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Poesie und Dichtkunst

 

Wie dichtet man aus der ‹blauen Luft›?

I

Aus der ‹blauen Luft› zu dichten, wie man das spöttisch nennt, das heißt, vernünftig gesprochen: frei zu erfinden, ist entweder das allerleichteste oder das allerschwerste Geschäft im weiten Reiche der Poesie. Es kommt darauf an, was für Ansprüche einer an sich und sein Werk stellt. Wem es nur darum zu tun ist, seinen Einfällen den Lauf zu lassen: nichts leichter als das. Man ist der Naturgesetze ledig, der Kontrolle der Wirklichkeit enthoben; mit Psychologie und Charakteristik braucht mans wohl auch nicht so genau zu nehmen, wenn es sich um übermenschliche Personen handelt. Das muß ja ein Vergnügen sein! Und in der Tat: es ist ein Vergnügen.

Nur schade: am Schlusse setzt es eine unliebsame Überraschung ab; das Vergnügen endigt im Papierkorb oder einer ähnlichen Versenkung. Denn spielerische, launenhafte Phantasiestücklein haben gar keinen poetischen Wert.

Ganz anders, wenn es einem mit dem Schaffen ernst ist; wenn einer will, daß sein Werk im Herzen seiner Mitmenschen lebe und dauernd lebendig bleibe. Tausenden frei erfundene Handlungen und Gestalten – von denen niemand vorher wußte, an denen mithin niemand ein Interesse hat – so übermächtig aufzunötigen, daß sie daran glauben müssen; die anfängliche Gleichgültigkeit, vielleicht sogar den Widerwillen und das Übelwollen zu überwinden; der nörgelnden Weisheit siegreich zu trotzen, so daß sich die scharfsinnigste Kritik die Zähne daran ausbeißt, kurz: alle Widerstände und Feindseligkeiten zuschanden zu leben – das ist eine schwierige Aufgabe.

Ist sie überhaupt möglich?

Sie ist möglich. Unter der Bedingung, daß ein Werk mit Schönheiten zahle, welche das Menschengeschlecht fortan nicht mehr entbehren möchte. Das ist das Geheimnis. Trifft diese Bedingung zu, so lebt das Werk und ist durch keine Macht der Welt umzubringen, nicht durch Kritik und Widerspruch, nicht durch Neid und Übelwollen, nicht durch Weisheit, vermählt mit Dummheit, so wenig wie der Griesgram den Frühling umbringt.

Ob aber in einem bestimmten Falle die Bedingung zutreffe, das entscheidet nicht die Literaturzunft, sondern der naive Mensch. Mit demselben Rechte, wie über die Güte von Kirschen und Erdbeeren nicht der Naturhistoriker entscheidet, sondern das Kind und der Sperling und die Amsel.

Was gehört nun dazu, um ein derartiges Werk zu erzeugen?

Zunächst ein Büschel persönlicher Eigenschaften. Die hat man zwar auch sonst in der Poesie nötig. Hier aber müssen einige davon besonders günstig entwickelt sein.

In erster Linie die Selbstzucht. Ohne die ist man hier einfach verloren. Nämlich je freier die Kunstbedingungen sind, um so strenger gilt es, sich im Zaum zu halten. Sonst verfällt man der unheilvollsten aller Verirrungen, der Willkür. Dieser Feind lauert hinter jedem Busche. Und je stärker die Individualität des Schaffenden ist, um so dringender bedarf sie, um der Willkür zu entfliehen, der Selbstzucht. Den Schein der Willkür wird freilich jedes originelle Werk anfänglich, beim ersten Erscheinen, hervorrufen, weil eben das Neue andersartig ist und das Andersartige befremdet. So lange, bis der vertrautere Blick schließlich die innere Gesetzmäßigkeit entdeckt.

Zweitens ist im Reich der freien Erfindung, also im Reich der Phantasie, natürlich eine außerordentlich tüchtige Phantasie nötig. Tüchtig nicht allein durch Reichtum und Stärke, sondern auch durch die Art ihrer Beschaffenheit.

Die Phantasie muß elastisch sein, weil Aufgaben der verschiedensten Gattung zu bewältigen sind. Sie muß ein goldenes Karat haben, um leuchten zu können. Denn nur leuchtende Erfindungen bewahrt das Gedächtnis der Völker im Herzen. Sie muß Maleraugen haben, um klare, anschauliche, unvergeßliche Situationen, Handlungen und Gestalten zu schaffen.

Drittens muß einem Dichter, der sich in das Gebiet der freien Erfindung wagt, der Flug in die Höhe und Weite ein inniges, natürliches Herzensbedürfnis sein. Man muß die Schwingen seiner Phantasie spüren, man muß sich mit der durstigen Seele aus der Enge der realen Bedingungen hinaussehnen wie aus einem Schraubstock. Wem so zumute ist, dem wird schon allein an sich die freie Erfindung zu einem Erlebnis werden. Oder ist es nicht etwa auch ein Erlebnis, wenn ein Vogel, den man im Käfig hält und dem man Volkslieder vorpfeift, damit er sie nachpfeife, plötzlich durchs Gitter schlüpft und sich jubelnd in die blaue Luft schwingt? Wem dagegen umgekehrt zumute ist, wem es unter den gewohnten Alltagsbedingungen wohl und behaglich ist, wer zum Beispiel einen Roman zu schreiben vermag, ohne dabei zu stöhnen wie ein auf der Folter Gemarterter, der hat allerdings recht, wenn er der Poesie der freien Erfindung fern bleibt.

Ganz besonders aber ist erforderlich der Charakter, der überhaupt in der Poesie mehr zu tun hat, als man meint. Denn noch verlockender als in den übrigen Künsten winkt hier die Verführung, noch regelmäßiger wird Verrat belohnt und die Treue bestraft. In unserm Fall tut ein fester Charakter doppelt not, weil allein schon der Zeitaufwand Zähigkeit und Geduld erheischt. Man macht ein lyrisches Gedicht in Minuten oder Stunden; ein Drama in einem Jahr; für ein groß angelegtes Werk der freien Erfindung, also zum Beispiel für ein Epos hohen Stils, sind zehn Jahre das allermindeste. Es können auch fünfzehn oder zwanzig Jahre werden. Nun: einen Einsatz von zehn bis fünfzehn Lebensjahren auf eine Nummer zu wagen, die unter hundert Malen nur einmal herauskommt und die, wenn sie herauskommt, erst nach dem Tode ausbezahlt wird, dazu braucht es Mut, und um es zu Ende zu führen, Charakter.

Nehmen wir nun eine Persönlichkeit an, welche die genannten Eigenschaften besäße und noch einige daneben, und sehen wir zu, wie sie ein Werk der freien Erfindung schafft.

Jedermann weiß und niemand bestreitet, daß die wichtigsten Entstehungskräfte eines Dichtwerkes vor dem Beginn jeder eigentlichen Tätigkeit, ja sogar vor dem Entschluß zur Tätigkeit liegen: in unbewußten – oder wenigstens passiven – Zuständen und Ereignissen der Seele, die sich kaum beschreiben und ganz unmöglich erklären lassen. Man müßte denn zuvor die menschliche Seele und das Leben und die ganze Welt erklären.

Dieses passive Vorstadium, das unter Umständen Jahre, ja Jahrzehnte dauern kann, gipfelt und endet schließlich mit einem plötzlichen, ebenfalls passiven Akt, der sogenannten Konzeption oder Inspiration, der unter der Form von Visionen ein Werk zeugt. Und nicht bloß zeugt, sondern auch schon im wesentlichen festlegt, dermaßen festlegt, daß die ganze nachfolgende bewußte Dichtertätigkeit nur die Konsequenz aus den geschauten Visionen zieht. Der Inspirations- oder Visionsakt ist mithin von entscheidender Bedeutung. In dem Sinn entscheidend, daß, wenn hier das Mindeste gebricht oder unecht ist, das nachfolgende Werk ganz sicher unwiederbringlich für die Poesie verloren ist. Da hilft keine Mühe und Arbeit mehr. Aber nicht in dem Sinn entscheidend, daß die Echtheit des Inspirationsaktes das Gelingen eines Werkes verbürgte. Mißlingen kann es nachher noch an hundert Stellen.

Obschon nun der Visionsakt passiv verläuft, so darf man sich ihn nicht etwa so vorstellen, als ob irgendein fremder guter Geist, eine Muse oder etwas dergleichen, einem die Sache zum Geschenke brächte. Die Visionen kommen ja nicht vom Himmel geflogen, sondern sie steigen aus dem Innern der Seele auf; man erhält da nichts, was man nicht schon hatte.

Und darum: wie die Persönlichkeit, so die Visionen. Ganz unmöglich, daß einem unbedeutenden Menschen eine bedeutende, einem pfiffigen Streber eine poetische Inspiration geschähe. Wenig wahrscheinlich, daß ein dramatischer Dichter in der Vision epische Szenen, ein Epiker dramatische schaue. Und schwerlich wird einem Naturalisten in der Inspiration Zeus erscheinen oder einem Idealisten eine Schnapsgesellschaft.

Und so wird denn einem solchen Dichter, der überhaupt für die freie Erfindung veranlagt ist, schon der Akt der Inspiration die Visionsbilder außerhalb der realen Bedingungen, ‹in der blauen Luft› schwebend zeigen. Was ihm aber die Inspiration gezeigt hat, das ist für den Dichter heiliges Gebot.

Der Inspirationsakt bewirkt dann durch den unauslöschlichen Schönheitsglanz der geschauten Visionsbilder und durch den Nachhall der gespürten seelischen Erschütterung den Entschluß zur Ausführung. Und mit dem Entschluß zur Ausführung beginnt die Tätigkeit des Dichters. Gern oder ungern. Vor großen Werken meist ungern. Denn der Körper, der jahrelange, ruhelose Anstrengung, untermischt mit Überarbeitung ahnt, möchte lieber nicht. Aber einerlei; es handelt sich nicht mehr darum, ob einer will: er muß. Denn die Inspiration, einmal geschehen, beherrscht fortan den Dichter und läßt ihn nicht mehr los, bis das Werk vollendet ist.

Und jetzt, jetzt erst, wenn nach erlittener Inspiration und geschauten Visionsbildern der Entschluß zur Ausführung gefaßt ist, beginnt die Tätigkeit des Dichters. Und zwar darf und soll die Tätigkeit unmittelbar dem Entschlusse folgen. Je früher, je mutiger und energischer, desto besser.

Hier aber nun, am ersten Anfang der eigentlichen Dichtertätigkeit, ergibt sich ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Verfahren, das man bei Stoffen aus der Wirklichkeit anwendet, und dem Verfahren, das man bei Stoffen aus der ‹blauen Luft› einschlagen muß.

Hatte mir der Inspirationsmoment Visionen aus der Wirklichkeitswelt gezeigt, dann kann ich sofort nach dem Entschluß zur Ausführung zu Feder und Tinte greifen und einiges von dem, was mir die Vision gezeigt, in Sprache und Vers ausarbeiten. Die Ausführung bedeutet hier also die Ausarbeitung im Gebiet der Sprache.

Ganz anders bei Stoffen, die in der ‹blauen Luft› schweben. Hier schaltet sich zwischen den Entschluß zur Ausführung und die Ausarbeitung mittels der Sprache noch eine neue, jahrelange, schwierige und angestrengte Tätigkeit ein, bei welcher an Sprache und Vers, Feder und Tinte gar nicht gedacht werden darf. Und zwar ist das die Haupttätigkeit, so daß nachher die sprachliche Ausarbeitung als eine Nebensache, und zwar als eine verhältnismäßig leichte Nebensache verspürt wird.

Was ist das für eine Tätigkeit? Die Tätigkeit besteht darin, daß die Voraussetzungen und Folgerichtigkeiten zu den in der Inspiration geschauten Visionsbildern, welche bei realen Stoffen aus der Wirklichkeitswelt mit Verstand und Willen bezogen werden, hier ebenfalls durch Visionen, nämlich Ergänzungsvisionen, gewonnen werden müssen, also wiederum durch Inspiration und Phantasie.

Drücke ich mich verständlich aus? Ich will sagen: Statt daß wie bei Stoffen aus der Wirklichkeit – mit der Ausführung die wachen Geisteskräfte in Tätigkeit treten, bleibt bei freien Stoffen der Hauptteil der Ausführung im Gebiet des Unbewußten, kann also nicht mit Verstand und Willen, sondern nur auf passivem Wege geschehen. Also geradezu eine passive Tätigkeit, wie sonderbar der Ausdruck schon klingen mag. Die Sprache besitzt übrigens ein Wort für diese passive Tätigkeit: es heißt ‹erfinden›. Jetzt: wie werden die ergänzenden Nachtragsbilder vom Dichter gefunden? Oder mit andern, deutscheren Worten: Wie macht mans, um zu einem freischwebenden Thema das weitere hinzuzuerfinden?

Daß einem überhaupt immerfort Bilder in reicher Fülle zuströmen, dafür ist gesorgt; denn dem Dichter strömen sie ebenso natürlich zu, wo er stehe und gehe, wie dem Denker die Gedanken und dem Musiker die Töne. Das besorgt der Pulsschlag der Seele. Aber daß die Bilder an dem Punkte erscheinen, wo ich sie brauche, und diejenigen Szenen malen, die ich im Auge habe, das ist eine andere Sache. Das scheint zunächst einfach unmöglich, da sich doch bekanntlich die Phantasie nicht befehlen läßt. Und nicht bloß nicht befehlen läßt sich die Phantasie, sie erweist sich geradezu feindselig gegen Willen und Absicht. Eine Tatsache, die wir alle Tage erfahren. Wenn Sie zum Beispiel mit gespanntem Willen absichtlich einen Ihnen sonst geläufigen Namen oder eine bekannte Jahreszahl sich ins Gedächtnis rufen wollen – Gedächtnis und Phantasie sind ja Geschwister –, so gelingt es Ihnen nicht. Sobald Sie jedoch den Namen oder die Zahl nicht mehr wollen, fällt sie Ihnen von selber ein.

Wenn sich aber die Phantasie nicht befehlen läßt, nicht wahr, so scheint kein anderes Mittel gegeben, ergänzende Phantasiebilder zu erhalten, als geduldig zuzuwarten, bis sie gnädig geruhen, von selber zu kommen.

Ich habe in der Tat einst das geglaubt, und dieser Irrtum hat mich manches verlorene Lebensjahr gekostet. Schließlich bin ich durch die Erfahrung eines Besseren belehrt worden: Zwar befehlen, gewiß, kann ich der Phantasie nicht, aber ich kann sie bannen; das heißt, ich kann sie nötigen, mir keine anderen Bilder zu bringen, als solche, welche im nahen Umkreis, im Banngebiet des Themas schweben. Diese Bannung erreiche ich, indem ich mein Thema nach allen Seiten mit dem Gedanken durchkreuze und indem ich mich mit ganzer Seele so tief und so ausschließlich in den Stoff versenke, daß ich ihn im eigentlichsten Sinn des Wortes erlebe. Aus dem Erlebnis keimt dann die Phantasie und quellen die erwünschten Bilder. Nämlich dem Herzen, dem folgt die Phantasie schon. Einer glücklichen Braut erscheinen keine anderen Männergesichter als das eine, und einer angstvollen Mutter kein anderes Antlitz als das ihres fernen Sohnes.

