Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Musik

 

Die Melodie

‹Wie das Fettauge auf der Suppe.› Das Gleichnis ist an sich hübsch, und wer es erfunden, war ein gescheiter Mann. Fragt sich nur, worauf das nette Sprüchlein seine richtige Anwendung findet. Auf die Melodie über einer bescheidenen leisen Begleitung, wo das Orchester den Dienst einer Riesenharfe versieht? Es kommt darauf an, ob wir denken oder uns mit einem Späßlein begnügen wollen. Mit demselben Recht könnten wir den kontrapunktischen Stil mit Käsewürmern vergleichen, die durcheinanderkrabbeln. Also worum ist es einem zu tun, um Witzlein, die den Leser auflachen machen, oder um die Wahrheit? Wenn um die Wahrheit, so sage ich: Die Melodie schwebt mit der nämlichen Befugnis einsam und hoch über der Begleitung wie der Adler über dem Gefilde und die Sonne über der Erde. Will man etwa auch Adler und Sonne mit dem Fettauge über der Suppe vergleichen?

Die Melodie ist eines der tiefsten und schönsten Geheimnisse der Seele, dem nachzuspüren sich für einen ernsten Denker wohl lohnen würde. Daß eine kleine Folge von Tönen eine organische Verbindung bildet, und zwar eine solche Verbindung, daß unser Herz dadurch bestrahlt und beseligt wird, und daß die mindeste Abänderung der Tonfolge unser Gemüt gänzlich umstimmt, das ist ja in dem erstaunlichen Reiche der Musik das Allererstaunlichste. Natürlich handelt es sich hier um den denkbar verwickeltsten Vorgang, wo eine Unmenge von Faktoren mitspielen, von denen das Gefühl eines begabten Musikers jeden einzelnen instinktiv, aber haarscharf abmißt und mit der Diamantwaage abwägt, wenn er eine Melodie schafft. Dem gilt es nun ebenso fein mit dem Bewußtsein nachzuspüren und mit dem Gedanken zu folgen, wenn man ergründen und begreifen will, was Melodie und was eine gute, was eine nichtsnutzige Melodie ist. Wie plump nimmt es sich da aus, wenn ein Referent leichthin von einer gefälligen, hübschen Melodie berichtet. Gefällig! Als ob eine Melodie nur den Beruf hätte, anzusprechen und zu gefallen. Beglücken und beseligen soll sie, und sie kann es. Und daß nur ein durch und durch guter Mensch eine Melodie ersten Ranges erfindet, das hat man noch nicht gemerkt? Eine edle Melodie ist der Abglanz eines vom Sonnenschein der Güte durchglänzten Herzens. Und wie sich die individuelle Schattierung der Güte so charakteristisch und so deutlich bei jedem Komponisten in der Melodie ausdrückt! Das sommerliche mittagssonnendurchwärmte Friedensglück eines Haydn, die paradiesische Wonne eines Schubert, der morgenhelle Lerchenjubel eines Auber, die hauchende schmelzende Innigkeit eines Bellini: das alles fühlt das naive Volk mit empfänglichem Herzen dankbar nach, der Dummgebildete verachtet es, die Wissenschaft hat es meines Wissens gar nicht bemerkt, geschweige denn ergründet. Es wird zwar schwer, sehr schwer zu erklären sein, allein wenn es eine ernsthafte Wissenschaft der Seelenkunde gibt, so darf sie sich dieser Aufgabe nicht entziehen; denn aus der Melodie gelangen wir in die geheimnisvollsten Gründe der menschlichen Seele. Es gilt für die Wissenschaft, meine ich, mit der Melodie das zu tun, was Herbart mit der Harmonie getan hat.

Wer aber über den Wert der Melodie hochmütig die Nase rümpft, den mag es vielleicht doch etwas stutzig machen, wenn ich ihm mitteile, daß Jacob Burckhardt, wie ich es aus seinem eigenen Munde weiß, aus der hochmütigen Verachtung der italienischen Melodie zum ersten Male eine dogmatische Beschränktheit des germanischen Urteils erkannte. Übrigens keine Gefahr! Die Melodie hat noch nicht ihr letztes Wort gesagt. Wenn wieder einmal Leute kommen werden, die sie können, so wird die musikalische Doktrin schon dafür sorgen, daß sie dann zeitgemäß erscheint.

 

Zur Charakteristik der Tonarten

Der Verstand spricht mit tausend guten Gründen von allen Seiten gegen Sondercharaktere der Tonarten. Aber es gibt anderseits Erfahrungen, welche dafür sprechen; unerklärliche oder bis heute unerklärte Erfahrungen, doch unwegleugbare Erfahrungen. Ich will einige aus meinem Privatleben nennen. Erstens: Eine Dame mit musikalischem Gehör, aber ohne die allermindeste musikalische Ausbildung, die nicht einmal die Tongattungen dem Namen nach kennt, sagt, sobald ich etwas in Des-Dur spiele: «Das klingt wunderbar vornehm.» Spiele ich das nämliche in C-Dur, so macht es ihr keinen Eindruck. Zweitens: Ich könnte mich, wenn ich komponierte, niemals entschließen, ein feierliches oder heroisches Stück in C-Dur zu setzen. Drittens: Ich empfinde das Rücken der Harmonie von B-Dur auf H-Dur so innig angenehm, stahlscharf und natürlich wie kein anderes Rücken um einen halben Ton; das Rücken von E zu F zum Beispiel macht auf mich keinen Eindruck. Viertens: Cis-Moll, namentlich wenn in einem E-Dur-Stück episodisch erscheinend, spricht in meiner Empfindung Rubinglanz aus.

 

Zur Ästhetik des Tempos

Ich mag mir noch so eifrig das Gegenteil zureden, so oft ich das Champagnerlied im «Don Juan» höre, drängt sich mir jedesmal das nämliche Urteil auf: das Lied fliegt nicht, sondern stürzt, es hat nicht Feuer, sondern Hast. Ähnliche Beispiele eines überhetzten Kompositionstempos, welches an dem Hörer vorüberjagt, ohne ihn mitzureißen, ließen sich in Menge finden, am häufigsten in der Coda der instrumentalen Finale, wenn der Komponist nach Erschöpfung sämtlicher Mittel behufs eines letzten durchschlagenden Effektes sein Heil im Presto sucht. Ich wage es zum Beispiel, das As-Dur-Presto im Finale der Appassionata und das Schlußprestissimo im Rondo der C-Dur-Sonate Opus 53 hierher zu zählen, überhaupt die meisten Prestissimo, welche höchst selten erreichen, was sie erstreben, namentlich dann nicht, wenn sie einfach ein bereits gegebenes Motiv beschleunigen. Denn Beschleunigung bedeutet Eile, nicht Schnelligkeit. Wie man ein Presto zur vollen Tempowirkung bringt, das empfand jener Meister am sichersten, welchem eine kindliche Sage altväterliche Behäbigkeit nachredet: Haydn. An ihm ist das Presto zu studieren.

Ich habe da eine schwierige Frage aufgeworfen und maße mir nicht an, sie einigermaßen hinreichend zu beantworten. Das Wenige jedoch, was ich gefunden oder geahnt zu haben glaube, gestatte ich mir mitzuteilen, in der bescheidenen Meinung, hiermit eine Anregung zu bieten.

Das kompositorische Feuer des Tempos setzt als erste Bedingung voraus, daß der Takt gespürt werde, innerhalb dessen sich der Rhythmus bewegt. Der Takt aber bezieht seine Wirksamkeit aus dem Pulsschlag des Menschen. Was daher den Pulsschlag und hiermit die Nerven anregt, das wirkt anfeuernd: das Marschtempo, der Tanzrhythmus, der Galopp, der Sechsachteltakt, die punktierte Note, die Triolenfiguren, die spannende Pause, der Gegenrhythmus, die Betonung des schlechten Taktteils, die Vorschläge der Begleitung vor Beginn des Themas und ähnliches.

Zweitens setzt kompositorisches Feuer voraus, daß der Takt die gesamte Partitur mitreiße, nicht etwa bloß eine einzelne Stimme. Auch die größte Schnelligkeit einer einzelnen Stimme beschleunigt ja das Tempo nicht um den kleinsten Pulswert, wie wir aus den Vierundsechzigstel-Passagen eines Adagio oder aus den Bravourfiguren der Variationen entnehmen können. Ja, die rasendsten Läufer können sogar einem Ruhepunkt zufallen, und zwar ohne ihn zu beeinträchtigen; im Gegenteil, sie markieren sogar die Gesamtruhe noch deutlicher. Umgekehrt kann eine getragene, schwerfällige Obermelodie die Geschwindigkeit eines Sturmes erreichen, wenn die Gesamtpartitur, welche die Oberstimme trägt, leidenschaftlich aufgewühlt wird. So zum Beispiel das Nationallied am Schluß der Jubelouvertüre.

Drittens kommt in Betracht, ob ich die Noten eines Motivs als Viertel oder Achtel oder Sechzehntel empfinde: alla breve oder alla grande. (Sagt man übrigens alla grande?) Es nützt nichts, daß der Komponist ein Presto in Vierteln schreibt, wenn der Hörer in seiner Empfindung die Viertel in Achtel halbiert; denn damit halbiert er auch sofort das Tempo, wodurch statt Spannung der Schnellkraft Gemütlichkeit entsteht.

Unter welchen Umständen aber empfindet der Hörer ein Tempo alla grande und unter welchen Umständen alla breve? Neben dem Takt der Begleitung kommt hierfür ohne Zweifel auch der Charakter des Themas in Frage. Es gibt, wie jedermann weiß, feurige und schläfrige Themen. Allein es gibt auch Themen, die feurig sein möchten, aber trotz aller Hast und Unruhe nicht zünden. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn das Thema sich auf den Intervallen des gebrochenen Akkordes bewegt, mit anderen Worten, wenn es sich nicht genügend diatonisch schlängelt. Variationen über den gebrochenen Akkord können unmöglich Feuer schlagen, mögen auch Komponist und Sänger oder Spieler noch so leidenschaftliche Gebärden ausführen. Das Thema des Champagnerliedes aber ist der gebrochene Akkord, darum wird es trotz allem Blasen niemals brennen.

 

Allegro und Kompanie

Vorwort

Wenn mir hundertmal eine nämliche Beobachtung aufstößt, welche nicht allgemeine Beobachtung ist, dann werde ich schließlich von meinem Wahrheitsgewissen gezwungen, sie niederzuschreiben. Da ich aber anderseits einen heftigen Widerwillen dagegen verspüre, über Dinge zu reden, die mich nichts angehen und von denen ich nichts verstehe, so pflege ich das Niedergeschriebene wieder zu vernichten. Auch dem nachfolgenden Aufsatz hatte ich die Vernichtung zugedacht. Personen, auf deren Urteil ich etwas gebe, darunter sogar Musiker von Fach, haben mich davon zurückgehalten und mir im Gegenteil die Veröffentlichung ans Herz gelegt. Und so wage ichs denn.

Ich meine es bescheiden, meiner Unbefugtheit inne. Falls irgendeine Behauptung allzu zuversichtlich klingen sollte, so bitte ich, darin bloß einen Stilfehler zu erblicken, wie er jedem widerfahren kann, der eifrig Geschriebenes nicht nachträglich korrigiert. Wollte ich aber mit Korrigieren anfangen, so würde ich mit Zerreißen aufhören.

 

$$$ Nur ein Schüler fragt, ob Rondo ‹schnell› oder ‹langsam› bedeute, nur Anfänger erkundigen sich, in was für einem Tempo man ein Menuett nehmen müsse, nur Dilettanten behaupten, Andante gehe etwas schneller als Adagio. Allein selbst mancher Musiker von Fach ist der Ansicht oder handelt wenigstens nach der Ansicht, Allegretto wäre eine Art Halb- oder Dreiviertels-Allegro und dürfe daher nicht das Tempo eines Allegro erreichen. Als ich einmal den Türkischen Marsch aus der A-Dur-Klaviersonate von Mozart, auf Orchester übertragen, überaus matt, langsam und schläfrig ausführen hörte und nachher den Dirigenten nach dem Grund fragte, wies er mir triumphierend auf die Partitur: «Nur Allegretto.» Mozart selber hat Allegretto geschrieben, Mozart wird es doch selber am besten gewußt haben.

«Nur Allegretto» gefällt mir. Hätte Allegro darüber gestanden, so würde also der Herr das Tempo schneller genommen haben. Gut. Aber über dem zweiten Satz (A-Moll) der Siebenten Symphonie von Beethoven steht ebenfalls Allegretto. Ich denke, Beethoven wird es auch selber am besten gewußt haben. Mit welchem Recht nun, wenn Allegretto ein Halballegro, also eine Tempovorschrift bedeuten soll, mithin ein beschleunigtes Zeitmaß vorschreibt, mit welchem Recht mißachtet man hier die Vorschrift Beethovens und läßt das Stück langsam spielen? «Das sagt einem das Gefühl.» Aber Beethoven, hatte denn der vielleicht kein Gefühl? Und was muß er für ein wunderliches Gefühl gehabt haben, um über ein Musikstück, wenn er es in langsamem Tempo wollte ausgeführt wissen, zu schreiben, man solle es in munterem Halballegro spielen? Mich wundert, daß nicht schon dies eine Beispiel einem die Augen darüber geöffnet hat, daß wir das Wort Allegretto falsch verstehen, wenn wir es als eine Tempoanweisung auffassen. Und ähnlich steht es mit den übrigen italienischen Überschriften. Daß ein Allegro nicht unter allen Umständen ‹schnell› bedeute, gibt jedermann zu. Nun, was bedeutet es denn sonst? Zwecklos wird der Komponist das Wort wohl nicht hingeschrieben haben. Da hilft man sich denn mit Kompromissen, Willkürlichkeiten und Gedankenlosigkeiten. Die mehr oder weniger bewußte geltende Ansicht ist, ich täusche mich kaum, folgende: Allegro, Allegretto, Adagio, Andante und so weiter sind eigentlich keine Tempovorschriften; es wäre Unsinn, sich sklavisch und buchstäblich nach ihnen zu richten; aber mehr oder weniger muß man sich doch ein wenig nach ihnen richten, denn es sind ja eigentlich doch Tempovorschriften. Ich gestehe, daß mir diese Logik nicht imponiert. Woher in aller Welt, frage ich, nehmen Sie überhaupt die Meinung her, Allegro bedeute ‹schnell›, Allegretto ‹etwas weniger schnell›, Adagio ‹langsam›, Presto ‹rasend schnell›? Warum deuten Sie diese Titel anders als die Titel Rondo und Menuett, die Ihnen doch auch nicht für eine Tempoanweisung gelten? Wegen des Wortsinnes der italienischen Namen? Ja, seit wann entscheidet denn der Wortsinn eines Namens über den Charakter einer Kunstform? Muß ein Roman romantisch sein? Wollen Sie zu einer Ballade tanzen? Und Allegro? Allegro heißt ‹fröhlich›; kennen Sie keine ernsten, keine leidenschaftlichen, keine düstern Allegro? Also der Wortsinn hat hier nichts zu entscheiden: er ist zwar nicht grund- und zwecklos, er hat ursprünglich das bedeutet, was er sagte, aber die Geschichte der Musik hat allmählich den ursprünglichen Wortsinn erweitert, gesprengt und verändert, und schon zur Zeit unserer großen deutschen Symphoniker haben die italienischen Überschriften eine andere Bedeutung angenommen, als der Wortsinn des Namens ursprünglich in Italien bedeutet hatte. Welcherlei andere Bedeutung, darüber erlaube ich mir meine Meinung auszusprechen.

Nach meiner Ansicht bedeuten die Namen Allegro, Allegretto, Adagio, Andante, Andantino, Scherzo und Presto ebensowenig Tempovorschriften wie die Namen Menuett oder Rondo. Sie wollen nicht einmal irgendwelche Anweisungen an den Ausführenden sein, sondern sind Selbstbekenntnisse des Komponisten vor seinem Gewissen, Stellungsangaben des jeweiligen Stückes innerhalb der Kunst, Maßstäbe zur Beurteilung des Kunstwerkes und in letzter Linie Verständigung für den Ausführenden über den Charakter des Stückes, das er zu spielen unternimmt. Wenn Mozart schreibt: Andante, so will er nicht sagen: ‹Man muß das langsamer oder schneller, so oder so spielen› – Mozart war doch nicht Lehrer an einem Konservatorium –, sondern er will damit sagen: ‹Dieses Stück ist nach den Kunstgesetzen eines Andante gebaut. Jetzt verstehs, jetzt beurteils, jetzt hörs, oder jetzt spiels demzufolge.› Und ähnlich mit Adagio, Allegro und allen übrigen italienischen Titeln. Der Musiker schreibt oder schrieb wenigstens ausgangs des achtzehnten Jahrhunderts Adagio, Andante oder Allegretto in keinem anderen Sinn, als unsere Dichter über ihre Werke Drama, Epos, Roman oder Novelle schreiben. Ich denke, es wird niemand einfallen, zu behaupten, die Worte Roman oder Novelle wären Tempovorschriften für den Vorleser, und niemand wird darüber nachsinnen, ob man eine Ballade schneller vortragen müsse als ein Lied.

Eine ganz andere Frage als die Tempofrage tritt also mit den italienischen Titeln unserer großen Symphoniker an uns heran, die Frage: Was für eine musikalische Form verstand man zur Zeit unserer Klassiker unter dem Namen Andante, was für eine andere Form unter dem Namen Adagio oder Allegretto und so weiter? Die Antwort ist natürlich nicht leicht; man wird finden, daß verschiedene Musiker Verschiedenes unter denselben Namen verstanden, ja, daß ein und derselbe Komponist dem nämlichen Titel nicht immer die nämliche Bedeutung beilegte. Immerhin glaube ich, daß einige allgemeingültige, übereinstimmende Oberanschauungen bei unsern Klassikern zu erspüren sind. Wenn ich es wage, hier meine Beobachtungen hierüber mitzuteilen, so maße ich mir nicht an, zu glauben, daß ich Neues wüßte oder besser wüßte als andere; im Gegenteil, ich bitte um Belehrung und Verbesserung, wo ich irre; ich tue es, weil mir die Sache wichtig ist, wichtiger, als sie andern zu sein scheint, ferner, weil ich durch scharfe und klare Betonung meiner Meinung die Berufeneren zu schärferem und klarerem Nachdenken zwingen möchte, endlich, weil ich sehe, daß die Mißverständnisse, ob sie vielleicht schon nicht in den Köpfen der Wissenden herrschen, tatsächlich unsere Konzertsäle, und wehe! unsere Häuser beherrschen. Schon allein die greuliche wichtigtuerische Verschleppung der Adagio, wie sie heutzutage üblich ist, eine Verschleppung, an welcher die allgemeine Ansicht schuld ist, ein Adagio müsse ‹langsam gehen› und könne kaum langsam genug gehen – schon diese schauerliche Adagioverschleppung unseres Zeitalters erlaubt mir nicht das Verschweigen meiner Meinung. Indem ich ein bißchen mithelfe, dieser Unsitte den Hals umzudrehen, hoffe ich, vor den Musikern von Fach Verzeihung für meine Kühnheit zu erhalten.

Adagio

Adagio heißt nicht ‹langsam›; es heißt auch nicht ‹wichtig›; es ist ganz unnötig, ja sogar falsch, die Augen gen Himmel zu drehen und mit seiner Seele metapsychische Flugbewegungen zu machen, sobald ein Adagio kommt. Adagio bezeichnet einfach den Erholungssatz der Symphonie nach dem straff gespannten ersten Allegro, Erholung für den Hörer, aber auch für den Komponisten. Das Adagio hat keinen feststehenden Bau; der Komponist komponiert ein Adagio zwanglos, wie ihm das Herz gewachsen ist. Da aber das Herz eines Musikers singt, so singt eben das Adagio. Nun kann man fröhlich oder traurig, unbekümmert oder tiefernst singen. Beethoven mag das Adagio auf die höchste Stufe der Vollendung gebracht haben; aber sein tiefgründiges, gefühlsschweres Adagio ist nicht das einzig mögliche Adagio; und wer die Vortragsbedingungen, also zum Beispiel das Tempo, des Beethovenschen Adagio auf andere, namentlich auf frühere Meister überträgt, der begeht eben einen Fehler. Mozart zum Beispiel kennt ein glückseliges, ja sogar ein jauchzendes Adagio.

Der Vortrag eines Adagio hat sich natürlich nach dem Willen des Adagio zu richten, muß also den Gesangscharakter und die Freiheit dieser Kunststücke dem Hörer vermitteln. Die Vorstellung ‹langsam› ist hierbei gänzlich vom Übel; ein Adagio hat gar kein Tempo, nicht einmal einen Takt: es hat einen Odem. Diesem Odem gilts zu folgen, einfach und unbefangen, mit singendem Herzen, ohne psychologische Geheimnistuerei. Das Adagio ist ja kein Heiland, mit dem man die Welt erlösen müßte. Daß zu Haydns und Mozarts Zeiten das Adagio mit allen Freiheiten eines Sängers vorgetragen wurde, also zum Beispiel freier im Takt, als wir es tun, ist meine innige Vermutung; daß es im Vergleich zu unserer Verschleppung in schnellerem Tempo gespielt wurde, meine feste Überzeugung; daß wir selbst Beethoven Unrecht tun, wenn wir jedes seiner Adagio in feierlichem Begräbnisschritt vortragen, ebenfalls. Ein Adagio ist kein träges Musikstück, es hat nicht Harz an den Füßen.

Mit Unrecht betrachtet man das Adagio als das Hauptstück der Symphonie und als den Prüfstein für den Genius eines Komponisten. Das Hauptstück der Symphonie und der Prüfstein des Genius ist das Allegro. Das Übergewicht des Adagio in unserer Wertschätzung stammt einzig daher, daß es mehr gefühlvolle oder wenigstens mehr sentimentale Menschen gibt als musikalische.

Andante

Andante besagt zweierlei: Erstens und vor allem eine bestimmte Kunstform mit eigenen Baugesetzen. Eine knappgeschürzte Kunstform mit tiefen Einschnitten und scharfen, deutlichen Trennungen der einzelnen Teile. Das Andante ist das Insekt der musikalischen Formen. Mithin ist das Andante schon durch seinen Aufbau vom Adagio wesentlich unterschieden. Das Adagio hat einen freien, offenen, das Andante einen engen und geschlossenen Bau; Eigenschaften, welche es zum Gegenstand für Variationen besonders befähigen. Gibt es überhaupt ein Adagio mit Variationen?

