentes und über die Geistesbedingungen eines Volksschriftstellers zu enthüllen, die in dem Vorwurf der Ignoranz, gegen einen Rosegger erhoben, steckt. Auch habe ich eine viel zu gute Meinung von Roseggers Charakter und Selbstbewußtsein, als daß ich besorgte, er hätte Hilfe oder Trost nötig. Wenn ich mir trotzdem das Vergnügen erlaube, ihm bei diesem Anlaß meine Ehrerbietung öffentlich auszusprechen, so geschieht das weniger seinetwegen als meinetwegen, weil ich mir nicht verzeihen könnte, geschwiegen zu haben. Denn es gibt Vorfälle, bei denen kein Zuschauer neutral bleiben darf. Wenn man seinen Nächsten von einer Meute angefallen sieht, so springt man an seine Seite, und wenn an einem verdienten Mann ein Attentat verübt worden, so gibt man seine Karte bei ihm ab. Ich glaube mich übrigens berechtigt, auch ohne hiezu einen ausdrücklichen Auftrag erhalten zu haben, die Karte im Namen der schweizerischen Schriftsteller und des schweizerischen Publikums abzugeben. Denn wir sind hiezulande sämtlich Ignoranten genug, um zu wissen, wer Rosegger ist, was ihm die deutsche Sprache und Literatur verdankt und was ihm jedermann schuldet; überdies wohnen wir weit genug vom Geist unserer Zeit entfernt, um in Sachen des literarischen Anstandes einmütig zu fühlen und zu urteilen.

 

Vom sittlichen Standpunkt in der Kritik

Das ist nun wieder einmal ein liebliches Schauspiel: ein Teil der Schriftsteller den andern als Schweine exkommunizierend und der zweite Teil den ersten als lüsterne, verbuhlte Greise den Damen empfehlend. Nachher verlangt man Achtung vor dem Schriftstellerstand.

Ich weiß nicht, wer angefangen, aber ich erkundige mich angelegentlich danach, wer endlich den guten Geschmack haben werde, aufzuhören. Wenn ich indessen nicht falsch benachrichtigt bin, soll im Gegenteil der Spektakel erst recht beginnen, da, wie es scheint, wohltätige Vereine sich im Namen der empörten Sittlichkeit der Literatur annehmen wollen, in Form eines Kreuzzuges gegen eine Gruppe der modernen Schriftsteller.

Das Opfer ist diesmal zufällig eine Fraktion, welche weder durch Beliebtheit, noch durch Ruhm und Aussehen geschützt ist, eine Fraktion, welche überdies ihre etwas grünen Talente hauptsächlich dazu verwertet, ihren Kollegen das Leben sauer zu machen. Es liegt also für die übrigen Schriftsteller die Versuchung nahe, sich vergnügt die Hände zu reiben und der sittlichen Koalition Gruß, Segen und Waffen zu spenden. Um so mehr erachte ich den Anlaß für gegeben, ein ernstes Wort der Warnung auszusprechen, und da ich mich von jeher als einen ästhetischen Gegner der in Frage kommenden Gruppe bekannt habe, darf ich hoffen, daß meine Warnung gehört werde.

Ich halte die Politik, sich eines literarischen Gegners, sei er, wer er wolle, mittels des Pfarrers oder des Staatsanwaltes oder des öffentlichen Instinktes zu erwehren, für eine leichtfertige. Thebaner und Athener mögen einander bekämpfen, nur sollen sie nie und nimmer Philipp von Mazedonien zu Hilfe rufen. Philipp von Mazedonien aber bedeutet für den Schriftsteller jede Macht, welche literarische Werke von einem andern Standpunkt beurteilt als dem literarischen, trage sie auch den allerehrwürdigsten Namen. Solch ein Übergriff geht auf Umwegen jeden einzelnen von uns an, und die erbittertsten Feinde müssen sich zusammenschließen, um dagegen im Namen der Literatur und der Standesrechte einstimmig Verwahrung einzulegen.

Das möchte man nun freilich nicht zugeben; man wähnt durch die Einmischung einer so erlauchten Person, wie die Sittlichkeit, die ‹wahre› Freiheit nicht gefährdet; man fühlt sich im Bewußtsein seines eigenen Anstandes davor sicher, daß man etwa auch einmal an die Reihe komme. Ich aber behaupte: Es ist kein Schriftsteller, der es ernst und gewissenhaft mit der Kunst meint, und wäre er von mädchenhafter Schamhaftigkeit, davor sicher, eines Tages plötzlich auf Grund eines seiner Werke in sittlichen Verruf erklärt zu werden; keiner, auch der größte nicht; auch nicht ein solcher, den man dereinst der Nation als sittlichen Erzieher predigen wird. Wenn ich daran erinnere, daß sogar Gottfried Keller mit Sittlichkeit begeifert wurde, und zwar wegen seines seelenvollsten Werkes, «Romeo und Julia», brauche ich wohl keine andern Beispiele anzuführen. Und falls sogar einer es absichtlich darauf anlegte, nur ja keinen Anstoß zu geben, falls er sein Lebtag für zwölfjährige Mädchen schriebe, so würde es ihm doch nichts helfen. Denn in diesem Falle könnte man ihm ohne große Mühe ‹schlau verhüllte Lüsternheit› nachweisen.

Die Erscheinung hat nicht nur ihre Ursache, sondern ihren guten literarischen Grund; und zwar einen doppelten.

So lange die Welt steht, so lange wird, wer sich zu realistischen Stoffen und realistischer Darstellungsweise bekennt, wer den Humor, wer die Satire pflegt, den Zynismus schwerlich entbehren können. Der Zynismus kann auf diesem Gebiete nur mit Schaden an Leib und Seele vermieden werden, wie denn ein zimperlich prüdes Hosenzeitalter das Gedeihen von Meisterwerken dieses Stils geradezu vereitelt. Wer also in literarischen Werken Zynismen bringt, ist deswegen noch kein Schwein, sonst wäre Shakespeare ein Schwein, und Goethe ein Schwein, und Schiller ein Schwein, und überhaupt die Literatur ein Schweinestall. Das ist jedoch noch nicht alles. Bekanntlich hat der moderne Realismus die Wahrheit in mannigfacherem Sinne sich zum Gesetz gemacht, als das jemals früher der Fall war, indem er die Wahrheit nicht bloß als Mittel, sondern als oberstes Ziel hinstellt. Ob das richtig oder ob es falsch ist, kommt hier nicht in Betracht; das ist eine rein literarische Angelegenheit, welche mit der Moral nichts zu tun hat. Ist aber einmal buchstäbliche Wahrheit als Kunstziel angenommen, dann steht es dem einzelnen Verfasser, der sich zu diesem Glauben bekennt, nicht frei, wichtige Hauptabschnitte der Wahrheit um äußerer Rücksichten willen zu überspringen; der Kritik wiederum steht es nicht zu, ihn deswegen zu tadeln, weil er tut, was ihn seine literarische Überzeugung tun heißt. Ein solcher Hauptabschnitt nun ist das Geschlechtsleben mit seiner seelischen Projektion, dessen Wichtigkeit zu leugnen bloß die Einfalt oder die Heuchelei vermag. Handelt es sich freilich um einen realistischen Freskostil, dann kann wohl dieses Thema vermieden werden, wie zum Beispiel im Drama. Hat man es dagegen mit zergliedernden Seelenschilderungen zu tun, wie im Roman, so sehe ich das Mittel nicht ein, wirklichkeitsgetreu darzustellen, ohne jungen Mädchen Anstoß zu geben. Mit ebensoviel Recht wie von dem realistischen Roman könnte man von einem physiologischen oder pathologischen Lehrbuch fordern, daß es nichts ‹Unanständiges› enthalte. Warum soll ich meine Überzeugung nicht rückhaltlos aussprechen? Ich rechne es einem naturalistischen Romane zum Fehler an, wenn er um des lieben Anstandes willen der Wahrheit ein Feigenblatt umbindet. Man schreibt zwar in der Literatur nicht allein für Männer, aber ebensowenig allein für Weiber. Man schreibt für die Nation und womöglich für die Welt. Eine Nation aber ist die Summe des Geistes sämtlicher ausgezeichneter Männer und Weiber. Wer will sich nun vermessen, diesen Geist polizeilich-pädagogisch zu bevormunden? Und wer in aller Welt soll denn die ungeschminkte nackte Wahrheit erfahren, wenn nicht er? Soll eine ganze Nation mit einem Scheuleder von der Wiege zum Grabe pilgern wie ein Mädchenpensionat hinter einer Gouvernante? Jeder kann lesen oder lassen, was er will; aber ein Künstler kann nicht schreiben, was man will, sondern was er muß. Falls daher ein Schriftsteller im Namen der Wahrheit etwas Anstößiges schreibt, so lautet die Frage billiger- und einfacherweise: Ist das Anstößige wahr oder nicht? Oder, vom Schweinestandpunkte betrachtet: Ist die Wahrheit ein Schwein oder nicht? Wenn ja, dann möge man sich über die Wahrheit beklagen, nicht über ihren Berichterstatter. Dies schreibt jemand, welcher persönlich an einer wahren Idiosynkrasie gegen jede Zote leidet; welcher Rabelais nicht zu lesen vermag, weil ihn das koprologische Bombardement anekelt. Solch einen klassischen Stinkkäfer verschluckt jedoch die Kritik wie Konfitüre, mit ehrerbietigen Bücklingen; dagegen die Modernen, welche sich zu Rabelais verhalten wie weiße Firmelkinder zu einem alten Fechtmeister, verhetzt man wegen einiger Unziemlichkeiten. Man nennt dergleichen Literaturgeschichte; ich nenne es Mückenseihen und Elefantenverschlucken; daß die Opfer es Heuchelei nennen, kann ich tadeln, aber nicht schelten.

Das ist eine Seite. Nun die andere.