Durch die Bannung ist die Phantasie eingefangen, aber nicht gezähmt. Eine gezähmte Phantasie! Wer möchte das auch! Sie springt noch immer im Zickzack, wie der Rehbock in der Scheune. Es werden mir daher unendlich mehr Bilder links und rechts vom Wege erscheinen als auf dem Wege, und es wird immerhin noch eine lange Zeit verstreichen, eine monatelange oder, noch wahrscheinlicher, eine jahrelange, ehe sämtliche Hauptstationen des Weges durch ergänzende Visionsbilder besetzt und befestigt sind. Da nützt keine Ungeduld, und da schadet nur das Hasten und Drängen. Ich kann der Phantasie ein Nest bereiten und eine Lockspeise hineinlegen; aber ich kann sie nicht zwingen, in das Nest zu kommen, bis sie von selber will. Übrigens: wie könnte man auch hier Ungeduld verspüren? Nämlich die Zeit des Hinzuerfindens ist eine hohe, schöne, andächtige Zeit für den Dichter, eine Zeit voll Weihe und Wonne. Wer eine solche Zeit erlebt hat und im Falle ist, sie aus der Erfahrung mit dem Seelenzustand andersartiger Dichtertätigkeit zu vergleichen, der wird mir beistimmen, daß die freie Erfindung das ureigenste Element der Poesie ist. Im Gegenteil möchte der Dichter, daß diese schöne Zeit der Phantasietätigkeit ewig währte. Und sie würde auch ewig währen, wenn nicht der Entschluß der Ausführung mit strengem Finger mahnte, wenn nicht die Visionsbilder flehentlich bettelten: Erlöse mich zum Leben!

Sie dürfen übrigens bei diesem weihevollen Seelenzustand nicht etwa an das denken, was man Begeisterung nennt. Begeisterung wird verspürt, wenn einer sich aus dem gewöhnlichen Alltagszustand plötzlich in schwindelhafte Höhen gehoben fühlt. Wer aber dauernd hoch oben wohnt, dem vergeht die Begeisterung wie dem Älpler der Schwindel und das Keuchen.

Nein, es ist vielmehr eine stetige ernste Beseelung und Durchseelung. Wenn aber irgend etwas auf Erden den Namen Glück verdient, so ist es das spürbare Wachsen der Seele.

Nachdem der Dichter das seinige getan, das heißt, wenn er um das Thema und durch das Thema hindurch einen solchen Reichtum von leuchtenden Erfindungen geschaffen hat, daß die Handlung wie in einem goldenen Meer schwimmt und untersinkt, dann tritt er von der Szene und hinterläßt den ganzen Reichtum einer anderen Persönlichkeit: dem Künstler. Und er tritt auch fortan nicht wieder auf, es wäre denn, daß er vom Künstler zurückgerufen wird.

II

Betrachten wir nun, was der Künstler zu tun bekommt.

Der Künstler hat nun zunächst die Erbschaft, die ihm der Dichter hinterlassen hat, gläubig und demütig anzunehmen. Er unterstehe sich nicht, den Dichter zu kritisieren oder zu korrigieren. Denn was ihm vom Dichter übergeben wurde, ward durch Visionen gewonnen, und was aus der Vision stammt, ist unantastbar. Nicht einmal Wertunterschiede darf er machen: ob etwas wichtig oder minder wichtig, Hauptsache oder Nebensache sei, geht ihn nichts an. Für den Künstler ist alles wichtig und alles Hauptsache. Ein übermütiger Scherz, den ihm der Dichter übergeben, erheischt von ihm die nämliche Sorgfalt und Mühe, wie die tiefsinnigsten Gedanken oder die erhabenste Poesie. Er darf nicht richten, er darf nur sichten und schlichten. Aber innerhalb des Sichtens und Schlichtens ist er der souveräne Herr, und da hinein darf ihm seinerseits der Dichter nicht dreinreden. Und zu sichten und schlichten gibt es genug.

Der Zustand des Bildersegens, den der Künstler vom Dichter übernommen, ist der: eine Überfülle von lauter Einzelbildern, gleichsam Momentaufnahmen, zwar unter sich verwandt, aber ohne Übergänge und ohne logischen Zusammenhang. Denn die Phantasie schenkt keine Beziehungen. Es gilt also, mit Hilfe der poetischen Logik einen vernünftigen, stetigen Fortschritt der Handlung herzustellen, in gerader Richtung nach dem Ziel. Zu diesem Zwecke faßt der Künstler die Handlung vorn am Kopfe und führt sie mit eiserner Konsequenz durch, links und rechts alles Überflüssige – und das ist wohl Dreiviertel des Ganzen – unbarmherzig beseitigend; wie eine Pflugschar, die durch ein goldenes Kornfeld fahren würde. Das geht eine Weile ohne Anstoß, denn die Pflugschar ist scharf. Dann unversehens stutzt der Lenker, und die Pflugschar steht still. Was ist da geschehen? Es haben sich vielleicht Lücken oder Unbestimmtheiten in der Erfindung gezeigt. In diesem Falle wird der Dichter herbeizitiert und angewiesen, die Lücken zu ergänzen und die Unbestimmtheiten zu klären.

Oder es sind Widersprüche aufgetaucht. Widersprüche kümmern den Dichter nicht, wohl aber den Künstler. Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen. Wenn Sie einen ausführlichen, wunderschönen Traum träumen, so üben Sie, während Sie träumen, keine Kritik an dem Traume. Es genügt Ihnen, daß er sie beseligt. Aber wenn Sie nachher den Traum erzählen wollen, so können Sie es nicht. Warum? Weil die Erzählung Sie zur Logik nötigt und weil der Traum, gezwungen, Logik anzunehmen und Situation zu bekennen, Widersprüche offenbart, die Sie vorher nicht merkten. Ähnlich ergeht es dem Künstler mit den Visionsbildern des Dichters.

Nun lassen sich allerdings in der Regel Widersprüche leicht lösen, indem man sie vor ein strenges Entweder-Oder stellt. In solchen Gebieten der freien Erfindung jedoch, die in überirdischen Regionen schweben, gibt es Widersprüche, bei denen kein Entweder-Oder hilft: nämlich einfach Unmöglichkeiten. Alles ohne Ausnahme, was sich über der irdischen Atmosphäre aufhält, erweist sich als schlechterdings unmöglich, sobald es Situation und Logik bekennen soll. Jeder Mythos, jede Religion enthält versteckte Unmöglichkeiten. Die Aufgabe ist also, Unmöglichkeiten möglich zu machen. Wie macht man das? Vertuschen? Das ist leicht. Allein das ist auch schwächlich, und unter allen Fehlern ist Schwachheit der schlimmste. Nein! Es gibt nur ein Mittel: die Naivität. Der Künstler ruft den Dichter herbei und befiehlt ihm: «Du, da ist eine Unmöglichkeit, die mußt du mir möglich machen.» «Aber das kann man ja nicht.» «Einverstanden. Ein Grund mehr, daß dus kannst. Und zwar sofort; denn das Leben ist kurz. Aufgepaßt! Ich gebe dir fünf Sekunden Zeit. Also ich fange an  ... (Und ja nicht nachdenken!) Eins, zwei  ... Ja, was ist denn das? Siehe da! Wahrhaftig! Es ist ihm schon gelungen!»

Freilich, wie ist es gelungen! So, daß zehntausend Bedenken ein ohrenbetäubendes Geschrei dagegen erheben. Aber das schadet nichts. Laß sie schreien. Der Genießende lächelt zustimmend und ist dankbar für die naive Lösung. Der lauteste Schreier gegen eine naive Lösung ist allemal der Geschmack. Nun, der hätte alle Ursache, sich still zu verhalten. Denn, was der für Elefanten schluckt, ohne eine Miene zu verziehen, wenn eine Autorität kommt! Gestatten Sie mir, über den Geschmack den Spruch eines französischen Schriftstellers zu variieren: «Es steht schlimm um die Zukunft eines Werkes, welches den Zeitgenossen als geschmackvoll vorkommt.»

Es gibt übrigens für den Künstler noch eine weit schwierigere Aufgabe, als Unmöglichkeiten möglich zu machen: die Aufgabe, zwischen zwei oder vier oder sechs Varianten, von denen jede an sich poetischen Ewigkeitswert hat, die Wahl zu treffen. Welche gilt es vorzuziehen? Welche sollen gemordet werden?

Das ist, als ob ein Vater mit sechs Kindern im Schlitten vor Wölfen flüchtete und entscheiden müßte, welche fünf von den sechs Kindern er den Wölfen hinwerfen wolle, damit eines davon gerettet würde. Hier schafft Wahl wirklich Qual. Glücklich, wer einen trefflichen Berater zur Seite hat, der ihm die Entscheidung erleichtert.

Außer dieser Zentralaufgabe, also der Aufgabe des Schlichtens, kommen dem Künstler noch eine Menge anderer Aufgaben, die darum durchaus keine Nebenaufgaben sind. Ich will Ihnen einige davon nennen:

Die klare Gliederung der Erzählung, damit Luft und Licht hineinkommt.

Die Erwägung des Gleichgewichts der Teile, die sogenannte Proportion. Eine Kunst, in welcher bis heute der Musiker den Dichter übertrifft, so daß der Dichter hier beim Musiker – ich meine die klassischen Symphoniker – in die Schule zu gehen hat.

Dann die Frage der Akzentgebung und Beleuchtung. Zu wissen, welche Partien in den Vordergrund, welche zurücktreten sollen. Und, im Zusammenhang damit, der Zweifel, ob ich etwas direkt von mir aus erzählen will oder einem Erzähler in den Mund legen, was einen ganz andern Stilcharakter der Erzählung ergibt.

Dann die Berechnung der Keimkraft des Themas. So wie der Same eines Grases niemals einen Baum hervorbringt, so gibt es poetische Themen, die natürlicher- und vernünftigerweise knapp, andere, die groß ausgeführt werden wollen. Ein Scherz zum Beispiel, nicht wahr, darf keinen großen Raum beanspruchen; eine Schlacht kann nicht in zwanzig Versen abgetan werden. Das versteht sich von selbst; aber es gibt minder exzentrische Beispiele, die sich nicht von selbst verstehen, sondern die man verstehen lernen muß.

Endlich muß er das Nachdunkeln in Rechnung ziehen, genau wie der Maler. Es gibt Eigenschaften eines Werkes, welche beim erstmaligen Lesen entzücken, später aber immer weniger, bis zuletzt gerade um dieser nämlichen Eigenschaften willen, welche anfänglich entzückten, kein Mensch mehr das Buch lesen kann. Der Künstler muß daher während des Arbeitens sich beständig in einen solchen Leser hineindenken, der nach hundert Jahren, nachdem alle Welt das Buch längst kennt, das Werk zum zehntenmal in die Hände nähme. Und aus dieser Perspektive heraus wird er öfters anders arbeiten müssen, als es den Zeitgenossen gefallen würde. Denn die Schätzung der Zeitgenossen und die Schätzung der Nachwelt ist nicht die nämliche, und sehr häufig ist sie eine gegensätzliche. Es gilt also mitunter, geradezu mit allem Fleiß und mit vollem Bewußtsein so zu arbeiten, daß man sein Werk vom Erfolg bei der Gegenwart ausschließt.

Und da sehen Sie wieder, wie viel der Charakter in der Poesie mitzusprechen hat!

Indem ich bei dieser Aufzählung die Worte ‹berechnen› oder ‹erwägen› gebrauchte, so bitte ich, mich nicht falsch zu verstehen. Die Wörter sind ja nicht genau; ich finde bloß keine anderen. In Wirklichkeit geschieht dies alles ja nicht mit dem Verstande, sondern mit den Fühlhörnern. Nur müssen es feine Fühlhörner sein. Und es schadet auch keineswegs, wenn es gescheite Fühlhörner sind. Es herrscht in der deutschen Literatur eine gewisse Gespensterfurcht vor dem Geist in der Poesie, namentlich bei denen, welche weder Geist noch Poesie haben. Ich für meinen Teil fürchte mich nicht. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn mir das Gespenst etwas häufiger begegnete.

Bei aller Gescheitheit, bei der schärfsten Aufmerksamkeit, wird es der Künstler doch nur in seltenen Glücksfällen erzielen, daß es mit einmaliger Arbeit getan ist. In der Regel muß er, kaum fertig, seine Arbeit umarbeiten und, wenn er sie umgearbeitet hat, vielleicht noch ein paarmal umarbeiten. Ich kenne jemand, der gewisse Stücke neunmal umgearbeitet hat. Das muß man deshalb, weil sich die oberste Art von Selbstkritik, die Gedächtniskritik, ihrer Natur nach erst nachträglich einstellt.

Was ist Gedächtniskritik? Gedächtniskritik ist die Nachprüfung einer Erfindung auf ihr Karat, das heißt auf ihren Goldgehalt, auf ihre Leuchtkraft. Wenn schon alles in Ordnung scheint, wenn ich nichts mehr vermisse und nichts mehr zu bessern weiß, wenn jedermann mir bestätigt: «Jetzt ist es gut», so bietet das noch nicht die mindeste Bürgschaft für den Wert des Geschaffenen.

Der Wert wird erst durch das Gedächtnis bewiesen. So zwar, daß die einleuchtendste Arbeit wertlos ist, wenn sie nicht nachleuchtet, und zwar von selber nachleuchtet. Mit andern Worten: wenn es nicht so steht, daß ich mich des Gebildes erinnern muß, ohne daß ich mich erinnern will. Der Künstler kann das Nachdunkeln vorausberechnen, aber das Nachleuchten nicht. Dieses kann er bloß mit der jeweiligen Erfahrung prüfen. Er muß zu diesem Zwecke ein gearbeitetes Stück sich lagern, sich setzen lassen und zu verschiedenen Zeiten wiederholt beobachten, ob es von selber, gern und deutlich und leuchtend auferscheint. Geschieht das nicht, dann zerreißt er ohne Zaudern die ganze Arbeit und zitiert den Dichter herbei, damit er etwas Leuchtenderes an die Stelle setze.

Die nämliche Gedächtniskritik wird später noch einmal vorgenommen werden müssen, dann, wenn das Werk fertig geschrieben dasteht. Allein ein fertig ausgeschriebenes Werk umarbeiten, Hunderte und Tausende von richtigen Versen annullieren, um Hunderte und Tausende anderer an die Stelle zu setzen, das ist schon härter. Man wird es zwar auch tun, wenn es nötig ist, immerhin ist es erwünscht und willkommen, wenn den Hauptteil der Gedächtniskritik der Künstler abnimmt, der noch nicht mit Sprache und Vers, sondern nur mit kurzen Notizen wirtschaftet. Deshalb vollzieht man die größten Umarbeitungen vor der Ausarbeitung in Sprache und Vers.

Wenn Sie nun alles überschauen, was der Künstler zu tun hat, so werden Sie schon erraten, daß das ein recht schwieriges, mühevolles und saures Geschäft ist. Und in der Tat, wer in diesem Stadium den Dichter besucht, wird wahrscheinlich ein elendes Seufzen und Stöhnen vernehmen. Es gibt Stunden, wo man die Kuh auf der Weide beneidet.

Indessen jeder, der angestrengt an einer schwierigen Aufgabe arbeitet, kennt diese Kuh auf der Weide; doch würde er im Ernstfall schwerlich mit ihr tauschen. Und schließlich, ob mühsam oder nicht, das ist ganz gleichgültig. Es soll geschehen, folglich geschiehts.

III

Nehmen wir nun wieder an, der Künstler habe sein schwieriges Geschäft im reinen – was dann? Nun, dann ist, ohne daß noch eine Zeile dasteht, eigentlich das Werk fertig. Der es geschaffen hat, bedürfte für sich kaum weiteres. Nicht wahr: wenn Sie eine vergangene schöne Zeit im Herzen vorüberziehen lassen, spüren Sie kein Bedürfnis, sie in Verse zu setzen? Allein wenn es sich darum handelt, das Erlebnis andern mitzuteilen – und beim Dichter handelt es sich darum –, so muß man sich schon nach einem geeigneten Mittel zur Mitteilung umsehen.

Welches ist nun das geeignete Mittel, um ein im Herzen des Dichters fertiges Kunstwerk andern mitzuteilen?

Die Antwort ist jedem geläufig: «Nun einfach: natürlich die Sprache.» Ja, ist das wirklich so natürlich? Fragen Sie doch einmal einen Maler, ob er es natürlich finden würde, wenn er das Bild, das ihm vorschwebt, mit Tinte und Grammatik wiedergeben müßte? Die Visionsbilder des Dichters aber sind von den Visionsbildern des Malers nicht wesentlich verschieden. Es hat seinen tiefen Grund, daß so viele Dichter anfänglich zwischen dem Malerberuf und dem Dichterberuf schwankten.