Andante bedeutet ferner eine gewisse Bewegungsart, nämlich eine rhythmisch deutlich fühlbare Bewegung: gehend, wenn gerades Taktmaß, gleitend oder fließend, wenn ungerades Taktmaß waltet. Ein unvergleichlich schönes Beispiel des gleitenden, fließenden Andante: das A-Moll-Rondo von Mozart. Die Bewegungsart, nicht aber die Bewegungsschnelligkeit wird durch den Titel Andante angedeutet; denn man kann schneller oder langsamer gehen, und darum haben wir auch in der Tat langsame und schnelle Andante. Ohne Zweifel lassen wir beim Vortrag, durch die Stellung des Andante in der Symphonie verführt – ich meine, weil wir uns angewöhnt haben, das Andante als einen Lückenbüßer für das Adagio zu betrachten –, das Andante durchschnittlich langsamer verlaufen, als es der Komponist gemeint hatte. Namentlich trifft das bei Mozart zu, aber nicht einzig bei ihm. Mozart war ein heißblütiger Meister mit beflügeltem Puls. Er kennt nicht bloß ein fröhliches und munteres, sondern ein frisch ausschreitendes, ja sogar ein schnellfüßiges Andante. Daß man meint, die Mozartschen Andante in ‹mäßigem› Tempo nehmen zu müssen, ist einer der Hauptgründe, weshalb uns Mozart nicht mehr so recht jung anmuten will, wie wir möchten. Wir spielen Mozart greisenhaft und schließen daraus, Mozart wäre veraltet. Viele der Mozartschen Andante wollen in einem Tempo gespielt werden, daß ein Dilettant vor Entsetzen darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlägt (zum Beispiel das D-Dur-Andante der A-Dur-Violinsonate Nr. 3 Litolff) und eine Dilettantin vor Entrüstung hintenüber vom Stuhl fällt (zum Beispiel das Es-Dur-Rondo aus der zweisätzigen Es-Dur-Violinsonate Nr. 14 Litolff). Wohlverstanden, ich behaupte nicht, sie müssen ‹schnell› gehen; sie müssen einfach natürlich gehen. Der einfache natürliche Gang aber ist hier so leicht beschwingt, daß dieser leichtfüßige Schwebegang über das Vorstellungsvermögen desjenigen hinausgeht, der meint, bei einem Andante wäre nur träger Schritt zulässig. Also etwas wie das Entsetzen der Schildkröte, wenn sie ein Reh vorbeischreiten sieht. Während das Reh ganz ruhig spaziert, urteilt die Schildkröte, es renne unvernünftig. Und wenn man sich einmal von dem Aberglauben, das Wort Andante erlaube nur eine mäßige, also zurückhaltende Bewegung, gänzlich frei gemacht hat, so macht man plötzlich Entdeckungen, welche den Wert von Aufschlüssen enthalten. Ich wage es zum Beispiel, das G-Dur-Andante molto im Haydnschen C-Dur-Trio (Peters Nr. 21) geradezu alla breve zu nehmen, mit scharfer marschähnlicher Betonung des Taktes. Nämlich Andante molto bedeutet nach meiner Überzeugung starke Betonung des Gangschrittes. Gewagt, nicht wahr? Allein versuchen Sie es, vergleichen Sie es mit der üblichen Vortragsweise, und entscheiden Sie dann!

Das Andante wird heutzutage ein wenig über die Achsel angesehen. Vielen, vielleicht den meisten, gilt es für eine minderschlächtige Kunstform gegenüber dem Adagio. Wer nicht das Zeug hat, ein Adagio zu machen, macht ein Andante; so etwa lautet die Meinung. Über den Wert einer Kunstform und ihren Vorwert vor einer andern läßt sich schwer urteilen, und streiten schon gar nicht. Ob ein gutes Adagio schwerer zu komponieren sei als ein gutes Andante, ist mindestens zweifelhaft. Was heißt ‹schwer› und ‹nicht schwer› in der Kunst? Jedenfalls ist unser heutiges Publikum ein dankbarerer Zuhörer für ein Adagio als für ein Andante, und darum ist es leichter, mit einem mittelmäßigen Adagio Beifall zu erzielen, als mit einem mittelmäßigen oder selbst einem guten Andante. Es nimmt auch wohl mit der bloßen Gebärde des Adagio ohne jeden Inhalt vorlieb. Hauptsache ist, daß man einsehe: ein Andante ist etwas ganz anderes als ein Adagio, daß man ein Andante mit fühlbar schwingendem Takt vorzutragen hat, während beim Adagio über dem Gesang der Takt nicht ins Bewußtsein dringen soll.

Allegro

Das Allegro ist nicht eine unter vielen Bewegungsarten, es ist die normale natürliche Bewegungsart aller unabhängigen Musik. Die Seele eines rechten Musikers schwingt von selber Allegro. Freilich darf man nicht unter Allegro eine ‹lebhafte, rasche, schnelle Bewegung› verstehen. Allegro besagt bloß eine mutige oder, noch genauer gesagt, eine mutvolle Bewegung. Der Mut kann sich im Tempo äußern, dann haben wir allerdings die Schnelligkeit; er kann sich aber auch durch kraftvolles Benehmen bei ruhigem Tempo betätigen. Es gibt bei unsern Klassikern zahlreiche Allegro, die durchaus nicht schnell gehen, die im Tempo von einer Menge von Allegretto weit überholt werden, ja die sogar mit einem frischen Andante kaum Schritt halten. Ein Beispiel für viele: das Allegro der Es-Dur-Klaviersonate von Haydn (Nr. 1 Peters, erster Satz) ist überaus kräftig und energisch, aber man mag es noch so sehr drängen, es erreicht, mit dem Metronom gemessen, nicht die Bewegung eines mittleren Mozartschen Andante.

Bei Haydn ist das langsame Allegro (das Moderato) sehr häufig, bei Schubert sinkt die Bewegung des Allegro mitunter bis auf den Nullpunkt herunter; seine Allegro stehen oft geradezu still, was ich freilich nicht für einen Vorzug ausgeben möchte. Aber auch bei Beethoven sind Allegro in ruhigem Schritt zu konstatieren.

Weil nun Allegro die natürliche normale Gangart der Instrumentalmusik bedeutet, so hat es sich von selbst gemacht, daß der Hauptsatz der Symphonie, also der erste Satz, regelmäßig ein Allegro ist; Ausnahmen und Abwechslungen natürlich nicht ausgeschlossen. Man sagt: ‹das Allegro einer Symphonie›, in dem Sinn, wie man sagen würde: ‹der Hauptsatz einer Symphonie›. Mit dieser kompositorischen Stellung gewinnt dann der Titel Allegro auch eine kompositorische Bedeutung. Der Titel Allegro über einem Mittelsatz oder über dem letzten Satz meint etwas anderes als der Titel Allegro über dem ersten Satz. Über dem letzten Satz bezeichnet er den Bewegungscharakter des Stückes, über dem ersten Satz den kompositorischen Charakter, den Bau, die Architektur des Stückes. Wer über den ersten Satz Allegro schreibt, bekennt hiermit, diesen Satz in der traditionellen klassischen Form geschrieben zu haben, also mit Seitenthema, mit Ausarbeitung hinter dem ersten Teil und so weiter. In welchem Bewegungsschritt dann dieser Satz geführt sei, kommt gar nicht in Betracht. Ein regelmäßiger erster Satz wird Allegro überschrieben, ob er auch noch so ruhig dahinschreite, weil eben hier das Wort Allegro nichts anderes als den Bau des Werkes anzeigt. So und nur so ist es denn auch zu erklären, warum ein Schubert seinen ruhig tönenden langsamen Gesang des ersten Satzes Allegro tauft. Er tut das, um damit den regelmäßigen, klassischen Aufbau seines ersten Satzes zu bezeichnen.

Allegretto

Nirgends erweist sich das Mißverständnis der italienischen Titel verhängnisvoller als beim Allegretto. Ein Halballegro solle Allegretto bedeuten? Warum nicht gar! In den meisten Fällen vielmehr ein Überallegro. Allegretto ist freilich das Diminutiv von Allegro, aber keineswegs das Diminutiv des Tempo, auch nicht das Diminutiv der Stimmung. Wenn wir italienische Arbeiter im Haus oder Garten haben, so rufen wir ihnen ‹Allegro!› zu, um ihnen zu melden, daß sie jetzt wacker und kräftig zugreifen sollen; ‹allegretto› sind sie, wenn sie lustig und vergnügt sind. Kurz, Allegretto heißt, dem Wortsinne nach: lustig. Dem musikalischen Allegretto gegenüber bezeichnet also, der Stimmung nach, das musikalische Allegro das ernstere Stück, nicht umgekehrt. Also weder ‹halbschnell› noch ‹halblustig› liegt in dem Titel Allegretto. Sondern das Diminutiv bezieht sich auf die Kunstform: das Allegretto ist ein Allegro von kleineren Dimensionen und geringerem Gewichte als das Allegro, genau das nämliche Verhältnis wie Sonatine zu Sonate. Nun kann es Allegretto von allen möglichen Schnelligkeitsgraden geben, vom langsamen Gang bis zum Prestissimo, und das gibt es auch in der Tat. Beim langsamen Allegretto deutet der Titel auf die Betonung, mit andern Worten auf das Gewicht, das auf die einzelnen Taktteile zu legen ist. Beethoven schreibt über den A-Moll-Satz seiner Siebenten Symphonie Allegretto, weil er verhüten will, daß dieser Satz als Largo aufgefaßt werde, also verhüten, daß dem zweiten und vierten Achtel des Taktes zu viel Gewicht gegeben werde; er will eine vorwärts gleitende, nicht eine feierliche und zurückhaltende Bewegung dieses Satzes haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Allegretto der Es-Dur-Romanze in Haydns B-Dur-Symphonie («La Reine», Nr. 15 Ulrich). Hier das Tempo dem Namen Allegretto zulieb halblebhaft zu nehmen, wäre kaum weniger schlimm, als wenn man dasselbe dem obengenannten A-Moll-Satz von Beethoven antäte. Auch hier handelt es sich beim Allegretto bloß um eine Angelegenheit der Betonung. Statt vier Viertel sind zwei halbe Noten mit dem Herzen zu fühlen und zu zählen, hierauf ist das Stück in einfacher ruhiger Bewegung langsam vorzutragen, so daß die gesangliche Schönheit des Themas ohne Abbruch ausgekostet werden kann. Beiläufig: Was waren das für gute und große Menschen! Was für eine Seelenhoheit bekundet es, Kompositionen von unsäglichem Schönheitswert und unergründlicher Gemütstiefe so schlicht und anspruchslos im Allegretto darzubieten mit Verzicht auf alles Verweilen, auf alle sentimentale Wichtigtuerei! Welch ein Gegensatz zu den anspruchsvollen Gebärden der Kleinen! Und immer wieder finde ich mein Urteil bestätigt, daß die klassischen Symphoniker Deutschlands eine Höhe der Kunst darstellen, deren sichere Meisterschaft und Sieghaftigkeit selbst von unseren Klassikern der Poesie nicht erreicht worden ist.

Weit zahlreicher sind die Beispiele des schleunigen, schnellen Allegretto. Schon die Allegretto der Haydnschen Menuette laufen in jauchzender Eile dahin, weit schneller als der Durchschnitt des Allegro im ersten Satz der Symphonie.

Der Türkische Marsch aus der A-Dur-Klaviersonate von Mozart kann trotz seinem Allegretto gar nicht zu feurig vorgetragen werden. Denn der türkische Marsch, nach meiner Vermutung der Vater aller ungarischen Märsche, ist ein Janitscharenmarsch, und die Janitscharen waren heißblütige, stürmische Gesellen. Und nun vollends die Allegretto der Beethovenschen Klaviersonaten. Ich lasse es dahingestellt, wie weit Bülow Recht hatte, den ich diese Allegretto in einem Prestissimo vortragen hörte, daß einem Hören und Sehen darob verging – beim Scherzo der A-Dur-Sonate Opus 2 Nr. 2 war die Wirkung durchschlagend –; ungleich schneller und vor allem ganz anders müssen sie jedenfalls vorgetragen werden, als es von denjenigen geschieht, welche das Allegretto für ein Halballegro halten. Zum Prüfstein taugt am besten das Des-Dur-Allegretto aus der Cis-Moll-Sonate. Was für ein unleidliches, anspruchsvolles, sentimentales Stück, wenn es im Halballegro gespielt wird; wie genial, wie humorvoll, wenn es richtig gespielt wird, also in schnellstem Tempo, mit gleitendem Takt und scharf getrennten Responsorien. Das Trio zeigt ja die Schnelligkeit so deutlich als möglich an. Der Gegentakt der Oberstimmen zu den Unterstimmen wäre plump und unsinnig, wenn nicht der Nachschlag der Unterstimme unmittelbar auf den Vorschlag der Oberstimme folgte. Mit dieser Auffassung dieses Stückes tut man freilich allen Dilettanten in der Seele weh; im besondern alles, was weiblich ist, schreit hoch auf, wie ins Herz geschnitten, wenn man ihnen das geliebte sentimentale Hin- und Herpendeln des Des-Dur-Allegretto verleidet. Allein Beethoven war ein Mann.

Das Presto

Ob ich wenigstens beim Presto zugebe, daß es eine Tempoanweisung bedeute? Ja und nein. Ja, insofern als ich hier das Tempo als einen, aber nicht den einzigen, ausschlaggebenden Faktor anerkenne; nein, indem ich bestreite, daß das Presto nichts anderes als die sehr große Schnelligkeit meine, auch das bestreite, daß ein Presto durchaus schneller gehen müsse als ein lebhaftes Allegro. Wer das Presto nur als Tempoangabe auffaßt, wer meint, jedes Presto müsse ‹noch› schneller gehen als ein Allegro vivace, der hastet, und wer hastet, spielt ein Presto schlecht. Das Presto ist nicht bloß ein musikalisches Tempo, sondern eine musikalische Kunstform. Dieser Kunstform ist wesentlich, daß sie mit Zuhilfenahme einer raschen Fortbewegung das Nachfolgende zu dem Vorhergehenden in eine engere Verbindung bringt, als das sonst zu geschehen pflegt. Die musikalischen Motive des Presto klingen, trotzdem sie für das Auge getrennt scheinen, dem Ohre übereins, ähnlich wie die Tonfolgen eines Arpeggio. Das will das Presto. Für das Auge dünn komponieren, aber so, daß es für das Ohr reich klingt, ist die Aufgabe des Meisters, diesen akustischen Reichtum durch das Ineinanderweben der Töne zu zeigen, die Aufgabe des Vortragenden. Hiefür ist keineswegs ein rasendes oder auch nur außergewöhnlich schnelles Tempo nötig, es kommt vielmehr auf die Art des Vortrages an. Richtig vorgetragen, empfindet der Hörer schon bei mäßigem Tempo das Presto; er glaubt in schnellstem Galopp dahinzufahren, weil er Überraschungen und Rucke erfährt, weil das Nachkommende mit dem Vorhergehenden ein einziges Bild gibt, weil er mit seinen Gedanken und Vermutungen nicht nachkommt. Das Presto ist eine reizende akustische Täuschung. Vom Prestissimo wird wohl zuzugeben sein, daß sich der Name bloß auf das Tempo bezieht. Viel Gutes läßt sich aber mit einem Prestissimo schwerlich komponieren. Und auch beim Prestissimo braucht der Spieler keineswegs zu hasten. Ein straff gezügeltes Prestissimo wirkt besser als ein mit der Geißel gepeitschtes.

 

Genug, wenn nicht schon zu viel. Jetzt bin ich sicher, daß wenn ein Musiker vom Fach die Geduld gehabt hat, meinen Worten bis hieher zu folgen, er ganz gewaltig den Kopf dazu schüttelt und hundert Einwände auf der Zunge hat. Gestatten Sie mir, in aller Ehrerbietung Ihren Kopf mitzuschütteln und Ihnen Ihre Einwände von der Zunge zu nehmen. Sie wollen sagen, wenn ich Andante und Adagio als zwei verschieden gebaute Kunstformen hinstelle, so treffe das zwar auf einige Beispiele zu, auf andere dagegen nicht; Sie kennen Adagio, welche denselben knappen Insektenbau aufweisen, wie ich ihn dem Andante zugeschrieben, Sie kennen anderseits Andante, welche ebenso frei, unbefangen und großzügig gebaut sind wie ein Adagio. Zugegeben. Sie wollen ferner sagen: Wenn ein Komponist ‹Allegro, ma non troppo› schreibt, oder ‹Adagio molto›, so ist hiemit bewiesen, daß er die Worte Allegro und Adagio als Tempobezeichnungen versteht. Zugegeben. Sie wollen den Schluß daraus ziehen: Wenn erwiesener- und zugegebenermaßen ein Komponist das Wort Allegro in solchen zusammengesetzten Titeln als Tempovorschrift versteht, er es auch in denjenigen Fällen, da er es allein, ohne Zusatz gebraucht, als Tempovorschrift will verstanden wissen. Auf diesen Schluß antworte ich: «Hm! da gehe ich nicht mehr unbesehen mit.» Ja, wenn die Logik die menschliche Seele regierte! Aber die menschliche Seele wird nicht von der Logik, sondern von der Psychologik regiert, und die ist ein kompliziertes Ding. Ich gebe an diesem Punkt nur das zu: Es spielt in den besagten Namen neben der konfessionellen und kompositorischen Oberbedeutung die Unterbedeutung der Tempovorschrift mit.

Sie wollen mich ferner darauf hinweisen, daß schon Beethoven anfing, daß Schumann und andere fortfuhren, die italienischen Titel verdeutschen zu wollen, daß sie die Verdeutschung im Hinblick auf den Vortrag vornahmen, also als Spielvorschriften hinsichtlich des Tempo und anderer Dinge meinten, daß sie tatsächlich in ihren Proben die italienischen Titel durch deutsche Tempobezeichnungen ersetzten (‹Mäßig langsam›, ‹Bewegt, aber nicht zu schnell›), daß hiemit unumstößlich das Gegenteil von dem bewiesen ist, was ich behaupte. Zugegeben, daß es dem alten Beethoven und dem neuen Schumann keineswegs unwichtig war, wie man ihre Werke spiele. Im achtzehnten Jahrhundert kümmerte sich der Komponist in seiner Notenschrift weniger darum, Bach gar nicht; sie hatten mehr Vertrauen zum Spieler. Übrigens wird die Ersetzung durch Verdeutschung nie gelingen, deshalb, weil eben die italienischen Namen nicht Merkzeichen eines Musiklehrers für den Schüler, sondern Kennzeichen des kompositorischen Charakters eines Kunstwerkes sind. Sie werden mir mit Ihrem weitüberlegenen Wissen noch manches andere entgegenhalten. Gut; ich gebe Ihnen zum voraus alles zu. Jetzt aber, nachdem ich Ihnen so manches, fast alles zugegeben, verlange ich, daß Sie mir auch etwas zugeben, eine einzige Position: Ist es wahr oder nicht, daß Millionen von Dilettanten, Tausende von Schülern, Hunderte von Musikern, Dutzende von Kapellmeistern sich in der Wiedergabe von Musikstücken dermaßen irren, daß dabei der richtige Charakter des Musikstückes entstellt wird? Ich denke, das geben Sie mir zu. Nun wohl, mit diesem einzigen Zugeständnis haben Sie meinen Aufsatz entschuldigt, vielleicht sogar gerechtfertigt, trotz der Triftigkeit Ihrer Einwendungen. Ich habe nämlich von meinem Standpunkte, der tief unten ist, beobachten können, was Sie von Ihrem hohen Standpunkt nicht zu beobachten vermögen: daß an den gröbsten und landläufigsten Tempoirrtümern nicht der Mangel an musikalischem Verständnis, sondern das Mißverständnis der musikalischen Titel, bei falsch geleiteter Gewissenhaftigkeit, die Hauptschuld trägt. Und darum ließ es mir keine Ruhe, bis ich meine Meinung einmal ausgesprochen.

 

Die Allegorie im Orchester

Man nimmt gewöhnlich an, ja setzt es als selbstverständlich voraus, unser Orchester, unsere Instrumentation hätten rein musikalische Grundlagen, das heißt Entstehungsursachen und Gebrauchsprinzipien. Ich bin jedoch zu der Überzeugung gelangt, daß das nicht der Fall ist, sondern daß Allegorie und Konvention dem geräuschvollen Riesenkinde zu Gevatter gestanden haben. Wir blasen mit den Gedanken unserer Vorväter; wir hören mit papierenen Ohren, wir instrumentieren nach vergessenen Allegorien und unbewußten Konventionen. Kurz, ich nenne unser Orchester ein symbolisches.

Heute sei einzig von der Instrumentation, also von der Verwendung der einmal angenommenen Orchesterinstrumente die Rede. Ich behaupte also, wir instrumentieren nicht rationell, nicht nach musikalischen Gesetzen, sondern nach andern, dem Gebiete des Gedankens oder des Ungedankens entlehnten. Zwar nicht mit dem Streichquartett, wohl aber mit den Spezialwaffen des Orchesters. Nehmen wir die Orchestergruppen einzeln durch, um das nachzuweisen.

Die hieratische Gruppe (Posaunen, Harfen, Orgeln und so weiter)

Die Posaune. Wir wissen aus dem Alten Testament, und unsere bibelfesten Voreltern wußten es noch besser als wir, daß nach Anschauung der Hebräer die Posaune bei feierlichen, transzendentalen Anlässen erschallen soll, also zum Beispiel bei der Ersteigung von Jericho oder beim Jüngsten Gericht. Demgemäß, das heißt der Lektüre des Alten Testaments gemäß, erblickte später das christliche Europa in der Posaune das Symbol des Majestätischen, vor allem des transzendental Majestätischen, und die in kirchlichen Diensten stehende Musik handelte danach. Tradition und Konvention haben dann später die Posaunensymbolik weitergeschleppt. Kurz, wir benutzen die Posaune zu feierlichen Zwecken.

Diese Benutzung aber ist eine irrationelle, weil die Posaune vom musikalischen Standpunkt nichts weiteres bedeutet als eine primitive Trompete, deren Ton an sich jede andere Stimmung eher hervorbringt als eine feierliche. Das läßt sich durch Experimente leicht beweisen. Wenn wir zum Beispiel einen Turnverein auf den Bahnhof marschieren hören, so denkt dabei kein Mensch an das Jüngste Gericht, höchstens an das Preisgericht mit Bechern und gestickten Hosenträgern, und doch blasen die Posaunen aus Leibeskräften. Oder man stelle einen naiven musikalischen Menschen, falls es solche noch gibt, vor ein Orchester und spiele ihm die einzelnen Instrumente ab, ohne sie zu nennen, mit der Frage, was er dabei fühle. Gewiß wird er beim Klang der Posaune durchaus keine Andacht kundgeben. Nennen Sie ihm das Instrument, während es gespielt wird, dann wird er unfehlbar ausrufen: «So, das ist also die Posaune?» Dabei wird er ein Gesicht ziehen wie einer, der Falerner trinkt, weil er Horaz gelesen hat. Oder jeder prüfe sich selbst, was er beim Vortrag des Komturs empfinde. Schwerlich wird uns hier die Posaune einen andern als einen rasselnden, reißenden Eindruck machen, wenn es gut geht, und einen kläglichen, wenn es schlecht geht.

Aus diesen Gründen ist selbst da, oder besser: gerade da, wo die Posaune ausdrücklich vom Textdichter verlangt wird, also zum Beispiel im Requiem, ihre Verwendung, vom musikalischen Standpunkt beurteilt, unrichtig, da es sich ja nicht darum handelt, Töne hervorzubringen, welche Papst Anaklet III. oder Sylvester I. würden feierlich gestimmt haben, sondern solche Töne, welche uns selber, und zwar unmittelbar, ohne die Erinnerung an das Maturitätsexamen oder an den Katalog der Instrumentenhandlung, zur Andacht erheben. Die Meinung, zur Posaune verpflichtet zu sein, weil sie vom Text begehrt wird, beruht auf einer naiven Anschauung von der Aufgabe des Komponisten. Denn einmal hat sich der Textdichter nicht in Dinge zu mischen, die ihn nichts angehen, nämlich in die Instrumentation. Zweitens verlangt ja der Text, wenn er Tuba oder Posaune sagt, keineswegs die Posaune des Leipziger Katalogs, ja im Grunde verlangt er überhaupt gar kein Instrument, sondern er will bloß ein poetisches Bild hervorrufen. Die Musik nun hat dieses Bild in die Tonsprache zu übersetzen, sie darf nicht einfach das poetische Instrument, die Posaune, vom Dichter leihen.

Summa: die Posaune als feierliches Instrument zu gebrauchen, weil eine ihrer Namenscousinen vor dreitausend Jahren auf die Bewohner Kanaans feierlich wirkte, ist irrationell.