Ebenso scharf wie boshaft haben die Naturalisten aus ihrem Verrufswinkel die sittliche Blöße des Gegners ausgespäht. ‹Schlau verhüllte, versteckte Lüsternheit›, lautet von dieser Seite der Vorwurf. Versteckte Lüsternheit in Heyse, in Baumbach, in Julius Wolff, in Marlitt, versteckte Lüsternheit in dem züchtigsten Familienroman. Ich bestreite das nicht, ich ergänze bloß: versteckte oder auch nicht versteckte Lüsternheit in Homer, in Herodot, in Horaz, in Ovid, in Ariost, in Tizian, in Correggio, in Rubens. Man befindet sich da jedenfalls in beneidenswerter Gesellschaft. Ich fahre fort: versteckte und offene Lüsternheit in der ganzen französischen Kultur, versteckte und offene Lüsternheit ganz besonders in der gesamten griechischen Welt. Ich schließe: unverhüllte Lüsternheit von Lessing in nüchterner Abhandlung befürwortet. Die erlauchten Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren; doch ich denke, das genügt. Wäre ich ein Philosoph, so wollte ich mich anheischig machen, den Beweis zu führen, daß die ‹versteckte Lüsternheit›, das will sagen: die Formsinnlichkeit oder Feinsinnlichkeit oder Schönsinnlichkeit, einer der edelsten und heiligsten Hebel erstens der Kunst, zweitens der Kultur, drittens der kosmischen Fortentwicklung bedeutet, daß Phantasie und Ideal mit der Formsinnlichkeit zusammenhängen, wenn sie nicht gar in ihr wurzeln, daß wir uns ohne die Beimischung dieses nervös-sensitiven Elementes noch heutzutage statt der Serviette oder des Tintenwischers unseres eigenen Affenringelschwanzes bedienen würden. Da ich jedoch kein Philosoph bin, halte ich mich an die Beobachtung. Ich habe aber beobachtet, daß die höchsten Geisteskulturen der europäischen Nationen ausnahmslos einen starken sinnlichen Zug aufweisen, daß sogenannte Künstlernaturen eminent sinnliche Naturen zu sein pflegen, daß Idealisten vermöge ihrer Religion der formalen Schönheit sich von der Schönheit weiblicher Formen leichter die Phantasie betören lassen als andere, namentlich als solche, welche überhaupt keine Phantasie haben. Und die Naturalisten, die mit ihren Destillierapparaten so eisengrimmig auf jeden Schatten eines Funkens von versteckter Lüsternheit Jagd machen, sind sie denn selber in ihren Schriften von Lüsternheit frei? Nicht, daß ich wüßte. Ich habe bloß bemerkt, daß sie im Namen der Kraft und der Wahrheit die Sinnlichkeit mit Gestank parfümieren, was die Sache vielleicht besser, aber nicht anders macht.

Die Doppelgleichung lautet mithin: Im Heerlager der Wahrheit werden wir selten die Unanständigkeit, im Lager der Schönheit selten die ‹schlau verhüllte, versteckte Lüsternheit› abwesend finden. Es tut mir aufrichtig leid, daß es so ist, aber es ist so.

Was nun?

Nun, ich will einfach eine bescheidene Tatsache mitteilen. Seit ich Kritik übe – und ich übe sie öfter, als zu meinem Privatwohlbefinden nötig wäre –, habe ich mir zum Gesetz gemacht, niemals, unter keinen Umständen, ein Buch als unsittlich zu denunzieren. Dieses Gesetz habe ich bis jetzt gehalten, und ich bin wohl damit gefahren.

«Aber um Gottes willen, man kann doch wahrhaftig nicht –!» Ich bitte um Verzeihung, man kann.

«Ja, aber um Himmels willen, was fangen Sie denn an, wenn Sie ein Buch zugeschickt bekommen, das von Unsittlichkeiten strotzt?»

Ich beurteile es nach seinen literarischen Eigenschaften.

«Ohne auf den Skandal hinzuweisen?»

Ohne nach Philipp von Mazedonien zu rufen.

«Sie ignorieren also vollständig –»

Verzeihen Sie, ich ignoriere nicht, ich richte sogar; nur leihe ich, wenn ich meinen Spruch petschiere, nicht den Siegellack vom Pfarrer oder von der Polizei. Das Geheimnis beruht einfach in folgendem: Besteht ein Buch aus lauter Lüsternheiten oder Unflätereien, so ist es auch ein ästhetischer Schund; bringt ein Verfasser unnützerweise etwas Anstößiges, so ist das zugleich ein stilistischer Fehler, und so weiter. Wollen Sie Beispiele? Nehmen Sie Wieland. Wieland ist lüstern und – langweilig. Ich könnte Ihnen statt Wielands auch allerlei Beispiele aus der neuesten Literatur vorführen, und jedesmal würden Sie finden, daß Gratiszugaben von Unflätereien oder Buhlereien stets gleichzeitig ein Werk literarisch beeinträchtigen.

«Und Sie glauben wirklich, es wäre genug, den Fehler als einen literarischen bloßzulegen?»

Ich glaube sogar, es sei mehr, als was man durch jede andere kritische Methode erzielt.

«Fürchten Sie nicht, ein bißchen – frivol zu sein?»

Ich fürchte niemals, frivol zu sein, indem ich der Kunst diene; denn die Kunst ist mir heilig.

Wie gesagt, das ist eine einfache, bescheidene Tatsache, die ich meinen werten Kollegen in der Kritik zur Prüfung unterbreite. Was mich betrifft, so bin ich in meinem Grundsatze durch die Beobachtung, wohin die übrigen Wege führen, je länger desto mehr bestärkt worden. Sie führen nämlich dorthin:

Im besondern:

Daß es sich komisch ausnimmt, wenn der sittliche Schweinehändler eines Morgens selber als Schwein verkauft wird, was ihm unversehens widerfahren kann und was ich ihm von Herzen wünsche.

Im allgemeinen:

Erstens, daß man die literarische Freiheit unkünstlerischen Mächten gebunden ausliefert, von deren Gewalttätigkeit man sich das Schlimmste zu versehen hat, da sie einst sogar einen Phidias und Euripides, einen Lessing, Schiller und Goethe im Namen der gefährdeten Sittlichkeit und Religion angefochten haben. Zweitens, daß man sich vor der Nachwelt unsterblich lächerlich macht, falls einem das Unglück begegnet, einen Sünder unter die Hände zu bekommen, der später als Meister erkannt werden wird.

 

‹Alt› und ‹jung›

Auf der einen Seite ein in ehrenhafter Mittelmäßigkeit ergrauter Senat, dem ich gerne die schuldige Ehrerbietung erwiese, wenn ich ihm Ehrerbietung schuldete, auf der andern Seite junge Häuflein, welche ob ihrer problematischen Pubertät ein Siegesgeschrei anstimmen wie die Frösche in der Mainacht, – jetzt wählen Sie, wer gefällt Ihnen am besten?

‹Akt› und ‹jung›, das sind Fremdwörter für die Poesie. Weder das Alter noch die Jugend sind im mindesten ein Verdienst, noch ein Vorzug, ja nicht einmal eine Eigenschaft, sondern einfach ein Zustand. Man ist jung oder alt, so wie man gesund oder krank ist und so wie man einst tot sein wird. Nicht der dieses und jener das, sondern jeder dieses und das. Was in aller Welt hat die Kunst damit zu schaffen? Genau so viel, als ob du Zahnschmerzen hast oder keine. Her mit euren Werken! Und zwar, bitte, jeder mit den seinigen besonders! Keine Stangenschen Reisegesellschaften durch den Geist der Zeit! Nämlich es steht ein Tourniquet vor dem Schalter, und Ermäßigungen für Schulen und Vereine gewährt der Ruhm nicht.

Was sind das überhaupt für kleine Sehwinkel, die nicht einmal über das eigene kurze Leben den Blick in die nächste Ewigkeit spannen! Wenn du nach deinem Tode ein bleibendes Werk wirst hinterlassen haben, dann wirst du anfangen, jung zu werden, wo nicht, so warst du alt geboren, alt wie ein Lederapfel, trotz all deinem Dulieh und Gemauser. Oder wird vielleicht gerade darum so unverschämt gebalzt, weil man spürt, morgen wird Halali geblasen?

Du bist heute grün oder wenigstens grünlich. Ich gratuliere von Herzen. Allein nicht grün, sondern immergrün ist die Farbe des Ruhmes. Ihr seid heute unstreitig die Blüte der Nation, obschon ich mir lieber andere Blumen ins Knopfloch stecke. Allein seht euch vor, es gibt auch Blumenkohl.

Gewiß: für die Zuchtwahl, für Ehe, Liebe und Liebschaft, da ist Jugend ein Vorzug. Falls also einer der Senatoren der Poesie auf den unglücklichen Einfall geriete, euch eine Kellnerin vom Spatenbräu abspenstig machen zu wollen, dann würdet ihr glänzend über das Alter siegen. Immerhin, so über die Maßen genial braucht man sich deswegen nicht zu gebärden. Denn ob es auch ein Vorzug ist, so ist es doch gottlob kein seltener. Man teilt ihn mit Millionen von Mitmenschen, ja mit Milliarden von anderen minder zweibeinigen Geschöpfen, die darum nicht den Anspruch erheben, Genie zu sein.

Schließlich ein Geheimnis im Vertrauen. Mit der Jugend, wissen Sie, geht es wie mit dem Pferdespiel: sie rennt herum. Kaum hat einer angefangen, der jüngste zu sein, so reitet ihm schon ein noch jüngerer auf den Fersen. Und während er eben gerade im besten Zug ist, seinen Vordermann «wackliger Greis» zu schmähen, kichert es bereits hinter ihm: «alter Geck». Hören Sie es nicht? So schauen Sie doch nur in den Spiegel. Man sieht ja wahrhaftig schon drei anmutige Fältlein links und rechts neben den Augen! Das sind junge, hoffnungsvolle Rünzelchen, mein Bester. Und wenn diese Rünzelchen werden Runzeln geworden sein, dann wird eine freche Bande mannbarer Buben Sie verhöhnen, so wie jetzt Sie die Alten verhöhnen. Amen, das geschehe!

 

Von der Jugend

Ob man will oder nicht will, man wird von der Wahrheit gezwungen, die Jugend der Seele von der Jugend des Körpers zu unterscheiden. Bringe mir hundert Beweise für die Abhängigkeit der Seele vom Körper, des Geistes vom Gehirn, einverstanden, allein Beweise stoßen keine Tatsachen um, und eine Tatsache ist, daß die Jahreszeiten des Körpers und der Seele in entgegengesetzter Richtung laufen. Nämlich der Körper wird mit jedem Jahre älter, die Seele dagegen je länger je jünger. Das ‹Kind› ist eine Erdichtung der Erwachsenen, und das Altern des Ich ist eine Suggestion von außen. Man fühlt mit zwei Jahren greisenhafter als mit sechzig Jahren. Darum werden auch die blühendsten, lebensfrischesten Kunstwerke nicht von Jünglingen geschaffen, sondern von Männern und Greisen. Wären seelische und leibliche Jugend von Natur wegen beisammen, so müßte ja beständig Frühlingsluft durch die Literatur der Völker wehen, da doch gottlob niemals Mangel an Buben ist, von denen sich alljährlich eine stattliche Zahl in verdankenswerter Weise der Poesie anzunehmen pflegt. Wir hätten dann so eine Art Rekrutenaushebung der Dichter auf Grund des Geburtsscheines; der jüngste Jahrgang dichtet allemal die älteren in die Reserve, und das Problem des ewigen Frühlings ist gelöst.

Daß dieser schöne Idealzustand sich verwirklichen könnte, dies zu hoffen fällt wohl niemand ein. Hingegen fällt von Zeit zu Zeit einem Bündel Rekruten ein, daß es vielleicht leichter wäre, mit der glatten Haut zu prahlen als mit Werken zu zahlen.

Also! Was zaudert ihr? Munter! Die zwanzig Jahre zum Prinzip erhoben und die neuen Jünglingshosen als Evangelium ausgerufen! Eine Fahne voran, worauf das Wort ‹Jugend› steht, entdecken sie der staunenden Menschheit zum erstenmal das Weib und die Liebe, und weil sie nichts können, nennen sies Genie. Dieses Evangelium schmeckt; die Jungen jüngen Jünger; und ehe man sichs versieht, ist das erste Milliönchen erreicht. Der ganze Nachwuchs wird flügg: «Hurra! der Frühling ist da!» – es singen alle Büblein, alle.