Nein, die Sprache ist nicht ein natürliches, sondern ein widernatürliches, ganz abscheuliches Mittel, um poetische Bildvorgänge zu erzählen, dessen man sich nur deshalb bedient, weil die übrigen Mittel versagen, indem sie unverständlich wären. Das natürlichste Mittel wäre: die Psychographie, eine Kunst, welche das, was des Dichters Seele schaut, photographierte. Solch eine Kunst gibt es leider nicht. Oder eine Kette von Illustrationen ohne Text über einen Text, der gar nicht existiert? Das geht auch nicht, ginge selbst dann nicht, wenn der Dichter zu illustrieren verstünde, was er übrigens nicht versteht.

Oder andeutende Sinnbilder? Hieroglyphen? Verschieden gefärbte Bausteine? Ich habe schon daran gedacht. Aber das geht wieder nicht. Mit Rätseln und Rebus läßt sich nichts verdeutlichen, und das Publikum würde wohl verwunderte Augen aufsperren. Nichts zu machen. Es bleibt nur die Sprache übrig. Kein gutes Mittel, aber das einzige.

Also jetzt muß der dritte Bruder ans Werk: der Schriftsteller. Und wissen Sie, wie der aussieht? Genau wie ein Schulbub. Ja, es ist mein voller Ernst. Ich habe die feste Überzeugung: Es ist besser, wenn der Schriftsteller nicht wie ein selbstbewußter Meister aussieht, sondern wie ein Schulbub, der da fürchtet, er könne es nicht.

Und jetzt entwickelt sich zwischen dem Dichter und Künstler einerseits und dem Schriftsteller anderseits folgendes Gespräch: «Da! Hier ist ein fertiges Bildwerk, übersetz das in Sprache! Nichts weiter als übersetzen! Nur Linie für Linie genau mit Worten nachzeichnen!»

Der Schriftsteller zieht ein bedenkliches Gesicht. «Ja, in was für eine Sprache soll ich es denn übersetzen? Hoffentlich nicht etwa in Verse?»

«Selbstverständlich in Verse! Oder meinst du, meine Adler wollten auf dem Bauche kriechen? Und zwar in gereimten Versen, damit es leuchtet und lächelt.»

«Ja, und sollten es gute Verse sein?»

«Niemand verlangt von dir Virtuosenverse; die wünschten wir nicht einmal. Aber natürlich müssen die Verse recht sein. Oder möchtest du vielleicht lieber pfuschen?»

«Eigentlich, offen gestanden, möchte ich lieber pfuschen. Wenn das nur nicht ein so schmutziges Geschäft wäre! Man bekommt dabei so ekelhafte, degradierende Gefühle.»

«Drum also: Pfusche nicht, auf daß du deine Gefühle nicht beschmutzest.»

«Und was für Verse sollens denn sein? Vierfüßige? Fünffüßige? Sechsfüßige?»

«Fang nur einmal an. Du wirst dann schon selbst merken, wievielfüßige. Wenn ich dir aber einen Rat geben darf, so nimm einen geräumigen Vers; denn große Schwünge bedürfen Platz.»

Nach diesen Worten ziehen sich der Dichter und der Künstler zurück. Und der Schriftsteller begibt sich an die Arbeit, zaudernd und weinerlich; immer genau wie ein Schulbub. Eines immerhin macht er doch anders als ein Schulbub. Er gießt nicht etwa frische Tinte ins Glas, er nimmt nicht eine neue Feder, er legt kein schönes spiegelblankes weißes Papier auf den Tisch, er schreibt keinen Titel und sagt sich nicht feierlich: «So, jetzt kommt der große, wichtige Moment, wo ich anfange!» – sondern er tut von dem allem das Gegenteil.

Er wartet, bis ihn niemand sieht, gebärdet sich, als fange er nicht an, sucht sich sogar selbst darüber zu täuschen: «Nicht anfangen! Bewahre! Nur so vorläufig zum Versücheln!»

Und schreibt ganz nachlässig auf den nächsten herumliegenden alten Papierfetzen ein paar Worte. Warum fängt er so verhohlen an? Weil der einfältige Bursch abergläubisch ist. Er meint wahrhaftig, sein Werk würde mißlingen, wenn er es feierlich mit neuen Instrumenten, in schönem Material begänne. Spotten wir nicht allzu sehr über die Einfalt! Versuchen Sies einmal! Wer weiß? Vielleicht hat er recht. Auch wäre es gar nicht so schwer, in dem Aberglauben eine gute Vernunft zu entdecken: die Vernunft, daß Arbeitsernst sich nicht mit Parade verträgt.

Hernach bleibt es eine Zeitlang still. Offenbar schreibt der Schriftsteller. Allmählich fängt er an, fröhlich zu lachen und zu singen.

«Was freut dich so?»

«Das ist ja die leichteste Sache der Welt! Gute Leute, die ich gar nicht einmal kenne, haben mir einen Sprachkübel neben den Schreibtisch gestellt. Da brauche ich nur hineinzugreifen und herauszuholen, was ich gerade brauche.»

«Gerade so meinen wirs auch.»

Andere Male freilich ertönt Flennen und Klagegewinsel: «Ich kann nicht! Ich mag mich drehen, wie ich will, keine zwei Verse bringe ich zustande.»

Dann springt der Dichter zornig herbei und stößt den Schriftsteller vom Stuhl: «Ich verstehe zwar von Versen gar nichts, aber das Heulen kann ich nicht länger anhören!» Gesagt, packt fäustlings die Feder und wirft einfach seine Persönlichkeit in den Vers. Unterdessen steht der Schriftsteller kleinlaut daneben und guckt mit aufmerksamen, klugen Augen zu. «Ach so! So macht man das?» Und künftig, wenn ihm etwas nicht geraten will, heult er nicht mehr, sondern ruft den Dichter: «Bitte, komm! Wirf wieder deine Persönlichkeit in den Vers.» Und also fort. Bis die letzte Linie in Worte übersetzt ist.

So dichtet man aus der ‹blauen Luft›. Mit Hilfe von drei Brüdern, die einander in die Hände arbeiten, die aber ganz verschiedenen Charakter und getrennte, andersartige Aufgaben haben. Und ich halte es für ersprießlich, wenn von den drei Brüdern jeder seine Sache möglichst selbständig besorgt. Jetzt, wenn mein Ohr mich nicht täuscht, höre ich manchen von Ihnen zu sich selber sagen: «Gott sei Dank, daß ichs nicht muß. Lieber er als ich!» Allerdings, wenn wir nicht müßten, wer weiß, ob wirs täten!

Indessen Mitleidskandidaten sind wir doch nicht! Kinder, nicht wahr, verursachen auch Arbeit, Mühe und Sorgen? Verwünschen wir sie etwa darum? Und wenn sie krank sind, wird uns keine Aufopferung zu schwer. «Wenn sie nur leben! Wenn sie nur wieder gesund sind!»

Nun: einem Dichter sind seine Werke, sind die einzelnen Gestalten seiner Werke so teuer wie Kinder. Er liebt sie. Und wenn er hoffen darf, daß sie leben und daß sie gesund sind, so ist er für seine viele Arbeit reichlich entschädigt.

 

Von der poetischen Erfindung

Wie ist sie im Preis gesunken, die poetische Erfindung, in der Wertschätzung der deutschen Nation! Man muß sich nachgerade beinahe schämen, zu gestehen, daß man ein Motiv selber erfunden und nicht von einem Vordichter entlehnt habe! Das fing, wie jeder landläufige Irrtum, mit einer guten, köstlichen Wahrheit an. Wir bemerkten, wie ein Märchenstoff, ein Novellenstoff, den wir lange als unser oder unsrer Nachbarn Eigentum betrachtet hatten, uns aus indischen oder kleinasiatischen Quellen zugeströmt gekommen ist, ohne durch die Wanderung zu verlieren. Wir begriffen, daß ein Dramatiker nicht verpflichtet werden kann, die Fabel seines Dramas aus sich selber zu beziehen, sondern daß es ihm erlaubt ist, sie von andern her zu nehmen, einerlei von wem, sei es von einem Novellisten, oder einem verstaubten geschichtlichen Anekdotenbuch, oder auch von einer Zeitungsnotiz; ja, daß ihm das nicht bloß erlaubt ist, sondern daß es rätlich und empfehlungswert ist, wenn er das tut und seine Kraft, anstatt sie an die Erfindung zu verschwenden, die niemand von ihm begehrt, für seine eigene Aufgabe spart. Wir haben endlich eingesehen, daß im ganzen Gebiet der Kunst Anlehnungen und Entlehnungen beiläufig vorkommen und von jedem, selbst dem Größten, nicht verschmäht werden, ohne daß man deswegen über Mangel an Originalität und Erfindungskraft oder gar über Plagiat zu zetern braucht.

Das also ist alles schön und gut, denn es ist wahr; und ferne sei es von mir, etwas dagegen einwenden zu wollen. Allein irgend einmal mußten doch jene Allerweltsstoffe, die eine Nation der andern überliefert hat und von denen wir heute sämtlich zehren, erfunden worden sein; von den Vögeln sind sie uns nicht offenbart worden. Und derjenige oder diejenigen, die sie einst erfanden, haben sich um die Menschheit verdient gemacht, indem sie unvergängliche Werte schufen. Und eben das ist die Rechtfertigung und zugleich der Ruhm der poetischen Erfindung: sie – und sie allein – schafft neue poetische Phantasiewerte. Und um dieser Fähigkeit willen wird eben doch die poetische Erfindung, mag sie auch zeitweilig noch so sehr in Mißkredit fallen, ewig der höchste Gipfel der Dichtkunst bleiben. Freilich, dieser höchste Gipfel ist wenigen erreichbar, so wenigen, daß ich geneigt bin, jeden, dem die Neuschöpfung eines großen unvergänglichen poetischen Stoffes gelingt, schon um dieses einzigen Symptomes willen für einen großen Dichter zu halten. Man schmähe oder bemängle mir zum Beispiel Euripides noch so scharfsinnig, ich denke daran, daß ihm die Welt das Iphigenienthema und das Medeathema verdankt, und schließe daraus: Euripides war trotz allem ein Dichter allerersten Ranges.

 

Verkehrte Welt!

Werfen wir einen Blick über unsere gesamte heutige Kunstübung, so finden wir: Die Malerei und Plastik strebt nach Poesie, inspiriert sich durch die Phantasie, füllt sich mit Gedanken, spricht symbolisch, macht sich mit Mythologie, Personifikation, Allegorie zu schaffen. Die Musik, soviel sie nur irgend kann, auch; ja sogar viel mehr, als sie nur irgend kann. Dagegen die Poesie soll sich einzig und allein mit der Wirklichkeit abgeben, soll nicht aus der Gegenwart, nicht über den Erdboden hinaus dürfen, soll ihrem natürlichen Inhalt, der Phantasie und dem Gedanken, und ihrem natürlichen Ausdrucksmittel, der rhythmischen Sprache, entsagen. Prosa mit aufgeblasenen symbolischen Titeln, die zum Inhalte passen wie die Flagge auf ein Modderschiff, sei ihr Ziel. Alle Künste mögen und dürfen dichten, einzig die Dichtkunst soll nicht dichten.

Dergleichen läßt mich an der überlegenen Gescheitheit unseres Zeitalters zweifeln, trotz – oder vielleicht gerade wegen seiner stupenden literarischen Weisheit.

Nun möchte ich beileibe nicht meiner lieben Freundin, der Malerei, das Dichten verargen. Nur meine ich, die Poesie, die den Maler schmückt, möchte auch dem Dichter nicht so übel anstehen. Und warum die Malerei durchaus ein Monopol auf Kentauren haben sollte, das vermag ich nicht einzusehen. Hat sie etwa ein Patent? Hat sie die griechische Mythologie gepachtet?

Welcher Kunst ist denn die freie Erfindung eigentümlich und wesentlich? Ich denke der Dichtkunst. Die Sprache sagt: ‹etwas erdichten›, und nicht: ‹etwas abdichten›. Dagegen der Malerei gehört die freie Erfindung nur leihweise an. Die Sprache sagt nicht: ‹etwas erzeichnen und ermalen›, sondern: ‹etwas abzeichnen und abmalen›.

 

Traum und Poesie

Eine Verwandtschaft von Traum und Poesie läßt sich nicht bestreiten. Innige Träume werden von den Patienten stets als Poesie empfunden, mit ähnlichen Nachwirkungen auf den Gemütszustand und die seelische Vorstellung; auch sind ja die Dichter meist, ja ich darf wohl sagen immer zugleich starke Träumer, im eigentlichen Sinne des Wortes: Schlafträumer, so gewiß, daß die Abwesenheit dieses Vermögens (Lessing) als ein Verdachtsmoment gegen die ursprüngliche poetische Begabung gelten darf.

Anderseits kann die Verwandtschaft nicht diejenige einer unmittelbaren Abstammung sein, wie zwischen Erzeuger und Erzeugtem, zwischen Ursache und Wirkung, so etwa, daß sich aus Traumvisionen Kunstwerke ausspinnen ließen, wie aus den Inspirationsvisionen im wachen Zustande. Hierüber ist die deutsche Ästhetik im reinen. Selbst die Traumepisoden der Gedichte wollen erfunden, nicht erschlafen sein.

Indessen, da doch immerhin eine auffallende Verwandtschaft besteht, sollte wirklich nie und nimmer oder sollte ausnahmsweise auf untern Stufen doch etwa einmal ein Traumbild auf eine Arbeit einwirken können und dürfen?

Ich meine folgende Wahrheit zu sehen:

Ein Traum kann unter Umständen einmal eine gewisse notwendige Konsequenzkühnheit entfesseln, wenn diese bei wachem Zustande durch Bedenken gebunden wurde. Er öffnet in diesem Falle dem allzu fest geballten Willen die Faust, so daß jetzt dasjenige Phantasiebild frei entspringt, welches darin gefangen lag. Ferner kann der Traum auch einige kritische Bedeutung erlangen, indem er sich weigert, solche Szenen, denen die erforderliche Einfachheit und Anschaulichkeit mangelt, dem Unbewußten vor das Auge der Seele zu stellen. Kurz, der Traum kann nicht dichten, im höhern, meisterlichen Sinn, wohl aber etwa einmal schlichten.

Das ist wohl ziemlich alles, und das ist nicht viel. Es ist sogar sehr wenig, so wenig, daß für die Praxis die ernste Warnung, ja nicht Traum und Inspiration auf die nämliche Wertstufe zu stellen, weit wichtiger ist als der Hinweis auf die Möglichkeit einer in seltenen Fällen stattfindenden geringen Förderung der Poesie durch den Traum. Wenn ich trotzdem hier auf diese Möglichkeit hinwies, so geschah es aus reinem Tatsacheninteresse oder, wie soll ich es nennen, aus Beobachtungssinn, mit der Meinung, daß alles, was das verborgene Spiel der Seele betrifft, der Aufmerksamkeit wert sei.

 

Unberührbare Stoffe

Man soll im allgemeinen, soweit bin ich mit aller Welt einverstanden, von keinem Stoffe aussagen, er sei unmöglich, er enthalte in seinem Kern so große Schwierigkeiten oder so tiefgreifende Widersprüche, daß die Bezwingung selbst dem Größten nicht gelingen könne.

Selbst die bedenklichsten und schwierigsten, an denen bisher noch jeder Schiffbruch gelitten, selbst die trügerischen, welche die Phantasie anlocken, um den Unvorsichtigen, der sich ihnen ergibt, nach mühseliger Arbeit höhnisch ins Nichts zurückzustoßen, sind nicht zum voraus zum Mißlingen verdammt. Ich warne zwar vor einem Konradin, vor jedem Kaiser Heinrich, vor einem Armin, vor einem Karl dem Kühnen, weil der Vorwurf undramatisch ist, allein ein Shakespeare, der aus dem noch viel undramatischeren Heinrich VIII. ein Meisterwerk herausschlug, hätte auch einen Konradin oder Armin mit dichterischem Atem beseelt. Ich warne ferner vor einem utopischen Merlin, der einem nichts als den Namen bietet und keine Topographie und Plastik verträgt, ich warne vor dem Ewigen Juden, welcher mit seinem semitischen Gesicht und seinem urchristlichen Taufschein zu dem pantheistischen Pathos, das der Dichter mit ihm will, in Widerspruch gerät, ich warne vor einem Rattenfänger von Hameln, weil das Geschichtlein zu blödsinnig ist – aber: ein Name genügt der Poesie zur Decke, um darunter zu nisten; der Ewige Jude, trotz seiner anekdotenhaften Geburt und seiner jüdischen Nase, steht zur kosmischen Poesie in keinem schlimmern Mißverhältnis als der mittelalterliche Faust mit seinem alchimistischen Hokuspokus; der Rattenfänger von Hameln – nein, der ist zu dumm, den gebe ich auf, der kann nur unter der Bedingung gelingen, daß man am Stoff vorbeidichtet.