Noch auffallender ist der Widerspruch zwischen dem allegorischen und dem musikalischen Wert bei der Harfe. Die Harfe in Verbindung mit David, Zion, Cherubim und Seraphim klingt beim Lesen wahrhaft paradiesisch; die poetische Phantasie kennt kein schöneres Instrument. Das Ohr hingegen hört ein Spinett, ein taubstummes Klavier. Der Komponist aber darf kein anderes Zeugnis annehmen als dasjenige des Ohres. Durch Verzweigung der Allegorie, weil David ein Hirte war, wird dann die Harfe vielfach auch zu pastoralen Stimmungsbildern benutzt, zum Beispiel in «Linda di Chamounix». Ich bin diesem Brauch schon deshalb abhold, weil er in den meisten Fällen zur Entschuldigung für erfindungsmatte Kompositionen dienen muß. Genügt doch schon der Anschlag einer Harfe, um einem in bethlehemitischen Idealen aufgewachsenen Publikum Beifall abzulocken. Daher schöpfe ich immer Verdacht, wenn eine Harfe ins Orchester geschleppt wird; ich kann mich, durch Erfahrungen gewitzigt, der Befürchtung nicht erwehren, der Komponist wolle mir das anspruchsvolle Bettelinstrument als Armutszeugnis vorweisen.

Ferne von mir, dem Komponisten die Harfe verwehren zu wollen. Nur weigere ich mich, den musikalischen Wechsel auf das Haus David anzunehmen.

Die Orgel wird in unsern Oratorien auf rationelle Weise verwendet, nämlich als ein mechanisches Blasorchester zur Erhöhung der Klangfülle. Wenn dabei einzelne Hörer durch Ideenverbindung in eine protestantische Stimmung geraten, so ist das ihre Sache; der Musiker hat keinen Teil daran. Daß Orgelklang und Luthertum von Natur wegen nichts miteinander zu tun haben, bedarf keiner Erörterung; eine bloße Gewohnheit schafft die Ideenverbindung. Gerade in des Musikers Interesse jedoch liegt es, die Ideenverbindung zu durchbrechen, da weder seinen Werken noch seiner Person damit gedient wird, wenn die Zuhörer jede Orgelphrase als ein Augsburger Glaubensbekenntnis auffassen und sich nach dem Prediger umschauen. Wie unmöglich es zum Beispiel ist, einem größern Publikum begreiflich zu machen, daß die Händelschen Oratorien keine religiösen Werke sind, weiß jedermann. Erst wenn wir die Orgel durch vielseitigeren Gebrauch säkularisieren, wenn wir ihr die schmalkaldischen Nebentöne wieder abnehmen, wenn wir sie nicht mehr als Reformationswaffe, sondern durchaus als Orchesterinstrument anwenden, erst dann werden wir diesem und andern Mißverständnissen wirksam vorbeugen. Der Katholizismus hat seine sämtlichen Kircheninstrumente großherzig der profanen Musik vermacht; die protestantische Konfession wird nicht nachbleiben wollen.

Die Jubelgruppe (Zimbeln, Pauken, Trommeln, Triangel, Glockenspiel und so weiter)

Auch diese Instrumentengruppe ließe sich wohl durch das Oratorium hindurch bis auf das Alte Testament zurückführen, wenigstens bieten die Bachschen Passionen manche Beispiele solcher Einflüsse. Und das läßt sich auch leicht begreifen. Denn wenn der biblische Text sagt: «Laßt Zimbeln und Pauken erschallen!», was scheint natürlicher, als daß man Zimbeln und Pauken erschallen läßt? Daß diese naive Logik dennoch musikalisch unrichtig ist, habe ich bei Gelegenheit der Posaune gezeigt; übrigens erhalten wir noch einen direkten Beweis durch den fremdartigen, paphlagonischen Eindruck, den uns die Verwendung jener Instrumentengruppe bei Bach und andern hinterläßt.

Das alte allegorische Verfahren wird erklärt und entschuldigt durch Textpietät, archivarische Gelehrsamkeit, religiöse Tendenz und im allgemeinen durch Naivität, obschon die Wirkung dem Wunsche keineswegs entspricht, da sehr häufig die Instrumentation unserer Oratorien eher Bilder von zinzenierenden und paukenden Baalspfaffen hervorruft als monotheistische Andacht.

Immerhin hatte der alte Brauch einen Sinn, wenn schon keinen musikalischen; der Sinn lag darin, daß primitive Völker jede Art von Freude durch Lärm kundgeben, weshalb also Lärminstrumente im begleitenden Orchester symbolisch die Freude anzudeuten vermögen.

Nachdem wir indessen diesen Sinn aufgegeben – denn daß wir im Konzertsaal mit der Pauke den Zuhörern Freude kundgeben oder Freude bereiten wollen, wird niemand behaupten –, bleibt das Kesselschlagen und Tellerreiben im Symphonieorchester eine Ungeheuerlichkeit, welche vom Verstand wie vom Ohr und vom Gefühl gleichermaßen verurteilt wird. Unsere Symphonie will die feinsten, unaussprechlichen Seelenahnungen des Menschen ausdrücken; wenn aber das Unaussprechliche ‹Bum› lautet, so erscheint mir seine Feinheit zweifelhaft.

Ich verstehe ja die Absicht; die Pauke soll als Gummi und Wischer dienen, um die Tutti zu verreiben, oder als Mörser, um die Fortissimi zu zerstampfen. Allein brauchen wir nach Erfindung so vieler herrlicher Füllinstrumente dazu ein so brutales Mittel? Und erreicht das Mittel auch seinen Zweck? Ist denn Betäubung Verschmelzung? Sind Ohrfeigen Vermittlungen? Kochlöffel und Suppentöpfe gehören zur Metaphysik der Janitscharen; daher sind sie im Janitscharenorchester am Platz. Im Orchester des Unbewußten dagegen bedeutet das geräuschvolle Knödelreiben eine Beleidigung der Musik und des Publikums. Der Musik, weil Lärmkessel nicht in die vornehme Gesellschaft der Violinen taugen, des Publikums, weil man ihm die Feinhörigkeit eines Nubiers zutraut.

Innerhalb der genannten Instrumentengruppe dürfte übrigens der Trommel der Vorzug gegenüber der Pauke gebühren; ein Urteil, zu welchem mich nicht etwa Basler Parteilichkeit führt, sondern die Tatsache, daß das Trommelspiel wenigstens Artikulation und Rhythmik besitzt. Eigentümlicherweise wird im Opernorchester auch die Trommel mitunter allegorisch benutzt, nämlich zu militärischen Kostümzwecken. So zum Beispiel in der «Regimentstochter» und in den «Hugenotten». Wie natürlich auch diese Benutzung erscheint und wie unwichtig der Fehler angesichts des geringen musikalischen Wertes der Trommel sein mag, so lohnt es sich immerhin um des Prinzips willen, das Irrationelle dieser Verwendung darzulegen. Für sich, durch den Klang, erweckt nämlich die Trommel keineswegs militärische Instinkte; sie ist ein ganz harmloses Instrument, welches mit dem Totschießen nichts zu tun hat. Sie wirkt lediglich ermunternd und erregend, ist also überall da am Platze, wo rhythmische Fortbewegung stattfindet, beim Marsch, beim Tanz, beim Galopp. Der Kavallerist unter den Musikern, Auber, hat die Trommel am liebsten, am öftesten und am richtigsten verwendet. Die Ideenverbindung des Militärischen mit dem Trommelklang bedeutet mithin eine unnötige Beschränkung, und zwar eine prosaische Beschränkung, da die Vorstellung von blauen oder roten Hosen des idealen Gehaltes entbehrt.

Vom rationellen, rein musikalischen Standpunkt gehört der Trommel keine andere Benutzung als dem Tamburin, von welchem sie sich ja nur durch die Größe unterscheidet. Tamburin, Tambour und Tamburotto (große Trommel), das ist Äffchen, Affe und Orang-Utan.

Und nun noch einmal: Glaubt man wirklich, das Symphonieorchester werde in Ewigkeit unsere Geräuschklappern und Lärmkessel, also Zimbeln, Pauken und aller Art Trommeln und dergleichen mit sich schleppen? Nehmen wir einmal an, es fiele einem heutigen Komponisten ein, das Allegro eines Streichquartetts mit der Pauke oder großen Trommel zu verschönern. Sie schaudern, nicht wahr? Ich hoffe wenigstens, Sie schaudern. Aber holen Sie sich nun einen Neger aus der nächsten Missionsanstalt, und setzen Sie ihn neben sich. Der wird unzweifelhaft die große Trommel im Streichquartett mit wahnsinniger Freude begrüßen. «Das ist aber nicht dasselbe.» Gewiß, es ist nicht dasselbe und ist doch dasselbe. Es braucht nämlich bloß eine Auflage Europa, die noch um eine kleine Schattierung weißer fühlt als wir, die noch um eine kleine Nummer feinere Ohren hat, so wird das emendierte Europa vor dem Einfall, Symphonien mit Pumps und Plumps zu unterstreichen, genau so schaudern, wie wir bei dem Gedanken eines Streichquartettes mit Pauken. Darüber wollen wir in hundertfünfzig Jahren wieder miteinander reden.

Die bukolische Gruppe (Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott)

Daß die faunischen Instrumente einen so großen Raum und eine so vorwiegende Bedeutung in unserem Symphonieorchester behaupten können, sollte uns für sich allein schon stutzig machen. Historisch betrachtet läßt sich das ja begreifen, und es ist gut, wenn mans begreift. Die Jahrhunderte der modernen musikalischen Entwicklung (sechzehntes, siebzehntes und achtzehntes Jahrhundert) waren ja die Jahrhunderte der mythologischen und pastoralen Idylle in der Poesie, auf der Szene und in den Textbüchern. Es ist kaum möglich, die Bedeutung der Pastoralschwärmerei für die Ideenwelt der Renaissanceperiode und wiederum des vorigen Jahrhunderts zu überschätzen, denn jedes neue Studium fördert neue Bestätigung zu Tage. Namentlich die Oper, die Mutter aller modernen Musik, stand ununterbrochen und ausnahmslos unter der Herrschaft mythologischer oder pastoraler Ideale. Es war deshalb ganz zeitgemäß, daß der Opernkomponist, welchem die Aufgabe zufiel, die pastoralen Texte und Szenen musikalisch zu charakterisieren, neben dem neutralen, edlen Streichquartett die pastoralen Instrumente in Menge herbeizog und mit besonderer Gunst berücksichtigte. Nicht zeitgemäß dagegen ist es, daß wir, die wir über das Idyllische und Pastorale spotten, und mehr spotten als nötig und billig ist, gleichwohl den Schäferinstrumenten in unsern Symphonien den alten Vorrang einräumen und sie sogar noch sentimental und pathetisch verwenden. In Hinsicht auf den sentimentalen Gebrauch hat der Modegeschmack innerhalb der pastoralen Instrumente allerlei Änderungen und Verschiebungen vollzogen. So wird zum Beispiel berichtet, daß das siebzehnte Jahrhundert die Oboe sentimental auffaßte, was wir glücklicherweise nur noch ausnahmsweise tun, wofür wir uns freilich bei ihrer Jüngern, gezierten Schwester, der Klarinette, im Übermaß entschädigen. Die Wertschätzung und lyrische Verwendung der Flöte zeigt große Schwankungen, wobei der Höhepunkt in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts trifft. Das Fagott entzieht sich zu seinem großen Vorteil der sentimentalen Mißhandlung durch seine tiefe Tonlage und seine ehrliche Stimme. Ich halte mich an den modernen Gebrauch und unterscheide demgemäß innerhalb der faunischen Gruppe zwei sentimentale Instrumente, Flöte und Klarinette, und zwei naive oder aufrichtige, Oboe und Fagott.

Um den Gebrauch der Flöte in den Orchesterwerken des vorigen Jahrhunderts zu verstehen, genügen Ohr und musikalische Anlage nicht; denn der Gebrauch war von dem krankhaften Flötenenthusiasmus jener Zeit beeinflußt. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß damals gekrönte Häupter Flöte bliesen, daß der bloße Klang, ja sogar der bloße Name dieses Instruments schwärmerischen Menschen Tränenströme entlockte, daß weichherzige Schriftsteller wie Jean Paul nichts Rührenderes auf Erden kannten als einen taubstummen Blinden, der Flöte bläst. Mit einem Wort, es war das Zeitalter der Zauberflöte.

Das ist nun alles schön und gut und vielleicht besser als unsere Sentimentalität von Säckingen. Nicht schön und gut jedoch ist es, daß wir Moderne mit unserm robusten Scheffelbewußtsein die Flöte, die uns nicht im mindesten mehr rührt, gleichwohl im Orchester zu Attentaten auf die Rührung gebrauchen wollen. Die Illusion ist mit der Pastoralsentimentalität verflogen; wir wissen es und hören es, daß die Flöte ein Spukinstrument ist, daß sie selten zur rechten Zeit mit dem Ansatz fertig wird und in den Passagen hintendrein gelaufen kommt, wie ein Hündchen, das seinen Herrn verloren hat. Wir geben zu, daß die Schwellungen der Flöte der Inbegriff des Süßlichen seien, wir ertrügen um keinen Preis mehr ein Flötenadagio, das Entzücken unserer Urgroßeltern, und dennoch: was hören wir alle Tage im Orchester? Die Flöte zu schmachtenden Pianissimostößen und zu sentimentalen, wenn auch meist kurzen Kavatinen verwendet. Wie sollen wir das erklären? Das ist eine Konvention, das heißt ein Brauch, den wir bloß deshalb üben, weil ihn unsere Vorfahren geübt haben. Jene aber hatten hierfür ihre guten Gründe, die uns abhanden gekommen sind.

Die Klarinette. Man gibt allgemein zu, daß es nichts Gemeineres gibt als einen Klarinettschnörkel. Ich kenne aber doch noch etwas Unleidlicheres, nämlich Klarinettenpathos. Andere scheinen anderer Ansicht zu sein, da wir nichts häufiger finden als elegische Klarinettenquietscher, resignierte Seufzer und himmelanschwellende Gesänge, geröchelt, geschniegelt, gegurgelt und gegrunzt aus dem ‹vollkommensten aller Blasinstrumente›. Dabei verdreht der Spieler die Augen und beugt sich, zu einem römischen S gekrümmt, nach hinten über wie ein Kranich, der einen Regenwurm aus der Erde hervorzieht. Ein verdrehtes Pathos in jeder Beziehung. Bescheiden würde ich mich nun der Majorität unterordnen, wäre ich nur davon überzeugt, daß sie vom musikalischen Standpunkte urteile und handle. Ich bin aber vom Gegenteil überzeugt. Nämlich die Klarinette tritt einfach in die allegorischen Geleise der Flöte und der Oboe; sie genießt die allgemeinen pastoralen, das heißt sentimentalen Vorrechte wie jene, ist sie doch wesentlich nichts anderes als eine unehrliche Oboe oder eine hartgesottene Schalmei.

Die Legende erzählt, die Klarinette sei in Nürnberg erfunden worden. Das ist eine erfreuliche Logik der Weltgeschichte, denn die Klarinette stimmt vorzüglich zu den Pegnitzschäfern. Ein Faun hat ihr das elegische Patent überreicht, nicht die Muse, und die Kapellmeister, welche den ersten Anlaß zur sentimentalen Behandlung der Klarinette gegeben haben, heißen Daphne und Phyllis. Solchen Majoritäten aber, in welchen mythologische Herren und Damen ihre Stimmkarten abliefern, glaube ich nicht verpflichtet zu sein, mich zu fügen. Anstatt des langen und breiten das Mißverhältnis zwischen der konventionellen Schätzung und dem wahren Tonwert der Klarinette darzulegen, will ich auf ein sprechendes Beispiel hinweisen, wo eine herrliche Komposition durch pathetische Verwendung der Klarinette so viel verliert, als eine herrliche Komposition überhaupt verlieren kann: das Septuor von Beethoven. Ich brauche wohl kaum ausdrücklich zu versichern, daß ich die rationell behandelte, von jeden Ansprüchen auf lyrisches Pathos gereinigte Klarinette, wie wir sie so häufig in schönem Verein mit dem Fagott gurgeln hören, mit einem Wort, die Klarinette als Begleitungsinstrument oder auch als neutrale Stimme mit schuldiger Ehrerbietung und mit Freuden begrüße.

Hier, wo wir den Mißbrauch der Pastoralinstrumente zu sentimentalen Zwecken kritisieren, ist wohl der natürliche Anlaß gegeben, über den lyrischen Wert der Blasinstrumente überhaupt eine Frage aufzuwerfen. Es gibt eine Theorie, welche überhaupt alle Instrumente als dürftigen Ersatz für die Menschenstimme und im besondern den Instrumentalgesang, die Melodie, als bloße Nachahmung des Menschengesangs auffaßt. Von diesem Standpunkt aus erscheint es plausibel, daß die Blasinstrumente vor allem dazu berufen seien, den Menschen im Orchester zu ersetzen, weil der Mensch nicht mit dem Arme singt, sondern mit dem Munde. In der Tat bin ich davon überzeugt, daß diese Abstraktion, verbunden mit dem vokalischen Klang, welchen die Blasinstrumente mit der Singstimme gemein haben, das Hauptmotiv zu der auch in der modernen Instrumentation ungemein häufigen lyrischen Verwertung der Blasinstrumente gebildet hat. Wir instrumentieren in diesem Falle nach Analogie. Ohne mich in prinzipielle Widerlegung jener Theorie einzulassen, ohne meine Bedenken gegen die Auffassung des Menschen als eines Blasinstrumentes zu begründen, erinnere ich nur an die Tatsache, daß jenes Instrument, welches von der Menschenstimme im Ton am weitesten entfernt ist, indem es geradezu konsonantisch klingt, nämlich die Violine, sich erfahrungsgemäß als den besten Sänger des Orchesters erwiesen hat und daß umgekehrt die Vox humana unter den Orgelregistern zu den niedrigsten und unbrauchbarsten gehört. Auf diese Tatsachen hin wage ich die Vermutung, daß sich bei völliger Emanzipation von theoretischen Abstraktionen und Analogien noch folgende ergänzende Erfahrung einstellen würde: die Streichinstrumente sind nicht nur vorwiegend, sondern mit Ausschluß aller übrigen zu lyrischer Verwendung geeignet. Mit anderen Worten: die Blasinstrumente taugen samt und sonders wenig zum Ausdruck von Gefühlen. Ich glaube für dieses Urteil manche bestätigende Andeutungen gefunden zu haben, positive wie negative. Nur zwei unter vielen: Symphonien, deren Hauptthemen den Violinen anvertraut werden, gewinnen eine unvergleichlich vornehme, edle Färbung. Ferner: die Kantilene des ersten Satzes, von Blasinstrumenten ausgeführt, verliert in den meisten Fällen etwas von der Idealwirkung, welche ihr der Komponist in der Inspiration zugedacht. Ja, ich möchte sogar glauben, daß die Vernachlässigung der Kantilene bei Mozart, wie sie unter andern Jahn konstatiert hat, in Zusammenhang mit seiner Gewohnheit stehe, dieselbe den Bläsern anzuvertrauen.

Die Oboe. Wenn in jenem Charivari, welches einem Symphoniekonzert vorauszugehen pflegt, die Oboe ihre meckernde Stimme hören läßt, so entsteht gewöhnlich eine gewisse respektwidrige Fröhlichkeit unter den Zuhörern. Hiernach sollte man glauben, die Oboe wäre ein gefährliches, nur mit Vorsicht zu gebrauchendes Instrument. Im Gegenteil sichert ihr jedoch ihr gutmütiges, ehrliches Gebaren bei ungesuchter Verwendung eine weit günstigere Aufnahme als der Flöte und der Klarinette. Denn nicht vom Ernst zum Komischen, sondern vom Pathos zum Komischen ist nur ein Schritt. Pathetisch aber wird die Oboe heutzutage doch wohl nur in Gesellschaft jener beiden andern mißhandelt; ich denke hierbei an jene Pianopäckchen, welche ihnen von den Hörnern zugesendet zu werden pflegen und welche sie kläglich meckernd zurückschicken. Bei dieser pneumatischen Frachtpost scheint der Komponist, wir müssen es annehmen, etwas zu fühlen oder wenigstens zu denken; es wäre mir aber interessant zu wissen, was ungefähr.

Dem Fagott will ich vor allem eine höfliche Verbeugung entrichten, denn dasselbe ist ein Orchesterinstrument von ausnehmender Schönheit. Auch gegen die Gebrauchsprinzipien des Fagotts wüßte ich nichts einzuwenden; wir haben übrigens gesehen, warum es beinahe unmöglich ist, das Fagott sentimental zu mißhandeln.

Freilich knüpft sich auch an das Fagott die Allegorie, und zwar massenhaft, allein eben nur als äußere Anknüpfung, als Anspielung, gegen welche ich überhaupt nichts einzuwenden habe, da die bloße Anspielung die rationelle Behandlung keineswegs ausschließt, wie tausend Beispiele der sogenannten Tonmalerei beweisen.

Auf den Wegen der Anspielung dient das Fagott in zwei ganz verschiedenen Richtungen der Allegorie. Einmal nach der komischen, karikierenden Seite, wozu die ausgesprochene Bockstimme des Fagotts dringend einlädt; es kann nicht auffallen, daß der Satyr satirisch auftritt. Die Beispiele sind Legion; unter anderm liefert der Komponist der deutschen komischen Oper, Lortzing, deren in Menge.

Ein anderer Weg führt nach dem Dämonischen, und zwar über die Stationen «Freischütz», «Robert» und «Faust» zu «Ortrud». Das Fagott ist unser Teufelsinstrument geworden. Mehrere Motive wirkten hierzu mit: erstens ein Gedankengang zu der legendären Bocksgestalt des Teufels; zweitens eine Abstraktion aus dem dämonischen Büffelklang der Fagottstimme und wohl noch andere mehr. Wenn ich gleichwohl diese Allegorie gelten lasse, so geschieht es, wie gesagt, aus dem Grunde, daß die rationelle, rein musikalische Benutzung des Fagotts durch die allegorischen Anspielungen nicht alteriert wird, daß wir, um es einfach zu sagen, selbst dann noch mit dem Ohr und dem Gefühl beistimmen, wenn wir uns der allegorischen Bedeutung nicht bewußt werden oder uns nicht um sie kümmern.

Die romantische Gruppe (Die Hörner)

Nach der Idyllik die Romantik, nach der Weide der Wald. Die Hörner bedeuten uns symbolisch die Waldpoesie.