Hierauf gibt es ein paar lustige Maikäferflugjahre; das dauert, solange es dauert, bis eines scharfen Morgens alle miteinander am Boden liegen.

Deutschland hat das Phänomen einer solchen Fahnen-‹Jugend› bereits mehrmals erlebt. Was ist dabei für die Literatur herausgekommen? Etwa ein poetischer Frühling? Sehn wir doch nach:

Das Junge Deutschland der dreißiger Jahre, hat es etwa die deutsche Literatur verjüngt? Sind die Werke der Gutzkow und Laube lebensfrisch? Erwecken ihre Namen die Vorstellung von Saft und Kraft? Und wiederum unsere neueste ‹Jugend›, jene Jungen der beiden letzten Jahrzehnte, die wir heute noch ein wenig nachzugenießen das Vergnügen haben, waren das vielleicht Lenzeshäuche, was sie in die Literatur bliesen?

Vergleichen Sie nun damit folgendes Beispiel: Meyer und Keller waren nichts weniger als Jünglinge, als sie am deutschen Horizont auftauchten; der eine war mehr als fünfzigjährig, der andere mehr als sechzigjährig; das hat nicht gehindert, daß ihre Erscheinung wie Morgenröte wirkte.

Nein, dichtende Jünglingsregimenter verjüngen nicht eine Literatur; sie bewirken höchstens, daß fortan hüst gedichtet wird, wenn man früher hott dichtete, oder umgekehrt hott für hüst. Was die Literatur verjüngt, ist die Ankunft eines überwältigenden Meisterwerkes und dahinter die Erscheinung eines großen Gesichtes. Dann, nur dann kommt plötzlich Sonnenschein und Frühling über eine Literatur.

Wo aber hat der Meister in seinem Werke den Frühling her? Von einer ewig frischen Quelle; die liegt aber tief versteckt im Boden, und um sie zu finden, braucht es jemand.

Freilich, es muß einen Berührungspunkt zwischen der körperlichen und der seelischen Jugend geben, sonst wäre ja die Verwechslung beider überhaupt unmöglich. Suchen wir ihn:

Ein gesunder Durchschnittsjüngling trägt neben andern Eigenschaften einige Tugenden mit sich herum, welche der Mehrzahl der Erwachsenen abhanden gekommen sind: Mut, Glaube, Fähigkeit zu rückhaltloser Begeisterung und rücksichtsloser Verwerfung. Ideale schauen, einem hohen Lebensziel selbstlos nachstreben, das gehört zur Natur der männlichen Jugend. Wer mit zwanzig Jahren das nicht vermag, ist ein geistiger Krüppel.

Indem aber die Jugend Ideale schaut und sich die höchsten Aufgaben stellt, ist sie keineswegs unbescheiden. Unbescheidenheit ist im Gegenteil, in der Literatur auftreten zu wollen, ohne sich die höchsten Aufgaben zu stellen.

Freilich ist mit alledem noch kein unmittelbarer Gewinn erworben; denn nicht der Blick auf das Ziel tut es, sondern die Erreichung des Ziels. Immerhin, eine normale Jugend tritt auf den rechten Pfad, den Pfad zur Höhe; und wenn alle Welt in den Niederungen watet, so bedeutet schon allein die Betretung des Höhenweges eine nationale Erquickung. In der Tat wartet auf die Jünglinge der Gegenwart eine ebenso schöne wie leichte Nebenaufgabe, die Aufgabe, das Ideal und den Glauben, den eine Kadaverjugend der Nation hinweggehöhnt hat, wiederherzustellen. Tut die heranwachsende Generation das, dann verdient sie den Namen einer Jugend im literarischen Sinn. Tut sie jedoch das Gegenteil, begnügt sie sich gleich ihren Vorgängern damit, mit ihrer Pubertät Parade zu gigerln, so prophezeie ich ihr getrost den Kehrichtkorb, sobald einmal eine echte Jugend ins Feld rückt.

 

Befreiung und Freiheit

Es gibt eine Stimmung, Jugendstimmung, welche an den ‹Schranken›, also in der Kunst an den Regeln und bisherigen Gebräuchen, an Vorbildern und Beispielen, an den Kunstformen, an den Autoritäten rüttelt und den Fall dieser Schranken als Erlösung begrüßt. Das ist die relative Freiheit, die ‹Freiheit von›, die Befreiung. Aus ihr kann, je nach Umständen, das heißt je nach den vorhandenen Persönlichkeiten, neuartig Erfreuliches, ja sogar Großes entstehen. Es kann, aber muß nicht notwendig; denn sind nur kleine Leute da, so nützt die Befreiung nicht das mindeste. Nachdem dann ein Geschlecht einige Jahre lang sich des Zustandes der Befreiung gefreut, ereignet sich folgendes: die Begabten schauen sich sehnsüchtig nach neuen ‹Schranken› um, welche zwar den alten beileibe nicht gleichen dürften, aber dem Zustande der Überzeugungsanarchie und Schaffensziellosigkeit ein Ende bereiten sollten. Das ist ganz unvermeidlich; deshalb, weil die absolute Freiheit, also die Erlaubnis oder Nötigung, gänzlich unbeschränkt zu schaffen, dem Talentvollen weder förderlich noch willkommen ist. Es gibt vielmehr gar nichts Verräterischeres und Schwierigeres als die Aufgabe, ins leere Freie hinaus zu schaffen; denn damit tritt ja an den Schaffenden die Voraufgabe heran, erst die Gesetze, die Formen, die Maße und Gewichte zu erfinden, denen er sich in seinem Schaffen wird fügen wollen. Man meint gewöhnlich, das wäre lauter Gewinn, weil doch Formen und Gesetze von innen heraus geboren würden, nicht von außen an den Künstler treten müßten. Klingt das zunächst überzeugend, so kann es bei näherem Zusehen doch nicht überzeugen. Ich halte vielmehr diese Vorarbeit für eine zwar mitunter, aber nicht immer nötige und nicht wünschenswerte Belastung der Lebensaufgabe eines Künstlers und Dichters. Auch aus der Geschichte der Künste und der Poesie ist zu ersehen, daß gerade die größten Genies und vor allem die fruchtbarsten Geister sich gerne und schmiegsam mit den überkommenen Schranken abfanden, sie erweiternd, aber nur im äußersten Notfall ‹sprengend›. Und nicht die Reformatoren, sondern die in den Reformatorenspuren, also in den neu gefundenen, aber nun bereits vertrauten Formen und Gesetzen schaffenden Großen pflegen den höchsten Gipfel der Künste zu erreichen. Überhaupt gibt es ja auf die Dauer gar keine absolute Freiheit; sie ist ein ganz illusorischer Zustand, der sich nie verwirklicht. Denn wo alle Regeln und Formen zerschlagen sind, da tritt sehr bald ein neuer, viel schlimmerer Despot dem Künstler entgegen: das unvernünftige und ewig wechselnde, weil von keiner festen Überzeugung und sicheren Einsicht geleitete Urteil der öffentlichen Meinung, also der Unberufenen. «Du darfst frei schaffen, was und wie du willst, aber wehe dir, wenn du nicht genau so schaffst, wie es mir gefällt, und zwar gerade heute gefällt.» So lautet dann das Gesetz. Der akademische Schulmeisterstock ist von tausend Privatschulmeisterstöcklein abgelöst worden. Wir haben das ja erlebt; wir besitzen wirklich heutzutage in Deutschland die vermeintliche absolute Freiheit für den Künstler und Dichter, zugleich mit der engherzigsten Ablehnung alles dessen, was jeweilen nicht in den Kram paßt.

Ganz blöde aber wird es, wenn unter dem Stichwort ‹Freiheit› eine Kunst sich von ihren Grundlagen, von einer ihrer wesentlichen Bedingungen ‹befreien› möchte. In der Poesie zum Beispiel Vers und Reim als eine ‹Fessel› aufzufassen, das kann nur einem gänzlich Poesielosen geschehen, denn noch nie hat ein Dichter Vers und Reim als ‹Fessel› empfunden.

 

Von der ‹männlichen› Poesie

Immer von neuem erachten die prosaischen Köpfe das reine Gold der Poesie für zu weich, eines Zusatzes bedürftig, selbst dann, wenn sie theoretisch das Gegenteil lehren, ja vielleicht dann am meisten. Nachdem wir glücklich darüber hinaus sind, die Poesie mit Geist zu würzen, mit Phrasen zu drapieren, mit Tugenden zu bessern, mit Ideen zu erheben, mit Weisheit zu vertiefen, mit Nützlichkeiten breitzustrecken, fängt unversehens die leidige Arzneikunst von vorne an, und um es nicht uralt nennen zu müssen, nennt mans modern.

Eine kräftige, männliche Poesie möchten wir zur Abwechslung jetzt haben, Pepton und Hämoglobin der Muse zu schlucken geben, Eisen- und Stahlbäder sie brauchen lassen, um ihre Konstitution zu stärken. Um ein weniges, so salbten wir ihr den Mund mit Bartwasser. Brennende Fragen, rote Fahnen und mörderliche Streike sollen die roten Blutkörperchen vermehren, Schweiß und Unrat, Dialekt und Dynamit die Zuckerkrankheit austreiben. Gestern stärkelte man mit bäurischen Hemdärmeln, heute mit fabrikstädtischen Arbeiterschürzen. Diesmal aber ist es uns grimmig ernst. Wir haben uns nämlich an dem Goldschnittsirup so gründlich den Magen verdorben, daß wir nach Petroleum lechzen. Was ist prosaisch? was ist pedantisch? was ist nordnifelnebelnüchtern? was schmeckt übel? was riecht bedenklich? Her damit, auf daß wir es dichten!

Und das Ergebnis? Titanische Grimassen, ohne den mindesten Zuwachs an Kraft. Das kommt daher, daß Geschwulst und Muskel zweierlei ist und daß einer fürchterlich schnarchen kann und doch ein Schwächling sein.

Denn was bedeutet ‹Kraft› in der Kunst? Nicht im Gewicht des Stoffes liegt sie, nicht in haarigen Ideen, sondern in der sieghaften Bewältigung der jeweiligen Aufgabe. Wer, was er immer unternimmt, meistert, der ist ein kräftiger Künstler. Das geht so weit, daß eine gesunde Kunst sich überhaupt niemals die Kraft zum Ziele setzt, sondern die Vollendung, in welcher neben andern guten Dingen auch die Kraft enthalten ist. Begehrt ein Zeitalter leidenschaftlich nach Kraft in der Poesie, so ist das schon ein krankhaftes Symptom, wie wenn ein bleichsüchtiges Dienstmädchen nach Salat ruft. Eisen fressen, Erde schmecken, den zersetzenden Geist unserer Zeit einatmen wollen, das sollten Zeichen von Gesundheit sein? Ich bitte um Verzeihung, das sind Zeichen der Anämie und Hysterie.