Also, es soll zu Recht und Regel bestehen bleiben: es gibt keine unmöglichen Stoffe.

Aber es gibt von den Musen verdammte Stoffe; Stoffe, vor denen der Ernst, die Wahrheit und die Schönheit Wache stehen, um demjenigen, der grübelnd darum herumtastet, zuzurufen: Menschlein der Neuzeit, laß deine Finger davon, oder ich verfluche dich. Diese Stoffe werden und müssen jedem mißlingen, er heiße, wie er wolle.

Ich will die beiden hauptsächlichsten und bekanntesten nennen: Nausikaa und Salome.

Die Nausikaaszene in Homer, an sich von ganz eigentümlichem, beispiellosem Schönheitszauber, haben wir Neuzeitler überdies mit besonderer Vorliebe vor andern schönen Szenen ausgezeichnet. «Homer weiß selber nicht, wie schön diese Szene ist», urteilt Jacob Burckhardt. Burckhardt hat recht: Homer konnte unmöglich voraussehen, daß einmal ein Zeitalter kommen werde, welches in diese episodische Szene sich geradezu verlieben würde; ihm war das große Finale der Odyssee ungleich wichtiger, und der Nausikaaszene gönnte er genau so viel Raum und Akzent, wie sie erträgt, und nicht eine Zeile, nicht ein Gefühl mehr. Und gerade in der Schlichtheit der Erzählung, in der Keuschheit der Empfindungen liegt der Reiz der homerischen Nausikaaszene. Nun glaubt der moderne Dichter, in dem Stoff einen köstlichen seelischen Gehalt zu wittern, den Homer zwar, das gibt er gnädig zu, wahrscheinlich auch spürte, den er aber nicht ausschöpfen durfte; folglich will er ihn jetzt ausschöpfen. Das Unterfangen, die Andeutungen eines Epikers gründlicher auszudichten, ist keineswegs grundsätzlich verwerflich, die griechischen Tragiker haben ja ähnlich gehandelt; Shakespeare ebenfalls; Schiller hat eine andere homerische Szene mit Glück lyrisch auf diese Weise nachgedichtet; es gibt sogar Szenen bei Homer, die zur Ausschöpfung geradezu einladen, weil sie Gedankentiefe unter der Oberfläche verbergen, zum Beispiel die Szenen der Kirke. Es fragt sich bloß: Gehört die Nausikaaszene zu jenen, die sich ausschöpfen lassen? Und da antworte ich mit einem entschiedenen Nein. Zunächst erträgt diese Szene gar keinen Akzent; sobald man ihr Gewicht und Bedeutung zulegen will, geht ihr Duft verloren. Ferner ist in ihr gar nichts enthalten, das sich ausschöpfen ließe, gar kein psychologisches Geheimnis, kein großes, starkes Gefühl, geschweige eine Leidenschaft; der Reiz der Szene beruht ganz auf epischen Werten: Bildschönheit, Lieblichkeit des äußern Hergangs, Phantasieglanz (in den Gärten und Palästen des Alkinoos), Kontrastwirkung und so weiter. Um daraus etwas zu holen, muß mans erst hineinlegen. Nun ist zwar auch das nachträgliche Hineinlegen in einen Stoff durchaus nicht an sich vom Übel. Neuzeitliche Dichter haben in Medea, in Iphigenia, in Achilles, in Penthesilea ihre eigene Psychologie hineingelegt und aus dieser willkürlichen Verbindung des Eigenen mit dem Fremden Köstliches gewonnen. Es fragt sich aber, ob in einem bestimmten Fall die übernommenen Personen das Einlegen moderner Motive vertragen; ferner fragt es sich, was man hier einlegt, Gold oder Unrat. Was legt nun der moderne Dichter in das Nausikaathema hinein, wenn er es behandeln will? Eine heimliche Liebe von Nausikaa zu Odysseus. Das aber wirkt geradezu als Gift für diesen Stoff; ein Gift, das nicht allein dem homerischen Nausikaathema alle Schönheit raubt, sondern überdies noch Lüge an Stelle der Wahrheit und Kleinheit an Stelle der Größe setzt. Wie wahr ist es, wenn Homer die Nausikaa sehnsüchtig seufzen läßt: «O daß doch auch mir einmal vom Schicksal ein ähnlicher Mann zum Gatten beschieden würde.» Wie klein, wie verlogen dagegen das Bestreben, unsre alberne romantische und theatralische Heldenvergötzung, die da meint oder wenigstens vorgibt, jedes weibliche Wesen müsse einem Helden anheimfallen, in die edlen und einfachen Figuren des homerischen Zeitalters hineinzuschwärzen. Wer der Nausikaa eine heimliche Liebe zu Odysseus anlügt, degradiert den Odysseus zu einem Opernhelden und die Nausikaa zu einer Romanfigur. Wer er auch sei, sein Werk ist zum voraus verdammt, denn er hat sich mit der Hineinfälschung einer Verliebtheit der Nausikaa von vornherein gegen die Wahrheit versündigt. Und auch gegen die Poesie. Denn die Poesie der Nausikaagestalt fußt just auf ihrer Einfachheit und Keuschheit, die eine Herzensregung für den fremden Mann gänzlich ausschließt.

Das Salomethema ist von dem der Nausikaa so verschieden als nur möglich, aber die Fälschung, die wir ihm zufügen, ist die nämliche. Wir haben im Salomethema einen echt poetischen Stoff, der an Schönheit und Größe seinesgleichen sucht. Dreifache psychologische Probleme, von denen jedes zur Ausschöpfung reizt und der Ausschöpfung wert ist, dazu eine ergreifende Tragik der Handlung, endlich einen welthistorischen, ebenso ernsten wie wahren Ideenkern: den ewigen Haß zwischen dem Weib und dem Propheten. Wenn daher ein Dichter mit diesem Stoffe so verfährt wie Shakespeare mit seinen Stoffen, der einfach die Geschichte annahm, wie sie ihm vorlag, um sie durch seelische Vertiefung zu erklären und zu beleben, so kann etwas Großes daraus werden. Wenn wir dagegen ein perverses Gelüstchen der Salome zu Johannes hineinfälschen, so bringen wir das Thema um seine Größe und um seine Wahrheit. Eine Salome, die, ob auch wider Willen, von der Seelengröße des Johannes im Herzen bezwungen wird, ist etwas so ungeheuerlich Verlogenes, daß nur ein durch Opern und Romanpsychologie verdrehtes Geschlecht so etwas schlucken kann. Man denke doch: die Tochter eines regierenden Fürsten, und mit ihrem Herzen einem plebejischen Revolutionär huldigend, der sich nicht kämmt, der überdies ihre Mutter tödlich beleidigt hat! Dergleichen mag für eine Oper gut genug sein, die Muse der Poesie wirft es verächtlich zum Plunder.

Und überhaupt: die Gewohnheit, altüberlieferte herrliche Motive mit der Schreibfeder statt mit dem Herzen zu genießen, die Sucht, über antike Poesie Paprikasauce oder Rosenwasser zu schütten, um sie für uns verdaulich zu machen, die Voraussetzung, die schönsten Stellen der größten Dichter der Vergangenheit wären nur der Rohstoff und warteten auf die stümpernde Bearbeitung des ersten besten pfiffigen Modernen!

Es gibt nun einmal, glücklicherweise, in der Weltliteratur Stellen, die so vollendet schön gediehen sind, daß es da nichts zu ändern und zu bessern, zu grübeln, auszuschöpfen und umzudichten gibt; Stellen, von denen es einfach heißt: die Hände weg!

 

Die künstlerische Entwertung eines dichterischen Themas

Es kommt vor, und sogar häufig vor, daß ein dichterisches Thema um einen Teil seines ursprünglichen Wertes erleichtert werden muß, um künstlerisch brauchbar zu sein.

Das gewöhnlichste, alltägliche Beispiel hiervon ist die Entwertung durch Verkleinerung der Kunstform. Was ursprünglich als Tragödie oder Epos oder weltumstürzendes Universalwerk gemeint war, will nie gelingen; später macht man eine Ballade daraus, und sie gelingt. Keinem Dichter ist es erspart, einige seiner Stoffe nur unter dieser Bedingung, also unter der Bedingung der Verkleinerung der Kunstform, zu retten. Es braucht natürlich schwerer Entsagung und meist langjähriger Brachlegung des Stoffes, ehe sich einer zu dieser Entwertung versteht. Aber sie wird belohnt, denn die ‹Ruinengedichte›, wie ich sie nenne, gelingen immer. Faust ist ein Ruinengedicht, die meisten Novellen von Conrad Ferdinand Meyer sind Ruinengedichte, nämlich einst geplante und zusammengebrochene Dramen.

Dann die Verkürzung. Wer ein groß angelegtes Werk schafft, dem ist die Verkürzung die erste und oberste Aufgabe seiner Tagesordnung. Die dichterische Phantasie schafft ja ungleich mehr, als der Künstler brauchen und das Kunstwerk tragen kann. Hier müssen also herzhafte Schnitte ins Fleisch gemacht werden, mit geschlossenen Augen, und zwar immer und wieder. Wer das nicht vermag, wird nie ein groß angelegtes Kunstwerk in richtigen Proportionen vollenden können.

Dem Epiker im besondern drängt sich ferner die wichtige und sorgenvolle Aufgabe auf, zu entscheiden, ob, was er erzählen will, direkt erzählt oder einem Berichterstatter in den Mund gelegt werden soll. Geschieht das letztere, so entsteht eine Entwertung durch die mittelbare Darstellung. Diese ist mitunter unbedingt nötig, dann nämlich, wenn die Erzählung nicht in den Vordergrund gehört, und wenn es vorteilhafter ist, summarisch zusammenzudrängen. Die direkte Darstellung verpflichtet ja zur Anschaulichkeit und zur Ausführung. Wann diese wünschbar ist, wann nicht, das ist die schwere Sorge.

Ein weiteres Beispiel der Entwertung, ebenfalls aus der Werkstatt des Epikers: Damit ein Stoff für den Epiker handlich werde, muß er seines Tiefsinns entledigt werden; denn das Epos braucht zwar einen tiefsinnigen Hintergrund, kann jedoch nicht eine tiefsinnige Handlung vorführen, außer wenn es sich um eines jener inkommensurablen Werke handelt, deren jeder nur eines dichtet und die man zwar nicht meiden möchte, die aber nicht den Typus des Epos tragen. Hier entsteht also eine Entwertung des Inhalts durch Frivolisierung. Homer hat solchermaßen frivolisiert, das Nibelungenlied nicht minder. Was da ursprünglich für kosmischer Tiefsinn in den Göttern und Halbgöttern und Helden gesteckt hatte, das vermag und braucht der Leser nicht zu sehn, bloß die Gelehrsamkeit kann dem nachspüren. Doch diese Dinge gehören zum innersten Wesen des Epos und sind wert, einmal besonders betrachtet zu werden.

Endlich eine seltene und verhältnismäßig unwichtige, aber ganz merkwürdige Entwertung, die mir über der Arbeit erst aufgefallen ist, nachdem ich sie naiverweise schon vollzogen hatte: die Entwertung durch die Verneinung. Es kann vorkommen, daß ich eine möglichst kurze Erscheinung einer Gestalt an irgendeiner Stelle brauche, daß aber auch die kleinste Einführung dieser Gestalt an dieser Stelle zu viel Raum beansprucht und eine zu starke Aufmerksamkeit des Lesers bewirkt, daß, mit einem Wort, ein zu wichtiger Akzent darauf fällt. Diesem Übelstand entgeht man dadurch, daß man die Gestalt in die Verneinung setzt. Ich sage: «Die Gestalt war nicht da»; so sieht sie der Leser flüchtig und beseitigt sie sofort wieder. Und gerade das brauchte ich. Ähnlich wenn ich sage: «Kein Vogel sang im Walde», so ist das etwas andres, als wenn ich überhaupt gar nichts vom Vogelsang sage. Der Leser hört da die Vögel, die nicht singen.

Das sind so kleine Merkwürdigkeiten, die zwar der Schaffende nicht zu merken nötig hat, die aber, wenn er sie ob dem Schaffen zufällig bemerkt, seinen Verstand zu unterhalten vermögen, als ein Spielchen aus der seelischen Naturgeschichte. Auch braucht niemand zu befürchten, dergleichen neugierige Beobachtungen des Verstandes über die eigene Schulter hinweg auf den Vorgang der unbewußten Arbeit könnten die schöpferische Naivität beeinträchtigen. Diese ist längst mit der Arbeit fertig, ehe jener nachgeguckt hat. Und überhaupt steht ja das Bewußte mit dem Unbewußten beim Künstler immer im besten Einvernehmen, so daß keins dem andern schadet, sondern vielmehr jedes dem andern geschwisterlich beisteht. Habe ich nicht irgendwo schon einmal behauptet, der raffinierteste Verstand und die naivste Schöpferkraft könnten gar wohl in einem und demselben Gehirnhause friedlich zusammenwohnen? Wenn ich das nicht schon einmal behauptet habe, so behaupte ichs jetzt.

 

Das Thema vom Glück in der Dichtung

Immer und immer wieder unterliegen die Dichter, und zwar die echten am ehesten, der Versuchung, einmal das reine sonnige Glück zum Hauptvorwurf einer Dichtung zu wählen. Und immer und immer wieder ergibt sich statt des ersehnten goldenen Reichtums: Niedlichkeit, Spiel, Süßlichkeit; bei etwelcher Ausführlichkeit: Einförmigkeit und Öde, mithin Unlesbarkeit. Anders angeschaut und ausgedrückt: es will und kann nicht gelingen, das Zufriedenheitsgedicht, also das Idyll, in höhere Gebiete und in größere Formen zu erheben.

Warum nun nicht? Warum sollte ein Zustand, den die dichtende Seele ersehnt, der nämliche Zustand, der, in der Vergangenheits- oder Zukunftsform geschildert, ergreifende Poesie ersten Ranges zeugt, nicht wert und fähig sein, dem Dichter als Hauptgegenstand zu dienen?

Sachliche Gründe, wie man sie hiefür hat angeben wollen: Ernst des Daseins, Kampfespflicht, Unwahrheit des Glückes auf Erden und dergleichen, halten der Prüfung nicht Stich, da der Maler, welcher doch auf der nämlichen Erde wohnt, dem Glücksthema die allerherrlichsten Triumphe verdankt, wie vornehmlich die venezianische Schule beweist. Angenommen also und auch zugegeben, das Glück wäre hienieden bloß als seltene Insel zu finden, so ist damit noch nicht erklärt, warum die Dichter nicht die Insel hervorsuchen und ex professo schildern sollten.

Der Grund ist vielmehr rein formaler Natur: Die Dichtkunst wirkt ja mit Handlung, oder zum mindesten mit Bewegung; das Glück aber besagt einen Zustand, Zustand aber ist das Gegenteil von Handlung oder Bewegung. Darum kann das Glück bloß berichtet, etwa zur Not auch probeweis in einer einzelnen Ausschnittsszene vor Augen gestellt, nicht aber ex professo, als oberstes Ziel eines größeren Werkes mit organischer, planvoller Arbeit gefaßt werden, darum erledigte Homer das Kalypso- und Kirke-Idyll in wenigen Zeilen, darum behandeln die italienischen Epiker das schönheitsfunkelnde Motiv der Alcinen und Armiden nur episodisch und gegensätzlich, darum endet der typische Liebesroman mit dem Augenblicke, da die Handlung abschließt und der Zustand beginnt, mit der Hochzeit.