Positives Unheil ist mit den Hörnern nicht wohl zu stiften, denn der verschleierte, weiche Metallton, welcher das Horn sogar klavierfähig macht, kann selbst beim besten Willen des Komponisten kaum jemals unleidlich klingen. Dagegen legen wir uns, indem wir das Horn allegorisch verwerten, eine unnötige Beschränkung auf. Allegorisch wird das Horn gebraucht, wenn dasselbe dazu dienen soll, unsern Gedanken einen Jagdhut aufzusetzen und unsere Stimmung grasgrün anzublasen, wie das teilweise im «Freischütz» und ganz im «Nachtlager von Granada» geschieht. In solchen Fällen erhalten wir die Eindrücke nicht aus der Musik, sondern aus dem Forsthause. Auf die Länge aber führt die Degradierung eines hübschen Orchesterinstruments zu einem Jägersignal zu unliebsamen Ideenverbindungen am unrechten Orte; denn wir können einem Publikum, dem wir neunundneunzigmal das Horn als Programm einer Hirschjagd vorgewiesen, nicht beim hundertsten Mal zumuten, dasselbe Instrument nun als neutrale Orchesterwaffe zu verstehen. Und so wird schließlich der Hörer Jagdhunde erblicken, wo keine sind. Wie wenig das musikalische Horn mit dem Forstwesen zu tun hat, zeigen manche symphonische Stellen von wahrhaft zauberhafter Idealstimmung, zum Beispiel das Trio der A-Dur-Symphonie von Beethoven und das Trio des berühmten Es-Dur-Menuetts von Mozart. Hier an Jägerei denken zu müssen, das wäre ja fürwahr eine Sünde gegen den heiligen Geist. Auf dem Wege der Anspielung können dann beide Werte, der musikalische und der allegorische, verknüpft werden, wodurch indessen, wohlverstanden, der Gesamtwert keine Vermehrung erfährt. So klingt zum Beispiel in der sonnigen, von Wohllaut duftenden Jagdsymphonie von Haydn (letzter Satz) das Waldhorn an die Jagd- und Waldlust unverkennbar an (das Echo), während zugleich die musikalische Phrase von unbeschreiblicher Schönheit, die sich an diesen allegorischen Vorwand anreiht, unvergeßlich im Gedächtnis haftet. Wir haben also hier eine ähnliche Doppelbenutzung eines Instruments, wie sie uns bei der Oboe im Andante der Schubertschen C-Dur-Symphonie geboten wird, wo ebenfalls der allegorische (Pastoral-) Charakter mitspielt. Ein Spiel jedoch bleibt dergleichen immer, und zwar ein schwieriges Spiel, das nur in Augenblicken des höchsten Inspirationsübermuts völlig gelingt. Die rationelle, rein musikalische Verwertung aber, wie wir sie in den zitierten Trios genießen, ist Ernst, heiliger, entzückender Ernst.

Eine Allegorie um sieben Ecken herum ist der bekannte übermütige Witz in der Figaro-Arie des letzten Aktes («Das Weitere verschweig ich, doch weiß es die Welt»), wo das Orchesterhorn auf die ehelichen Hörner anspielt. Wer möchte solch einem Einfall gram sein? Er paßt zu der ganzen von Geist und Übermut sprudelnden Partitur des «Figaro». In der Kunst gilt das Sprichwort: ‹Übermut tut immer gut›. Damit meine ich den echten, natürlichen Übermut, nicht die verzweifelten Witzhaschereien der Jämmerlichkeit.

 

Seien wir nach anhaltender Länge zum Schlusse kurz, und übergehen wir die heroische Gruppe der Blechinstrumente mit Stillschweigen. Wir dürfen das, weil von den pompösen Tuben und Ophikleïden der Satz gilt: Die jüngst erfundenen Instrumente pflegen rationell benutzt zu werden, da ihre Erfindung einem rein musikalischen (phonetischen) Bedürfnis entsprang. Bleibt freilich noch die Kuß-Trompete von Säckingen und das verwöhnte, anspruchsvolle Cornet à piston, bei dessen Klang das Publikum unserer Tage in wahre Besessenheit ausbricht. Das heißt, wenn es solo ertönt, denn im Zusammenspiel unterscheidet ein Publikum überhaupt kein Instrument. Was habe ich über diese beiden verhätschelten Lieblinge zu sagen? Daß es einen temporären Wahnsinn und einen epidemischen Blödsinn gibt und zu allen Zeiten geben wird.

 

Die Chorszene zu Anfang der Oper

Wenn es auch gegenwärtig den Anschein hat, als ob die geschlossene, abgerundete Szenenführung der Oper für immer der Vergangenheit angehöre, so halte ich doch Betrachtungen über sie nicht für unfruchtbar, da die Erkenntnis niemals zu spät kommt und niemals veraltet. Indem ich hier nun über einen bestimmten Teil der Oper alten Stils, nämlich über den Anfang des ersten Aktes, unmittelbar nach Aufzug des Vorhangs, meine Beobachtungen mitteile, beziehe ich die letztern einfach aus der Erfahrung, mit andern Worten aus dem naiven Eindruck; nicht dramaturgische Grundsätze, sondern die Wirksamkeit des Gebotenen dient mir zum Maßstab des Urteils.

Daß in dramatischer und theatralischer Hinsicht die alte Oper wegen ihrer Befangenheit in hergebrachten Schablonen oder, billiger ausgedrückt, wegen ihres Strebens nach künstlerischer Abrundung der Einzelszenen sich mitunter der gröbsten Verstöße sowohl gegen die Wahrscheinlichkeit als gegen die Wirksamkeit schuldig macht, ist schon bis zum Überdruß gesagt und bewiesen worden. Zwar gewinnt öfter das musikalische Ohr mit Zinsen, was dem Auge und dem Verstand geraubt wird; ich vermag wenigstens die große Arie, den thematisch verarbeiteten Zusammengesang und vor allem das Finale keineswegs für überwunden, das heißt für ersetzt und übertroffen zu halten. An einer Stelle jedoch erleidet meines Erachtens der Hörer bei dem frühern Opernstil regelmäßig nur ästhetische Verluste, ohne Tausch und Ersatz, nämlich am Beginn des Stückes.

Was begehrt doch Leib und Seele zu Anfang eines Tonakts? Gewiß eine ästhetische Neuigkeit, ein schönes Ereignis, etwas, das Leben habe und Leben mitteile. Man ist gespannt, das heißt durch wohlwollende Erwartung aufgeregt, man ist in höchstem Grade aufnahmefähig, weil weitherzig und versöhnlich gestimmt für alles, was da kommen möge, aber es muß etwas kommen. Ungeschickter vermöchte ein Komponist seine Schöpfung schwerlich einzuleiten, als indem er vor allem unsere Bereitwilligkeit totschlägt und seine größte Mühe darauf verwendet, uns zu guter Erst zu langweilen. Indessen gerade das wird in der Oper alten Stils mit bewunderungswürdiger Pflichttreue angestrebt. Von der richtigen Ahnung ausgehend, daß eine gefüllte Bühne dem Auge zugleich als eine belebte erscheint, liebt die alte Oper, zunächst einen Chor auf die Bretter zu stellen; auch hängt ja am Chor eine urweltliche musikhistorische Heiligkeit, die ihre beste Erklärung wohl in philologischen Renaissancespekulationen finden dürfte; wie dem übrigens sei, der Chorgesang zur Einleitung soll offenbar dem Werk Größe verleihen. Allein weder das Theater noch die Musik zieht aus ihm die erhofften Vorteile. Erstens nicht, weil der Chor nicht allein nicht handelt, sondern sich sogar kaum bewegt; er bedeutet ja bloß einen Gesangverein, der sich zum Photographieren herausgeputzt hat. Nach einigen symbolischen Bewegungen bei Aufzug des Vorhangs wirft er alsbald das Handgeräte beiseite, um uns, im Halbkreis aufgestellt, sein Lied zum besten zu geben. Wäre dasselbe nun erfreulich, so ginge das zum übrigen; allein der Überwille des Komponisten verführt ihn an dieser Stelle meistens zu pompösen Gemeinplätzen der Harmonie, zu hohler Klangfülle, am liebsten in C-Dur, ohne echte Erfindung, weil ein Irrtum obwaltet, als entsprächen bloß die geläufigsten und einfachsten Tonfolgen der Feierlichkeit der Szene. Es hat mich stets überrascht, wie frostig und steif der erste Chor selbst bei den besten Meistern auszufallen pflegt; sogar ein Geist aus lauter Feuer und Quecksilber zusammengesetzt, wie Auber, erscheint hier wie aus Blei gegossen und an den Fußboden angelötet. Nachdem der Chor sein Lied gesungen, schwenkt er bestenfalls ohne weiteres links und rechts ab, wie zum Beispiel in «Zar und Zimmermann». Er hat nichts getan und nichts geleistet, er hat nur Kälte in den Zuschauerraum hineingesungen. Da er überdies mit seinem Dasein etwas versprochen hatte, was er nicht hielt, nämlich Leben und Bewegung, so verursacht er neben der Langeweile obendrein noch das Gefühl der Enttäuschung; mit Vergnügen sieht man ihn denn auch hinter die Kulissen heimwackeln. Aber selbst nachdem er glücklich von hinnen gezogen, beeinträchtigt er noch das Kunstwerk; denn eine Bühne, die sich soeben geleert hat, nimmt sich kahler aus als eine solche, auf welcher von vornherein nur die nötigen Personen stehen; die unumgängliche leidige Expositionsszene, die nun folgt, wird dabei nur um so schwerer ertragen. In der Tat, einen Chor auf die Bühne zu stellen, bloß um ihn sobald wie möglich davonschleichen zu lassen, das ist ein sonderbarer Einfall, dem wir seinen unfehlbaren Mißerfolg mit einiger Schadenfreude gönnen, weil er die Absicht eines ästhetischen Betrugs verrät. Schlimmer noch verhält es sich, wenn der Chor dableibt; denn das bedeutet, daß er in naher oder ferner Zukunft seinen anspruchsvollen Hohlgesang Note für Note wiederholen werde. Leider schützt auch sein Weggang keineswegs mit Sicherheit vor diesem Verhängnis; wer bürgt uns dafür, daß die Bande nicht heimtückischerweise wieder hervorkriecht, um uns die zweite Auflage zu verkaufen? Diese weitschweifigen, umständlichen Wiederholungen ganzer Abschnitte im Beginn eines Werkes, also zu einer Zeit, da unsere Sinne wie unsere Gemütskräfte einhellig etwas Frisches verlangen, dieses Stoppen der Handlung, ehe dieselbe nur angefangen, diese Zumutung, wiederzukäuen, bevor man gegessen hat, das muß wohl der unglücklichste Handgriff heißen, der jemals in Kunstsachen versucht worden ist. Es wäre kaum unvernünftiger, wollte jemand in der Instrumentalmusik Wiederholungszeichen hinter die Einleitungsphrasen vor das Thema setzen. Alles ist dem Meister von Natur und Vernunft wegen zu Anfang erlaubt, unbegrenzte Freiheit winkt ihm, und unsere Phantasie ist bereit, ihm willig in jede Ferne zu folgen – und siehe da: er bewegt sich nicht, und nachdem er sich eine lange Weile nicht bewegt, lädt er uns zum Krebsgang ein.

Je gründlicher die erste Szene gearbeitet wird, desto schlimmer; will es einer besonders gut machen, so bringt er es wohl gar fertig, den ganzen ersten Akt damit auszufüllen, daß er denselben überhaupt nicht beginne, so daß der Vorhang in dem Augenblick fällt, wenn wir eben hoffen, das Stück höre endlich auf, noch nicht anzufangen. Als ein lehrreiches Beispiel dafür, wie bei unrichtiger Methode vermehrter Eifer nur vermehrte Fehler erzeugt, gilt mir der erste Akt der «Norma». Hier haben wir ein Meisterwerk eines Komponisten, der wahrlich um Erfindungen nicht verlegen gewesen wäre, falls er geglaubt hätte, sich Fülle und Abwechslung am Anfang der Oper gestatten zu dürfen. Die gewissenhafte Bemühung um möglichste Abrundung, Geschlossenheit und Einheitlichkeit ließ ihn jedoch so unbarmherzig mit Priesterchören und mit Vervielfältigungen des Marschthemas hantieren, daß wir uns noch in der Erinnerung daran bekreuzigen. Wir begegnen freilich auch in der alten Oper Proben einer frischen, lebendigen Chorführung in der Einleitung; schon die «Weiße Dame» mit dem holden Jauchzen, mit dem natürlichen und dauerhaften Hineinspielen des Chors in die Handlung überwindet ja die Aufgabe; doch das sind Ausnahmen.

Warum ich aber im Zeitalter Wagners auf solche Dinge zurückkomme? Weil wir doch die alten Opern um ihrer herrlichen musikalischen Schönheit willen täglich anhören mögen, und weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß Übelstände in jedem einzelnen Fall geduldiger ertragen werden, nachdem man sie ein für allemal als solche erkannt und nachdem man ihre Ursachen begriffen hat.

 

Der konventionelle Schluß der Musikstücke

Wann ein Musikstück ungefähr seinem Ende zuneigt, bleibt den meisten Menschen ein Rätsel, da das Gefühl, jetzt sei es genug, sich meist schon viel früher zu regen pflegt, nachdem aber einmal die Ergebung in das Unvermeidliche stattgefunden, das Ohr in christlicher Geduld noch eine kleine Meile von Takten mehr ertragen würde. Um nun das Ende in deutlicher Weise voranzumelden, hat man sich in der Musik über einige Ausdrucksformeln geeinigt, welche von jedermann verstanden werden können und in der Tat auch verstanden werden. Es kommt zwar selbst heute noch vor, daß ein Musikstück einfach aufhört, wenn es fertig ist, und dies wird wohl stets der feinste aller Abschlüsse bleiben; wir treffen diese Art hauptsächlich in den knappen Lied-, Marsch- und Tanzformen der Instrumentalmusik, übrigens auch am Ende des ersten Sonaten- und Symphoniensatzes bei den Klassikern. Das Anhängsel einer Koda oder die räumliche Ausweitung der organischen Schlußpartie (bei Beethoven) bildet keine Ausnahme, da die betreffenden Kunstgriffe nur dazu dienen sollen, die allzusteife Proportion aufzuheben, ohne einen direkten Entlassungsspruch ähnlich dem Amen in der Kirche zu bezwecken. Ebenfalls ein logischer Schluß ersten Ranges darf ein letztmaliges Anklingen des Grundthemas heißen, sei es in leicht andeutender Weise und Frageform, wie zum Beispiel häufig in den Mendelssohnschen «Liedern ohne Worte», sei es in harmonischer Lösung, wie in den Fugen. Das alles sind entweder natürliche oder vernünftige oder geistreiche Schlüsse edler Art. Den Gegensatz hierzu bilden die raffinierten Abbrüche, da der Komponist gerade dort aufhört, wo man es vernünftigerweise am allerwenigsten erwartet; damit erzielt man auch einen Effekt, es fragt sich bloß, was für einen.

Die deutlichsten, leichtesten und darum gebräuchlichsten Schlußformeln werden durch das Mittel der Tonstärke gewonnen, und zwar auf doppeltem Wege. Man kann die Noten immer leiser klingen lassen, bis sie schließlich nicht mehr gehört werden, dann hat natürlich die Musik ein Ende. Die Analogie des vokalen Liedes, welches allmählich in der Luft verhaucht, sei es vor Schmerz, sei es, weil wir uns vom Sänger räumlich entfernen, verleiht diesem Kunstgriff Allverständlichkeit, wie er denn mit Vorliebe beim Adagio und andern getragenen Liedweisen verwendet wird. Konventionell können wir diese Formel kaum nennen, da sie sich jederzeit von neuem wieder unmittelbar aus sich selber erklärt. Anders verhält es sich dagegen mit dem Orchesterlärm von beliebig zu wiederholenden Tonika- und Dominantenschlägen, die wir uns heutzutage zum Symbol des allerletzten Abschlusses und zum Signal des Aufstehens erwählt haben. Obschon nämlich die Absicht vom Publikum gar wohl begriffen wird, ich meine die Absicht, jetzt gleich aufhören zu wollen, so erscheint doch das Mittel, welches diese Absicht offenbart, rätselhaft und der Erklärung bedürftig, weil ja an sich nicht zu begreifen ist, warum ein Stück gerade dann aufhören sollte, wenn sich der Komponist im höchsten Zorn und das Orchester in der fieberhaftesten nervösen Aufregung befindet; es sei denn, daß sie das plötzliche Dahinstürzen von rasenden Derwischen darstellen wollten oder daß sie uns durch das gänzlich nichtssagende Toben zwischen Tonika und Dominante zu verstehen geben möchten, ihr Latein sei jetzt zu Ende, sie wüßten uns nichts Vernünftiges oder Schönes mehr zu bieten und daher wollten sie lieber aufhören; allein aus diesem Grunde hätten sie meist schon viel früher aufhören dürfen.

Der Abschlußwert eines Schrittes von Dominant zu Tonika entgeht mir ja nicht; ich verstehe auch die Lust, den letzten Akkord mittels der Stufen des Dreiklangs nach der Oktav zu erhöhen oder zu vertiefen, damit der Grundton noch deutlicher ins Bewußtsein dringe; doch die fanatische Heftigkeit und eigensinnige Beharrlichkeit, oft durch ganze Seiten herunter, die wütenden Geigenpassagen und die herzzerreißenden verminderten Septimenakkorde, die dazwischen laufen, einzig um die Ewigkeit noch zu verlängern, das ist eine apokalyptische Weisheit. Sollten wir vielleicht in dieser titanischen Himmelstürmerei einfach ein Attentat auf unsere Händeklatschmuskeln, ein letztes verzweifeltes ‹Loslegen› des Orchesters erblicken müssen, ähnlich dem abschließenden Geschrei eines Kulissenreißers? So sehr ich befürchte, mit dieser Erklärung das Richtige getroffen zu haben, so widerstrebt es mir doch zu glauben, daß der gemeine Bravourstandpunkt für die Abschlüsse unserer edlen Symphonien auch nur unbewußt maßgebend sein könnte. Mir bleibt noch die Hoffnung, in diesem anspruchsvollen Phrasengeklingel Überbleibsel einer alten musikalischen Sprache, deren Sinn uns entschwunden ist, verehren zu dürfen. In diesem Fall stammt uns die Bescherung wahrscheinlich aus der tragischen Oper, da es sich leicht begreifen läßt, wenn das Orchester am Schluß des fünften Aktes beim Anblick des dahingemordeten Sängerpersonals in eine fürchterliche, nicht endenwollende Entrüstung ausbricht. Übrigens erwecken die Partituren Cimarosas und Mozarts den Verdacht, als ob auch die Grammatik der komischen Oper einige Ausrufungszeichen zu dem aufgeregten Spektakel beigesteuert hätte. Ich wäre sehr dankbar für eine historische Erklärung dieses Gebrauchs, um nicht zu sagen: dieses Unfugs.

Einstweilen möchte ich an die Herren Kapellmeister eine bescheidene Bitte richten, die Bitte nämlich, die für uns sinnlos gewordenen und von jeher musikalisch wertlosen Schlußtakte nicht so über alle Maßen begeistert in die Welt blasen zu lassen, sondern den Überschuß von Kraft und Enthusiasmus, welcher sich zu unserer Überraschung jedesmal dann im Orchester offenbart, wenn ein Stück fertig ist, lieber auf kräftiges Einsetzen innerhalb des Werkes zu verwenden. Daß dies letztere aber auch unvollkommen geschieht, lehrt folgendes Experiment. Wenn wir eines schönen Abends über Land wandeln und aus weiter Ferne plötzlich einen unbändigen Orchesterjubel vernehmen, so können wir mit Sicherheit wetten: das Stück geht eben in diesem Augenblicke zu Ende; denn so überzeugungsvoll wird am Anfang oder in der Mitte eines Stückes niemals gepfiffen und gestrichen, selbst nicht bei dreimaligem Fortissimo. Das könnte man aber ganz falsch auslegen, nämlich als ob die Herren sich vor Freuden darüber nicht fassen könnten, jetzt ihren Skat oder ihre Kegelpartie beginnen zu dürfen. Man sollte im Gegenteil für die Ausführung der nichtssagenden Schlußfloskeln eine Nachlässigkeitsabkürzung, eine Art musikalischen ‹Undsoweiters› erfinden, etwa, indem die Orchestermitglieder das Zeichen einer stummen Musik mit ihren Instrumenten machten und sich hernach zur Verbeugung erhöben. Das wäre jedenfalls ein feinerer Abschied als die Anstiftung des höchstmöglichen Instrumentallärms. Ein solcher Brauch würde wahrscheinlich auch die geehrten Herren Komponisten lehren, ein Musikstück, nachdem es fertig ist, nicht noch eine Viertelmeile fortklappern zu heißen.

 

Individuelle Phantasie und Volksphantasie

Haydn hat aus dem unversieglichen Born des Volksliedes geschöpft.» Das ist einfach nicht wahr. Haydn hat aus sich selbst geschöpft, aus seinem innigen, warmen, sonnigen, selbstvergessenen Herzen. Die Weisen des Volksliedes sind kurz und knapp, einfach und gemütlich, und sie sind vor allem arm. Keine Volksweise erreicht die Seligkeit eines Haydnschen Themas, und alle Volksweisen aller Nationen vereint verschwinden neben dem thematischen Erfindungsreichtum des einzigen Menschen Haydn. Bedient hat er sich des Volksliedes mitunter, aber im freien Spiel, nicht als Schüler oder Knecht, sondern als Krösus, der König und Herr. Überhaupt bedarf ja unsere Theorie vom Volk und Volkslied, das wir, weil wir es einst richtig schätzen gelernt, allmählich überschätzt haben, einer gründlichen Revision. Gegenüber klassischer Beschränktheit, gelehrtem Hochmut und abstrakter lebloser Vers- und Sprachkünstelei, da bitte ich dringend um Volkspoesie; aber angesichts eines schöpferischen Meisters ersten Ranges mit seinem überquellenden Erfindungsreichtum komme mir niemand mit dem Hungerbrünnlein des Volksliedes.

 

Mozarts Klaviermusik

Da einmal über dem Eingang der Künste links oben das schöne Wort steht: «Seid alle willkommen» und rechts daneben der Spruch: «So ihr nicht werdet wie diese Kindlein», wüßte ich nicht, weshalb es einem Dilettanten verwehrt sein sollte, am Gedenktage Mozarts seinem Herzen Luft zu machen und den Dank, der ihm die Seele füllt, zu lösen. Ich weiß zwar nicht, ob ich Mozart ‹verstehe›, es ist mir sogar einerlei, ob das der Fall ist; ich spiele auch so schlecht Klavier, als es die Gesetze der Natur überhaupt erlauben, und glaube, von diesem Menschenrecht so gut Gebrauch machen zu dürfen wie irgendein anderer. Immerhin sitze ich täglich bei Mozart zu Gast, wenn auch zu unterst an der Tafel; und bei so häufiger Gelegenheit vernimmt selbst der Übelhörige dann und wann ein Wörtchen.

Die Tatsache läßt sich nicht leugnen: Mozarts Klavierkompositionen stehen beim musizierenden und tonleiternden Publikum in keinem hohen Ansehen. Als Durchgangsstufe, als Schemel für Beethoven oder als Chrestomathie zu den Fingerübungen: ja, mit Vergnügen. Aber als Kompositionen von eigenem Wert? Man wird ja dem nicht direkt zu widerstreiten wagen, allein während man willig jede Vollendung zugibt, muß der Staubwisch energisch in Aktion treten, wenn einer den Mozart aus dem Klavierständer hervorholen will. Man füllt sich damit die Ohren im Zeitalter der Konfirmation, und dann basta für das ganze Leben. So steht es, wenn man die Tatsachen zeichnet, wie sie sind.

Wie gewöhnlich wirken triftige Gründe und eitle Ursachen überein. Es läßt sich vorab nicht bestreiten, daß für den modernen Menschen ein starker Verzicht auf direkte Gemütsansprüche dazu gehört, um sich in eine Kompositionswelt zurück oder sagen wir lieber hinüber zu versetzen, welche ohne Zugabe lyrisch-subjektiver Empfindung die reine, lichte Schönheit erstrebt. Es läßt sich ferner, wofern wir wahrhaft sein wollen, nicht bestreiten, daß Mozarts gesangliche Themen häufig eine Kindlichkeit aufweisen, die zwar seiner Popularität äußerst wohl bekommt, die aber nur mit dem Aufwand von großer Willenskraft noch heute ernst genommen werden kann. Es läßt sich endlich nicht mit dem Respekt wegdisputieren, daß allerlei Motive, die im Jahrhundert der empfindsamen Flötensüßigkeit der Welt Tränen des Entzückens entlockt haben, verdientermaßen aus der Mode gekommen sind. Schon Jahn hat es gewagt, von Mozartscher Nachlässigkeit in der Erfindung des zweiten Themas, der Kantilene, zu reden, und seine Beobachtung wird nicht eingeschränkt, sondern erweitert werden. Die oberste und oft alleinige Rücksicht auf architektonische Proportionalität in dem damals noch jungen Sonatenbau und auf die kunstvolle Durchführung im Mittelstück ließen offenbar dem Meister den größeren oder geringeren Gehalt eines gesanglichen Themas nicht in dem Maße wichtig scheinen wie uns, die wir seit Beethoven gewohnt sind, in der Musik Gedichte zu suchen, die schon im Thema mit tiefer Innerlichkeit auszahlen.