Die Kunst läßt sich nun einmal nicht legieren, und mit den Fäusten kann man nicht dichten. Und ob meinetwegen ein ganzes Zeitalter mit Milliarden von Urwählern einstimmig das Gegenteil beschlösse, so wird zwar vielleicht das Zeitalter knabenhaft, die Kunst jedoch um kein Haar männlicher werden. Denn mit dem Willen, mit Beschlüssen, mit Lärm und Geschrei läßt sich die Poesie so wenig kuranzen wie irgendeine andere Naturpotenz. Alle Lebenskraft ist Saft, und aller Saft ist weich, ja sogar im Innersten – es tut mir aufrichtig leid – ein wenig süß. Hat daher ein erbarmungswürdiges Geschlecht so viel Schleck schlucken müssen, daß es winselt: «Alles in der Welt, nur beileibe nichts Süßes!» – gut, es gibt der Dinge und Tätigkeiten auf Erden genug, die nichts weniger als süß sind. Wohl bekomms! Aber die Poesie selber mit sozialen Zwiebeln als sauren Hering rüsten zu wollen, diese Mayonnaise wird euch nimmer geraten.

 

Copuli, Copula

Wiederholt habe ich sehnsüchtig die Griechen beneidet. Zuerst, mit zehn Jahren, weil sie nicht lateinisch lernen mußten, hierauf, mit zwanzig Jahren, weil ihnen der Onkel zum Geburtstag statt Webers zweibändiger Weltgeschichte ein kleines Bändchen Sklavinnen zum Präsent machte, endlich, mit dreißig Jahren, weil kein Mensch ihren Dichtern ein Techtelmechtel zumutete.

Lieben Sie die Zukunft? Ich für meinen Teil weiß nicht, ob ich sie liebe, denn ich kenne sie nicht. Aber ich glaube daran. Wirklich, in allem Ernst, ich glaube, es gibt eine Zukunft. Jedenfalls dürfen wir es, nicht wahr, als möglich annehmen, wir wären nicht die letzten Menschen auf Erden, sondern es kämen nach uns noch weitere zehn, zwanzig, hundert Menschengeschlechter; die Welt, nachdem sie ein paar Milliönchen Jahre gedauert, währe vielleicht noch einige kleine Dutzend Jahrtausende. Die Annahme ist nicht so unsinnig, nicht wahr?

Dies vorausgesetzt, so halten Sie bitte jetzt einmal das Ohr ans Telephon und horchen Sie, wie die Literaturgeschichte des dreißigsten Jahrhunderts – um in der Nähe zu bleiben – über unsere in den Grund und Boden hinein verkuppelte Literatur urteilt, – über das Liebesgewäsche, das Legionen von Schriftstellern in Myriaden von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und Theatern jahraus jahrein von Gibraltar bis Hammerfest, vom Ural bis zur Sierra Nevada Milliarden von unersättlichen Lesern unermüdlich aufwarten, – über die Hunderttausende von Männlein, welche Europa und Amerika seit fünfzig Jahren mit Hunderttausenden von Weiblein bereits ineinander- oder auseinandergekuppelt, unbeschadet der tröstlichen Bereitwilligkeit, annoch weitere fünfzig Jahre also fortzufahren, – über unser anspruchsvolles Hohelied des Techtelmechtels, das ‹Epos des neunzehnten Jahrhunderts›, – über unsere niedliche Voraussetzung, daß jede, aber auch jede Erzählung und jedes Theaterstück ohne Ausnahme, sei es Lustspiel oder Trauerspiel, handle es von heute oder von Mosis Zeiten, nur unter der Bedingung genießbar wäre, daß man ein Liebesgeschnäbel hineinwurste, – über unsere Sucht, jedem großen Manne der Kunstgeschichte nachträglich ein Liebschäftchen in seinen Ruhm zu stricken, weil wir anders seiner nicht völlig froh werden könnten.

Hören Sie wirklich nichts? Nichts dergleichen wie ‹Klatsch für Klatschweiber› oder ‹eine Literatur wie von Kupplern für Kuppler›? Ich für meinen Teil höre es ganz deutlich. Nun, es tut nichts. Ich werde es Ihnen aufschreiben und gelegentlich einmal zuschicken.

Einstweilen, um Sie doch einigermaßen zu entschädigen, erlaube ich mir, Ihnen eine Handvoll von meinen eigenen Urteilen mit auf den Heimweg zu geben:

Ausführliche Darlegungen fremder Familienverhältnisse geduldig anzuhören oder anzulesen, ist weibisch; und an dem Bericht von fremden Liebesverhältnissen Vergnügen zu finden, ist nicht männlich.

Das Schmunzeln darüber, daß zwei sich kriegen, ist auf den Lippen der Frau liebenswürdig, weil mütterlich, auf den Lippen des Mannes widerwärtig, weil greisenhaft. Nämlich ein wahrer Mann, wenn er von einer Liebespaarung hört, schmunzelt keineswegs vergnügt, empfindet auch nicht die mindeste Rührung, sondern er ruft: «Was? die schöne X nimmt mit dem Esel vorlieb? Jetzt ist sie abgrundtief in meiner Achtung gesunken!» So ruft er; hernach geht er hin und singt das Lied vom Fuchs und der Traube.

Das andächtige Getu und Gerede um eine personifizierte Gottheit der Liebschaften, um eine heilige ‹Liebe› an sich, welche ihre Herkunft von der Sinnlichkeit verleugnet und ihre Richtung nach einem Einzelmenschen verläßt, um vom allegorischen Himmel herab sämtliche Liebespaare, die da sind, die da waren und die da sein werden, gerührt zu segnen, das ist ein eunuchenhaftes Gebaren.

Denn es gibt zwar wohl für die Frau, nicht aber für den Mann eine ‹Liebe› schlechthin. Wer da schreibt: «Die Liebe ist –», «Die Liebe hat –», schreibt unmännlich. Der Mann liebt nicht ins Abstrakte, er liebt nicht die ‹Liebe›, sondern er liebt ein einzelnes bestimmtes weibliches Wesen, oder mehrere bestimmte weibliche Wesen, meinetwegen auch, wenn Sies durchaus wollen, sämtliche bestimmten weiblichen Wesen, niemals jedoch die bloße Idee des Verhältnisses des liebenden Mannes zum liebenden Weibe. Ja, Liebesillusion, leidenschaftlichste, wahnsinnige Liebesillusion angesichts eines weiblichen Wesens, das ist männlich; im höchsten Grade männlich sogar, nämlich töricht. Dagegen eine destillierte heilige ‹Liebe› an sich, das ist ein hysterisches Postulat.

So, das wäre für den Anfang, damit Sie nicht etwa ungeduldig werden. Jetzt aber eine kleine Bitte. Können Sie mir nicht vielleicht zufällig sagen, wo Hekuba wohnt? Ich beginne mich nämlich allmählich für diese Dame unbändig zu interessieren.

 

Von der Charakteristik

Charakteristik heißt jetzt das Losungswort. Nach ihr schaut der literarisch gebildete Leser zuerst aus; sie nimmt der Kritiker zum Prüfstein über den Wert eines Werkes; sie wird dem Dichter zur Pflicht gemacht, und zwar so strenge, daß die Voraussetzung für selbstverständlich gilt, jeder Dichter müsse in jedem Werke jede Figur charakterisieren. Oder etwa nicht?

Gut. Nun halten Sie einmal folgende zwei Tatsachenreihen einander gegenüber:

Zur Linken. In hundert Städten Deutschlands schildern Hunderte von Schriftstellern alljährlich Hunderte von Charakteren, die einen besser, die andern schlechter; selten verfehlen sie einen Charakter gänzlich, meistens gelingt es leidlich und in einer überraschend großen Zahl von Fällen sogar glänzend. In allen unseren Literaturberichten finden wir auffallend oft das Lob, daß, wenn nicht alle, doch dieser oder jener Charakter ‹meisterhaft durchgeführt› sei; ‹prächtige Gestalten›, ‹herrliche, unvergeßliche Figuren› wachsen in unseren Erzählungen so zahlreich wie Löwenzahn auf der Wiese. Selbst wenn der Kritiker ein Werk verdammt, muß er meistens für die gelungene Schilderung irgendeines Charakters eine Ausnahme machen. Sehen wir dann nach fünf Jahren nach, wo alle diese Millionen meisterhaft geschilderter Charaktere geblieben sind, so finden wir sie samt dem Werk, darin sie standen, und dem Verfasser, der sie geschaffen, im Orkus der Vergessenheit. Angesichts dieser Tatsache urteilt meine Logik: Was ein Werk nicht vor dem Untergang schützt, also die meisterhafte Charakteristik, kann nicht eine Hauptsache, nichts für die Poesie Wesentliches sein. Denn wesentliche Vorzüge retten trotz allen übrigen Fehlern.

Zur Rechten. Die Poesie ganzer Völker und Zeitalter weiß nichts von dem Streben nach Charakteristik. Jeder Dorfschriftsteller charakterisiert besser als Sophokles und Homer, als Corneille und Racine. Dem Nibelungenlied meinte ein Jordan die Charaktere nachbessern zu müssen. Und die Männercharaktere bei Goethe und Keller? oder die Frauengestalten bei Schiller? Das macht ja jeder Benz besser. Dennoch ist Benz kein Großer, aber Sophokles und Homer, Schiller und Goethe, Corneille und Racine sind es. Meine Logik sagt: Was man ohne Schaden vernachlässigen oder gar verfehlen kann, ist keine Hauptsache, ist nichts Wesentliches.

Schluß. Die Charakteristik ist weder eine zentrale noch eine obligatorische Aufgabe der Poesie, sondern eine Nebenaufgabe an einem Seitenplatz. Ihr Platz ist die Prosa, also die Wirklichkeitserzählung und das realistische Drama, ferner der Humor, die Komik, die Satire, in der hohen Poesie die Schilderung untergeordneter Figuren. Unsere geschäftige Charakterfabrik aber ist eine Dilettantenmühle.