Was der Gedanke errät und die Literaturgeschichte lehrt, bestätigt die tägliche Erfahrung. Nehmen wir den Fall, und der Fall ereignet sich wohl häufiger, als man vermuten sollte, ein Dichter nehme sich wirklich vor, in einem großangelegten Werke die Glückspunkte, die ihm ja gleich dem Maler in der Konzeption als Glanzpunkte vorschweben, nun auch zugleich als Hauptpunkte anzustreben, also ihnen ungeschmälerten Raum und vollen Akzent zu gönnen. Was geschieht? Vor allem werden, während der Handlungsteil des geplanten Werkes sich kraft der inneren Logik gerne zu natürlichen Gruppen aufbaut, die Glücks- und Glanzteile ungeordnet in chaotischem Gefunkel liegen bleiben, ohne der Phantasie einen Keimkern, ohne dem Geist ein Vorn oder Hinten darzuweisen. Schreitet er dann zur Ausführung, so wird er gewahr, daß zur Bearbeitung des Glanzteiles ganz andere, und zwar minderwertige Aufgaben an ihn herantreten als zur Bearbeitung der Handlung und Bewegung, nämlich die rhetorisch-poetische Aufgabe der Beschreibung, in welcher statt der Gestaltungskunst die Redekunst das Gesetz vorschreibt. Je mehr aber einer Dichter ist, desto unwilliger wird er sich dieser untergeordneten und fremden Aufgabe unterziehen. Endlich, wenn beides getan ist und der Verfasser auf seine Arbeit prüfend zurückblickt, nicht mit den Augen, sondern mit der Phantasie natürlich, siehe, da taucht die gestaltete Handlung groß und einfach im Gedächtnis auf, während die ausgefertigten Zustandsszenen trotz aller Arbeit noch so flach und chaotisch vor der Erinnerung glitzern wie zuvor. Denn was nicht phantasierbar ist, ist auch nicht erinnerbar. Die goldenen Zustandsszenen bilden jetzt glänzende Flecken im Gedicht, mit einem Wort: sie sind Fehler, sie können in solcher Ausdehnung nicht geduldet werden.

Nehmen wir nun den weitern Fall, und dieser Fall tritt unter solchen und ähnlichen Umständen bei jedem gewissenhaften Künstler ein, der Dichter beginne an der Hand der gewonnenen Einsicht von neuem, diesmal mit dem bestimmten Willen, die Handlung unerbittlich überzuordnen und nur so viel von dem Sonnengolde zu geben, als jene erlauben wird. Dann kommt es unabwendbar dahin, daß die Handlung alles andere bis auf den letzten Rest auffrißt, so daß der Dichter schließlich froh sein muß, wenn er für das, was er anfänglich als Hauptsache bringen wollte, einige Zeilen oder, wenns hoch kommt, eine Episode erübrigen kann. Diese werden dann freilich um so besser gelingen und um so prächtiger funkeln. Das Exempel ist also auch durch die Umdrehung bewiesen.

Etwas ganz anderes ist der Glückseindruck, den ein Kunstwerk auf den Genießenden macht. Dieser Eindruck ist unabhängig von der Stimmungsfarbe der dargestellten Dinge und beruht auf anderen Faktoren. Die Ilias, die Odyssee, der Rasende Roland zum Beispiel machen den Eindruck des Glückes, obschon in der Ilias und im Roland Eingeweide und Köpfe nur so umherfliegen, was gewiß an sich nicht Glück bedeutet, und obschon die Odyssee eine recht schwarze Weltanschauung bekennt und die Helden darin beständig heulen und greinen wie die Klageweiber. Was hier und überall an der Kunst den Eindruck des Glückes bewirkt, das ist die Lebensfülle, die Lebenskraft und der Lebensmut der Handlung, die Phantasielust, der Reichtum der Geschehnisse und so weiter, und nicht zum wenigsten auch die vielseitige Kunst des Dichters. Reichtum und Gestaltungskraft des Dichters, verbunden mit Größe und Fülle des Stoffes: das ist der einzige Weg zu einem glückstrahlenden Werk. Ein Umweg allerdings. Allein einen direkten abkürzenden Fußweg zum Glück gibt es für den Dichter nicht.

 

Fleiß und Eingebung

Zur Psychologie des dichterischen Schaffens

Die Unentbehrlichkeit energischer Arbeit nach der Eingebung braucht nicht mehr bewiesen zu werden, da nur Kinder und Kindeskinder heutzutage noch glauben, Kunstwerke kämen einem fertig in die Feder geflogen. Ich möchte jedoch hier darauf aufmerksam machen, daß der Fleiß auch als Vorarbeiter und Bahnbrecher der Inspiration eine wichtige Rolle spielt, daß der alte Rat, die Stimmung oder die Eingebung abzuwarten, besser durch den entgegengesetzten, die Stimmung und Eingebung zu ertrotzen oder anzulocken, verdrängt werde.

Ich muß freilich sofort gewichtige Vorbehalte zur Verhütung von Mißdeutungen aussprechen. Hervorragendes Dichtertalent bildet natürlich die unerläßliche Voraussetzung; denn wo solches fehlt, weiß ich überhaupt bloß eine einzige zweckmäßige Schaffensregel: aufzuhören. Ferner bezieht sich der Wert des Fleißes als einer Vorarbeit gewiß nicht auf den Entwurf eines Werkes, da gerade hier die Eingebung und der Grad ihres Wertes alles entscheiden, so daß nicht einmal die bewunderungswürdigste Kunst bezügliche Mängel oder Lücken zu ersetzen vermag. Wer ohne genügenden Phantasiezwang an die Arbeit schreitet, ist mit dem betreffenden Werk rettungslos verloren. Die Ureingebung stammt, wie jedermann weiß, aus Seelengegenden, die den Kräften des Verstandes, des Willens und des Geistes weit überlegen sind, und Vorarbeiten gibt es nur mittelbare und passive: vom Leben tüchtig geschüttelt zu werden. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, indem ich die erste Eingebung, wie gewaltig sie auch sei, für unzulänglich halte, wie es denn die Jugend hauptsächlich darin versieht, daß sie unmittelbar nach einem begeisterten Entwurf an die Arbeit schreitet. Vielmehr sind, ehe ein Plan für arbeitsreif kann erachtet werden, noch eine ganze Menge ergänzender Konzeptionen untergeordneten Ranges notwendig, und zwar, grundsätzlich gesprochen, für jede Szene eine besondere, bis eine fortlaufende Kette von Bildern unabwendbar vor der Phantasie bestehen bleibt; dann erst ist das Werk vor den Anfang angelangt; dann aber pflegt es auch den Patienten derart zu beunruhigen, daß es ihn zur Arbeit zwingt, ob er möge oder nicht. Weil nun jene Untereingebungen sich ebensowenig befehlen lassen wie die oberste Konzeption – jeder gewaltsame Versuch führt zu einer unheilvollen Fälschung –, sieht sich der Dichter öfters, ja meistens gezwungen, seine wertvollen Pläne jahrzehntelang in den unbewußten Gründen der Seele träumen und keimen zu lassen, bis sich verwandte Untereingebungen in genügender Zahl und Fülle von selbst angesetzt haben. Wer zu früh beginnt, beraubt bei aller Kunst den Stoff seiner schönsten Erträgnisse. Darum bildet die Sorge um die Erkenntnis des Reifezustandes eines Planes eine der größten Nöte des Künstlers.

Nachdem jedoch einmal die Arbeit in Angriff genommen worden ist, hat der ganze Mensch mit angespanntester Tätigkeit seiner gesamten Geisteskräfte, den Verstand voran, sich mit dem Werke zu befassen und vor dem Schlusse nicht zu ruhen. Ich halte Unterbrechungen, behagliches Versuchen oder längeres Wählen während der Ausarbeitung nicht für ersprießlich. Hier gebührt, wie ich glaube, dem Fleiß ein höheres Recht, als man ihm einzuräumen pflegt. Bei weitläufig veranlagten Plänen nämlich wird selbst bei der besten Vorbereitung, trotz aller Kühnheit des Willens und aller Echtheit der Begeisterung, trotz zahlreichen Augenblickseinfällen sich über kurz oder lang plötzlich ein schlimmer Haken ergeben, sei es, daß eine bisher unbemerkte Schwierigkeit aus einer Falte des Stoffes an den Tag kriecht, sei es, daß Körper und Stimmung nach monatelanger Anspannung den Dienst versagen, sei es, daß man durch unabweisbare Ansprüche des äußeren Lebens abgehalten und aus dem Zusammenhang gerissen wurde, wonach sich der frühere Schaffenshochmut nicht in dem nämlichen Grade wieder einstellen will. In solchen Fällen nun nachzugeben und die Rückkehr von Lust und Stimmung abzuwarten, halte ich für nicht richtig, obschon dieses Verfahren von berühmten Dichtern geübt und empfohlen worden ist. Das Verfahren ist allerdings vorsichtig und sicher, allein es ist nicht groß; hätten die Musiker des vorigen Jahrhunderts und die Maler des fünfzehnten Jahrhunderts nach diesem Grundsatz gehandelt, so würden wir um die Hälfte ihrer Werke verkürzt worden sein. Ließe sich nicht eine ähnliche schnelle Treffsicherheit in der Ausarbeitung ebenfalls beim Dichter denken? Ich wage es zu glauben und zu hoffen. Wenn mich aber meine Hoffnung nicht täuscht, dann kann einmal unter günstigen Umständen die Welt das Schauspiel von Dichtern erleben, welche die Fruchtbarkeit der großen Maler und Musiker erreichen, das heißt das bisherige Maß dichterischer Produktion um das Dreifache übertreffen; denn was die fortlaufende Reihe der Werke unterbricht, ist weder der Mangel an vorrätigen Inspirationen ersten Ranges – große Künstler haben stets das Magazingewehr voller Patronen –, noch die nötige Reifefrist – es geht wie bei den Orangen: sie reifen zwar langsam, aber es befinden sich immer einige reife im Busch –, sondern einesteils das Ringen um die Kunstform, andernteils das Zaudern und Wählen in der Ausarbeit. Das erstere kann einem durch rechtzeitige Geburt in einem bevorzugten Zeitalter erspart werden, wo man feste Kunstformen bereits vorfindet, das zweite ist Sache der Energie, welche freilich nicht den hygienischen Regeln Niemeyers entspricht.

Meine Meinung lautet mithin: nach Beginn der Arbeit dürfe man weder auf die jeweilige Stimmung Rücksicht nehmen, noch vor irgendeiner Schwierigkeit abbiegen, noch überhaupt sich irgendeine Pause gestatten, sondern die Vollendung kurzerhand erzwingen. Ist dies jedoch möglich und, wenn möglich, nützlich? Die Kürze soll mich nicht hindern, diese Frage deutlich zu beantworten. Die Eingebung, obwohl sie stets überraschend und ungerufen eintrifft, ist gleichwohl von dem Gedanken nicht so unabhängig, wie man gewöhnlich annimmt; im Gegenteil dient die Denkarbeit dazu, die Phantasie mit befruchtenden Elementen zu füllen, aus welchen sich eines unvorhergesehenen Augenblicks das Visionsbild entladet wie der Blitz aus der schwangeren Atmosphäre. Die Arbeit ist also eine Blitzanleiterin oder, um ein Bild zu gebrauchen, ein Pflug, der allerlei gute schlummernde Dinge aufrührt, welche unter der Einwirkung der ewig tätigen Phantasie im Flug aufleuchten. Die Tatsache, daß während oder unmittelbar nach einer kräftigen Arbeit die schöpferische Phantasie in größerem Maße sich gegenwärtig und willig zeigt als im träumerischen Ruhezustande, wird schwerlich ein Künstler bestreiten; ferner lehrt die Erfahrung, daß neue Eingebungen um so reicher zuströmen, je kräftiger ein Künstler die alten Eingebungen erledigte, je fleißiger er sein Lebtag arbeitete, folglich muß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arbeit und Eingebung walten.

Nun wird zwar ohne jeden Zweifel die Eingebung nicht an der Stelle erfolgen, wo ich sie begehre und brauche, und der Versuch, mit dem Willen und dem fleißigen Denken eine Schwierigkeit erfreulich zu überwinden oder eine bestimmte Lücke der Phantasie schön auszufüllen, wird ganz gewiß mißlingen. Dennoch werde ich gegebenenfalls die Arbeit mit ganzer Kraft leisten, weil sich während derselben Visionen einstellen werden, die einem andern Teil des Werkes zugute kommen, an welchen ich augenblicklich gar nicht denke. Ich glaube nämlich, folgendes Gesetz der Visionsphänomene bestimmen zu können. Niemals taucht eine Vision an demjenigen Punkt auf, nach welchem der Schaffende die Aufmerksamkeit gerichtet hat, wohl aber rückwärts und vorwärts auf der Bahn des Werkes, und zwar in einer Menge, welche der Energie der Arbeit proportional ist. Ich nenne das für meinen Hausgebrauch das Gesetz der ricochetierenden Phantasie. Die Arbeit breitet Fangnetze aus, in welchen eines schönen Morgens die Visionen zappeln. Aus diesem Grunde unternehme ich unbedenklich bei der wüstesten Stimmung die Arbeit. Denn was ist Stimmung? Nervensache; die künstlerische Phantasie aber ist nicht Nervensache, sondern eine heilige Sache. Eine schöne und wahre Legende läßt den Dichter von der Muse ungerufen besuchen. Allein noch schöner und wahrer ist es, wenn der Dichter den Besuch erwidert und sich nicht davon abschrecken läßt, daß er die Muse einmal nicht zu Hause trifft. Oder, prosaisch gesprochen: In einem guten Stoff liegt die Kunststimmung stets enthalten; wer mithin die Nervenstimmung überwindet, findet jene sicher, sobald er sich wieder in den Stoff eingelebt hat.

Vollends darin würde sich einer schwer irren, wenn er einen Rat der Eingebung in solchen Schwierigkeiten erwartete und abwartete, welche die Komposition betreffen, wenn er also zum Beispiel vor scheinbar unentwirrbaren Verwickelungen oder vor der Nötigung einer Auswahl zwischen anscheinend gleichwertigen Motiven das Werk bis auf weiteres beiseite legte. Diese Dinge liegen nämlich außerhalb des Bereichs des Unbewußten. Es gibt keine komplizierten Visionen. Visionen sind stets einfach, absolut; sie können nicht entwirren, sondern und trennen, wählen, ordnen und sammeln; sie können weder Beziehungen erfinden, noch Erläuterungen hinzufügen; sie erstrecken sich niemals über die Grenzen einer einzigen räumlich klar umrissenen Szene hinaus und vermögen zeitlich oder räumlich Getrenntes nicht zusammenzufassen, ja, wenn wir genau beobachten, erscheinen sogar Personen und Sachgruppen innerhalb eines Zeit- und Ortrahmens nur dann der Vision zugänglich, wenn dieselben leicht übersichtlich vereinigt sind. Es muß demnach mittels der Gedanken- und Willensarbeit das kompositorische Hindernis zuvor insoweit überwunden werden, daß allereinfachste räumliche und zeitliche Verhältnisse vorliegen, ehe man von der Eingebung ein poetisches Bild erwarten darf. Freilich, während man das erstere tut, wird meistens schon die Phantasie in die frischgeschaffene Klarheit so begierig herbeigesprungen kommen, wie ein Kaninchen in eine duftende Salatkiste.

Soweit meine bescheidenen persönlichen Erfahrungen. Da ich jedoch nicht über private Naturgesetze verfüge, vermute ich, es werde anderswo ähnlich zugehen.

 

Tempo und Energie des dichterischen Schaffens

Aus übereinstimmenden Abhandlungen wie Gelegenheitskritiken geht hervor, daß heutzutage in Deutschland durchschnittlich dem Dichter das Zuwarten und Pausieren, also das Schaffen und Veröffentlichen in längeren Zwischenräumen zur Tugend angerechnet wird. Als Protest gegen die landläufige Fabrikarbeit, welche jährlich ein- oder zweimal ihren Roman und ihr Theaterstück zusammenschrotet, mag dieses Urteil völlig am Platze sein, was ich um so williger zugebe, als ich ebenfalls den lebhaftesten Abscheu gegen jenen literarischen Müllerfleiß verspüre.