Dem Ansehen der Mozartschen Klavierstücke schadet auch ihre vermeintliche technische ‹Leichtigkeit›. Hiemit hat es freilich eine eigene Bewandtnis. Gewiß haben ja unsere modernen Musikmühlen, die wir Konservatorien heißen, mit ihren auf anatomische Physiologie gegründeten Übungssystemen eine Fingervirtuosität gezeugt, welche uns unwillkürlich ein Lächeln über die geringen Ansprüche des mozartschen Zeitalters an Fingerkunst entlockt. Wir werden nicht mehr, wie Mozart selbst tat, seine Sonaten für ‹ungemein schwierig› erklären; seine Klavierkonzerte, ehemals gefürchtete Virtuosenaufgaben, leiert heute jede Konservatoriumsschülerin mit der Maschine herunter, und das bestaunte Kunststück Mozarts, auf verdeckter Klaviatur blindlings zu spielen, macht ihm jetzt jeder tüchtige Klavierlehrer nach.

Nur eins ist schade: daß ich noch nie von einem Dilettanten eine der ‹leichten› Mozartschen Klavierkompositionen völlig untadelhaft, geschweige denn mit der erforderlichen Anmut habe ausführen hören und daß unter unsern Konzertspielern die Mozartspieler so merkwürdig selten zu werden beginnen. Etwa aus allzu großer Überlegenheit? Nun, was die Überlegenheit betrifft, so zählt eine ganz einfache, ruhige Komposition Mozarts zu den bewunderungswürdigsten und bewundertsten Leistungen Rubinsteins, nämlich das A-Moll-Rondo. Einfach gesagt: Mozart ist für uns nicht leicht, sondern ungemein schwer, weil wir, was wir seit einem Jahrhundert an Fingerfertigkeit gewonnen, an Verständnis mit Zinsen verloren haben. Ohne einen klaren Einblick in den Sonatenbau, die Harmonisation und die thematische Arbeit, in Verbindung mit einer meisterhaften Unabhängigkeit der Stimmenführung, ohne eine virtuose Geschmeidigkeit der Hand vom duftigsten bis zum energischen Anschlag der Finger ist an eine befriedigende Ausführung Mozartscher Klaviermusik gar nicht zu denken. Denn daß Mozart keine Energie des Vortrags erheische, ist einer der verhängnisvollsten Irrtümer. Wohl setzt er seine Farben dünn, aber sie sind meistens orchestral, als Tutti gemeint und wollen deshalb einen kühnen Vortrag. Seien wir also mit dem Begriffe ‹Leichtigkeit› etwas bescheidener.

Was für ewige Vorzüge nun Klavierkompositionen haben können, deren Themen nicht direkt zu unserem Gefühl sprechen, das klingt manchem rätselhaft. Man gestatte mir, einen Wink in dieser Richtung zu versuchen.

Einzig unter allen Musikstücken der alten Sonatenform ist das mozartsche Tempo. Wir haben zwar seither heißeres Feuer und hinreißendere Stürme erlebt, aber einzig Mozart setzt sofort mit dem ersten Takt die Sonate in gleitende Bewegung oder in ‹Fluß›, eine Bewegung, die nunmehr ohne Ruck noch Erlahmung stetig anhält. Ein guter Teil, ja wohl der meiste Teil seiner Schönheiten sind Schönheiten der Bewegung, also Anmut. Wohlverstanden, nicht zierliche Anmut, sondern die schnelle Anmut des Taubenfluges. Der schwebende Gang der bewunderten Mozartschen Andante setzt die Fähigkeit und die Gewohnheit eilenden Laufes voraus, wie der beseelte Schritt des Rehs die Sprungkraft.

Daß die Mozartsche Bewegung aber zugleich eine feurige und kräftige sei, das war seinen Zeitgenossen, das war auch noch den Zeitgenossen Rossinis gar wohl bewußt, während wir, die wir die Begriffe Feuer und Kraft nicht mehr von der Vorstellung gewalttätiger Dynamik zu trennen verstehen, den Sinn für die Betätigung des Genius im Tempo verloren haben. Wir denken bei dem Namen Mozart an ein sanftes, ruhiges, etwas kindliches Temperament, während er ehemals für einen Feuergeist galt. Und die Händel, Gluck, Cimarosa waren doch auch keine Schlafmützen! Es ist unwahr, als ob die Welt seither stürmischer und heißer geworden wäre; es handelt sich vielmehr darum, daß wir jetzt das Feuer einer Komposition nach dem Rauch und nach dem Blasebalg beurteilen; oder, wenn man lieber will, daß wir mit dem Metronom heizen statt mit der kompositorischen Eigenwärme. Die Mozartschen Kompositionen gehören zu den feurigsten der ganzen Musikgeschichte durch die beispiellose Stetigkeit des Tempos, welche Hindernisse überhaupt nicht aufkommen läßt, sondern dieselben vorwegschmilzt, – durch die Plötzlichkeit und Fertigkeit, mit welcher Kontrast- oder Ergänzungserfindungen auftreten, – durch die jähen Generalvergrößerungen oder -verkleinerungen der Motive und das kühne Pausensystem; Dinge, in welchen ihm einzig seine Seelenverwandten Cimarosa und Rossini gleichkommen, – endlich durch den fabelhaften Sturm der Durchführung, welche in kürzestem Zeitflug eine wahre Unsumme von Kombinationen ersten Ranges an uns vorbeiführt.

Eben in dieser Partie, der Durchführung, dem Brennpunkt der Sonate, offenbart sich auch die wunderbare Kraft Mozarts, und zwar in der Gestalt von Elastizität, der es gelingt, aus dem unscheinbarsten Thema binnen zwölf bis vierundzwanzig Takten mit spielender Leichtigkeit die schwierigsten thematischen und harmonischen Lösungen zu vereinigen. Und niemals schlägt diese Partie fehl, und jedesmal werden von den Möglichkeiten der Lösung diejenigen gefunden, die von der Logik gefordert werden, weshalb sie ‹natürlich› und ‹einfach› klingen, während sie doch eine horrende Kompositionstechnik und unumschränkte Allseitigkeit zur Voraussetzung haben. Kraft nenne ich ferner die funkelnden Disharmonien, welche absichtlich den Wohllaut unterbrechen, vor allem die von Mozart bevorzugten Zugaben von Sekundenintervallen, ferner die Impetuosität der thematischen Gegenführung, in welcher Mozart überhaupt innerhalb der Sonatenform nicht seinesgleichen hat, dann in den imperatorischen Akzenten seiner Passagen in den Klavierkonzerten, und so weiter.

Diese Kraft tritt im Laufe der Sonate in Aktion, unterwegs, beiläufig, weshalb sie dem modernen Hörer, der vor allem auf das Thema horcht, leicht entgeht. Nur ausnahmsweise überzeugt Mozart schon anfangs durch Erfindungsgewalt; wenn das aber einmal geschieht – und es pflegt nach einer alten scharfsichtigen Beobachtung meistens in Mollkompositionen zu geschehen –, dann erzeugt die dreifache Verbindung von thematischer Tiefe, gesanglichem, ruhig und schnell fließendem Tempo und stürmischfeuriger Verarbeitung jene olympischen Kompositionen, die jeder kennt und jeder als Kunstwerke ersten Ranges verehrt. Unter den Klavierstücken gehört hiezu das D-Moll-Konzert.

Es wird wohl überflüssig sein, zu erinnern, daß nicht sowohl die Sonaten als die stolzen, prächtigen Konzerte den Grundstock der Mozartschen Klaviermusik bilden, und wohl der Klaviermusik überhaupt, wie anläßlich der gegenwärtigen Mozartfeier von verschiedenen Seiten wieder betont wird. Dazu kommen die wundersamen ‹Phantasien› mit ihren rauschenden, effektvollen und doch verhältnismäßig harmlosen Verzierungen, und endlich jenes zauberische, duftige Juwel, das Paradigma der Anmut, das A-Moll-Rondo.

Ich hoffe, nicht mißverstanden worden zu sein. Es lag mir die unbescheidene Absicht fern, jemand belehren zu wollen, da ich mir meiner dilettantischen Unzulänglichkeiten gar wohl bewußt bin. Dagegen auf einen verachteten Quell, nachdem man aus ihm Glück getrunken, mit beiden Händen hinzuweisen, am hundertjährigen Todestag Mozarts, das hielt ich für statthaft, und da es mir zugleich Bedürfnis war, konnte ich mirs nicht versagen.

 

«Fröhlich sei mein Abendessen»

Es war nach der Aufführung von «Sodoms Ende», als ich in einer Wirtschaft, die sich respektiert, ein Männlein, das sich nicht respektiert, im Tone des Jesaias gegen Direktion und Kommission wettern hörte, weil sie es wagte, einem ehrsamen Publikum Stücke zu bieten, in welche man sich schämen müßte, seine Frau mitzunehmen. Ich war tief erschüttert und trug mich ernstlich mit dem Gedanken, einer löblichen Erziehungsdirektion einen Gedankenschatz über die Bedeutung der Schaubühne als einer moralischen Erziehungsanstalt zu schenken, frei nach Schiller; da mußte ich letzten Montag den Schmerz erleben, das nämliche Männlein nicht nur mit seiner Frau, sondern obendrein noch mit drei blühenden Töchtern im «Don Juan» thronen zu sehen, die Gesichter von Andacht strahlend, wie in einer Osterpredigt. Daß das, dessen bloße Andeutung ihn in «Sodoms Ende» bis zu sittenreformatorischen Anwandlungen empörte, ihm jetzt nicht weniger als viermal beinahe auf offener Szene dargestellt wurde, schien weder ihn noch seine Fräulein im mindesten zu genieren. Dergleichen Rätsel der menschlichen Natur vermögen aber selbst die klarste Weltanschauung zu verwirren: ich fand es daher einstweilen für dringender, den Ursachen nachzuspüren, warum das nämliche Vorkommnis verletzt, wenn es einmal, dagegen erbaut, wenn es viermal dargestellt wird. Gewöhnt man sich vielleicht daran? Oder liegt es an dem Unterschied der Jahreszeit? So daß das sittliche Gefühl im Oktober empfindlicher reagiert als im Januar? Oder wohnt etwa der Musik die Kraft inne, Laster in Tugend und Skandal in Erbauung zu verwandeln? Hat doch schon Beaumarchais behauptet: «Was zu unmoralisch ist, um gesagt zu werden, das singt man.» Oder lautet das Wort nicht so?

Doch das beiläufig. Heute möchte ich einmal abschütteln, was mir schon lange auf dem Herzen liegt. «Fröhlich sei mein Abendessen», sagt Don Juan ausdrücklich im letzten Akt. Diese Worte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, ebensowenig wie das Orchester, das er sich zur Tafelmusik herbestellt hat und von dem wir die lustigsten Weisen vernehmen. Aber was sehen wir? In einem prächtigen maurischen Saale, in welchem Hunderte von Gästen bequem Platz fänden, sitzt der Bedauernswerte einsam und verloren neben zwei magern, spindeldürren Choristinnen, welche vor Verlegenheit nicht wissen, was sie mit ihrer Person anfangen sollen, und kneipt im geheimen Champagner, wie ein durchgebrannter Reisender in spanischen Weinen, der aus der gestohlenen Kasse seines Prinzipals sich zwei Weiblein in das Hinterstübchen eines Ballsaales geholt hat. Folgerichtig müßte das Gespenst ihm sein Sündenregister durch das Guckloch einer spanischen Wand vorsingen. Wahrlich, wenn das ein fröhliches Abendessen sein soll, dann ist Don Juan nicht anspruchsvoll! Natürlich befindet sich die Regie in gewaltiger Verlegenheit, wie sie die beiden Dämchen im ungeeigneten Moment wieder verschwinden lassen soll. Entweder die Unglücklichen rennen beim Anblick der Elvira sofort davon, wie Gespenster beim Hahnenschrei – als ob jemals ein weibliches Wesen einer Nebenbuhlerin den Platz räumte –, oder Don Juan bekomplimentiert sie eigenhändig zur Tür hinaus (nachdem er sie zum Abendessen eingeladen!), wie ich es von einem berühmten Don Juan-Darsteller gesehen habe. Wenn aber Don Juan nicht galanter ist als so, dann glaube ich ihm von seinen tausendunddrei Eroberungen nicht eine einzige. Wer weist jemals einer Dame die Tür? Eine sonderbare Marotte ferner von einer Statue, bei ihrem respektablen Körpergewicht sich vom Kirchhof her wegen vier Personen die Treppe heraufzubemühen. Es gibt keine Wunder in Privatzirkeln; metaphysische Herrschaften sind, wie jedermann weiß, geizig mit ihrer Erscheinung und wählen hierzu einen Anlaß, wo sie mit ihrem Auftreten eines sensationellen Erfolges sicher sind. Steinerne Gastspieler lieben so wenig wie andere leere Häuser. Ein Jüngstes Gericht, das einem einzelnen auf die Bude steigt, das heißt Spatzen mit Kanonen totschießen.

Wenn dann vollends, wie es neulich bei uns geschah, das Gespenst frisch und froh auf den von der Regie angewiesenen Platz neben der Kulisse hinüber beinelt, um sich dort mit abgewandtem Antlitz behaglich vom elektrischen Licht bestrahlen zu lassen, wie ein Käfer vom Sonnenschein, wo nehme ich dann das Bangen her?

Die Szene hat vielmehr zu verlaufen, wie sie auf hauptstädtischen Theatern zur Seltenheit etwa gesehen wird: Don Juan, als geborener Grandseigneur und erblicher Schloßherr, hat eine zahlreiche glänzende Ballgesellschaft versammelt, die ganze Szene voll. Mitten im fröhlichsten Festjubel und Tanz erscheint Elvira gleich einer Wahnsinnigen, um ihren Dreivierteltakt abzusingen. Die Gesellschaft, erstaunt, aber mit höflicher Zurückhaltung, läßt sie gewähren und singen, zischelt wohl auch ein wenig, um dem Publikum die Mühe abzunehmen. Don Juan lädt Elvira mit überlegener ironischer Lebensart achtungsvoll zum Sitzen ein, was sie ausschlägt; wonach sie in Verblüffung über die falsche Situation, in welche sie sich gebracht, beschämt flüchtet. Die peinliche Szene hinterläßt einige Befangenheit, welche jedoch den ermunternden Winken Don Juans, den Ball fortzusetzen, weicht. Später spiegelt sich der Schreck Leporellos auf den Gesichtern der Versammlung wider; dem Gastgeber folgen Herren und Damen, um nachzusehen, was es gibt. Eine grauenvolle Verwirrung folgt, und beim Anblick des wirklichen Gespenstes stiebt alles mit Geschrei auseinander, durch Türen und Fenster flüchtend. Es gälte sogar den Versuch, einen Teil der Gäste zurückbleiben zu lassen. Mit dieser Siebenmeilenstimme singt doch ein Gespenst nur, wenn sich die Mühe lohnt; vor Don Juan allein könnte der Komtur sein Geschäft pizzicantando abwickeln. Wir haben so oft danach geforscht, wie die Alten ihren Chor gebrauchten; denken wir auch einmal darüber nach, wozu wir ihn benutzen können. Wenn man mir aber einwenden wollte, die Texttreue verbiete die Einführung des Chors in das Finale des zweiten Aktes, so antworte ich: Mit welchem Recht läßt man ihn denn im Finale des ersten Aktes beharren, während ihn doch Mozart verschwinden heißt? Was aber dem einen Finale recht ist, ist dem andern billig.

 

Schuberts Klaviersonaten

Zwei Vorurteile sind es, welche manchem die Schubertschen Klaviersonaten verleiden. Zunächst haben wir alle Schubert säuberlich als Liederkomponisten verzeichnet und fühlen uns demgemäß in unserem Ordnungssinn beleidigt, wenn der Sänger der Müllerlieder sich in Dinge mischt, die ihn nichts angehen. «Ich schätze und verehre Schubert ungemein, aber hauptsächlich in seinen Liedern.» Ferner ist uns ein Gerücht zu Ohren gekommen, Schubert stände im schlechtesten Verhältnis mit der Sonatenform. «Ja, seine kleineren Klaviersachen, die mag ich ganz gern.» Vorurteile direkt zu bekämpfen, unternimmt kein Erfahrener. Ich will mich daher begnügen, indem ich die Vorzüge und Mängel oder, besser gesagt, die Eigentümlichkeiten der Schubertschen Sonaten beleuchte, meinerseits ohne Vorurteile zu Werke zu gehen.

Es braucht keine besondere Feinfühligkeit, um sofort einen durchgreifenden Unterschied zwischen den Schubertschen Sonaten und denjenigen der sogenannten Klassiker zu spüren. Hiermit ist jedoch nicht gegeben, daß die ersteren minderwertig seien; noch weniger darf man hieraus auf ihre Unregelmäßigkeit schließen. Statt in der vermeintlichen Unförmlichkeit liegt vielmehr ihr Hauptfehler, wenn überhaupt hier von Fehlern die Rede sein kann, in einer allzu steifen Förmlichkeit. Damit freilich Regelmäßigkeit in Steifheit ausarte, bedarf es besonderer ungünstiger Bedingungen. Diese Bedingungen erblicke ich zunächst in der Selbständigkeit und Ausführlichkeit der Themen, namentlich des ersten unter ihnen. Während die sogenannten Klassiker der Sonate das erste Thema, um es bequem handhaben zu können, möglichst kurz fassen, während wohl gar der eine oder der andere sich mit einer an sich ganz unbedeutenden rhythmischen Partikel für das Thema begnügt, hebt Schubert gleich mit einer wunderbaren, in jeder Beziehung vollendeten musikalischen Phrase an, welche durchschnittlich ein klassisches Thema um das Dreifache, wenn nicht das Sechsfache an Länge überragt. Und ähnlich geht es durch den ganzen ersten Teil weiter. An eine Multiplikation durch thematische Verarbeitung ist unter solchen Umständen natürlich nicht zu denken. Schubert beschränkt sich denn auch auf die Addition; allein selbst dann noch ergibt sich unvermeidlich die berüchtigte ‹himmlische Länge›, nicht etwa, weil Schubert willkürlich oder episodisch zu Werke ginge, was durchaus nicht der Fall ist, sondern weil drei Themen, die an sich um das Doppelte zu lang sind, um das Dutzendfache zu lang werden, wenn man jedes von ihnen regelrecht mehrmals wiederholt.

Die Ausführlichkeit der Themen beeinflußt übrigens den Bau der Sonate noch in weit empfindlicherer Weise auf anderem Wege als durch die bloße Ausdehnung. Indem nämlich Schubert gleich von Anfang an fertige, abgerundete Perioden bildet, erreicht er zwar zunächst einen großen Vorteil gegenüber den Klassikern, büßt jedoch später, bei der letzten Wiederholung, wo es gilt, gleichzeitig durch Proportion und durch Überraschungen zu entzücken, viel mehr ein, als er anfänglich gewonnen hatte. Denn die von Anbeginn wunderbar vollendeten Perioden können gegen den Schluß hin nicht mehr übertrumpft werden – man verzeihe mir diesen niedrigen, aber bezeichnenden Ausdruck –; sie sind bei der Wiederholung bloß unansehnlicher Veränderungen, keiner durchschlagenden, überraschenden Neuerungen mehr fähig. Deshalb verspürt der Hörer, nachdem er über das Mittelstück hinausgelangt ist und nun den ganzen ersten Teil schonungslos in der ursprünglichen Gestalt zurückerwarten muß, Ungeduld oder, mit einem andern Wort, Langeweile. Als unvermeidliche Folge derselben Ursachen ergibt sich ferner die kompositorische Vernachlässigung der thematischen Ausarbeitung nach dem Wiederholungszeichen des ersten Satzes, also der Kardinalstelle der Sonate. Hier weicht Schubert der Aufgabe einfach aus. Zwar bedeutet auch bei ihm noch jene Stelle den Mittelpunkt der Schönheit, nicht aber den Mittelpunkt der Spannung. Gibt es überhaupt in den Schubertschen Sonaten eine Spannung? Im einzelnen ja, doch im allgemeinen schwerlich. Die Riesenproportionen verhindern die Übersicht und stumpfen das Ortsbewußtsein ab, um so mehr als noch zwei andere Umstände den Hörer desorientieren: die gleichmäßige Süßigkeit der Haupt- und Nebenmotive und der Mangel an Tempo. Schubert besitzt eine Stärke wie außer Beethoven kein anderer, aber wenig Temperament; er schlenkert gerne, schläft auch wohl mitten in einem seiner sogenannten Allegro ein, um zu träumen.

Weit unbedenklicher als die Regelmäßigkeiten erscheinen mir die Freiheiten Schuberts. Wenn er zum Beispiel auf einen Satz in B einen zweiten in Cis-Moll und vielleicht einen dritten in C-Moll folgen läßt, so scheint mir der Schaden gering, dagegen der Gewinn, nämlich die prachtvolle Färbung, unersetzlich. Ich komme daher nochmals auf meinen Hauptsatz zurück: Nicht Willkür, sondern übel angebrachte Gewissenhaftigkeit ist das Merkmal der Schubertschen Sonaten in formeller Hinsicht. Schubert möchte mittels Blumen einen Riesenbau geometrisch genau herstellen; zu diesem Ende steckt er Lineale durch die Girlanden, mißt die Sträuße mit dem Winkelmaß und heftet die Kränze mit Bolzen zu viereckigen Figuren fest. «Warum also durchaus die Sonatenform wählen?» Weil die Sonatenform besondere, vornehme Schönheiten veranlaßt, für welche außerhalb derselben nirgends ein Zweck und eine Stelle in der Welt ist. Schubert aber verspürte Lust und Kraft nach jenen besonderen, vornehmen Schönheiten, und darum hatte er trotz allem recht, die Sonatenform zu wählen.

Es kostet mich keine geringe Überwindung, nicht aus dem Umfang ins Innere zu steigen und nach der Form das Wesen, nämlich die musikalischen Eigentümlichkeiten der einzelnen Gruppen, zu schildern. Allein das Maß eines Aufsatzes ist leider noch unerbittlicher als dasjenige einer Sonate, und ich darf mir nicht meinerseits himmlische Länge erlauben. Eines aber schulde ich jedenfalls meinem Thema und meinem Leser: die Hinweisung auf die unbestreitbaren, strahlenden, unvergleichlichen und unglaublichen Vorzüge. Diese sind nach beiden entgegengesetzten Richtungen in verschwenderischer Fülle zu finden, nach der Richtung der Kraft sowohl als der Zartheit.