 

Eine junge Scharteke

Wenn ein Zeitalter vor Überstudieren dermaßen konfus geworden ist, daß es nicht mehr weiß, was es will, daß es vor sämtlichen Stilen einen Ekel gefaßt hat, dann bleibt ihm nur noch ein einziger Appetit übrig, der Appetit nach dem Querköpfigen. Da ist voriges Jahr ein abenteuerliches Buch erschienen, welches vom Wirbel bis zur Zehe so grundverschroben ist, daß ein gesundes Zeitalter es von Anbeginn unter die gelehrten verkehrten Schmöker in den Winkel einer Bibliothek würde geschmissen haben. Doch siehe da, das Buch hat soeben die zwölfte Auflage erlebt, und die Kritik erhebt ein gewaltiges Aufsehen seinetwegen. Dasselbe heißt «Rembrandt als Erzieher» und entwickelt eine abstruse Idee in abstrusem Stil. Der Maler Rembrandt, so wird uns offenbart, ist für alle Bresten gut, wie eine Kneippsche Kaltwasseranstalt; er heilt Kopfschmerzen und Zahnschmerzen, Gicht, Kropf und Hühneraugen der deutschen Nation; er enthält in sich ein ganzes Evangelium, er ist eine Art Jesus Christus nicht etwa bloß der Kunst, sondern auch der Kultur und der Politik; wer an ihn von Herzen glaubt, wird selig werden. Seine göttliche Kraft bezieht er aber aus seinem niederländischen Charakter, nämlich was jemals groß auf Erden war, ist von Natur niederländisch gewesen. Shakespeare: ein Engländer, folglich ein Niederländer; Bismarck: ein Märker, folglich ein Niedersachse, folglich ein Niederländer; Tizian: ein Lombarde, folglich ein Niederländer, und so weiter; sogar Amerika ist niederländisch. Mit dieser niederländischen Gabel nun fischt der ungenannte Verfasser seine aufgestapelte Gelehrsamkeit an den Haaren herbei, wobei es ihm weniger darauf ankommt, etwas zu sagen, als alles und jedes, worüber jemals auf Erden gesprochen wurde, in den Mund zu nehmen. In der Tat meint man oft, in einer Realenzyklopädie zu stecken, wo von Adam bis zu Zarncke jedes Ding und jedes Wort registriert werden soll. Ein aphoristischer, nicht eben geschmackvoller Vortrag ermöglicht das Kunststück, zu welchem nicht viel Talent, wohl aber jenes lederne Sitzfleisch erforderlich ist, wie es dem Pedanten eignet. Gedankenblitze zünden eine Menge auf, aber auch eine Menge verbissener Rankünen; schade, daß die Gedankenblitze zwar ‹originell›, nicht jedoch schöpferisch sind. Es ist sehr viel Gescheites neben sehr viel Abgeschmacktem in dem Werke, allein nichts von dem Gescheiten ist nicht schon gesagt worden; das Neue darin besteht einzig in dem Sammelsurium. Alles kennt der Verfasser, vieles weiß er, nichts versteht er. Wenn ich Beweise für meine abfällige Beurteilung abgeben sollte, so würde ich einen anführen, der nach meiner Meinung alles einschließt: Der ungenannte Verfasser kuppelt Halbdutzende von Eigennamen als einen einzigen Begriff ohne Komma aneinander, als ob sich mehrere historische Persönlichkeiten zu einer einheitlichen Idee summierten! Und wie werden da die Personen zusammengewürfelt! Aristophanes-Don-Quichotte-Lafontaine, Gellert-Holberg-Simplizissimus-Chaucer. Ich bin nicht der erste, der die Verschrobenheit des hochgepriesenen Werkes betont, aber ich bin der einzige, der keine Bewunderungs- oder Achtungsklauseln hinzufügt. Da ich aber nicht weiß, wo ich die Bewunderung und Achtung für ein Buch hernehmen soll, das nichts wesentliches Vernünftiges und Brauchbares lehrt, aber eine Menge wesentlicher Albernheiten auftischt, das ferner aus dem Versteck der Anonymität lebendige Menschen (Zola und Dubois-Reymond) als Antichristen hinstellt, sage ich kurz und bündig meine Meinung: «Rembrandt als Erzieher» ist eine Scharteke, das Werk eines Buchwurmes, der an unverdauter Bildung erstickte und deshalb den Inhalt seines gelehrten Kropfes von sich gab. Mag man nun noch vierundzwanzig Auflagen drucken, so wird zwar das Werk dadurch schwerlich besser werden, unsere Generation aber vor der Nachwelt noch lächerlicher dastehen. Oder sollte ich mein widersprechendes Privaturteil vor dem Spruch der öffentlichen Meinung zurückziehen? Ich glaube nicht zu den unbescheidenen Menschen zu zählen, und an Mißtrauen gegen mich selber fehlt es mir wahrlich nicht. Daher ließ ich das Buch zwei Monate lang auf meinem Tische liegen, in der Hoffnung, daß ich mich zu seiner Vortrefflichkeit bekehre. Ich bin mit nüchternem und mit garniertem Magen darangegangen, ich habe es von vorne und von hinten revidiert, an Sonntagen und an Werktagen vorgenommen, allein stets vermochte ich nur das nämliche zu erblicken; einen typischen Querkopf. «Es ist doch Geist darin.» Gewiß, aber entweder entlehnter oder schiefgewickelter Geist. Das Beste ist von Nietzsche schon besser gesagt worden. Nietzsche, den Meister, nun hochmütig abzulehnen, dagegen eine Mittelmäßigkeit seiner Schule auf den höchsten Thron zu erheben, das stimmt zu den Grundsätzen unserer Kritik. Das Quellwasser schmeckt nicht; es muß erst abgestanden sein, es muß zuvor mit einem Zusatz von neunzig Prozent Kathederstaub genießbar gemacht werden, ehe man sich entschließt, zu trinken. «Das Buch mußte immerhin eine Lücke ausfüllen, damit es einen solchen beispiellosen Erfolg erzielen konnte. Das werden Sie jedenfalls zugeben?» Von Herzen gerne. Wir haben Pedanten zu Dichterkönigen erhoben, es fehlte uns noch ein Pedant als ästhetischer Schulmeister. Diese Lücke hat «Rembrandt als Erzieher» ausgefüllt.

 

Von der Nachahmung des französischen Esprits

Der Leser hat gewiß schon mit uns die Beobachtung gemacht, daß die Mehrzahl der Pariser Feuilletonkorrespondenzen, wie wir sie in den deutschen Weltblättern finden, an einer merkwürdigen Geziertheit leiden; um möglichst anmutig und geistreich zu erscheinen, verrenken sich die betreffenden Schriftsteller die Glieder und führen überhaupt die seltsamsten Kapriolen aus. Und ähnlich, wenn schon bedeutend geschmackvoller, benimmt sich der Stil namhafter Schriftsteller, die bei dem französischen Witz in die Schule gegangen sind. Auch hier artet häufig die Sucht, ewig zu lächeln, in ein unangenehmes Grinsen aus. Kurz, die direkte Nachahmung der Franzosen ergibt in der deutschen Literatur eine unnatürliche Tanzwut, die wir zwar als Gegengift gegen den üblichen Kathederschleppschritt gerne begrüßen, die aber an sich kaum minder leidlich ist als ihr Gegenteil. Eine Abhandlung über die Parasiten der Regenwürmer läßt sich oft noch leichter lesen als ein geistsprühender Bericht über die Pariser Halbwelt.

Woran liegt die Unstatthaftigkeit, den ersehnten französischen ‹Esprit› direkt ins Deutsche zu übersetzen? Sollte die deutsche Sprache sich widerhaarig gegen den leichtbeschwingten Geist erweisen? Gewiß nicht; denn Lessing schrieb französisch und Heine ebenfalls. Aber die Autoren, die sich den Esprit aneignen möchten, bilden in weitaus den meisten Fällen einen ganz untauglichen Fruchtboden zu dieser Anpflanzung; als Kollektivausnahme dienen die Semiten, denen die äußerliche Französisierung (siehe Wolf im «Figaro») in Sprache wie in Stil recht leidlich gelingt. Der Esprit begehrt sehr viele Vorbedingungen beim Publikum und beim Autor. Dieselben sind nun in Deutschland nicht vorhanden. Welches aber sind sie?

Nummer eins: Eine virtuos geschliffene und bei jedem Gebildeten vorrätige Nationalsprache; der Deutsche, dessen Satzbau an allen Enden und Ecken grammatisch und stilistisch lottert, dessen Wortschatz ungebürstet und mit einer Masse von Fremdwörtern befleckt ist, der Deutsche bietet, wenn er den Esprit versucht, das Bild eines ungekämmten Schwerfälligen, der graziöse Bewegungen versucht. Erst heißt es seine Sprache reinigen und schleifen und dann damit spielen.

Nummer zwei: Eine nationale Münzunion der Gedanken und die Fähigkeit des Publikums, jede leiseste Veränderung der Inschrift zu bemerken. Tiefe Originalität und Genialität können sich zwar dem Esprit anbequemen, sind aber demselben ursprünglich fremd. Denn der Esprit schafft nicht, sondern tändelt mit der Kursivmünze; ich möchte ihn die Kunst heißen, einem Gedanken die Krawatte anmutig zu schleifen. In dieser Beziehung kommen wir bei der Kommandoverfassung der Geister im neuen Kaiserreich dem Esprit um einen guten Schritt näher als ehedem bei der individualistischen Richtung des deutschen Geistes.

Nummer drei: Die sogenannte französische Frivolität, das heißt die Unabhängigkeit des Verstandes von aufgeblasenen Schlagwörtern, verbunden mit einer ähnlichen Anlage beim Publikum.

Nummer vier: Die ästhetische Kritik des Publikums, das heißt die Forderung, daß jedes Buch, worüber es auch handle, ein stilistisches Kunstwerk sein müsse. Wo diese Kritik fehlt, wo, wie in Deutschland, der Leser Kraut und Rüben mit dem Grase heruntergenießt, da bleibt zwar dem Autor stilistische Meisterschaft zu seinem Privatvergnügen nicht verwehrt, aber wenn er einsam für sich allein französische Nationaltänze tanzt, dann schauen wir ihn befremdet an und fragen: wozu? Der Esprit ist ein Gesellschaftstanz; man muß Musik dazu haben. Es soll zwar in Deutschland Schriftsteller geben, welche mit einem Überschuß an Geist geplagt sind und darum für sich allein geistreich werden, ohne es zu wollen: wir können dieselben nur beklagen. Das Schlimmste ist, daß die meisten es wollen, denn dann ist es mit dem wahren Esprit vorbei, und das ist das Hauptgeheimnis, warum deutsche Korrespondenzen aus Paris wie Übersetzungen zu lesen sind. Es ließen sich noch viele Bedingungen hinzufügen, zum Beispiel eine nationale bis zum Kindischen verhätschelte Vorliebe der Franzosen für den Wort- und Klangwitz, die wir nicht teilen und auch nicht teilen sollen. Lassen wir es damit bewenden und halten wir dieser falschen Nachahmung, welche nur die Anmut der Verdrehtheit erzeugt, die wahre entgegen. Dann allerdings können wir von der französischen Prosa viel lernen, nur nicht direkt, wie die Pfuscher und die Pedanten zu lernen pflegen, sondern durch Übertragung mit Anpassung.