Leider ist es der Fluch alexandrinischer Zeitalter, daß jede ästhetische Wahrheit so lange durch den Mund der Weisheit gezogen wird, bis sie schließlich infektiös wirkt. Wird überdies der Spruch noch durch das Wort oder das Beispiel von Autoritäten unterstützt, dann dankt meist der Gedanke ab, so daß korrigierende oder ergänzende Tatsachen überhaupt nicht mehr erwogen werden.

So scheint mir denn gegenwärtig die Gefahr im Anzuge, daß deshalb, weil zufällig einer oder der andere der neueren Großen einem haushälterischen, vorsichtigen Schaffen huldigten, der frische Mut und der Reichtum den Nachkommenden zum Vorwurf gedreht werde. Das hat allerdings keinen vernünftigen Zusammenhang, indessen lehrt die Erfahrung, daß Verschiedenes gleicherweise gleichzeitig zu schätzen die Kräfte eines theoretisch urteilenden Geschlechtes übersteigt. Die Gefahr ist nahe, und ich erlaube mir zu ihrer Abwendung an einige Tatsachen aus dem Gebiet der künstlerischen Physiologie zu erinnern.

Reichbegabte, geniale Naturen sind zu allen Zeiten fruchtbar und im höchsten Grade schaffenslustig, falls sie nicht durch besondere Hindernisse gehemmt werden, deren es freilich eine Unzahl gibt, unter andern das Ringen nach neuen Kunstformen, in dem Falle, daß die ererbten sich überlebt haben. Ist hingegen alles im reinen, außen und innen, dann produzieren die Großen mit erstaunlichem, oft geradezu fieberhaftem Eifer. Die Beispiele aus der Geschichte der Musik und der bildenden Künste stehen jedermann vor Augen; es hegt kein Grund vor, warum es in der Dichtkunst, wenn sie sichere Formen vorfindet, anders zugehen sollte. Auch kennt Deutschland, wenn ich nicht irre, einen Klassiker ersten Ranges, dem das ununterbrochene, willensgewaltige Schaffen bis zum letzten Atemzuge nicht zum Schaden gereicht hat – ich meine Schiller.

Ästhetische Probleme wollen überhaupt mit feinen Fingern untersucht werden; mit Schlagwörtern und Autoritäten schlägt man die Fragen tot, was schwerlich lebenzeugend wirken wird. Es gibt Kunstformen, denen das Kaltstellen, Überarbeiten und Nachfeilen wohlbekommt, andere, welche in einem Wurf fertig gemacht werden wollen. Es gibt ferner solche, in welchen die guten Dinge mit Fühlfäden gesogen sein wollen, und ihnen gegenüber wieder solche, die man hastig aus dem Grund wühlen muß, wie der Stier den Rasen mit den Hörnern aufwühlt. Es gibt sogar einen verschiedenen Grad von Reife, in welcher diese oder jene Frucht genossen werden soll. Einige kann man nicht lange genug am Baum hängen lassen, andere muß man einem kräftigen, aber kurz dauernden Sonnenschein aussetzen. So ist zum Beispiel längst erkannt worden, daß großangelegte Werke nicht mit jener Miniatursorgfalt, ich möchte sagen Fließpapiersorgfalt nachbehandelt werden wollen wie eine Elegie oder ein Lied. Auch hat noch kein Verständiger je dem Dramatiker die regelmäßige Intervallarbeit, den jährlichen Ertrag seiner Ernte zum Vorwurf gemacht. Eine Tatsache, die für sich allein genügen müßte, die Theorie zu widerlegen, gegen welche ich hier ankämpfe, wenn überhaupt jemals sich eine Theorie durch Tatsachen überzeugen ließe. Neben den Unterschieden des Arbeitsgebietes müssen auch die Unterschiede der schaffenden Individualitäten erwogen werden, und zwar in erster Linie Unterschiede in der Begabungsart und Unterschiede im Temperament. Was die Begabung betrifft, so liefert die Natur, selbst wenn wir nur die höchste Urbegabung, also das Genie, ins Auge fassen, ungleiche Sorten hinsichtlich der Sprungkraft und Quellfülle. Neben Hungerbrünnlein, die nur nach Gewittern fließen, neben sprunghaften Teufelsbrunnen, die plötzlich in dichten Wogen kommen und wunderbar verschwinden, neben mondgerechten ruhigen Tiefwassern, die säuberlich mit Ebbe und Flut wechseln, spendet die Natur unter anderen auch Strom- und Wiesengenies, welche so überreich mit Saft und Samen geladen sind, daß ihnen jeder Atemzug zur Produktion wird, bei Strafe des Erstickens im Unterlassungsfall. Die sollen sich nun wahrscheinlich einem ästhetischen Modedogma zulieb ihren gesegneten Mund schließen? Oder wollen ihnen die drei weisen Jungfern der Nacht gewaltsam ein Papagenoschloß vorlegen? Offen gestanden, wer in der Kunst über das Zuviel des Schönen klagt, dessen Schönheitssinn ist mir verdächtig.

Das Temperament betreffend, so gelangen wir hiermit in das wichtige Reich der Persönlichkeit.

Es gibt beschauliche, zufriedene, innige Phantasiemenschen, welche sich schmunzelnd unter einen blühenden Weidenbusch setzen, die Angel zwischen den Knien, und nun mit halbgeschlossenen Lidern geduldig abwarten, bis die Goldfische anbeißen, tagelang, wochenlang, einerlei. Diese werden mit ausgesucht feinen Bissen auf den Markt kommen, aber selten. Es gibt aber auch frische, mutige Phantasiemänner, welche in raschem Boot mitten in die hohe See hinaussegeln, die Nase im Morgenwind, die Forellen in dichten Scharen ins Netz scheuchend und die Hechte spießend, daß es rundum spritzt. Daß man jene liebt, begreife ich: ich liebe sie trotz einem. Aber wenn man mir nun um jener willen diese verunehren möchte, so soll doch das Wetter drein fahren.

Wenn denn schon einmal abgemessen werden soll, welches von beiden Temperamenten das edlere sei, das beschauliche oder das energische – es sollte zwar besser nicht abgemessen werden –, dann muß vielmehr dem willenskräftigen Temperament der Vorzug zugesprochen werden. Was ich durch drei Exempel beweisen will, zwei logische und ein zoologisches. Dem willensstarken Dichter steht das beschauliche Sinnen in den Energiepausen frei; nicht aber dem beschaulichen Dichter der Aufschwung zu nachhaltiger Energie. Wenn man den wegen ihrer seligen Beschaulichkeit beneideten Dichtern am Lebensabend durch das Schlafzimmerfenster guckt, so hört man sie über ihre unselige Faulheit seufzen. Es gibt nicht bloß Fische, sondern es gibt auch Vierfüßler und Vögel. Von diesen lassen sich manche in allerlei Schlingen und Fallen fangen, manche aber müssen auf dem Anstand im Flug heruntergeknallt werden, mit scharfem Blick und schneller Hand, manchen muß man sogar zu Pferde unermüdlich nachsetzen, bis sie sich schließlich ergeben. «Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen.» Ich bitte nicht zu übersehen: selber hat er freilich nicht gejagt, aber sein Jagdhund hats ihm apportiert, und er hat ihn gestreichelt, als ers ihm aus dem Maul nahm. Endlich das Wichtigste. Wie wollen Sie, bitte, das kostbare Wild, die Adler und dergleichen, in Ihre Gewalt bekommen, wenn nicht mit angespannter Energie? Da kann einer lange mit feinen klugen Dichteraugen auf der Lauer sitzen, die kommen nicht herab, nicht einmal auf Gesichtsweite, geschweige denn auf Schußweite. Denen muß man mutig nachklettern, auf Gletscherhöhe, unter Schwitzen und Seufzen, bis einem die reine Höhenluft die Schultern badet und der ersehnte Vogel plötzlich über dem Kopf schreit.

 

Eine literarische Zweifelsfrage

Unter uns Basler Studenten ging einst die Mär um, Professor Wilhelm Wackernagel und Professor Jacob Burckhardt urteilten in einer nicht unwichtigen literarischen Frage entgegengesetzt. Burckhardt, hieß es, behauptet, der Dichter sollte jedes seiner Werke erst in Prosa verfassen, ehe er es in Verse setzt, während Wackernagel den sofortigen Eintritt in die Versform befürwortet. Welcher Rat ist nun der richtige? Wir vermochten uns über die Entscheidung nicht zu einigen; es fehlte uns eben die Erfahrung. Heute, nach langjähriger Erfahrung, habe ich über diese Zweifelsfrage eine bestimmte Meinung erworben, nämlich diese:

Wackernagels Befürwortung des unmittelbaren Eintritts in die Versform entspricht der überlieferten Ansicht; sie gründet sich auf den allen Völkern und Zeitaltern gemeinsamen Glauben an die Eingebung. Es ‹kommen› dem Dichter die Bilder, die Worte, die Reime und so weiter. Wenn sie einem aber schon gekommen sind, hat man natürlich nicht nötig, einen Umweg zu machen, um nach ihnen zu suchen. Sie entspricht auch der Übung und der Überzeugung der Dichter. Es ist noch nie einem Lyriker eingefallen, ein Lied erst in Prosa zu verfassen.

Burckhardts Meinung ist als Warnung zu verstehen. Seine Warnung stammt aus der Beobachtung, daß die Versform der Unklarheit und Unwahrheit Vorschub leistet, daß sie die Gedankenlosigkeit und Inhaltlosigkeit verschleiert, daß sie Verführungsgefahren enthält, indem ein Dichter, wenn er nicht sehr auf seiner Hut ist, sich von Rhythmus, Versgesang und Reimklang hinreißen läßt, Abwege einzuschlagen oder weitschweifig, redselig zu werden, kurz, mit dem Text dem Ton nachzulaufen. Diese Gefahr besteht wirklich, die Warnung ist also berechtigt. Burckhardts Ansicht kann sich ferner auf eine merkwürdige Tatsache stützen: groß angelegte poetische Kunstwerke, die ursprünglich in Prosa verfaßt worden waren, gelingen überraschend leicht und vornehmlich gut, wenn der Verfasser sie nachträglich in die Versform übersetzt. Das ist verwunderlich, kaum glaublich, schwer erklärlich, allein die Literaturgeschichte bezeugt es. Hiermit scheint denn Burckhardts Ansicht als die richtigere bewiesen, sein Rat empfehlenswert und beherzigungswert zu sein.

Und doch ist das nicht der Fall. Gewiß sollte man es eigentlich, aber man soll nicht, was man eigentlich sollte. Man soll es deshalb nicht, weil, was logisch richtig wäre, organisch unnatürlich sein würde. Die poetische Phantasie steigt eben keine Stufen, sie fliegt. Der Flug aber überfliegt die Stufen. Die poetische Phantasie ist am Ziele, ehe sie dazu das Recht hat. Ob ein Dichter schon wollte, es wäre ihm ganz unmöglich, ein Kunstwerk, von dem er voraus weiß, daß er es in Versen verfassen wird, zuerst fein säuberlich in Prosa auszuführen. Wenn er das kann, ist er kein Dichter. Es geht wie mit dem Denken. Eigentlich sollten wir ja logisch denken; aber noch kein vernünftiger Gedanke ist auf logischem Wege entstanden; der gescheite Gedanke blitzt auf, längst bevor die verständige Weisheit ihren methodischen Syllogismus ausgerechnet hat.

Darum lautet meine Beantwortung der Zweifelsfrage: Eigentlich hat Burckhardt recht, man sollte wirklich seine Werke zuerst in Prosa schreiben; und es ist als ein Vorteil, als ein Glück zu betrachten, wenn das naiverweise geschieht, ich meine, ohne daß der Verfasser an die Möglichkeit der Versform denkt. Hingegen absichtlich so etwas zu unternehmen und durchzuführen, wäre eine Ungeheuerlichkeit, eine Sünde wider den poetischen Geist: eine Pedanterie. Es genügt, sich die wohlberechtigte Warnung vor den Verführungstücken der Versform vor Augen zu halten.

 

Ausführende Arbeit

Nachdem der Dichter sein Werk getan, der Architekt den Stoff dieses Werkes erwogen, ermessen, geordnet und verteilt hat, darf sich der ausführende Künstler, jener, den die Sprache und der Vers angeht, nicht mehr erlauben, Wertunterschiede zwischen den einzelnen Abschnitten seiner Arbeit aufzustellen, also Hauptsache und Nebensachen zu unterscheiden, dem einen Teil mehr Fleiß und größere Willensanspannung zu widmen als dem andern. Sondern ihm muß alles gleich wert und gleich wichtig sein; er muß die Übergänge ebenso sorgfältig ausarbeiten wie die entscheidenden Szenen; er hat überhaupt gar nichts weiteres zu räsonieren, als an jedem Punkte seine Sache recht zu machen, das heißt so zu machen, wie der Dichter und der Architekt es ihm vorgezeichnet hatten. Wer sich bei der Ausführung von scheinbar unwichtigen Stellen damit tröstet, daß die wichtigsten Stellen im reinen seien, und darum eine vermeintlich unwichtige Stelle leichthin abfertigt, der arbeitet nicht als Künstler, sondern er pfuscht. Es kostet allerdings mitunter große Überwindung, ‹Nebensächlichem›, wenn es nicht auf den ersten Wurf gelingen will, Mühe und Sorge zu weihen, allein es muß geschehen; wer sein eigenes Werk nicht so liebzuhaben vermag, daß er ihm Vollendung auch in den beschatteten und unbetonten Partien gönnt, der lasse es nur getrost ungeschrieben, es ist nichts daran verloren.

Ärgerlich ist nun das, daß sehr oft, ja sogar gewöhnlich, ‹Nebensachen› mehr Schwierigkeiten bereiten, also tieferen Kummer verursachen, als die ‹Hauptsachen›. Da aber jedes Nichtgelingenwollen Trauer und Niedergeschlagenheit bringt, so kann es vorkommen, daß derselbe Mensch, nachdem er als Dichter eine Szene voll jubelnden Übermuts jauchzend und spielend geschaffen, später, wenn es an die Ausführung geht, wegen dieser nämlichen jubelnden Szene wie ein armer Tropf von Schulbub vor dem Examen angstvoll umherschleicht. Denn noch einmal: eine scherzhafte Episode kann den, der künstlerisch, also gewissenhaft ausarbeitet, ebenso schwer mit Gram belasten wie die stolzeste pathetische Hauptszene.

Von alledem weiß der Lyriker nichts und braucht nichts davon zu wissen. Und das ist einer der Gründe, warum die Lyrik so vielen, ein großes Werk dagegen so wenigen gelingt, weil die Lyrik einfach ein Selbst, ein groß angelegtes Werk aber außer dem Selbst noch die Selbstüberwindung erheischt.

 

Ergänzungs- und Zusatzpoesie

Eine merkwürdige Tatsache liegt vor, welche nach der landläufigen Vorstellung von Poesie eigentlich unmöglich sein sollte: Es kann gelingen, und zwar vortrefflich gelingen, zu einem behandelten poetischen Thema Gedichte über dasselbe Thema nachträglich hinzuzuschaffen, als Zusatz und Ergänzung. Die Tatsache ist unbestreitbar; alle zyklische Poesie gründet sich auf diese Tatsache; bei dieser findet der Dichter zuerst nur einige wenige Gedichte, dann später, als Folge und Ergänzung, ihrer mehr; und keineswegs sind die ersten immer die besten, mitunter sind sogar die letzten besser als die ersten. Jeder wird sich aus der Kunstgeschichte einiger Beispiele hiefür erinnern; ich erinnere mich zunächst der Mendelssohnschen «Lieder ohne Worte». Auch wäre es ja ganz unmöglich, groß angelegte Werke erfreulich zu leisten, wenn nicht die menschliche Phantasie imstande wäre, nachträglich und zusätzlich ebenso Wertvolles zu schaffen wie das ursprünglich Geschaffene. Die Nachtrags-, Zusatz-, Ergänzungs- und Überleitungsaufgaben ergeben sich bei einem groß angelegten Werke auf Schritt und Tritt.