Wenn wir Schubert zwischen Blumen im Grase liegen sehen – und dies ist seine gewöhnliche Stellung –, sind wir geneigt, ihn als harmlosen Schäfer und Schläfer zu betrachten. Steht er aber einmal auf, so erstaunen wir über seinen Riesenwuchs, über die Majestät seiner Bewegungen, über die herkulische Kraft seiner Leistungen. Stahlscharf schneidende Dissonanzen, darunter namentlich Sekundenintervalle, sind seine Lust; mit Behagen wetzt er die Sforzatoschläge in Gegenbewegung, Synkopen sind ihm ein Festschmaus. Er bedarf pompöser Oktaven, um seines Lebens froh zu werden; kann er diese nicht als feurigen Pegasus gebrauchen, so müssen sie ihm wenigstens zum holperigen Steckenpferd dienen; sie zu entbehren vermag er nie. Über alles herrlich sind seine enharmonischen Modulationen und chromatischen Koloraturen; die hämmert er zu festem Metall, daß eherne Blitze hervorsprühen: zum Beispiel A-Dur (postum), erster Satz, erster Teil nach der Kantilene, eine thematische Kette, welche, beiläufig gesagt, jeder andere Komponist in das Mittelstück würde verlegt haben. Der titanische Zorn der leidenschaftlichen Sextengänge im Opus 143 (erster Satz, Themagruppe) und wiederum die königliche Vornehmheit des Rhythmus in den Übergängen des letzten Satzes der C-Moll-Sonate, zum Beispiel aus dem Es-Moll- in das Es-Dur-Stück, würden für sich allein hinreichen, um Schubert als den nächsten Verwandten Beethovens erkennen zu lassen.

Hinsichtlich des Schmelzes spotten Schuberts Sonaten nicht bloß der Vergleichung, sondern sogar der Ahnung. Da ereignen sich Zauberkünste und Halblichteffekte, vor deren Zartheit die Phantasie den Atem zurückhält. Hierbei denke ich an hunderterlei Stellen; am wenigsten an die kurzen, mitunter etwas überladenen und gequetschten Liedweisen der Andante, am meisten an die Mittelstücke der ersten Sätze. Takte wie das D-Moll-Motiv in der Ausweichung der postumen B-Dur-Sonate (erster Satz) oder die C-Dur-Gruppe des Andante in Opus 147 oder das Pianissimo von As-Moll bis E-Moll im Scherzo von Opus 42, vor allem aber die ganze große Mittelpartie (C-Dur und so weiter) im ersten Satz der A-Dur-Sonate (postum) müssen selbst dem nüchternen Verstande als Grüße aus dem Paradiese gelten. Da schmilzt jeder Ton zu schlackenloser Schönheit, da ‹riecht› es nicht bloß ‹nach Musik›, es duftet danach. Das ist das reine, stille Seelenglück, in Musik umgesetzt; mit einem Nerv im tiefsten Innern, durch welchen wehmütige kosmische Ahnungen zittern.

Und dergleichen hätte Schubert unterdrücken sollen? Sämtliche Sünden Schuberts gegen die Form laufen schließlich auf eine glorreiche Tugend hinaus: den unaufhaltsamen Strom seiner himmlischen Inspirationen. Ehe er nur zur Arbeit schritt, stand schon ein Motiv von überirdischer Schönheit vor seinen Blicken. Vergebens raunte ihm die Vernunft zu, es zu ermorden, umsonst zückte sein Wille den Stahl; das Mädchen flehte ihn an aus seinen wunderbaren Augen, und er tat, wie der Jäger mit dem Schneewittchen getan: er ließ es leben, «weil es so schön war».

Ein Prophet Samuel mag ihn dafür verdammen; ich bin nicht Samuel.

 

Die beiden Figaro-Opern

Die beiden Figaro-Opern, die «Hochzeit» und den «Barbier», so nahe hintereinander hören zu können, wie es jetzt bei uns der Fall war, wird einem nicht gar zu häufig zuteil. Einer Vergleichung in solchem Fall auszuweichen, würde unnatürlich sein, da ja sowohl die Identität der Namen und Charaktere wie die große Verwandtschaft der Musik einem ohnehin die Vergleichung aufdrängt. Nachdem Mozart die spätere und künstlerisch vollendetere der beiden Komödien Beaumarchais' vorweggenommen, war es ein gefährliches Unternehmen Rossinis, das Übriggelassene nachzuholen und auf einem Felde, in welchem Mozart das Erstaunlichste, ja das Unmögliche geleistet, mit ihm zu rivalisieren.

Nichtsdestoweniger gelang das Wagnis, wie jedermann weiß und zugesteht. Wobei wieder einmal durch die Musikgeschichte der alte Erfahrungssatz der Kunstgeschichte bestätigt wurde, daß gerade diejenigen Stoffe, welche von Meistern ersten Ranges schon siegreich behandelt worden waren, am vollendetsten zu gedeihen pflegen. Die Ilias post Homerum ist mithin keine Lächerlichkeit, sondern eine recht empfehlungswerte Sache für den Großen. Hat doch auch Keller in «Romeo und Julia» sein Bestes gefunden und geleistet.

Das Rätsel löst sich durch die Gefährlichkeit des Unternehmens oder, mit andern Worten, durch die mahnende Hoheit des Beispiels, welche den Nachfolger zwingt, alle seine Kräfte zusammenzunehmen, um nicht gegen das Vorbild schmählich abzufallen. So hat zum Beispiel der «Maskenball» Aubers Verdi gezwungen, seinen «Maskenball» sorgfältiger und feiner zu arbeiten, als er das früher getan, und wahrlich nicht zu seinem Schaden.

Zwei Eigenschaften sind in solchen Fällen die unerläßlichen Vorbedingungen des Erfolges. Vor allen Dingen das klarste Verständnis für die Tugenden des Vorbildes, bis zur überquellenden Bewunderung, anderseits genügende Originalität und Naivität, um sich durch das Muster nicht das Konzept verrücken zu lassen. Beide Eigenschaften trafen nun bei Rossini im vollsten Maße zu. Einen überzeugteren und verständnisinnigeren Bewunderer Mozarts als Rossini hat es überhaupt nie gegeben; auch keinen befugteren, da niemand, selbst nicht Beethoven, mozartsche Gesangsmelodie, mozartsche Einfachheit und vokalische Klarheit und mozartsche Chorbehandlung in solchem Maße erreicht hat wie er. Den einen wie den andern belebt ferner das nämliche Feuer des Tempo, welches Cimarosa zuerst in der italienischen Oper angezündet hatte, wie denn auch beide ausdrücklich Cimarosa huldigen. Als man Rossini fragte, ob er nicht zugebe, daß Beethoven der größte aller Musiker sei, antwortete er: «Ja, gewiß, aber Mozart ist der einzige.»

So herrlich gelang Rossini das rivalisierende Seitenstück, daß noch heute das Urteil über die Vorzüglichkeit der einen vor der andern Figaro-Oper schwankt. Während zum Beispiel Ambros, der gediegene, aber nichts weniger als vorurteilsfreie Musikhistoriker, mit Rossinis «Barbier» zugunsten von Mozarts «Hochzeit» höchst unsanft umspringt, ein wenig im Stile eines Schulmeisters, scheut sich Hanslick nicht, das Rossinische Werk dem Mozartschen in allen Punkten vorzuziehen. Nun ist es ja leicht, in solchen Streitfällen ungeduldig auszurufen: «Gut, daß wir beides haben!» Aber es ist auch wohlfeil. Denn weder die eine noch die andere Partei möchte eines der beiden Werke verwünschen. Allein selbst wenn wir die genaue Gleichwertigkeit voraussetzen, bleibt doch noch die Aufgabe, zu empfinden, an welchen verschiedenen Punkten jedesmal der ewige Wert liege, denn zwei Werke werden gewiß nicht ästhetisch kongruent sein; eine Wertschätzung aber, welche sich mit dem allgemeinen Eindruck begnügt, ohne die Schönheiten Nummer für Nummer und Takt für Takt zu fühlen und zu ermessen, ist keine Wertschätzung, sondern eine unselbständige Nachempfindung auf den Spuren des Ruhms, also entweder dilettantisch-verschwommener Musikdusel oder gebildete Kunstheuchelei, möglicherweise auch beides zusammen.

Was jedoch Hanslick und Ambros und jedem Ästhetiker und Musiklehrer erlaubt ist, wer will es uns verbieten? Beruht doch der Segen der Kunst gerade darin, daß die Kindlein ebenfalls herankommen und ihr naives Urteil als ein ebenwichtiges neben dem gelehrten in die Waagschale legen dürfen. Wir tun damit nur das, was wir wünschen, daß es uns selbst geschehe, und das ist ja nach dem Sprichwort das Richtige.

In Mozarts «Hochzeit» läuft die Kunst der Komposition, die Technik der Orchesterpartitur entschieden dem «Barbier» den Rang ab. Wenn wir den klassischen Symphoniestil, die thematische Verarbeitung, die Sonderführung der Instrumente zum Maßstab des Urteils wählen, dann steht die «Hochzeit» nicht nur im Vergleich zum «Barbier», sondern auch im Vergleich zu den andern Mozartschen Opern auf der denkbar höchsten Stufe. Man empfindet bei der «Hochzeit» ein eigenartiges feines Vergnügen wie bei einem Streichquartett. Die Partitur ist ferner unvergleichlich homogen, also stilistisch sauber und einheitlich, das Tempo geradezu fliegend, im Finale des ersten Aktes zum hinreißenden Generalsturm konzentriert wie nirgends sonst.

Neben den allbekannten ohrenfälligen und deshalb populären Hauptmelodien überdies noch entzückendere Zwischenmotive, im Flug anspruchslos vorüberblitzend, wie das Mozarts reiche Art ist, kurze Offenbarungen, welche aber den Keim zu den herrlichsten Werken bilden könnten und teilweise tatsächlich gebildet haben. So ist aus dem beiläufig hingeworfenen Nadelmotiv im letzten Akt die tiefsinnige F-Moll-Phantasie von Schubert gediehen, ein Musikstück allerersten Ranges. Eine kleine begleitende Violinenfigur (Sordinen) in der Rache-Arie des Bartolo (erster Akt) wiegt für mich einen ganzen Akt auf. Ein böses Zeichen für die menschliche Natur, daß in der Musik immer die Rache-Arien so wohl gelingen!

Dem stehen jedoch empfindliche Schattenseiten entgegen, welche Hanslick rücksichtslos, aber, wie ich glaube, richtig aufgedeckt hat. Die «Hochzeit» ist vor allem monoton, die Erfindung der melodiösen Hauptthemen verhältnismäßig arm, indem sie sich innerhalb des nämlichen Phantasiemodells bewegt, die Charakteristik trotz stetiger Anlehnung an den Text dürftig, weil mit kleinen nebensächlichen Mitteln wirkend. Den Humor, den Hanslick vermißt, finde ich durch die Anwesenheit prickelnden Geistes reichlich ersetzt. Dagegen möchte ich beifügen: die Musik pulsiert unaufhaltsam von selbst, wie eine aufgezogene Uhr; eine unendliche Kunst, wie wir seither eine unendliche Melodie erlebt haben. Tatsache ist, daß die «Hochzeit des Figaro» im ersten Akt entzückt, hierauf ermüdet.

Im «Barbier» haben wir den nämlichen goldenen Wohlklang, dieselbe Abwesenheit des pathetischen und sentimentalen Elementes, ein ähnliches Tempo, zwar unendlich weniger thematische Kunst, aber dafür eine fabelhafte, unerschöpfliche, elastische melodiöse Erfindung von farbiger Schönheit und eine meisterhafte Charakteristik auf komischem Gebiet. Diejenigen aber, welche es ihrer Konservatoriumsbildung schuldig zu sein glauben, über Rossinis Kompositionskunst die Nase zu rümpfen, möchte ich ersuchen, sich doch das As-Dur-Sextett im Finale des ersten Aktes etwas näher anzusehen, oder das verwandte Larghetto im ersten Akt des «Othello» (Finale). Dermaßen die Stimmen in himmlischem Wohllaut einander entgegenzuführen und von Takt zu Takt die zauberhafte Schönheit noch zu steigern, das ist auch Kunst. Es ist ja nicht gesagt, daß Kunst durchaus nur häßlich oder abstrus klingen müsse.

 

Bellini

Neapel, die Wiege der Melodie, die Stadt, welche schon im vorigen Jahrhundert eine Schule reinster Euphonisten hervorgebracht, hat vorletzte Woche seinem Mitbürger (Sizilianer) Bellini, dem melodiösesten aller Opernkomponisten, eine Statue gesetzt.

Der Name Bellini mutet uns Moderne wie ein Gruß aus ferner musikalischer Vergangenheit an, und allerdings ist in dem gegenwärtigen Opernleben, wo Wagner sämtliche Komponisten, wenn nicht beherrscht, doch beeinflußt, von den Spuren Bellinis nichts mehr zu bemerken. Man gesteht es heute unbefangen, daß der ‹Bel canto› sowohl in der Komposition wie in der Ausführung gänzlich verschwunden sei. Was die letztere, die Ausführung, betrifft, so dürfte doch zugunsten italienischer Sänger und Sängerinnen (zum Beispiel Patti, Scalchi und so weiter) eine Ausnahme gemacht werden, insofern der Koloraturgesang, wenn auch als eine bestimmte Spezialität, immerhin zum Bel canto gehört. Wie denn selbst Bellini, der Meister der gedehnten Melodie, der Koloratur keineswegs fremd gegenüberstand, wie zum Beispiel die Zephyrarie in «Sonnambula» beweist. Für die Komposition allerdings hat die Behauptung ihre volle Richtigkeit. Wenn nun der Bel canto aufgehört, was haben wir für einen Canto an die Stelle gesetzt? Einen dramatischen? Nun, das dramatische Element fehlte dem Bel canto, wie uns «Norma» zeigt, keineswegs, das Dramatische, das heißt, mit einem klaren Wort gesagt, das Leidenschaftliche, tritt sogar hier so gewaltig auf, daß wir unter den Lebenden schlechterdings keine Sängerin haben, welche das Feuer und den Atem dazu besäße. Denn was wir heutzutage einen dramatischen Sänger nennen, bedeutet einen Sänger, der dramatisch ist, aber nicht singen kann. Die Garcia und die Artot können als letzte Repräsentanten des musikalisch-dramatischen Gesanges gelten; nach einem Nachwuchs sieht man sich vergebens um. Unser Operngesang zielt nicht nach der Musik, sondern nach dem Ausdruck. Es ist geschriebene Deklamation.

Wenn wir nun den unbestimmten Eindruck der Ferne, welchen der Name Bellini auf uns macht, mit dem Verstand verifizieren, so bemerken wir zu unserm Erstaunen, daß Bellini noch leben könnte. Eine Vision, die dadurch noch an Wahrscheinlichkeit bedeutend zunimmt, daß der Busenfreund Bellinis, nämlich Francesco Florimo, noch lebt und arbeitet. Die ganze Arbeit Florimos geht übrigens in dem Kultus Bellinis auf, was dem Herzen und dem Geschmack des Überlebenden alle Ehre macht. In Florimos Armen starb 1835 der bloß vierunddreißigjährige Meister, Florimo hat im Jahre 1875 die Überreste Bellinis nach Italien geführt, Florimo ist der intellektuelle Urheber der gegenwärtigen Statue, der die Geldmittel dadurch herbeischaffte, daß er sämtliche berühmten Komponisten aller Länder einlud, einen Beitrag in ein musikalisches Album zu liefern, zum Benefiz der projektierten Statue. Endlich ist er es wieder, der nach den Einweihungsfestlichkeiten ein Gedenkalbum ins Leben ruft, in welchem die ehrenden Sprüche berühmter Komponisten über Bellini gesammelt erscheinen. Wir zitieren daraus, der Merkwürdigkeit wegen, einige Sätze Wagners. Wagner schreibt: «Man hält mich für einen Erzfeind der italienischen Opernkomponisten, und besonders Bellinis. Das ist so falsch als unmöglich. Im Gegenteil: Bellini zählt zu meinen Lieblingskomponisten, weil seine Musik ganz Gemüt ist, innig und genau mit dem Text verbunden.» Oder an einer andern Stelle (Affiche des Orchesterchefs Richard Wagner in Riga, um zum Besuch seiner Benefizvorstellung einzuladen): «Unterzeichneter glaubt seine Hochachtung vor dem Publikum Rigas nicht besser bezeugen zu können, als indem er die «Norma» zu seinem Benefiz wählt. Sogar die Feinde der italienischen Musik gehen darin einig, «Norma» eine Oper voll Gemüt und ein geniales Meisterwerk zu nennen.  ... Richard Wagner.»

Unter den vier berühmten Komponisten der neuen italienischen Oper, Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi, reicht keiner so nahe an die Größe Rossinis heran als Bellini. Man kann aber einer Größe nur unter der Bedingung nahekommen, daß man dieselbe an irgendeinem Punkte übertrifft. Jener Punkt nun heißt in unserm Fall die Melodie. Überhaupt dürfte Bellini an melodiösem Reiz sämtliche Opernkomponisten übertreffen, die deutschen nicht ausgeschlossen. Es liegt ein Schmelz darüber hingegossen wie nirgends sonst. Die bellinische Melodie ist breit gedehnt; langatmig, bekanntlich das Schwierigste in der Melodienschöpfung. Sie bildet einen großen Periodenbau mit Punkten und Kolon. Ihr Anschein zeigt die größte Einfachheit, ‹göttliche Einfachheit› nennen es die Franzosen; dieser Vorzug wird erreicht durch die Klarheit der Phrasierung und durch jenes meisterhafte Können, das man Stil nennt und das in dem charakterfesten Ausscheiden der Zwischen- und Nebeninspirationen liegt. Wenn nun, im Gegensatz zu der ‹göttlichen Einfachheit›, welche die Romanen an Bellini preisen, die Germanen über das ‹Blanditi› spotten und gar, wie ich das mehrfach gehört habe, behaupten, es ließen sich Melodien des bellinischen Opernstils dutzendweise von jedem musikalisch Veranlagten aus dem Ärmel komponieren, so verrät das eine merkwürdige Verkennung der Sachlage und zugleich eine Entfremdung von den Kompositionserfahrungen. Wäre das so leicht, warum jagen sich denn Hunderte und Hunderte von Kapellmeistern vergebens nach einer Melodie ab? Warum gelingt ihnen auf zehn thematische Durchführungen nicht eine überzeugende Kantilene? Ich kenne sogar treffliche und namhafte Komponisten, die während ihres ganzen Lebens nicht ein einziges getragenes Motiv zustande gebracht. Ja, wenn man zwischen Melodie und Melodie nicht unterscheidet, wenn man alles, was sich über einer Begleitung auf und ab bewegt, für gleichwertig schätzt, dann mag es schon gelingen. Welch ein Unterschied ist hingegen zwischen einer Kapellmeistermelodie, wie wir sie in unsern Operetten oder in unserer Gartenmusik dulden, und der edlen Reinheit einer Bellinischen Arie! Wie alles vermeintlich Einfache in der Schönheit stellt die bellinische Melodie die Summe und Kombination unzähliger Faktoren dar. Wer sich die Mühe nähme, die Elemente einer echten Melodie zu zerlegen, er würde über die Fülle staunen.

Und nun, wenn alle diese Elemente und ihre Faktoren haarscharf von der Inspiration gefühlt und gewogen werden, wird die sonnige Schönheit erscheinen. Bellini ist groß schon allein in dem Vortakt seiner Arien; der Punkt, wo der Rhythmus der musikalischen Phrase und der Takt des begleitenden Metrums sich zum erstenmal schneiden, ist von ihm zu einem ungeahnten Glanzpunkt der Schönheit geschaffen worden. Und das ist nur ein Punkt unter vielen. Bellini hat zum Beispiel zuerst die Wirkung der Terzen- und Sextenfolge des Duetts mit vollem Bewußtsein und mit vollem Herzen ausgenützt. In negativer Beziehung kann als oberstes Prinzip dieser Melodie gelten: das Vermeiden jedes überflüssigen Tones in der Komposition, jedes Konsonanten, der den reinen Vokalklang der Phrase trübte. Darum die einfache, übrigens nichts weniger als kunstlose Begleitung; darum das bei Bellini so häufige Pianissimo, welches zu der entkörperten, schlackenlosen, ‹göttlichen› Vokalwonne, und fügen wir bei: zu der Kunst eines vollendeten Gesanges gar wohl paßt; darum ferner die minutiöseste Sorge für Wohllaut, selbst in den ‹Läufen› (Passagen), welch letztere bei Bellini mitunter zauberhaft innig wirken.

Wahrlich, mit der ‹Einfachheit› der bellinischen Musik hat es gute Weile; freilich gehört, um den Reichtum ihrer Schönheit zu genießen, auch ein entsprechendes Ohr dazu. Ohren, die an neudeutsche oder an ‹dramatische› Musik gewohnt sind, wo man zehntausend Töne und ein Orchester oder ein Klavier voll Lärm schlingen muß, um ein Tönchen Musik dazwischen zu erhalten, werden natürlich Bellini ‹mager› finden. Auch eine Garnitur von hochmütigen Vorurteilen wird zum Verständnis nichts nützen. Denn um Verständnis, in dem Sinn, wie man dies Wort überhaupt für Kunst gebrauchen darf, handelt es sich bei der Arie gerade sowohl wie bei einer Sonate. Viele, die über italienische Musik spötteln, täten besser daran, zu bekennen: «Ich verstehe sie nicht.» Sie verstehen nämlich nicht das Gesetz der Bewegung, die Empfindungen eines reinen Herzens und den Wert des himmlischen Wohllautes. Diese Dinge aber gehören so gut zur Musik wie die Imitation, welche in musikalischen Dingen für die Mehrzahl des deutschen Publikums den einzigen Wertmesser bildet. Hetzt irgendein Motiv, und wäre es das allertrivialste, eine gute Stunde lang durchs Orchester, und ihr geltet für einen Meister; wenn ihr hingegen einen sonnenklaren, funkelnden Edelstein von Gesang schafft, so zuckt der letzte Schulknabe über euch die Achseln.

Bellini hat auch dem Satan der italienischen Musik, der gebildeten wie der sogenannten nationalen, seinen Tribut gezahlt: der Gemeinheit. Es läßt sich nicht leugnen: es kommen auch bei ihm mitunter Niederträchtigkeiten vor, die um Beifall schreien und einen Fußtritt verdienen. Das sind jedoch nicht individuelle Fehler, wenn schon individuelle Schwächen. Die Schuld fällt auf die Nation, dann speziell auf das Opernpublikum und die Opernsänger. Was die Nation betrifft, so werden denjenigen die gemeinen Gebärden im Kunstgesang nicht wundern, der eine Garibaldihymne, diese scheußliche musikalische Kröte, ein einziges Mal gehört. Dann wissen wir ja, daß das italienische Volk die Gesangwirkung hauptsächlich als Schreieffekt auffaßt. Und danach urteilt natürlich ebenfalls das Publikum. Selbst der erste Sänger der Gegenwart, Niccolini, schreit sich den Beifall herbei. Was Wunder, wenn die Komponisten, die wissen, daß eine musikalische Gemeinheit, im Fortissimo vorgebracht, unfehlbar das Haus elektrisiert, die ferner von den beifallssüchtigen Virtuosen um solcher Gemeinheiten willen gepreßt werden, nachgeben. Publikum, und namentlich ein versammeltes Publikum, hat sich noch von jeher allerorten als einen Schädiger des Künstlers erwiesen.

Das Theaterpublikum verdirbt den dramatischen Dichter und das Opernpublikum den musikalischen Komponisten. Daß die deutsche Musik in der Stille der Arbeit vor dem eigenen Gewissen geschaffen wird oder, mit andern Worten ausgedrückt, daß sie wesentlich Kammermusik ist, das hat ihr jenen edlen Stempel aufgedrückt, der sie vor den übrigen Nationen auszeichnet. Die deutsche Musik hat ihre eigenen Fehler, sie wird leicht abstrus und unmusikalisch, ebenso vor allzu großem Hochmut kindisch – ich meine die thematische Imitation –, allein niemals gemein. Denn die Rülpser, welche unter dem Namen von deutschen Operetten («Boccacio», «Bettelstudent» und so weiter) herumgehen, wollen doch schwerlich den Anspruch auf Musik erheben.