Wenn jemand, von der eleganten Unbefangenheit der französischen Prosa bestochen, das Verlangen verspürt, Ähnliches auf deutsch zu produzieren, so steht ihm dazu statt der Nachahmung des Fremden ein einheimisches Mittel zu Gebot, das viel besser wirkt: das Streben nach Reinheit der Sprache, nach Aufrichtigkeit der Gedanken, nach Natürlichkeit des Ausdrucks; denn darin liegt das Geheimnis der französischen Eleganz. Was dann den Esprit, jene überflüssige, doch willkommene Arabeske betrifft, so stellt er sich unter den genannten Bedingungen von selbst ein, weil Kraft immer dem Spiel, Gesundheit dem Lächeln und Gedanken dem Witz rufen; und vorausgesetzt, er stelle sich nicht ein, was ist dabei verloren? Ohne Esprit kann man noch immer schreiben wie Thukydides oder Plato oder Rousseau oder Schiller und Goethe. Und unter den Franzosen selber sind es auch nur die hohlsten Köpfe und Schriftsteller, welche hoffen, mit einem ewigen Witz- und Geistgefunkel den Leser befriedigen zu können. Wenn einer freilich ganz dumm ist, dann zwingt ihn die Not, geistreich zu werden, und wer keine Gedanken findet, hascht nach Witz. Da nun auch in Frankreich die Talentlosigkeit häufiger getroffen wird als schriftstellerische Originalität, so kommt es, daß die forcierten Witzbolde der Tagespresse dem Fremden, der selten zwischen gutem und gekünsteltem Französisch unterscheidet, die Augen verblenden; und in der Tat gibt es auch französische Zeitungsschreiber, welche sich ebenso verdreht gebärden als die Modeberichterstatter der deutschen Presse oder die politischen Pariser Korrespondenten der «Kölnischen Zeitung». Es kommt in beiden Sprachen vor, daß man einen Artikel lesen kann, ohne nur zu erfahren, wovon eigentlich die Rede ist; in allen Sprachen aber bildet dieser Stil eine hohle Blase; nur daß ein franzosensüchtiger Deutscher mit ebenso vieler Mühe in diesen Fehler zu fallen sucht, als ein tüchtiger französischer Schriftsteller ihn zu vermeiden trachtet.

Das Mittel also, auf deutsch die französische Eleganz zu erreichen, beruht in dem Streben nach äußerer Vollendung und nach innerer Natürlichkeit und Wahrheit, nicht in der direkten Nachahmung; das ist unser Hauptsatz. Auf diesem Wege hat Lessing seinen unvergleichlichen Stil gefunden, der so meisterhaft deutsch ist, daß er sich wie das fließendste Französisch liest. Bei Lessing finden wir denn auch den echten, guten Esprit, der ihn den Franzosen trotz seinem oppositionellen Standpunkt so behebt macht. Wie ist ihm der Esprit gekommen? Aus dem Spielbedürfnis der Gedanken- und Sprachvirtuosität, wie er den Franzosen kommt.

Zerlegen wir nun unsern Hauptsatz in seine Elemente, und beginnen wir von außen mit der Reinheit und Vollendung der Sprache.

Bietet unser Periodenbau ein Hindernis für die Eleganz? Diese Frage zu beantworten, möchte verfrüht sein. Was ist vor allem deutsch im Periodenbau? Schon hierauf dürfte die Antwort verschieden lauten. Der heillose Einfluß der lateinischen Gelahrtheit hat uns mit einer Satzverschachtelung beschenkt, welche noch heutzutage auf den Kathedern als Stilmuster empfohlen wird. Nun haben unstreitig die Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, zum Beispiel ein Wieland, den prosaischen Perioden einen merkwürdigen Schliff zu verleihen vermocht. Allein wie mutet uns das heute an? Als schwerfällige Geschwätzigkeit. Andere, wie Johannes von Müller, affektierten eine taciteische Einsätzigkeit. Liest sich das deutscher? Wie man darüber urteile, die lateinischen Studien sind der deutschen Sprache jedenfalls nicht in dem Maße zuträglich wie der romanischen, weil sie Säfte aus fremder Wurzel einflößt. Uns aus dem Schachtelsystem der lateinischen Perioden nachträglich wieder zu befreien, das wird noch längere Zeit die Aufgabe der deutschen Prosaiker bleiben; und in der Tat besteht eine stille Übereinkunft unter den Modernen, einem leichteren Tempo der Diktion und einer verständlicheren Abwicklung der Gedanken nachzustreben. Hier hat die Belesenheit im Französischen Gutes gestiftet, wie ich denn kein besseres Gegengift gegen den Kathederstaub kenne als einen Franzosen oder eine Französin. Übrigens läßt sich selbst hier nicht mit direkter Nachahmung operieren. Eine dem Französischen abgelernte habituelle Kurzsätzigkeit klingt als übersetzt. Freilich, wer weiß, wie das später klingen wird?

Wir haben ferner ein eigentümliches Einkapselungssystem der Logik in den Elementen des Satzes; dem Fremden erscheint das als schwerfällig, was wenig bedeuten will, weil der Fremde hier nicht kompetent ist. Aber selbst der deutsche Schriftsteller empfindet mehr und mehr die Stellung des Verbums als eine Fessel, und die Poesie durchbricht mit Vorliebe die Syntax, allerdings unter dem Tadel der Kritik. Hinwiederum läßt sich unter dem indirekten Einfluß der modernen internationalen Prosa eine Bewegung des deutschen Satzes nach der Richtung der Einfachheit konstatieren, eine Bewegung, von der wir uns Gutes, das heißt Anmutiges versprechen.

Auf die Unbestimmtheiten oder Unsicherheiten der deutschen Flexion wollen wir hier nicht eingehen; der Fehler ist anerkannt und seine verhängnisvolle Bedeutung für den Prosastil gewürdigt; so dürfte die Abhilfe nicht allzulange mehr auf sich warten lassen. Dagegen müssen wir dem etymologischen Teil einige Worte gönnen: Unsern Klassikern und aller Bildung zum Trotz wetteifert der moderne deutsche Stil im läppischen Prahlen mit Fremdwörtern; nur daß jetzt anstelle des lateinischen Vokabulariums, welches einst den Autoribus eine Reputationem verlieh, das französische Dictionnaire getreten ist. Die Leutchen ertragen es heute wieder einmal nicht, daß der Leser vielleicht vermutet, sie könnten nicht französisch; als Vorwand, ihr bißchen Französisch auszukramen, müssen nun verschiedene Meinungen oder Behauptungen vorhalten: «Das läßt sich im Deutschen nicht wiedergeben» oder: «Im Französischen hat das einen ganz besondern unnachahmlichen Reiz». Jedenfalls hat ein französischer Brocken im deutschen Satz ausnahmslos den Reiz der Geschmacklosigkeit. Und wenn mir jemand seine französischen Kenntnisse ohne vernünftigen Anlaß zeigt, so schließe ich daraus, daß das ungefähr alles sei, was er davon wisse.

Je mehr eine deutsche Schrift mit französischen Worten gespickt wird, um so weiter entfernt sie sich vom Französischen, denn der Hauptcharakter der französischen Sprache ist die Reinheit. Und wie bodenlos kindisch nimmt sich dergleichen vor dem Auge der Nachkommen aus! Wie altmodisch tönt das nach zwanzig Jahren! Vergleichen wir den französisch gefleckten Prosastil Hallers mit demjenigen Lessings: Haller scheint mit verschimmelter mittelalterlicher Tinte aus einem vergessenen Jahrhundert herüber zu schreiben, Lessing strahlt jung und frisch und gewissermaßen französisch, weil er rein, weil er deutsch schrieb.

Wie nun aber Stil und Sprache nicht dasselbe bedeutet, so liegt ein Hauptreiz der französischen Prosa auf höherem Gebiet in der Psychologie der Schriftsteller und des Publikums, und hiemit kommen wir denn dazu, von der Einfachheit und Natürlichkeit, oder was dasselbe sagen will, von der Männlichkeit des Ausdrucks zu reden.

Eine Hauptursache des Reizes, welchen die französische Prosa auf den Leser ausübt, ist die muntere Keckheit, in welcher die Gedanken auftreten, was zur Vorbedingung eine verwandte Anlage des Publikums fordert. Geist gilt bei französischen Lesern nicht für eine Beleidigung, für eine Unehrerbietigkeit des Autors, sondern für eine Achtungsbezeugung gegenüber dem Leser, so daß zum Beispiel bei widersprechender Meinung des Lesers die Schneidigkeit des Autors nicht als erschwerender Umstand, sondern als Entschuldigungsgrund angenommen wird. Dem Lesepublikum kommt überhaupt in der prosaischen Literatur eine weit wichtigere Rolle zu, als man annimmt. Es fehlt zum Beispiel in Frankreich so wenig als anderswo an Doktoren, denen nichts lieber wäre, als den Leser mit abstruser Gelehrtheit in den Tod zu langweilen; allein der Hohn, dem sie sich von allen Seiten aussetzen würden, hält sie in Schranken. Es gibt keine bessere Hilfe für den Prosaschriftsteller als ein lebhaft kritisierendes Lesepublikum, und der Esprit der französischen Autoren verdankt sehr viel der Spottlust der Französinnen. Wo umgekehrt das Lesen nur als Zufuhrmittel der Liebesgeschichtenkommunikation dient, wo man ohne Entrüstung ein paar Seiten überschlägt, ein paar Dutzend Fehler übersieht und bei einem fröhlichen Einfall bedenklich den Kopf schüttelt, da wird der Esprit oder auch nur die glatte Prosa sich auf die Länge so wenig halten können wie eine spanische Weinhalle in einem Bierstädtchen. Das eine Publikum will vor allem viel, ein anderes vor allem Ausgezeichnetes genießen, und jede Nation hat die Prosa, die es verdient, das heißt, die es duldet. Das nächste Mittel, eine frische luft-, gas- und mutprickelnde deutsche Prosa zu erhalten, und das ist ja das Streben der modernen Zeitungskönige, besteht in der Erfindung deutscher Leserinnen, welche jedes langweilige oder fehlerhaft geschriebene Buch aus der Hand werfen, und brächte es die Schilderung von zwölf neu aufgefundenen zerschlagenen Füßen des Phidias, welche aber zugleich Autorität genug besitzen, um ihr Urteil der Kritik zu imponieren; also literarische Salons, um das Kind beim Namen zu nennen. Indem Deutschland nach und nach eine Hauptstadt hat, ist der Weg dazu angebahnt, nur bleibt zu fürchten, daß die Bosheit dort dem Geist den Rang ablaufe. Eine grinsende Literatur aber ist weit unleidlicher als eine pedantische.

Somit kommt es schließlich darauf hinaus, daß der französische Esprit einer gesellschaftlichen Raffiniertheit, wir dürfen sogar sagen Überlegenheit der französischen Nation entspringt. Er ist diejenige Fassung der Gedanken, welche einer messerscharf verständigen, nicht bösartigen, aber ein wenig boshaften, dabei äußerst toleranten und von allen Schablonen und Systemen unabhängigen, also ‹frivolen› Gesellschaft entspricht.