Die Erklärung dieser auffallenden Erscheinung ist folgende: In der Menschenseele liegt eine Unmenge von dichterischem Rohstoff (erlebte Anschauungen, erlittene Gefühle und so weiter) unter der Kruste verborgen. ‹Unter der Kruste›, das will sagen: unbewußt, halb vergessen, halb verschmerzt, halb vernarbt. Ein glückliches poetisches Thema nun durchschlägt die Kruste, findet den Weg zu diesem Schatz und fördert etwas davon empor. Zunächst nur weniges, denn die Leitung ist schmal. Später drängt sich mehreres durch den einmal gefundenen Weg nach, eins das andre an der Hand ziehend. Gewiß, darin hat die landläufige Ansicht recht, man kann nicht holen, was nicht schon da ist; aber man kann, wie beim Erdbeerlesen, wenn man ein paar Erdbeeren blindlings gefunden hat, das verbergende Strauchwerk wegbiegen und nachsehen, ob nicht in der Nähe noch mehr da sind. Und siehe da, eine ungeahnte Menge kommt zum Vorschein.

 

Poesie und Dichtkunst

Wenn ein Mensch den Gedanken zustandegebracht hat, daß Poesie und Dichtkunst nicht das nämliche ist, daß es eine Poesie auch außerhalb des Verses, sogar außerhalb der Literatur gibt und leider auch eine Dichtkunst ohne Poesie, so pflegt er ein so gescheites Gesicht zu ziehen, daß man merkt: das ist so ziemlich das Höchste an Weisheit, was er mit aller Geistesanstrengung zu erschwingen vermag. Er sagt auch wirklich mit dieser Unterscheidung eine große und wichtige Wahrheit aus, überdies eine Wahrheit, die festzustellen einst dringend nötig gewesen ist – im achtzehnten Jahrhundert, als Deutschland gleich dem übrigen Europa noch in der Meinung befangen war, Poesie wäre eine Sache der Sprache und Dichtkunst eine Sache der formalen Meisterschaft im Reiche der Sprache.

Wer aber heutzutage diese Unterscheidung hervorhebt, meint nicht nur das; er meint im stillen Herzensgrunde, die Dichtkunst beeinträchtige die Poesie, die wahre Poesie müsse außerhalb der Dichtkunst gesucht werden und der echte Dichter sei jener, der keine Verse mache. Daß dieses heutzutage die Meinung, und zwar die herrschende Meinung ist, dafür erleben wir täglich tausend Beweise. Nicht nur, daß im gegenwärtigen Deutschland mit dem Behagen des überlegenen Besserwissens jeder, aber auch jeder prosaische Erzähler des Dichternamens teilhaftig wird, und sei er der denkbar nüchternste, nicht nur, daß, wer Verse schreibt, schon um dieser Tatsache willen verdächtig erscheint, nicht die wahre Poesie zu besitzen, wir tauschen geradezu das Verhältnis um, erheben einen Philosophen um einiger poetischer Züge willen in den Rang der Dichter und sprechen einem Schiller, weil er etwas philosophisch infiziert ist, rundweg die Dichterqualität ab. Immer leitet unser Urteil der Grundsatz: Wer dichtet, beweist hiermit, daß er kein echter Dichter ist, denn ein echter Dichter ist nur, wer nicht dichtet. Dieses Axiom herrscht nicht bewußterweise, wenigstens nicht eingestandenerweise, aber es herrscht mit der Sicherheit des Instinkts. Es gibt indessen auch mutige Denker, welche den Satz, nach welchem jedermann uneingestandenerweise urteilt, offen eingestehen. Einer der schärfsten und ehrlichsten Denker, welche Deutschland besitzt, Mauthner, der brave Wahrheitszeuge, der ebenso gründliche wie beschränkte Goethekenner, spricht es geradezu aus: schon das bloße Wort ‹Dichtkunst› sei ihm zuwider; nach seiner Meinung sollte es gar keine Dichtkunst geben, ‹Dichtkunst› erinnere ihn immer an Gottsched. Mauthners Gedächtnis ist lückenhaft; denn ‹Dichtkunst› hätte ihn neben Gottsched auch an Goethe, Shakespeare und Sophokles erinnern können. Oder meint er, «Tasso» und «Iphigenie», «König Lear» und «König Ödipus» wären einzig poetische und nicht zugleich Dichtkunst-Werke? Glaubt er, zu ihrer Vollendung habe es keiner Sorge, Mühe und Arbeit, keines Willensentschlusses, keiner Überlegung, keines bewußten Planes bedurft?

Wenn man mit der üblichen Verachtung der Dichtkunst weiterfährt, wenn man Poesie überall sucht, mit einziger Ausnahme der Dichtung, so wird man folgerichtig schließlich in abenteuerliche Gegenden gelangen. Fragen wir einmal versuchsweise an: «Stehen Sie mir Rede, hochweise Kritiker! Sie sagen, nicht wahr: ‹Poesie ist manchmal außerhalb von Vers und Reim, außerhalb der Dichtung, sogar außerhalb jeder Literatur echter anzutreffen als innerhalb?›» «Gewiß.» «Gut. Zum Beispiel eine edelmütige Handlung, ein kernhafter Charakter, eine erblühende Jugend, eine Blume, überhaupt das ganze Leben, Tod und Vergänglichkeit und so weiter, ist das nicht echte Poesie, höhere Poesie sogar als alle Dichtkunst?» «In gewissem Sinne ja.» «Aha, Sie beginnen zu stutzen. Doch fahren wir weiter: Eine Amsel, welche mit eigener Lebensgefahr sich lahm stellt, um die Katze von dem Neste abzulocken, ist das nicht echte Poesie?» «Das jedenfalls.» «Und ist das Entstehen und Werden, das Gebären der Mutter unter tausend Schmerzen nicht auch tiefe, echte, ernste Poesie?» «Ohne Zweifel.» «Gut, so werde ich Ihnen morgen eine gebärende Kuh als Rezensionsexemplar auf Ihren Schreibtisch laden lassen. Sie glauben, ich spaße? Nein, ich denke sehr ernsthaft; und wenn ich mir erlauben darf, Ihnen einen Rat zu erteilen: denken Sie doch auch einmal ernsthaft darüber nach, warum es der Menschheit mit der latenten Poesie, die einen im Leben überall umgibt, nicht getan ist, warum sie noch einer besonderen Poesie bedarf, welche man Dichtung nennt. Und wenn Sie dann einmal so weit sind, mache ich mich anheischig, Ihnen zu zeigen, daß Dichtkunst keine Papierfabrik ist, wie Sie zu glauben scheinen, sondern daß Dichtkunst zur Poesie sich verhält wie der Brunnen zum Quell. Ich verstehe Ihre Miene: Sie ziehen den Quell dem Brunnen vor?» «Allerdings.» «Trotz Käfern und Spinnen?» «Sogar trotz Käfern und Spinnen.» «Gut. Aber wissen Sie, was mich stört? Daß Sie jedesmal, wenn Sie zum Quell wandeln, statt eines Bechers das Insektennetz mitnehmen.»

 

Nachahmung und Regel

Was ist von der Nachahmung zu halten?

Das Schaffen nach Vorbildern ist der normale Weg, um sich zur Meisterschaft emporzuarbeiten. Glauben Sie das einem, der zeitlebens umsonst nach Vorbildern gesucht hat. Wohl klingt es schön und stolz, alles aus sich selbst zu ziehen, Weg und Kompaß, Inhalt, Kunstform, Stil und Sprache, allein das ist eine fast übermenschliche Riesenarbeit, die zum Glück nur in den seltensten Fällen nötig ist, dann nämlich, wenn für ein neues Stoffgebiet oder ein neues Ziel die vorhandenen Kunstformen schlechterdings nicht taugen. Keine fürchterlichere Aufgabe als absolute Freiheit.

Glauben Sie das dem nämlichen, der es erfahren hat.

Folgendes sind die Hauptvorteile der Nachahmung:

Schon der bloße Wille, selbstlos ein Muster nachzubilden, bedeutet einen Sieg und eine Eroberung. Denn um solches wollen zu können, muß einer Pietät besitzen und zugleich lebendige Kraft und Glauben spüren. Abwesende Kraft bringt es nur zu Velleität, abwesender Glaube nicht einmal dazu. Das Schaffen nach Vorbildern ist ja nicht etwa ein epigonisches Merkmal, sonst wären ja Schiller und Goethe und so ziemlich alle Dichter aller Zeiten Epigonen, im Gegenteil, es ist ein Zeugnis dafür, daß ein Zeitalter lebendig ist. Der Epigone schafft nicht nach Vorbildern; er betet sie bloß an, das ist leichter.

Dies die Voraussetzungen. Nun die Wirkungen:

Nachahmung befreit. Wieso? Jedes Zeitalter schneidert ja in der Wohlmeinenheit seiner Beschränktheit Zwangsjacken für den Dichter; nur die Großen sind großherzig und liberal, vor allem die Großen der Vorzeit. Homer und Shakespeare erlauben mehr als Vischer und Gustav Freytag. Und Vischer und Gustav Freytag erlauben wieder mehr als die kleinen Weisen des Katheders und des Feuilletons. Wer sich also direkt an das Beispiel der großen Dichter der Weltliteratur hält, rettet sich aus den engherzigen Modemeinungen seines Zeitalters. Darum nenne ich Nachahmung befreiend.

Ferner: Nachahmung lehrt einen sich schämen. Und das ist die Hauptsache. Ein fertiger Meister schämt sich vor sich selbst und seinen frühern Werken, jeder ehrliche Künstler schämt sich vor seinem Gewissen und vor seiner Kunst, ein Anfänger schämt sich am besten vor einem Muster. Wer sich nicht schämt, unterliegt sicher den unzähligen und sehr starken Versuchungen.

Also das ist die Hauptsache. Dagegen das eigentliche Lernen, ich meine die bewußte, verständige Denkarbeit, die vernünftige Schlußfolgerung: «Der macht es in solchem Falle so, also mußt du im ähnlichen Falle das tun», findet nach meiner Beobachtung überhaupt nicht statt. Es kommt gar nicht dazu, weil die blitzschnelle Tätigkeit des Unbewußten jeweilen der langsamen Arbeit des bewußten Denkens vorauseilt. Man hat immer schon gehandelt, ehe man gelernt hat.

Wenn aber das Sichschämen die Hauptsache ist, so muß die Beschaffenheit des Vorbildes Nebensache sein. Und so steht es in der Tat. Wertlose Vorbilder können wertvolle Nachahmungen erzeugen.

 

Nicht gleich, doch ähnlich verhält es sich mit dem Schaffen nach Regeln. Bei uns jubelt die Ästhetik: «Der Dichter ist frei; wir kennen nicht die Daumenschrauben von Regeln!» Frei? Ja stellt man etwa bei uns keine Anforderungen an den Dichter? Wird er nicht getadelt, sein Werk nicht verworfen, falls es gewissen Voraussetzungen nicht entspricht? Was ist denn aber eine Regel? Eine klare Formulierung der Anforderungen und Voraussetzungen. Es ist aber leichter, sich mit klaren Formeln abzufinden als mit unklaren Forderungen und Voraussetzungen. Denn in die Unklarheit schleicht sich die Laune und der Selbstwiderspruch. Die Regel weiß wenigstens, was sie will, die Forderung und Voraussetzung ahnt bestenfalls bloß, was sie ungefähr möchte.

Aber beeinträchtigt denn die Regel nicht die freie Phantasie? Ich antworte bestimmt: Nein. Denn eine gute Phantasie ist elastisch, sonst könnte sie sich auch nicht in ein festes Versmaß fügen, das ja ebenfalls eine Regel ist. Je größer ein Künstler, desto elastischer seine Phantasie. Vollendete Meister suchen wohl gar Hindernisse auf, wenn sich keine darbieten. Zufällige Anlässe, mit ihren oft lächerlichen Beschränkungen, können segensreich wirken, indem sie der elastischen Phantasie neue, seltene Aufgaben stellen.

Es müßte eine Regel schon ganz verrückt sein, um Schaden zu stiften. Es gibt aber keine ganz verrückten Regeln, weil die Regeln von denkenden Autoritäten stammen; dagegen gibt es entschieden ganz verrückte Forderungen und Voraussetzungen, weil jeder Kopf seine eigenen Forderungen und Voraussetzungen mitbringt und unter den vielen Köpfen sich Querköpfe und Dummköpfe befinden.

Kurz, ich urteile: Die Regeln nehmen sich in der Poesie zwar häßlich aus, sind aber nicht so schlimm, wie sie aussehen. Sie können unter Umständen sogar einen Schutz vorstellen, ich meine Schutz vor Willkür, Laune und Unvernunft des Urteils, indem ja die Regel auch das Urteil verpflichtet.

Nun ist freilich die logische Fassung einer Kunstregel weder ihre natürliche, noch ihre wünschenswerte Form. Die normale Formulierung einer Kunstregel ist die geregelte Kunstform. In dieser Gestalt erst können Sie den vollen Wert der Regel ermessen. Nehmen Sie zum Beispiel in der Musik die regelmäßige Kunstform der Sonate und Symphonie (des ersten Satzes natürlich), vergleichen Sie damit die freie, regellose Kunstform der sogenannten ‹Phantasie›, und fragen Sie dann Ihre Erinnerung, in welcher von beiden Kunstformen, der freien oder der regelmäßigen, die Instrumentalmusik ihr Heil gesucht und gefunden hat.

 

Welche Werke sind veraltet?

Eine schwierige Frage; weil literarhistorisches Interesse tote Werke zu galvanisieren und hiermit ihnen ein Scheinleben für eine geraume Zeit zu verleihen vermag. Namentlich der Begriff des Modernen, so auffallend das klingt, zielt nach künstlicher Wiederauferweckung archivarischen Schuttes. Mit andern Worten: Heillos Verschimmeltes kann der Nase eines blasierten Zeitgeschmacks modisch riechen. Die Logik lautet hier so: Wir sind modern, wir sind faul; jene Antiquität riecht verfault, folglich ist sie modern. Meine Überzeugung in der Frage lautet kurz und bündig: Ein Werk ist dann endgültig veraltet, wenn ein Meister es nicht mehr zum Vorbild nehmen kann und mag.

 

Leben und Linie

Es gibt in gewissen Völkern und Zeitaltern ein Bedürfnis, alle Kunst und Poesie mit möglichst viel Leben zu sättigen, und in andern Völkern und Zeitaltern ein Bedürfnis, sie in möglichst weiter Entfernung aus dem Leben emporzuheben. Das Vorwiegen des einen Bedürfnisses über das andere ist wohl die Hauptursache der gründlichen Verschiedenheit zwischen germanischer Kunstanschauung einerseits und romanischer und antiker Kunstanschauung anderseits.

Am deutlichsten offenbart sich das Auseinanderklaffen, wenn wir im besonderen die französischen und die deutschen Anschauungen einander gegenüberhalten. Was hier als Vorzug gerühmt wird, erscheint dort als ein Fehler und umgekehrt. Statt vieler Worte zwei typische Beispiele, die den Wert von Fahnen aus verschiedenen, einander feindlichen Heerlagern besitzen.

Boileau tadelt in seiner Poetik einen französischen Epiker deswegen, weil er bei der Erzählung des Zuges der Israeliten durch das Rote Meer schilderte, wie die Fische vor Erstaunen zu beiden Seiten gaffend stillestanden. Das wäre der Größe des Stoffes unwürdig, ist seine Meinung. Jeder Deutsche würde urteilen: Das Epos gebe ich wohl preis, aber das Staunen der Fische beim Durchzug der Israeliten ist reizend, das ist ein hübscher Einzelzug aus dem Leben. Ein zweites Beispiel: Jean Paul meint die Henriade Voltaires siegreich mit dem hübschen Spottwort abzutun: in der ganzen Henriade sei nicht einmal so viel Gras aufzutreiben, daß ein Pferd sich davon sattfressen könnte. Aber wieviel Gras wächst denn beim Könige Ödipus von Sophokles? Und vom Gras der Ilias würde wohl ein Pferd auch ziemlich mager gedeihen. Jean Paul wußte oder fühlte eben nicht, daß das Kunstideal, dem ein Voltaire nachstrebte, das Gras grundsätzlich als Unkraut ausrottet, und nicht bloß das Gras, sondern überhaupt das ringsherum blühende Leben. Deshalb, weil die oberste Regel dieses Kunstideals dem Künstler alles verbietet, was nicht unbedingt nötig ist. Dieses Kunstideal zielt eben auf einfache große Linienführung, auf Ausschließung aller Nebensachen.