Es ist also leider nicht ein ungetrübter musikalischer Genuß, den wir bei Bellini erleben. Wir werden zwanzigmal entzückt, darunter aber fünfmal derart angeekelt, daß wir den Saal verlassen möchten. Nun, wir müssen es machen, wie mit einem schönen Kleide, das in den Schmutz gefallen ist. Reinigen kann man den musikalischen Schmutz freilich nicht, allein wir dürfen die Ohren und Nasen zudrücken, bis wieder eine reine Glanzstelle erscheint. Übrigens wiegt bei Bellini die Schönheit bei weitem vor, namentlich in «Norma», «Sonnambula» und «Puritani».

Bellini scheint jetzt tot. Ich wage zu prophezeien, daß er wieder auferstehen wird; und zwar deshalb, weil kein künftiger Meister der Melodie die Sammlungen Bellinis übersehen kann. Er wird bei Bellini lernen. Nachfolgenden Künstlern aber zum Studium zu gereichen, das wird doch die echteste Unsterblichkeit der Meister bleiben. Ich könnte mir sogar den Fall denken, daß ein Reformator des deutschen Liedergesanges von Händel weg direkt zu den modernen Italienern als Muster griffe. Doch bis dahin mag sich noch manches auf und neben dem Klavier austoben.

 

Franz Liszt

Anläßlich seines Todes am 31. Juli 1886

Wenn fortan ein Philosoph die Frage aufwirft: «Was ist Glück?» und nach Beispielen sich umsieht, an welchen er seine betreffenden Untersuchungen vornehme, dann wird er unter der Rubrik, wo neben den militärischen Triumphatoren die künstlerischen stehen, den Klaviergott Liszt zuvorderst anbringen. Ruhm, Ehre, Reichtum, Freundschaft und Frauengunst: wenn diese Summe Glück ergibt, dann war Liszt glücklich; und zwar glücklich, wie kaum einer je gewesen. Was bedeutet der Ruhm eines Haydn, Mozart und Beethoven zu ihren Lebzeiten gegenüber diesem wahnsinnigen Vergötterungskultus, wie ihn eine ganze Generation mit Liszt getrieben? Und was will ein Kleinstadtgretchenfresser wie Goethe oder selbst ein aristokratischer Don Juan wie Byron gegenüber diesem tastendonnernden Zeus sagen, welchem die edelsten und schönsten Frauen von ganz Europa reihenweise zu Füßen und, wenn er es gnädig erlaubte, in die Arme sanken!

Einem Gelehrten wird etwa auf seinen sechzigsten Geburtstag nach einem Menschenalter treuer Arbeit ein Ehrendoktorpatent geschenkt, ein Dichter nach einer Reihe von ewigen Kunstwerken an seinem Lebensabend in den Adelsstand erhoben, ein General erhält auch wohl nach einer ruhmreichen Schlacht einen Ehrensäbel, und aller Arten Verdienst – und auch kein Verdienst – wird mit Ehrenbürgerrecht und mit Orden belohnt. Das hat sich alles Liszt auf den Tasten gewonnen. Seine Orden, seine Titel, seine Ehrenbürgerrechte sind gar nicht zu zählen. Eiserne Kronen und erblichen Adel gönnte dasselbe Österreich dem Transkriptionenhelden, welches Beethoven vor Gericht abwies, weil er nicht adelig sei. Die Klavierschlachten haben Liszt sogar einen ungarischen nationalen Ehrensäbel eingebracht; während ein Petöfi ungekannt und unvermißt auf dem Schlachtfelde fürs Vaterland verblutete. Kurz, jedes Land erschöpfte seine Spezialität an Ehrenprodukten. Ob er in seinem Museum auch einen schweizerischen Schützenbecher besaß, vermag ich nicht zu sagen.

Ehren sind wohlfeil und werden allmählich gemein. Zeigt mir den Menschen, der heutzutage keine Medaille unter seinem Spiegel oder keinen Lorbeerkranz in seinem Vereinslokal hangen hat! Wir haben also wenig Ursache, deshalb Liszt glücklich zu preisen, denn wir können heute Ähnliches noch billiger erreichen. Wer es nur einigermaßen geschickt anstellt, der bringt es mit Leichtigkeit zu einer Statue. Hingegen dürfen wir Liszt um einen der schönsten Preise beneiden, welche der Erfolg dem Sterblichen gönnt: die Freundschaft der auserlesensten Mitmenschen. Mit einem Chopin, mit einem Lamartine, mit einem Rossini und andern edlen Geistern in persönlicher Freundschaft verkehren zu dürfen, das ist beneidenswert, das wiegt ein Dutzend Ehrensäbel und ein paar Hundert Ehrenbürgerrechte auf. Und keine Tür war Liszt verschlossen; selbst nicht die Pforte zu den Kaiserhöfen. Die hochmütigen Fürsten der österreichischen Monarchie, deren einer einst Mozart eine Ohrfeige verabreichte, gingen mit Liszt wie mit ihresgleichen oder wie mit einem Höheren um.

Wahrlich, das Beispiel dieses gesegneten Klavierhelden ist eine Predigt; und ich möchte jedem jungen Mann, der nach dem Ideale strebt, anraten, dieselbe gründlich zu studieren. Sie lehrt uns, daß der Lohn dankbarer bewundernder Anerkennung, welche die Menschheit den heiligen Schöpferkünstlern schuldet, niemals für diese selbst vorrätig ist, daß jedoch alles mit Wucherzinsen einem Handgelenk- oder Mundvirtuosen entgegengeworfen wird; daß, was ein Beethoven mit Seelenkämpfen und ein Haydn oder Rossini oder Schubert in einfacher Seeleninnigkeit schenkt, einem Liszt oder einer Patti gedankt wird.

Da gilt es zu wählen. Wer nach Ruhm und Frauengunst lechzt, der lasse das Komponieren oder Dichten und gehe hin und spiele Läufe, vom Morgen bis zum Abend. Ein gutes Pizzicato oder Staccato erobert Fortuna und Gloria und Venus mit allen Grazien sicherer als die edelste Symphonie. Wer aber aus der eigenen Seele ewige Kunstwerke schaffen will, der wisse, daß er keinen andern Lohn erwarten darf als den Lohn der Schönheit seiner eigenen Empfindungen. Welcher ist nun glücklicher? Das möchte schwer zu entscheiden sein. Sicher bleibt, daß die produktiven Naturen niemals im Ernste mit dem Glanz der Virtuosen tauschen würden. Umgekehrt jedoch sehen wir einen Liszt und einen Rubinstein aus dem Geräusch der Virtuosentriumphe in die Einsamkeit flüchten, um den Komponistenruhm anzustreiten. Es muß also nichts in der Welt, selbst nicht Frauenliebe, selbst nicht die Vergötterung der Mitmenschen, jenes Gewissenszeugnis ersetzen können, welches dem wahren Meister mit Ruhe und Größe vor sich selber zu bekennen erlaubt: «Anch'io sono pittore.»

Franz Liszt war am 22. Oktober 1811 zu Raiding in Ungarn geboren. Sein Vater, ein Beamter des Esterhazyschen Haushaltes oder vielmehr Hofes, selbst musikalisch, aber nicht eben reich, erkannte das musikalische Talent seines Kindes früh und war auch gesonnen, dasselbe auszubilden. Mit sechs Jahren setzte man ihn ans Klavier, was freilich heutzutage nicht mehr als Ausnahme auffällt. Der Knabe war indes äußerst nervös und kränklich; wie er denn zeitlebens eine krankhafte Reizbarkeit gezeigt hat; ängstlichen Müttern kann es zum Trost dienen, daß man bei einem solchen Zustand fünfundsiebzigjährig werden kann. Unsere heutigen Ärzte würden ohne Zweifel dem jungen Liszt das Klavierspiel strenge verboten haben. Mit neun Jahren begann man das Wunderkind vorzuführen. Bei einem Konzerte in Preßburg setzten ihm einige Magnaten eine jährliche Pension von sechshundert Gulden aus, damit er weiterstudieren könne. Er nahm jetzt bei Czerny in Wien persönlich Unterricht («Wie muß das gräßlich gewesen sein», denkt gewiß mancher, der an den Etüden schon genug hat) und überwand spielend die Schwierigkeiten. Clementi ward ihm bald ‹zu leicht›, und hierin zeigt er sich schon als echten Virtuosen, der die Meister nach ihren Schwierigkeiten schätzt. Man hoffte, Beethoven werde dem Kleinen einen Prophetenspruch mitgeben, der demselben als Reklame dienen sollte. Die Vorstellung bei Beethoven verlief indessen nach dem Zeugnis Schindlers sehr kühl und erfüllte nicht die gehegten Erwartungen.

Darauf erfolgte die Weiterausbildung in Paris. Das Konservatorium zwar blieb ihm als Ausländer trotz der Fürsprache Metternichs verschlossen. Doch fehlte ihm natürlich die Gelegenheit zur Ausbildung in Paris keineswegs. Mit dem Jahre 1824 begannen schon seine europäischen Triumphe. Für seine innere Entwicklung, wenn man von einer solchen überhaupt bei einem Liszt reden kann, war Paganini entscheidend. Er setzte sich zum Ziel, die Tatzenkunststücke des letztern, also die Sprung- und Spannungsfähigkeit der Hand, auf das Klavier zu übertragen. Das blieb fortan eine seiner Lebensaufgaben, und die einzige, die er wirklich erreichte. Auf seinen Reisen überkamen ihn mitunter mystisch-religiöse Anfälle und, was schlimmer war, Anfälle zum Komponieren. Letztere sind bekanntlich von Jahr zu Jahr anhaltender und gemeingefährlicher geworden. Das begann mit einer Oper 1825; im Jahre 1830 kroch das erste seiner Programmwerke an den Tag: die «Revolutionssymphonie».

Die Jahre 1833 bis 1835 brachte er in Genf zu, von 1837 an folgte ein längerer Aufenthalt in Italien.

Sein höchster Virtuosentriumph fällt in die vierziger Jahre. Da war Europa von einem wahren Liszt-Taumel erfaßt, gegen welchen sich die Satiriker ebenso erfolglos wehrten wie gegen andere Moden. Solche Krankheiten muß man einfach austoben lassen. Und einer Krankheit glich der wahnwitzige Liszt-Enthusiasmus; wäre damals der Bazillus schon erfunden gewesen, man hätte einen Flügelbazillus angeschuldigt; und zwar konnte über seine infektiöse Natur kein Zweifel walten. Nun muß ja Liszt nach dem Zeugnis aller Zeitgenossen unvergleichlich gespielt haben; selbst seine Gegner, worunter wir namentlich die Anhänger des klassischen, einfachen Klavierspiels zählen müssen, geben zu, daß seine Interpretationen von Meisterwerken mitunter wie überirdische Inspirationen erklangen. Schade nur, daß Zeugnisse über den Eindruck des Schönen so blutwenig das Schöne selbst zu ersetzen vermögen. Von all dem rauschenden Klavierzauber, was bleibt uns noch? Ausrufungszeichen; und daneben eine Reihe von epigonischen Klaviertotschlägern. Der interessanteste Moment seines Lebens wird für die Nachwelt die kurze Episode bleiben, da er, es war im Sommer 1838, aus Paris in seine Heimat flüchtete und unter Zigeunern die stolzen, faltenreichen ungarischen Rhapsodien und Phantasien konzipierte; Werke, aus der Nationalphantasie herausgefühlt und schlechterdings die einzigen genießbaren der unzähligen Opera des Klaviermeisters. Denn eigene individuelle Phantasie fehlte vollständig diesem ‹Fürsten der Tonkunst› oder ‹Heroen der Musik› oder ‹Titurel des neunzehnten Jahrhunderts› oder wie ihn seine Anhänger nennen mögen. Unter dem majestätischen Löwenkopf barg sich eine ziemlich triviale Seele. Liszt wie Rubinstein sind die stärksten Gegenexempel gegen die Wissenschaft der Physiognomik. Dort ein olympischer Sphynxkopf, hier eine titanische Beethovenphysiognomie, und darunter ein produktives Können mittelmäßiger Natur, das nur wegen der Protektion einer technischen Virtuosität geduldet, beziehungsweise beklatscht wird. Was diese Gesichter formt, ist der äußere Ruhm, nicht die innere Größe. Vor wem sich täglich die Mitmenschen beugen, der erwirbt sich nach und nach die Gewohnheit einer majestätischen Physiognomie, welche bekanntlich auch der dümmsten politischen Majestät nie gänzlich fehlt.

Manche hätten wohl dem genialen Virtuosen um das Jahr 1845 einen frühzeitigen Achillestod in der Blüte seiner Triumphe gewünscht. In der Tat, nachdem er nun schon eine ganze Generation lang das Herz und die Einbildungskraft seiner Zeitgenossen erobert, was blieb ihm noch Höheres übrig? Liszt selber empfand, daß es noch etwas Höheres gibt, und um sich vor jener schaurigen Blasiertheit zu retten, welche gerade die Verwöhnten des Publikums heimzusuchen pflegt, warf er sich 1848 mit löblicher Energie aus dem Strudel und lebte sich in die Rolle eines musikalischen Kunstpriesters unter dem Kleide eines Dirigenten und Komponisten ein. Mit dem Jahre 1848 beginnt der zweite Teil seines Lebens, welchen wir doch kaum anders überschreiben dürfen als: ‹Vergessenheit›. Auch Liszt mußte erfahren, daß das heilige Kunstschaffen aus der Stille heraus nicht im entferntesten dieselbe glänzende Anerkennung bringt wie das öffentliche Abarbeiten irgendeines Instrumentes, und wäre es selbst der Glasharmonika. Und doch genoß Liszt vor andern Komponisten zwei seltene Vorrechte: erstens eine beispiellose Reklame, geschaffen durch seinen Virtuosenruhm, zweitens eine außerordentliche Trivialität der Erfindung, womit er den Weg zur Bewunderung von vielen Tausenden Unmusikalischen offen hatte. Daß trotz jenem für einen verhätschelten Virtuosenehrgeiz höchst mangelhaften Erfolg seiner Kompositionen Liszt beständig seinem höheren Kunstziel treu blieb und den Virtuosen endgültig hinter dem Musiker verschwinden ließ, spricht für den Charakter des Mannes. Er war offenbar, und das bestätigen uns seine Bekannten, als Privatmensch eine edel angelegte Natur, was wir von dem Komponisten leider nicht rühmen können.

Übrigens stand Liszt noch eine hohe Aufgabe bevor, welche ihn für persönliche Enttäuschungen schadlos hielt und um welche ihn mancher beneiden dürfte, ohne daß wohl mancher die Aufgabe ebenso schön gelöst hätte. Liszt begriff, daß es würdiger ist, den begeisterten Johannes als den falschen Messias zu spielen. Er begriff es und erfand Wagner. Von Wagner aus strahlte denn auch der Hauptglanz auf den zweiten Teil seines Lebens.

Bekannt und zugleich ein wenig berüchtigt ist die Priesterkomödie des ewig umschwärmten und umliebten Salonmenschen. Was sollen wir dazu sagen? Nun, es war ein Rückfall in die Virtuoseneitelkeit, ein verzweifelter Versuch, um jeden Preis von sich reden zu machen. Von 1859 an datiert die Einstudierung dieser Komödie, und seit dem Jahre 1865 trug Liszt beständig das Kostüm des Jenseits. Der Erfolg des Schauspiels war, wie zu erwarten stand, mäßig; denn man ist doch zu sehr daran gewöhnt, weibliche Kokotten sich plötzlich in Betschwestern verwandeln zu sehen, als daß die Abbifizierung eines Don Juan hätte imponieren können.

Das Glück, welches, wie man weiß, ungemein zähe Sympathien und Antipathien gegenüber den Sterblichen hegt, blieb Liszt auch bis an sein Ende hold, insofern als es ihm ein rüstiges Alter und einen raschen, verhältnismäßig schmerzlosen Tod gönnte. Die tödliche Erkältung soll von Luxemburg datieren; in Bayreuth ließ er sich wie ein zweiter Appius Claudius liegend in die Aufführung schaffen. Am sechsundzwanzigsten Juli gesellte sich zu dem Katarrh eine Lungenentzündung; ein Herzkrampf tat das übrige. Natürlich wurde der Unglücksfall von seinen zahlreichen Anhängern, wie von dem ganzen gebildeten Europa mit sensationellem Beileid aufgenommen, und selbst das Totenzimmer zeigt noch etwas von dem theatralischen Charakter, der dem Verstorbenen – und der neudeutschen Schule – eigen war. Vielleicht liegt jedoch die Schuld dieses Eindrucks bei den Berichterstattern, welche meinen, ihre ästhetischen Reminiszenzen hervorkramen zu sollen, um ein erschütterndes Tableau herzustellen.

Die Tochter des Meisters, Frau Cosima Wagner, hat ihre Kindespflicht bei diesem traurigen Anlasse in aufopfernder Weise erfüllt, ja sich nicht vom Krankenbette entfernt. Nachdem der Hofphotograph Brand die photographische Aufnahme und der Bildhauer Weißhaupt die Totenmaske ausgeführt, wurde der Körper nach der Villa Wahnfried geschafft. Der deutsche Kronprinz, welcher sich zur Parsifalaufführung in Bayreuth befindet, sandte einen Kranz.

Am ergreifendsten gestalten sich die Kundgebungen im fernen Ungarn. Es ist eine wahre Nationaltrauer. Die Zeitungen von Budapest erscheinen mit schwarzem Rand. Schwarze Fahnen wehen auf dem Opernhaus, auf dem Konservatorium und den übrigen musikalischen Institutionen. Wir erinnern daran, daß Liszt unter anderm Direktor des Ungarischen Konservatoriums war, und daß er sein Kleinodienmuseum im Wert von fünfhunderttausend Franken seiner Heimat legiert hatte. Der Wunsch der Ungarn, daß Liszt in seinem Vaterlande möchte begraben werden, ging jedoch nicht in Erfüllung. Seine Leiche ist gestern Dienstag, den dritten August, nach seinem eigenen Wunsche in Bayreuth beigesetzt worden.

 

Unsere Sommermusik

Es muß wohl keine kleine Anstrengung kosten, sich einen Winter über europäisch zu betragen. Zu dieser Ansicht werde ich gezwungen, indem ich beobachte, wie die Menschheit des Sommers mit fieberhafter Angst zu den Ziegen und Kühen flüchtet und vor jedem ganzen Überrock, vor jedem guten Buch, vor jeder edlen Musik einen nervösen Abscheu bekundet. «Um Gottes willen, nur jetzt nichts mehr davon! Wir wollen uns erholen!» Ein Bedürfnis, sich von der Zivilisation zu erholen, klingt mir etwas verdächtig. Doch ich verstehe: die Ärmsten sind übersättigt. «Jawohl, übersättigt! Übersättigt bis zum Überdruß, bis zum Ekel!» Falls ich mir aber im Winter den bescheidenen Rat erlaube, man möge sich doch nicht so unbarmherzig übersättigen, so heiße ich ein Barbar. Demnach scheint es zur Kultur zu gehören, während der einen Hälfte des Jahres sich die Seele zu überladen, um dann während der anderen Hälfte Brechmittel dagegen zu gebrauchen, die man mit dem sentimentalen Namen ‹Natur› überzuckert.

Wie dem übrigens sei, die jämmerliche Frühjahrsstimmung erklärt mir die Programme unserer sommerlichen Garten-, Bade- und Promenadenkonzerte; diese sollen einen musikalischen Heringssalat bedeuten, in welchem jedes Häcksel willkommen geheißen wird, vorausgesetzt, daß es übel rieche. Und man darf in der Tat unsern Gartenmusikzetteln den Ruhm lassen, daß sie diese Aufgabe leidlich erfüllen. Sehen wir uns einmal das Rezept derselben an:

Vor allem laß eine Trompete aus Säckingen kommen, verstecke sie ungefähr fünfundzwanzig Schritt vom übrigen Orchester entfernt in ein Gebüsch und überlasse sie ihrem Schicksal, bis sie vor Heimweh erbarmungswürdig zu klagen beginnt. Daneben halte eine Flöte in Bereitschaft, um mit ihr den Himmel zu stürmen, und eine Klarinette, für den Fall, daß sich Weltschmerz einstellen sollte. Gänzlich unentbehrlich sind natürlich einige Potpourris, von welchen die wohlfeilsten sich gewöhnlich als die tauglichsten erweisen werden. Hierauf nimm eine Handvoll musikalischer Rülpser, bei jedem Kapellmeister billig erhältlich (unter dem Namen von ‹Schützenmarsch›, ‹Sängermarsch›, ‹Turnermarsch›, ‹Festgalopp›, ‹Studentengalopp›, ‹Husarengalopp›, ‹Amalienpolka›, ‹Elisenpolka›, ‹Mathildenpolka› oder auch ‹Harlekinpolka› zu verlangen), und wirf sie in das Programm, je mehr desto besser. Hast du das getan, so presse ein halb Dutzend geschwellte Kuhreigen, gedämpfte ‹Rêveries›, im Wasser abgekochte ‹Souvenirs de Teplitz› und eingeweichte Volkslieder, von welchen jeder stets einen großen Vorrat haben sollte, und drücke und quetsche sie so lange, bis Krokodilstränen herausfließen. Rühre dieselben tüchtig um. Bist du damit fertig, so schneide den Teig mit dem Messer in zwei gleiche Teile und stecke in jede Hälfte eine Ouvertüre, um dem Kuchen einen Halt und ein Ansehen zu geben, und du hast ein Programm, mit welchem du dich vor keiner Gesellschaft zu fürchten brauchst.

Dagegen habe ich nur eine einzige Einwendung zu erheben. Es lassen sich immerhin Menschen denken, welche ihren Geschmack nicht aus dem Kalender beziehen, sondern im Juli eine instrumentale Beleidigung ebenso empörend finden wie im Dezember. Ist es nun billig, diese, wie wenig zahlreich sie auch sein mögen, aus dem schönen grünen Garten hinauszuschämen? Sollte man ihnen, die doch nichts verschuldet haben, nicht gleich den anderen ihr Plätzchen im Freien gönnen? Ich hege so viel Zutrauen zu dem Wohltätigkeitssinn der Menschen, daß ich überzeugt bin, unsere Sommerkonzertdirigenten würden Programmen, welche gleichermaßen den musikalischen wie den unmusikalischen Teil der Zuhörer befriedigten, bereitwillig ihre Zustimmung gewähren, wofern man ihnen nur eine Andeutung geben könnte, wie das zu erreichen sei. Ist das aber wirklich so schwierig? Ich glaube: nein. Es bedarf nur der Ermittelung dessen, was jede der beiden scheinbar so verschiedenartigen Gruppen des Publikums begehre und verabscheue. Der wahrhaft musikalische Mensch sucht in der Musik das Schöne, gleichviel, in welcher Form oder Stilart oder Gefühlssphäre dasselbe erscheine und welchen Namen es trage; umgekehrt verabscheut er leidenschaftlich alles Häßliche, Mittelmäßige und Platte, handle es sich nun um eine Plattheit in Dur, das heißt Frechheit, oder um eine Plattheit in Moll, das heißt Rührseligkeit. Der unmusikalische Mensch dagegen bewegt sich mit seiner Sympathie und Antipathie außerhalb der ästhetischen Sphäre; nicht die Begriffe ‹schön› und ‹unschön› oder ‹edel› und ‹gemein› dienen ihm zum Urteil, sondern die unbestimmten Eindrücke des ‹Gefälligen› und des ‹Langweiligen›. Damit ihm aber ein Stück ‹gefalle›, muß dasselbe neben dem musikalischen Wert, den er ja nicht zu verspüren vermag, noch eine direktere Beziehung zu seiner Persönlichkeit enthalten, sonst ‹langweilt› es ihn. Eine solche Beziehung kann auf doppeltem Wege stattfinden. Entweder die Musik spricht ihm an das ‹Gemüt›, mit anderen Worten, sie führt die Gebärden einer Melodie aus, einerlei, ob einer abscheulichen oder einer wunderbaren, oder sie packt ihn an den Nerven, das heißt, sie macht ihn durch aufregende Rhythmen jucken, gleichgültig, ob himmlisches Feuer den Rhythmus beseele oder ob Pauken und Trompeten in rohester Weise den Takt verüben.