Scharf liebt der Franzose, oder sagen wir besser die Französin, welche ja in Frankreich regiert, den Gedanken; scharf bis zum Paradoxen. Einem Einfall einen Maulkorb anzulegen, eine Gedankenspitze mit Watte oder Werg unschädlich zu machen, das ist nicht französisch. Und wir können das nur billigen. Was soll es nützen, einen Ausspruch zu verklauseln, zu mäßigen, halbwegs zurückzunehmen? Der Wahrheit näher zu kommen? Der Franzose setzt voraus, daß sein Leser das Paradoxe nicht buchstäblich nehme, er ahnt, daß man die Wahrheit nie mit Worten völlig erschöpfen kann, er fühlt, daß die Schärfe des Ausdrucks, indem sie die Korrektur herausfordert, wahrheitfördernder wirkt als eine temperierte Mittelbrühe, er weiß endlich, daß man von einem Schriftsteller, wie überhaupt von allem in der Welt, Freude und nicht Wahrheit verlangt, die Wahrheit nur insofern, als sie geistigen Genuß bringt. Was soll auch der Tadel der Paradoxie bedeuten? Orthodox ist allein die Trivialität. Jeder selbständige Denker erscheint der Menge paradox, indem er in einem einzigen Augenblick nur jedesmal eine Hauptseite der Wahrheit erblickt und die Rückseite naturgemäß für einen andern Standpunkt aufbewahrt. Paradox ist das Evangelium, wenn es von dem Reichen und dem Himmelreich, von dem Kamel und dem Nadelöhr spricht; paradox lautet die Volksweisheit, da es doch kein einziges Sprichwort gibt, welches nicht Widerspruch ruft; paradox ist die Kunst, indem zum Beispiel eine Zeichnung schwarze scharfe Konturen und Kanten reißt, wo in der Tat weiche Übergänge walten; paradox ist die Natur, indem sie von jedem Ding niemals den ganzen Umfang zeigt.

Allein nicht nur Schärfe, sondern auch Freiheit und Keckheit liebt der französische Leser. Es läßt sich gar nicht verkennen: jeder französische Schriftsteller schreibt bei weitem unbefangener und zuversichtlicher als ein anderer. Frisch von der Leber weg, mitunter auch von der Galle weg, das ist der gemeinschaftliche Wahlspruch des Schreibers und des Lesers. An Opposition fehlt es nirgends; allein das Eigentümliche in Frankreich besteht darin, daß der allein fechtende Autor gar nicht einmal in Opposition zu treten braucht, um seine Meinung durchzufechten. Dort bedarf niemand einer anderen Legitimation als einer geistträufelnden Tinte und einer säubern Feder. Wie da die Schriftsteller ins Zeug gehen, das ist eine wahre Erholung gegenüber dem ehrfürchtigen Kasten- und Schlagwörterkultus anderer Völker. Es gibt in Frankreich einen gemeinschaftlichen Feind des Lesers und des Autors, das ist der Pedantismus, verschwägert mit seiner Cousine, der Langenweile, und gesegnet mit einer zahlreichen Nachkommenschaft von Dummheiten; daneben einen gemeinschaftlichen Freund: den Verstand. Dem Verstand wird kein Scheuleder vorgelegt, wenn es sich um einen besonders verhätschelten Begriff handelt, und wer dieses Instrument in der beliebten geschliffenen Form des Geistes mitbringt, ist jederzeit willkommen, welchen Namen er trage, oder gar keinen. Mit der Individualität in schöpferischem Sinne, mit der dichterischen, mag es in Frankreich schlecht bestellt sein; nicht so mit der persönlichen, wie sie sich in der Prosa widerspiegelt; da treffen wir weit häufiger den einfachen schlichten Mannesmut der eigenen Überzeugung. Und es fällt auch niemand ein, den Mann nach seinem literarischen Titel zu fragen, wenn er frisch und fröhlich seine Meinung sagt; die Uniform der Sprache führt ihn ein, sein Geist läßt ihn willkommen erscheinen, und über seine Ansichten, sofern sie nur verständig vorgetragen werden, denkt man, und dankt, selbst wenn man sie nicht teilt. Ich führe als Beispiel echt französischen Gedanken- und Ausdrucksmutes Guy de Maupassant an, auf kleinerem Gebiete auch Caliban (Bergerat). Das sind echte Franzosen, und zwar Franzosen, von welchen man lernen kann, nicht Esprit, obschon sie deren im Überfluß besitzen, sondern Mut. Und warum soll ichs verschweigen? Das Duell, das heißt die Bereitwilligkeit, jedes Wort nötigenfalls mit dem Degen zu verteidigen, hat viel zu der Frische des französischen Stils beigetragen.

Wir schließen unsere Abhandlung mit der Wiederholung, daß die direkte Nachahmung einer Äußerlichkeit des französischen Prosastils, des Esprits, nur Übles erzeugt, daß es gilt, von innen heraus seinen Stil zu reinigen, daß die Reinigung von seiten des Autors Vervollkommnung bedeutet, von seiten des Publikums zu gleicher Zeit mehr Toleranz gegen geistige Vorzüge und größere Strenge gegen Mittelmäßigkeit.

 

Von der französelnden Geistreichigkeit

Deutsche Journalisten sind in Nachahmung des leichten französischen Stils nachgerade dermaßen geistreich geworden, daß sie bald keinen gesunden natürlichen deutschen Satz mehr zu schreiben wagen. Es gibt zwar auch gute geistreiche deutsche Feuilletonisten, aber als seltene Vögel; die Mehrzahl derjenigen, die in französischer Art geistreich schreiben wollen, schreiben statt geistreich verdreht. Die Wirkung ist denn auch danach: während ein geistreiches französisches Feuilletonbefreiend und fröhlich stimmt, verdrießt ein Feuilleton des deutschen Nachahmers wie Regenwetter. Ich habe mich oft gefragt: Woran liegt es? Was läßt der deutsche Geistreiche, wenn ers dem französischen Geistreichen gleich tun will, außer acht? Da sind viele Gründe; ich will einige nennen: Der Franzose will nicht geistreich sein, er muß es bloß, weil er nicht anders kann. In Frankreich gilt der Satz, der dort oft genug ausgesprochen wurde: Man darf nicht mehr Geist zeigen, als unbedingt nötig ist. Der deutsche Nachahmer aber will geistreich sein; diese Absichtlichkeit verpfuscht ihm schon den Stil und bringt ihn um die erfreuliche Wirkung, denn es ist nicht erfreulich, jemand mit Willenskraft tänzeln zu sehen. Ferner hat der Franzose eine ihm angeborene Hochachtung vor der Sprache, während der deutsche Nachahmer, um geistreich zu scheinen, dem deutschen Sprachgeist durch Nachahmung fremder Sprachgebräuche Gewalt antut; er reiht abgehackte, asthmatische Hauptsätzlein aneinander, setzt ein helles Nachtragssätzchen zwischen zwei Punkte, schleicht auf französische Weise nachlässig ins Thema hinein, nennt den Namen des Mannes, von dem er erzählt, nur so beiläufig im Verlauf und meint, solcherlei wäre etwas. Was dem Franzosen natürlich ist, Lebhaftigkeit des Temperaments und Lässigkeit der Logik, wird hier zu einem gymnastischen Getu mit unnützen Luftsprüngen, bei denen sich der Deutsche meistens verrenkt. Der Geist der deutschen Sprache hat nun einmal einen ebeneren Flug als der Geist der französischen, und Impfversuche mit französischen Fittichen bewirken nicht Beschleunigung, sondern Unruhe. Noch mehreres wäre dabei aufzuzählen, ich will aber gleich zur Hauptsache kommen. Der Hauptunterschied zwischen deutscher und französischer Geistreichigkeit ist der, daß der deutsche Tanz der Nachahmer ein Solo vor den Lesern tanzt, mit dem Anspruch, bewundert zu werden, während der französische Geistreiche sein Lesepublikum galant am Arm auf den Ball führt. Übereinfühlung mit dem Leser, von Satz zu Satz, ja von Wort zu Wort, das ist das Geheimnis des französischen Stils. Diese Übereinfühlung läßt ein Franzose nie aus den Augen; deshalb, weil der Franzose Respekt vor denen hat, mit denen er redet; ob er noch so boshaft werde und scheinbar poltere, so bleibt er immer bedacht, es so zu tun, daß er den Leser mit sich reißt. Aus dem Genialen heraus, ins Blaue hinein, verächtlich über den Leser hinweg schreibt kein Franzose. Wenn er daher geistreiche Bemerkungen fallen läßt, so tut er es so, daß er weiß: der Leser quittiert Punkt für Punkt mit beifälligem Lächeln; und wenn er sich mit scheinbar nachlässigen Andeutungen begnügt, so tut er es, weil er weiß: seine Leser sind geistig so lebhaft, daß sie die selbständige Ergänzung lieben.

Dieses Zusammenfühlen mit dem Leser geht dem deutschen Geistreichen ab. Das deutsche Lesepublikum – man braucht es deshalb nicht ‹indolent› zu schelten – hat nicht das nämliche Vergnügen an stilistischen und geistigen Kunstwendungen wie das französische; es ist mehr sachlich orientiert; der deutsche Geistreiche wiederum hat nicht die nämliche schuldige Hochachtung vor dem Publikum wie der französische; er bringt Geniedünkel oder Artistendünkel oder Geistdünkel oder Zeitgeistdünkel oder Nachaffendünkel, jedenfalls immer einen Dünkel mit und spielt nun seinen Lesern, die er im Grunde geringschätzt, seine stilistischen Kunststücke vor; versteht sie der Leser nicht, um so schlimmer für den Leser; und ein Beweis mehr, daß er, der Kunststückmacher, etwas Besonderes ist. Kurz, der deutsche Geistreiche schauspielert eitle Stiltänze vor einem Publikum, dem er innerlich fremd ist. Und das gibt dem französisierenden deutschen geistreichen Stil einen so widrigen geckenhaften Beigeschmack.

Nun die Moral der Geschichte: Man soll überhaupt nicht geistreich sein wollen; es genügt, Geist zu haben.

 

Eine ästhetische Unredlichkeit

Alltäglich und überall begegnen wir in belletristischen Werken und Werklein bis hinab in die kleinste Feuilletonskizze und hinauf in die Dichtung und die Wissenschaft folgendem Betrügchen. Der Verfasser hebt mit einer lebhaften Szene in lebendiger Situation an, um dem Leser vorzutäuschen, er führe ihn in medias res. Darauf, nach Schluß der Anfangsszene, anstatt, wie erwartet wird, die Erzählung in demselben Stil und Tempo fortzuführen, siehe da, jetzt holt er den Maisch, den Familienbrei, das statistische Register des Helden, deren man überhoben zu sein sich beglückwünschte, einfach nach, mit aller Behaglichkeit und Geschwätzigkeit, nur im Plusquamperfektum statt im Imperfektum. «N. N. hatte schon frühzeitig  ... Sein Vater  ... Seine Mutter  ... Seine Bildung  ... und so weiter» Das halte ich nicht für recht. Entweder, wenn einer den Leser nicht in medias res zu führen versteht – und es gehört allerdings mitunter namhafte Kunst dazu –, so gebe er sich nicht den Anschein, es zu können, sondern beginne schlicht und ehrlich mit dem Anfang, nämlich mit den Vorbedingungen und Vorverhältnissen der Erzählung. Oder aber, wenn er vermeint, es zu können, wenn er wagt und versucht, den Leser in medias res zu führen, so soll er auch sein Versprechen, das er mit dem Anfangskapitel vor dem Leser übernommen, getreulich halten. Das scheint mir ein einfaches Gebot der Redlichkeit. Wie nennt man denn das Verfahren eines Obsthändlers, der eine große Apfelsine obenauf legt und die kleinen darunter versteckt? Nun, genau so nenne ich das Verfahren eines Erzählers, der mir zu Anfang eine spannende Szene vorspiegelt und mir dann hinterher die nichts weniger als spannenden biographischen und genealogischen Notizen auftischt.