Nun liegt an und für sich weder eine rührende Melodie noch ein packender Rhythmus außerhalb dem Gebiete der Schönheit; es ließe sich daher denken, daß nach beiden Seiten hin eine Vermittlung auf die einfachste Weise, nämlich durch die bloße Auswahl der einzelnen Stücke innerhalb der Schranken des Schönen, mit Leichtigkeit gefunden werden könnte. Allein in der Wirklichkeit erweist sich die Forderung ‹rührender› Melodien als eine höchst bedenkliche, weil sich nirgends in der Kunst die vornehme Gesinnung von der gemeinen unversöhnlicher scheidet als in Sachen des ‹Gemüts›. Ein triviales, gedunsenes, zudringliches Rührstück ist jederzeit eines aus dem Gefühl stammenden begeisterten Beifalls der Mehrheit sicher, während die musikalische Minderheit Höllenpein dabei aussteht. Hier ist also die äußerste Vorsicht ein Gebot der Nächstenliebe.

Günstiger verhält es sich hinsichtlich des Rhythmus. Hier lassen sich ohne Mühe Hunderte von Musikstücken finden, welche nicht minder den naiven Zuhörer als den gebildetsten Musiker entzücken: ich meine die echten, charakteristischen Tänze und Märsche, mögen diese nun einen gesellschaftlichen oder nationalen Ursprung haben, mögen sie aus klassischen Kompositionen oder aus dem ‹Volk›, das heißt von unbekannten Verfassern stammen. Eine Tarantella, ein Czardas, ein Bolero, eine Guarrache, eine echte Polka oder Mazurka, ein ungarischer Marsch, eine Polonaise, ein Menuett oder eine Gavotte und so weiter sind von der einfältigen Unruhe im Zwei- und Dreivierteltakt, die wir mit dem Namen ‹Tanz› und ‹Marsch› beehren, wesentlich verschieden. Jene enthalten wahre Offenbarungen der Schönheit, diese – nicht. Was für herrliche Programme ließen sich ganz allein aus dem genannten Material herstellen! Über die Polka und Mazurka im besonderen sollte einmal ein eindringliches Wort gesprochen werden. Es ist ein Jammer, wie jene schwungvollen Tänze in Komposition und Spiel mißhandelt werden. Warum nimmt man nicht die klassischen Vorbilder aus dem «Leben für den Zaren» zum Muster? Warum vor allem läßt man sie nicht hören? Wir würden dadurch wahrscheinlich der Sündflut der verwässerten Polken und Mazurken ledig, und unsere Klavierspieler würden vielleicht Chopin unmittelbarer, instinktiver fassen.

Mein Vorschlag will bloß einen Versuch bedeuten. Die Dringlichkeit aber begehre ich für meinen im Namen aller musikalischen Menschen gestellten Antrag, man möge doch in den sommerlichen Gartenkonzerten dem Geschmack der Minorität einige Rücksicht tragen. Die heutige Regel lautet: viel Gemeines – für das ‹Volk›, dazwischen einiges Edle – für die Wenigen. Diese Regel jedoch ist feig und grausam. Ich schlage eine andere vor: Lustiges, Fröhliches, Heiteres, so viel man will, aber unter keinen Umständen etwas Gemeines, sei es frech oder rührend. Wir dulden nicht, daß man die Bänke besudle; wir brauchen es auch nicht zu leiden, daß uns aus einem heimtückischen Kiosk musikalischer Unrat in die Ohren geworfen werde.

 

Eine Kindervorstellung

Eine Kindervorstellung ist immer eine Elitenvorstellung, selbst dann, wenn zu ermäßigten Preisen gespielt wird. Denn was wir unter den günstigsten Bedingungen und mit vernünftiger Zeit- und Kraftausnützung vielleicht hätten werden können, das ist uns erlaubt, von ihnen zu hoffen; und wir machen von dieser unanfechtbaren, aber etwas naiven Hoffnung weidlich Gebrauch. Wir ‹Großen› in solch einer Kinderversammlung sind Wracke, um welche, beziehungsweise mit welchen das frische, tosende jugendliche Meer spielt. Unsere Daseinsberechtigung beruht auf unserer Anlehnung, unserer Fähigkeit, mit dem hoffnungsvollen Gewumsel zu fühlen, eine der liebenswürdigsten Tugenden, in welchen uns aber die weibliche Hälfte der Menschheit weit über ist. Die Mama, die dort zwischen ihren Kindern sitzt, ist heute keine Dame, sondern ganz Mutter, mag sie auch noch so elegant gekleidet sein; sie ist nicht in Gala-, sondern in Familienfeststimmung. Wie sie strahlt! Wie sie sich bemüht, das Glück in den kleinen Herzchen anzufachen, um den Widerschein davon in den munteren Augen zu lesen und sich selbst darin zu sonnen. Das lassen sich jene gefallen, gnädig und nachlässig, als verstände sichs von selbst, denken auch nicht an eine Gegenleistung der Anhänglichkeit, als die geborenen Egoisten, welche die Kinder nun einmal sind. Es ist schließlich ja auch ihr Beruf; denn sie haben die Aufgabe, zu jubeln, wenn wir das Lachen verlernt haben, zu tanzen, wenn wir philosophieren, und lebensmutig über die Erde zu krabbeln, wenn wir tot sind. Noch rührender als die Aufopferung der Mütter ist für mich die Selbstlosigkeit der Schwestern. Ich kenne kein schöneres Schauspiel als so ein viertelswüchsiges Schwesterchen, das selber erst mit dem einen Auge in die Welt blinzelt, vom Leben noch nichts genossen hat als Schulaufgaben, Konfitüre und Masern, und doch schon das Brüderchen bemuttert; und mit welcher Gewissenhaftigkeit, mit welchem Verantwortlichkeitsbewußtsein, mit welcher Liebe! Man hat viele dieser treuen Backstiefmütterchen beobachten können, letzten Sonntag, in der ‹Puppenfee›. Nachher kommen die weisen Schriftsteller und reden uns von dem Dämonischen im Weibe, von seinem unheimlichen Sphinxcharakter! Nun ja, die Krallen für uns, wenn wir sie mit unseren leidenschaftlichen Narrheiten behelligen, welche wir sonderbarerweise ‹Liebe› nennen, aber das Lächeln für den Nachwuchs; wie es sich gehört, wie es die Natur und die Weltordnung will.

Ein geschmückter Saal ist bereits ein Schauspiel für die Kinder und eine dichte Menschenanhäufung schon ein festliches Vergnügen. (Für uns nicht in demselben Maße, eher wohl in demselben Maße das Gegenteil.) Sich da in dem riesigen Gebäude, das eigentlich für die Großen bestimmt ist, in Masse einzunisten, das wäre an sich schon einen Gang wert; wie wenn man sich auf den Zylinder des Großpapa setzen dürfte. Allein der Termin einer Viertelstunde ist schon Zukunft für diese Neubürger; die Gegenwart hat Recht, und man muß entschieden etwas leisten. Die populärste, weil ebenso kurzweilige wie verhältnismäßig leichte Leistung besteht darin, sich zu wälzen, sich zu recken und strecken, mit den Beinen Trommel oder Glocke und mit dem Kopf Kegel zu spielen. Es gibt indessen auch vollkommenere rhythmische Geschäfte, zum Beispiel in regelmäßigen Wiederholungen fußhoch auf dem Stuhl aufzujucken, oder mit den Händen auf und nieder zu patschen; das Vergnügen wird wesentlich erhöht, wenn die Übung reihenweise vorgenommen wird. Die Zeigefinger sind in voller Tätigkeit, denn man sieht erstaunliche Dinge; da dieselben jedoch groß und weit sind, der Zeigefinger aber klein, so empfiehlt es sich, den Arm mitzubenutzen. Bekannte werden aufgefunden, mit denen man Winke und Grüße tauscht, aus vollen Backen lachend, ohne Zeremoniell, ohne falsche Ehrerbietung vor der Öffentlichkeit. Ebenso deutlich indessen läßt man seiner Kritik den Lauf; ein mißliebiges Gesicht wird mit dem Zeigefinger denunziert und selbander mit stirnrunzelnder Verachtung bestraft. Auch gibt es finstere Männchen von drei Fuß Höhe, welche unterschiedslos die ganze Gesellschaft mit trotzigen Blicken messen, als wollten sie sagen: «Komme mir keiner zu nah!» Denen möchte ich nicht wagen, Suppe zu schöpfen, nachdem sie einmal deutlich erklärt haben, sie begehrten Pudding und nichts anderes zum Mittagessen. Im ganzen werden die Standes- und Rangunterschiede keck übersprungen; da ist Zeug zu Romeo und Julia in Hülle, doch kann man hie und da auch musterhafte Gouvernantenzöglinge sehen, welche schon die hohe Kunst erlernt haben, dekorativ zu wirken, aristokratische Stellungen einzunehmen und in denselben zu verharren. Unglückliche Mienen, denen das Heulen zuvorderst ist, kommen als Ausnahme, immerhin doch vor; das sind entweder Kranke, die besser im Bette, oder allzu Junge, die besser zu Hause geblieben wären. Es gibt eben Mütter, welche aus lauter Liebe ihren Kindern eine Festlichkeit aufzwingen, wie es Väter gibt, welche ihnen aus Zärtlichkeit Wein eintrichtern.

Bim, bim, bim! Das Glockenzeichen verwandelt sofort die zerstreute Menschheit in eine erregte Versammlung; kein Orchester kann auf den Kapellmeister prompter reagieren als die Kinder auf das Glockenzeichen. Ein plötzliches Summen wie in einem Wespennest und eine Aufregung wie in einem Ameisenhaufen. Das ist die ‹Sensation› in ihrer naiven, natürlichen Erscheinung, während wir in Versammlungen Erwachsener nur eine Abschwächung derselben erleben. Und die psychologische Erklärung dieser Sensation wegen eines Glockenzeichens? Die ersehnte Zukunft hat sich als Gegenwart angemeldet, die erwarteten Genüsse sind mit der großen Zehe des linken Fußes auf die Schwelle des Bewußtseins getreten. Aus der vereinigten Summe dieses tumultuarischen und doch gedämpften Geplauders die Wurzel des Inhalts auszuziehen möchte keine leichte Aufgabe sein. Merkwürdig bleibt jedenfalls die Ausdauer der Erregung; wie Feuer das Feuer nährt, so entzündet sich das Bedürfnis des Gesprächs durch das lebhafte Geräusch immer von neuem. Eine lange Viertelstunde geht das so fort, ohne Nachlaß, aber auch ohne Crescendo und, wohl zu bemerken, ohne Ungeduld, stetig wie murmelndes Wasser. Dann plötzlich ein neues, diesmal doppeltes Glockenzeichen, ein Aufschein des elektrischen Lichtes, und jäh schnellt der Gesamtton in die Höhe. Ein Zeichen des Kapellmeisters, das Einsetzen des Orchesters, und ebenso augenblicklich wird lautlose Stille.

Die Musik wirkt gleich Null. Instrumentation, Melodie, selbst der Walzerrhythmus geht ohne den mindesten Eindruck vorüber, ja wird sogar als Störung empfunden. Wenn eines der Kinder – es werden nicht viele sein – nachher zu Hause eine der Melodien nachträllert, auf dieses sollen die Eltern aufmerken; denn es ist musikalisch veranlagt. So kurz auch die symphonische Einleitung dauert, schon macht sich Ermüdung geltend; die Jugend wird zerstreut, das Beinschlenkern beginnt von neuem, und hie und da wird wieder geplaudert. Da erhebt sich der Vorhang; das ist anderlei, denn jetzt kommt das Auge zum Recht, und das Kind genießt die Welt entweder mit dem Gaumen oder mit den Blicken; die reiche, bunte Szene macht alles von den Sitzen aufschnellen; das schießt empor wie die Kapuziner aus einer Attrappe, jedes bemüht, über das andere wegzublicken, dann senkt sich das Niveau rasch wieder, dank der Erfahrung, daß da Gesichtsfeld genug für alle vorhanden ist. Die Einzelheiten der Szene werden erlesen und konstatiert, nicht aber verstanden oder auch nur zu deuten versucht; die Puppen an sich wecken auch keine Heiterkeit, das wird erst in Handlung umgesetzt werden müssen, denn ohne Bewegung gibt es für Kinder keinen Sinn und keinen Witz.

Doch jetzt humpelt der Dienstmann herein. Das ists, was wir brauchen. Ein brausender Beifall begleitet jede seiner Bewegungen, donnernder Jubel bricht aus, als er zu Boden plumpst. Eine persona gratissima ist der Bauerntölpel; hauptsächlich ihr verdankt die Vorstellung den Erfolg beim Kinderpublikum. Dann tritt die Engländerfamilie auf; die satirische Karikatur auf die englische Steifigkeit und Verschrobenheit kann natürlich nicht einschlagen; das spärliche Lachen gilt bloß im allgemeinen der Absonderlichkeit, wie ja überhaupt alles Auffallende zunächst belacht wird, natürlich in spöttischer Meinung. Anders beim Auftreten oder vielmehr Aufwackeln des Engländerknirpses; dieser possierliche grotesk-gravitätische Däumling ist Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein. Die kleinen Zuschauer sind vor Freuden außer Rand und Band; der Jubelsturm wird so gewaltig, daß man von der Musik längere Zeit nichts mehr vernimmt.

Mit den Puppenmanövern, da, wo für uns der Reiz erst anfängt, hört für die Kinder das Hauptinteresse auf. Nicht nur die charakterisierende Musik, sondern auch der Tanz, ja sogar das glänzende Kostüm und das funkelnde Licht werden als Allotria empfunden. Man läßt sichs zwar gerne gefallen, denn es ist ohne Frage unterhaltender als eine Rechenstunde, allein es schlägt nicht ein. Die verschiedenen Tänze werden ja nicht unterschieden, das Kostüm sagt nichts Besonderes, die Ironie in den Bewegungen der Chinesin wird nicht begriffen, ja selbst die sprechende Puppe zieht nicht; die Umkehrung der Bedeutung von Bild und Widerbild verlangt, um als Genuß empfunden zu werden, eine logische Operation, welche dem Kind zu hoch und zu fern liegt, wie alles Abstrakte und Symbolische. Die Illusion ist da noch so vollständig und tyrannisch, daß nicht einmal der erklärende Gedanke Raum und Zeit findet; nur was unmittelbar augenscheinlich geschieht, das wirkt; noch dazu ist die Wirkung auf das komische Gebiet beschränkt. Wenn zum Beispiel das abschnellende, überhastete ‹Mama› am Schlusse der Solovorstellung der sprechenden Puppe Gelächter weckte, so geschah das nicht durch Assoziation des dargestellten Vorganges mit dem Gebaren der wirklichen Puppen, sondern einfach wegen des auffälligen Klanges.

Von Zeit zu Zeit einige Versuche, die schnelle Tanzbewegung an sich ins komische Gebiet zu rücken, wie zum Beispiel beim Hüpfen der Tirolerinnen: Versuche, welche natürlich mißlangen. Glücklicherweise sorgte der Bauersmann für Ersatz, und man kann sich denken, daß die komischen Farben diesmal zweckentsprechend dick aufgetragen wurden. Der Trompeter von Säckingen wäre diesmal schmählich um den Applaus gekommen, wenn nicht einige begeisterte Erwachsene einen solchen nachträglich angestiftet hätten. Und das wäre schade gewesen; während nämlich andere Instrumente, mögen sie auch noch so Virtuoses leisten, sich mit der Zufriedenheit des Kapellmeisters begnügen müssen, vermag bekanntlich die Trompete keine drei Töne zu spielen, wenn sie nicht durch frenetischen Jubel dafür belohnt wird. Ich weiß nicht, hängt das mit der Trompete oder hängt es mit Säckingen zusammen. Item, es gibt einen besondern Applaus von Säckingen, der sich von andern Appläusen durch einen gewissen sentimentalen Fanatismus auszeichnet.

Der Akzent des Erfolges lag, wie sich erraten läßt, auf der ersten Hälfte des Balletts, dank der hier obwaltenden Komik. Der zweite Teil fiel im Ganzen ab, nur die Wickelkinder und die Hähne vermochten die Teilnahme völlig zu fesseln. Bezeichnend war die Wirkung der plötzlichen Verdunkelung der Bühne; nicht etwa Spannung auf das Kommende, sondern Pausenwirkung, welche sofort zu eifriger Unterhaltung benutzt wurde.

Am Schluß sperrten die kleinen Herrschaften verblüfft die Münder auf, wie Säuglinge, denen man voreilig die Saugflasche entzieht. «Ja, was? schon aus?» Sie blieben noch einige Zeit in Positur, um mehr zu schnappen; am Appetit dazu hätte es nicht gefehlt. Nun, zusetzen kann man der ‹Puppenfee› freilich nichts, aber man kann sie wiederholen.

 

Warum ich in keine Konzerte gehe?

Schon öfters ist über die Zulässigkeit von Mißbilligungsäußerungen aus der Zuhörerschaft gesprochen worden, fast immer mit dem Ergebnis, daß Mißbilligungsäußerungen zwar grundsätzlich nicht minder berechtigt wären als Beifallsäußerungen, daß jedoch ratsam sei, sie auf das äußerste zu beschränken, wenn nicht von Anstands wegen, so doch aus Achtung vor dem Publikum, vor den Ausführenden, und vor allem aus Achtung vor sich selber.

Nachdem ich mir wiederholt mein Teil dabei gedacht, ist mir eingefallen, warum ich nicht auch mein Teil dazu sagen sollte. Ich bin mit dem obengenannten Ergebnis, man solle aus Taktgründen, Anstandsgründen und Achtungsgründen Mißbilligungsäußerungen unterlassen, durchaus einverstanden, wenn es sich um Vorführungen in einem Privatzirkel, also in einem Salon, handelt. Denn wenn ich mich in einen Privatkreis begebe, so übernehme ich damit die Verpflichtung, mich höflich aufzuführen. Mag eine Sängerin noch so schrecklich schreien, sie ist gleich mir der Gast der Dame, die uns beide beehrt hat. Ich werde also manierlich stillhalten; es kann mir vielleicht sogar gelingen, die Sängerin, die mich soeben angeschrien hatte, über ihr elegantes Kleid zu bekomplimentieren.

Übernehme ich aber die nämliche Verpflichtung, wenn ich mich in ein öffentliches Konzert begebe? Ich behaupte, nein. Ein öffentliches Konzert ist eine anspruchsvolle Anstiftung; es behauptet durch seine Anpreisungen, durch seine Inserate, durch das Eintrittsgeld, das es fordert, etwas Vorzügliches zu leisten; leistet das Konzert Mittelmäßiges oder Unerträgliches, so begeht es mithin einen Vertragsbruch, mindestens eine Täuschung. Es ist auch keine Dame des Hauses vorhanden, der ich Ehrerbietung schuldete; ich bin von niemand namentlich eingeladen worden; ich habe nicht die geringste persönliche Beziehung zu den Konzertgebern, ich kenne sie nicht, und sie kennen mich nicht und kümmern sich nicht um mich; ich bin folglich jeder Rücksichtnahme enthoben, so daß mein Urteil von jeder Hemmung befreit ist. Ich sollte aber gleichwohl aus den obengenannten Gründen, falls mein Urteil abschätzend lautet, es nicht laut werden lassen, die Faust im Sack machen? «Es geschieht einem ja keine Beleidigung». Just das bestreite ich, daß einem keine Beleidigung durch schlechte Musik geschehe. Gewiß, ein indolentes, unmusikalisches Publikum kann durch keinerlei Musik beleidigt werden, und das Kunststück, stumm und still zwei Stunden lang manierlich dazusitzen und über sich ergehen zu lassen, einerlei was, ist für solch ein Publikum nicht schwer. Aber nehmen Sie ein echt musikalisches und eins von Temperament, eins, das mit seiner Seele auf jeden einzelnen Satz antwortet. Sitzt das so diszipliniert da? Kann es so diszipliniert still sitzenbleiben, einerlei, was auf dem Podium geschieht? Nein, es kann gar nicht anders, als bei einem entzückenden und entzückend vorgetragenen Kunstwerk sich zu entzücken, also zu jubeln, und von einem üblen Takt oder falschen Ton wie gestochen aufzujucken, und zwar in dem nämlichen Augenblick, wanns sticht, mitten im Stück.

Und nun will ich bekennen, warum ich in keine öffentlichen Konzerte gehe:

Erstens, weil man mir willkürliche Programme aufstellt, die ich in Bausch und Bogen annehmen müßte, wenn ich nicht dem ganzen Konzert fernbliebe. Man geht folglich entweder von der Voraussetzung aus, man dürfe einem Publikum jedes beliebige Musikstück vorführen, es schlucke alles, oder von der Voraussetzung, die Konzertgeber seien in musikalischen Dingen über uns so hoch erhaben wie der Lehrer über dem Schüler. Beide Voraussetzungen empfinde ich für mein Teil als unzutreffend. Mein Wunsch und mein Trotz verlangt, daß man über Konzertprogramme sich erst miteinander verständige. Da das in öffentlichen Konzerten nicht angeht, so verzichte ich lieber.

Zweitens, weil ich nicht, ohne aufzufallen, mich retten, das heißt den Saal verlassen kann, ehe eine solche Nummer kommt, die anzuhören für mich eine Seelenqual bedeuten würde, um nachher zu einer andern Nummer wieder einzutreten, nötigenfalls zwei- und dreimal während eines Konzertes hinaus und wieder herein. Ich könnte also öffentliche Konzerte nur ambulando genießen.

Drittens, weil man mir das Nachleben, das ein herrliches Meisterwerk in meinem Herzen verursacht, durch unmittelbar nachfolgende Werke verdirbt.

Viertens, weil ich bei einer mir verächtlichen Komposition meine Verachtung nicht durch Störung kundtun und bei einer niederträchtigen nicht aufspringen und dem Dirigenten das Pult umstürzen darf.

Fünftens, weil ich, durch tausendmalige Erfahrung belehrt, voraus weiß, daß, wenn ein ganz elendes Machwerk verübt wird, zum Beispiel ein impotentes, von allen Musen verfluchtes Salonadagiogewinsel, der Unrat unfehlbar, ohne Erbarmen mit mir, stürmisch da capo verlangen wird.

Und diese Vergewaltigung vertreibt mich vollends. Ich kann mich, möglicherweise, darein schicken, um dreier erfreulicher Konzertnummern willen sechs abscheuliche mit in Kauf zu nehmen; aber das abscheulichste unter den abscheulichen, nachdem es Gott sei Dank endlich überstanden ist, nochmals von vorne bis hinten zu erdulden – nein.

Darum also gehe ich niemals in ein Konzert.


 << zurück weiter >>