 

Vexiertitel

Seit ungefähr zwei Jahrzehnten reißt in Deutschland – und nicht nur in Deutschland – mehr und mehr der Brauch ein, die Neugierde des literarischen Publikums durch Vexiertitel zu reizen. Unter Vexiertiteln verstehe ich solche Titel, welche, anstatt den Inhalt zu benennen oder zu erklären, ihn geflissentlich verhüllen.

Das geschieht, indem man entweder eine nebensächliche Anekdote oder ein geringfügiges Requisit oder etwas ähnliches aus dem Texte in den Titel erhebt (Typus: «Fledermaus») oder indem man einen abstrakten Gedanken, den das Buch oder das Stück zu beweisen vorgibt, mit irgend etwas Auffälligem, womöglich Vierfüßigem, vergleicht und hierauf das verglichene Bild zur Überschrift wählt (Typus: «Der schwarze Schleier»). In letzterem Falle geht es tatsächlich so zu, daß der Verfasser erst einen marktschreierischen Titel ausklügelt und nachträglich irgendwo im Text das Gleichnis anbringt, welches er dann, um den Titel zu rechtfertigen, mit ein paar lehrhaften Worten pedantisch und aufdringlich auseinandersetzt.

Mit diesem System lassen sich das gewöhnlichste Schablonendrama und der gemeinste Assessorroman mit den wunderbarsten Namen taufen. Zum Beispiel: «Das rote Kaninchen», oder «Der fliegende Frosch», wenn etwa die Hauptpersonen nach unmöglichen Zielen jagen; es braucht ja bloß irgend jemand irgendeinmal im Verlaufe des Werkes den Begriff der Unmöglichkeit mit einem roten Kaninchen oder einem fliegenden Frosch zu versinnbildlichen.

Nun wundere ich mich keineswegs, daß die Reklame dieses raffinierte Mittel erfunden hat, denn die Reklame ist ebenso pfiffig wie skrupellos. Dagegen wundert mich, daß je länger je mehr auch vornehmere Geister dieses unfeine Mittel nicht verschmähen und daß dasselbe ohne Widerspruch hingenommen wird. Ist es doch schon so weit gekommen, daß, wenn ein Roman mit dem Titel «Sappho» oder ein Theaterstück mit dem Titel «Tilly» erscheint, jedermann als selbstverständlich voraussetzt, daß das Werk jedenfalls nicht von Sappho und nicht von Tilly handeln werde.

Gegen dieses Versteckenspielen möchte ich mir nun erlauben, ein ernstes Bedenken auszusprechen. Nämlich, abgesehen von der Pfiffigkeit des Kunststückchens, welche an sich schon nicht würdig, jedenfalls nicht vornehm ist, finde ich, wenn ich den Kunstgriff prüfe, daß er auf einer Lüge beruht. Denn wenn einer das, was er meint, absichtlich so ausdrückt, daß der Leser oder Hörer etwas anderes darunter verstehen muß, so lügt er. Den Einwand der Geringfügigkeit aber lasse ich nicht gelten. Auch die kleinste Krebspustel beweist Krebs. Wenn ich daher die Schriftsteller eines ganzen Zeitalters mit den Überschriften Unwahrheiten sagen höre, so muß ich auf einen allgemeinen Mangel an Empfindlichkeit für Wahrheit und Unwahrheit schließen. Aus diesem Grunde schlage ich vor, zu dem alten ehrlichen Brauch zurückzukehren, solche Überschriften zu wählen, welche nicht irreführen, sondern weisen, das heißt entweder den Inhalt andeuten oder den Hauptgedanken aussprechen oder den Hauptnamen nennen.

 

Widmungen

Vor mir liegt ein halbes Dutzend im vergangenen Jahre erschienener und von verschiedenen Verfassern geschriebener Bücher, welche sämtlich mit einer Widmung ‹An meine Mutter› versehen sind. Da ist es wohl am Platze, ein Wort, das, wie ich vermuten muß und hoffen darf, schon oft gesagt worden ist, nochmals zu sagen.

Bücher, die man drucken und durch eine Verlagshandlung kreuz und quer in die unbekannte Welt verbreiten läßt, sind eine Angelegenheit der Öffentlichkeit, nicht der Familie. Weder die Mutter, noch die Frau, noch die Tante des Verfassers kommt hier in Betracht. Daß ein erwachsener Mensch, wenn er das unschätzbare Glück hat, seine Mutter noch unter den Lebenden zu besitzen, ihr seine besten Gefühle der Liebe, Ehrfurcht und Dankbarkeit widmet, versteht sich von selbst, ist auch kein Dichtergeheimnis. Ein Parlamentsredner gibt an Familienpietät dem Schriftsteller nichts nach; dennoch fällt ihm nicht ein, eine Rede über die Zuckersteuer mit einer Anhänglichkeitsfloskel an die Adresse seiner liebsten Angehörigen einzuleiten. Ich verstehe ja und achte die Gesinnung, ich fühle sogar mit, ich lasse mich willig rühren und schließe überdies aus der Widmung auf die Gutartigkeit und Liebenswürdigkeit beider, des Verfassers und der Mutter. Es würde mich aber ein ähnlicher Pietätsausdruck auch am Parlamentsredner rühren. Warum tut der Parlamentsredner nichts dergleichen? Weshalb läßt er sich diesen Vorteil entgehen? Weil er ein größeres Taktgefühl besitzt, weil er spürt, daß man der Öffentlichkeit nicht Vertraulichkeit, sondern Ehrerbietung schuldet. Eine Nation ist ein zu erhabener Wert, um als Münze für ein Familiengeschenk zu dienen, und das Publikum eine zu hohe Person, als daß man ihm zumuten dürfte, sich in seiner Gesamtheit in unbestimmter Richtung nach einer unbekannten Dame zu verneigen, wie ehrwürdig dieselbe an sich sein möge. Ich weiß nicht, wie es andern ergeht; ich verspüre in solchen Fällen stets einen leisen Kitzel, dem Verleger das Buch ungelesen zurückzusenden, mit der Begründung, daß ich leider zufällig nicht die Ehre hätte, die Mutter des Verfassers zu sein. Freilich behält schließlich das Mitgefühl die Oberhand; allein ich habe dem Verfasser schon etwas verzeihen müssen, ehe er nur Zeit hatte, mir seine metrischen Fehler zu entwickeln, und das ist etwas zu früh.

Ein altes Herkommen verschuldet den Mißbrauch und entschuldigt ihn im Einzelfalle; ja, die Kunstgeschichte muß ihn in den Augen derer, denen erlauchtes Beispiel schon Gesetz bedeutet, sogar rechtfertigen. Dichter und Künstler entrichteten einst auf dem Titel oder gar innerhalb des Werkes selbst beliebigen, uns gleichgültigen Herren und Damen ihren Höflichkeits- oder Anhänglichkeitstribut. Maler schenkten uns zu einer herrlichen Madonna Tuchhändler und Ratsherren mit in den Kauf; Musiker verschnörkelten den Titel ihrer unsterblichen Werke mit drei Meter langen adligen Namen. Ob jedoch dergleichen auf uns erhebend wirke, das frage ich jeden Unbefangenen. Übrigens gehört die Huldigungspflicht der Vergangenheit an; gegenwärtig sieht sich der Künstler und Schriftsteller zum großen Vorteil seiner Standeswürde ihrer entbunden. Darf er nun dafür seinerseits willkürlich die Welt veranlassen, ihm den privaten Gefühlstribut, den er jemand schuldet, mitzahlen zu helfen? Nein; der Mutter des Schriftstellers gebührt das erste Exemplar eines Werkes, das Werk selber aber gehört einer anderen Dame: ehedem nannte man sie Muse, jetzt heißt sie die Kunst. Ihr allein soll ein Kunstwerk gewidmet werden. Da sich übrigens diese Widmung von selbst versteht, bleibt unter allen Widmungen bei weitem die geziemendste: gar keine Widmung.

 

Ein Büschel Aphorismen

  1. Das Buch des Verrates beginnt mit den Worten: «Unsere Zeit  ...»
  2. Es genügt nicht immer, blödsinnig zu tun, um geistreich zu sein.
  3. Der Realismus hat jetzt ihren Dienst getan.
  4. Zeitgeist gegoren: Theaterdirektoren.
  5. Die neue Iphigenie: «Das Land der Szythen mit der Seele suchend.»
  6. Einem jungen Dichter ins Stammbuch: «Schwan, kleb an.»
  7. «Du! wollen wir nicht auch zusammen ein Genie gründen?»
  8. «Dumm! Heute will mir kein anständiger Vers gelingen!» «Einfach, mach eine Revolution, die Verspoesie sei veraltet.»
  9. Archimedes: «Gebt mir sechs entschlossene Kanaillen, so will ich Europa aus den Angeln heben.»
  10. Diogenes (Anno neunzehnhundert): «Es ist niemand da.»
  11. Am treffsichersten wird die deutsche Sprache von Kavalieren verpöbelt.
  12. Weltliteratur und Allerweltsliteratur ist zweierlei.
  13. Ein Zeitalter kommt zur Not mit drei Grundideen aus. Aber nur unter der Voraussetzung, daß sie falsch sind.
  14. Eine Generation, die sich nicht um die Augen der Vorwelt kümmert, wird bübisch.
  15. Literarische Zustände sind immer schlecht, je ‹besser›, desto schlimmer. Es sollte gar keine literarischen Zustände geben.
  16. Was ist Bildung? Bildung ist das Nationallaster der Deutschen.
  17. Die Deutschen haben einen heiligen Berg, namens Montmartre.
  18. Ein Kanon von vorn und hinten zu lesen (deutsches Sprachspielchen für geschwollene Kinder): Dichter-König, König-Dichter, Lord-Dichter, Dichter-Lord, Schuhmacher-Dichter, und so weiter.
  19. Noch ein Spielchen: Das Bettelarmband. Kette ein Dutzend historische Namen, einerlei welche, mit Bindestrichen zusammen und hänge irgendeinen Wicht daran, einerlei welchen, so schnellt der Wicht sofort in historische Höhe empor, wie an einem Gletscherseil. Beispiel: Perikles-Thukydides- Alexander-Hannibal-Cäsar-Raffael-Goethe-Beethoven- Rembrandt-Rubens-Müller. Hast du gesehen, was für eine welthistorische Größe jetzt der Müller ist?
  20. Eine musikalische Gleichung: Man hat einst Beethoven unverständlich und bizarr genannt. Den Dissonansky nennt man heute auch unverständlich und bizarr, folglich Dissonansky = Beethoven.

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