Wollen wir nun über Recht oder Unrecht der verschiedenen Anschauungen urteilen und entscheiden? Ich antworte: nein, und meine Zeilen haben gerade diesen Zweck, zu mahnen, daß wir nicht sollen urteilen und entscheiden wollen. Denn wir sind ja Partei, wir stehen auf der einen Seite. Wir sollen im Gegenteil den gegnerischen Standpunkt zu verstehen suchen, nicht um unsern Standpunkt aufzugeben und zu vertauschen, sondern um gerecht zu sein und an Einsicht zu gewinnen. Man ist in geistigen Dingen einem Gegner erst dann überlegen, wenn man ihn überschaut, und man überschaut keinen, den man nicht zuvor begriffen hat.

Die Abkehr vom Leben zu dem Zweck, Linie zu gewinnen, ist nämlich durchaus nicht etwas, worüber man mit wegwerfendem Achselzucken und ein paar wohlfeilen Worten von Kälte, Steifigkeit und Leblosigkeit wegkommt, wie über eine Dummheit. Die Abkehr vom Leben zugunsten der Linie hat auch ihre Vorzüge, sonst hätte sie ja nicht ganze Nationen von edelstem Blut wie die römische und die französische jahrhundertelang zu halluzinieren vermocht. Der Hauptvorzug ist die Gewinnung der Größe.

Ja, es ist Größe (Stilgröße), wenn ein Künstler es vermag, sich auf die Hauptlinien zu beschränken und alle Nebensachen, auch die blühendsten, duftigsten, auszuschließen. Zunächst: Versuchen Sies einmal; das ist gar nicht so leicht, wie Sie sichs vorstellen. Um sich nämlich auf die Hauptlinie beschränken zu können, muß man eben diese eine Linie meisterhaft zu zeichnen verstehn.

Es ist Größe (Gesinnungsgröße), wenn eine Nation wie die französische, die sich wahrlich auf Liebesangelegenheiten vortrefflich versteht und deren untere Stockwerke der Literatur die Liebe geradezu als einziges Thema kennen, in ihrer Tragödie das Liebesmotiv, ursprünglich wenigstens, grundsätzlich ausschließt. Auch die berüchtigten ‹Staatsaktionen› stammen aus derselben Gesinnungsgröße. Was ist das für ein gedankenloses Höhnen über die ‹Staatsaktionen›! Was sind denn Schillers «Wallenstein» und «Don Carlos» und «Fiesko» und «Wilhelm Teil»? Ich denke ‹Staatsaktionen›. Und die Shakespeareschen Trauerspiele und Königsdramen? Und die griechischen Trauerspiele? Heute wird gelächelt bei dem bloßen Gedanken, daß ein Dichter den Staat als poetisches Ideal gebrauchen könnte, dagegen macht jedermann sofort ein poetisches Gesicht, wenn man ihm den Namen ‹Menschheit› vorspricht. Ist der Unterschied wesentlich? Es ist ja eins wie das andere ein abstrakter Begriff. Und was tut denn Faust, das ‹Symbol der ringenden Menschheit›? Er mündet, wenn ich nicht irre, in den Staatsdienst.

Ich kenne ebensowohl wie irgendein anderer die Schattenseiten und Gefahren der Linienkunst: die Blutarmut, die Kälte, das Akademische, das Pseudoklassische. Allein hat denn das Waten im vollsaftigen Leben nicht auch seine Schattenseiten und Gefahren? Ich kann sie sogar nennen: den Wust, die Plattfüßigkeit, die Niedertracht. Mir ist, wir hätten etwas dergleichen.

Wer aber beides zu verbinden weiß, das Leben und die Linie, der verdient den Namen eines Klassikers im guten Sinne des Wortes.

 

Nachtrag. Dem entspricht, daß jene Poesie, welche tief in das Leben steigt, sich eines reichen Wortschatzes bedient und sich dieses Wortreichtums rühmt, daß umgekehrt die andere Poesie, jene, die dem Leben nach oben entflieht, mit einem spärlichen Wortvorrat auskommt und sich dieser Spärlichkeit als einer Tugend bewußt ist. Der Deutsche ruft mit Stolz: «Seht, über wie viele Tausende von Wörtern ein Goethe, ein Shakespeare verfügt!» Der Franzose ruft ebenso stolz: «Seht, wie ein Racine nicht mehr als sechshundert Wörter braucht, um erhabenste Gedanken und Gefühle auszusprechen!»

 

Vom Realstil

Der Realstil an seinem richtigen Platze, wenn er mit Überzeugung und Gewissen gehandhabt wird, ist nicht etwa eine modische Verirrung, über welche man verächtlich hinwegsehen dürfte, sondern eine ernsthafte Ausdrucksform des künstlerischen Geistes, welche geprüft und versucht sein will. Wobei man finden wird, daß es gar nicht so leicht ist, die Natur zu photographieren. Sein Leitstern ist, wie Sie wissen, die rücksichtslose Wirklichkeitswahrheit. Wirklichkeitswahrheit aber, wenn sie auch nicht der poetischen Wahrheit ebenbürtig ist, hat immerhin ihren Wert, Lehrwert, Studienwert, ja unter Umständen Heilswert. Sie liefert Dokumente, Skizzen und Modelle und kann bei chronischer literarischer Krankheit eines Zeitalters heilsam wirken, indem sie den Ernst in die Literatur zurückführt. Denn alle Wahrheit ist ernst. Mit seinem Ernst schlägt der echte Realstil die Verirrungen ins Süßliche oder Matte, Konventionelle oder Pseudo-Ideale siegreich aus dem Felde. Denn Wahrheit, selbst die bloße Wirklichkeitswahrheit, ist immer eines Mannes Gedanken wert, während Hirngespinste mittelmäßiger Köpfe, also zum Beispiel konventionelle Lyrik oder schablonenmäßige Romane und Dramen nicht denkenswert sind. Der Durchschnittsrealist ist dem Durchschnittsidealisten weit überlegen.

Jedes Buch, das im echten Realstil, ich meine mit ehrlicher, selbstvergessener Wirklichkeitstreue geschrieben ist, kann man lesen. Ich gestehe sogar, daß ich persönlich im Gebiete der prosaischen Erzählung nichts anderes lesen mag.

Ich sage: der prosaischen Erzählung. Denn naturgemäß beschränkt sich der Realstil, weil er Wirklichkeitsstil ist, auf die Prosa und kann in der Poesie nur episodisch verwertet werden.

Nun zum Realismus oder Naturalismus.

Wer im Realstil schreibt, ist deswegen noch kein Realist, so wenig wie einer, weil er Gemüse ißt, darum schon Vegetarianer ist. Sondern Vegetarianer ist, wer nichts als Gemüse zu essen erlaubt; Realist, wer keinen andern Stil als den realistischen anerkennt, wer ihn als Universalmittel der gesamten Literatur aufdrängen möchte. Hiermit beginnt der Unsinn.

Den Realstil in Konkurrenz mit der Poesie setzen oder gar mit ihm die Poesie verdrängen zu wollen, als eine Art Panrealismus, ist eine Ungeheuerlichkeit, deren sich bloß Beschränktheit oder Unehrlichkeit oder beides vereinigt schuldig machen kann. Nationale Beschränktheit oder persönliche. National, mit dem Nihilismus verwandt, bei Russen und Skandinaviern, persönlich bei den Goncourt und Zola und ihren Trommlern. Wo wir Beschränktheit haben, haben wir natürlich auch den Fanatismus.

Grauenhaftere Pedanten hat die Welt nicht gesehen als die Naturalisten.

Im deutschen Panrealismus haben wir weniger ein Gebilde der Beschränktheit als der Streberei vor uns. Es gibt in Deutschland kaum einen echten Realisten – und es kann auch nach Goethe und Schiller keine solchen geben –, was sich schon dadurch verrät, daß sie alle früher oder später von ihrem fanatisch gepredigten Evangelium abfallen. Der deutsche Realismus war nie eine Überzeugung, sondern nur eine Maske, unter welcher sich alles mögliche Gift, vor allem das Gift gegen Schiller und die hohe, ideale Poesie sammelte und verbarg. Gegenwärtig, ist er verendet. Er war den Leuten zu lästig und zu schwierig.

Wenn der Realismus mit Recht und mit Erfolg den falschen Idealismus bekämpft, so unterliegt er schmählich, sobald er sich an den echten Idealismus, also die Poesie selbst, wagt. Wie himmelhoch der echte Idealismus dem Realismus überlegen ist, zeigt am besten die Tatsache, daß von jeher die besten realistischen Werke von Idealisten geschrieben wurden.

Kein Drama eines Realisten erreicht an realistischer Kraft und Größe «Kabale und Liebe» des Idealisten Schiller.

Kein Roman eines Realisten erreicht die realistische Meisterschaft der «Madame Bovary» des Idealisten Flaubert.

Also der Idealist muß dem Realisten zeigen, wie man realistisch schreibt.

Umgekehrt, wenn ein Realist sich auf das idealistische Gebiet wagt, so setzt es erbärmliche Pfuschereien ab. Er platscht in den nächsten Pfuhl des Aberglaubens, wird bigott oder spiritistisch oder sonstwie närrisch.

Die Kunstformen des Idealismus wagt er nicht einmal probe- und vergleichsweise zu versuchen, so sicher fühlt er das schmähliche Mißlingen voraus.

Immerhin ist zu bemerken, daß da, wo der Realismus auf nationaler Grundlage ruht, also bei Russen und Skandinaviern, wenn auch nicht Meisterwerke der Weltliteratur, doch eine Fülle von skizzenhaften Beobachtungen und Expektorationen hohen Dokumentenwertes entstehen. Dort, bei den Garschin und Gorki und Hamsun muß man den echten Realstil suchen.

Dagegen bei den pedantischen Realisten der Theorie innerhalb der alten westeuropäischen Literaturnationen ist wenig zu holen.

Ich resümiere: Es sollte jeder Schriftsteller sich gelegentlich auch im realistischen Stil versuchen, um zu erfahren, was daran ist. Die Nation aber, wenn sie über das Verhältnis von Idealismus und Realismus ins reine kommen will, wird besser daran tun, wenn sie sich bei denen erkundigt, die beides können, als bei jenen, die keins von beiden können.

 

Vom Idealstil

Streng genommen spricht ja jede Kunst und Poesie den Idealstil, da eben eine zweite, höhere, edlere Welt geschaffen wird. Aller Völker, aller Menschen Sehnsucht ruft ewig: «Hinaus und hinauf!» Wo wir das Gegenteil antreffen, den Ruf: «Hinein in das volle Leben!», wie zum Beispiel neulich, haben wir es mit einer Reaktionserscheinung zu tun. Er ertönt nur dann, wenn eine Verirrung ins Leblose, also ein falscher Idealismus vorangegangen war. Genau so wie der Ruf nach ‹Natur› eine vorausgegangene Unnatur verrät, oder wie die Sorge um die Gesundheit, das Kraftbrühentrinken, das Eisenschlucken beweist, daß einer krank war und noch ist. Ein gesunder Mensch kümmert sich nicht um die Gesundheit; ein natürliches Zeitalter lechzt nicht nach Natur; eine lebendige Kunst schreit nicht nach dem vollsaftigen Leben.

Mit dem eigentlichen Idealstil innerhalb der Poesie meint jedoch die Vorstellung etwas Besonderes, nämlich einen solchen Stil, der in bewußter Weise die Abstreifung des Gemeinen anstrebt; der den Adel zum Ziel erhebt und sich von ihm die Gesetze schreiben läßt, gewillt, die adligen Gesetze strengstens bis in alle Einzelheiten der Form, also des Stils und der Sprache, zu befolgen. Der Idealstil ist der Gentleman in der Kunst und wird daher von pöbelhaften Seelen geradezu gehaßt. So ist der Stil der griechischen Bildhauerkunst darum ein Idealstil, weil der Künstler den Göttertypus durch bewußte Veredlung: durch Kombination, Abstraktion, durch Antithese aus der gemeinen Menschengestalt gewann, indem er zum Beispiel den Nasenstirnwinkel des Göttergesichtes auswärts bog, weil ein gemeines Gesicht den Winkel nach innen hat.

Der Idealstil hat wie jeder Stil seine Vorzüge und Nachteile. Der Hauptnachteil des poetischen Idealstils ist der Mangel an Mut, sowohl an Lebenswirklichkeitsmut wie an Phantasiemut. Begreiflich; denn der Idealstil ist ja ein Flüchtling. Ganz eminente Dichter werden sich daher des Idealstils kaum dauernd bedienen. Dante, trotz seinem Phantasieidealismus, spricht keineswegs im Idealstil.

Auch mit der Persönlichkeit verträgt sich der Idealstil nicht wohl.

Naive persönliche Größe sitzt diesen keuschen Stil mit ihrem bloßen Gewicht auseinander wie einen gebrechlichen Stuhl. Nur solche persönliche Größe, welcher Gedankenschwung und Rhetorik Natur ist, wie zum Beispiel Virgil, Corneille, Schiller, fühlt sich im Idealstil sicher und wohl. Aber auch nur in einem kräftigen Idealstil.

Nun die Vorzüge.

Ein Hauptvorzug des Idealstils ist die seelische Reinheit, Reinheit der Vorstellung, der Stimmung, des Gedankens, der Sprache und der Form. Es ist nichts Geringes um einen Stil, der uns verbürgt, daß wir von der ersten bis zur letzten Zeile ohne Unterbrechung Höhenluft atmen dürfen. Wenn wir das nicht spüren, so spüren es eben andere.

Der wichtigste Vorzug ist aber die Wirkung auf das Gemüt. Man pflegt zwar dem Idealstil im Gegenteil gefühllose Kälte vorzuwerfen. Nun ja, mit den niederen Stilformen verglichen ist jeder hohe Stil kalt, da eben die hohe Kunst nicht direkt auf das Gemüt abzielt. Die hat andere Sorgen. Die gefühlvollsten Lieder werden ja von Dichtern zweiten Ranges geschaffen. Jeder Philister urteilt: Klassische Musik, Fugen, Sonaten, Symphonien, ist nichts fürs Gemüt. Was ist denn fürs Gemüt? Das «Zarenlied» von Lortzing oder «Der Tiroler und sein Kind».

Die hohe Kunst erklärt sich gegenüber dem Gefühl wohlwollend neutral. Da jedoch Schönheit von Natur wegen, ob sie will oder nicht, Gefühle auslöst, so wirkt die hohe Kunst, während sie keineswegs auf das Gemüt zielt, doch auf das Gemüt.

Ein musikalischer Dreiklang ist regelmäßig, mechanisch, kalt; aber er tröstet und erhebt trotzdem die mit Trauer umhüllte Seele. Alle Schönheit versöhnt und erlöst.

Das Gefühl der Versöhnung und Erlösung nun, welches jede hohe Kunst bewirkt, bewirkt der Idealstil in verstärktem Maße. Es ist der Stil, der den Eintretenden mit dem Gruße segnet: «Friede sei mit dir!» Ich denke, es ist wahrlich auch ein Gefühl, und keines von den kältesten, aus der Gemeinheit emporgezogen, aus dem Pöbelhaften gerettet zu werden, den Kummer, den Jammer, den Zank vergessen zu dürfen, Schmerz und Trauer in Schönheit schmelzen zu spüren. Man berichtet von Afrikaforschern, welche nach jahrelangen Kämpfen und Plackereien in den Urwäldern, als sie zum ersten Male wieder ein weißes Gesicht sahen, in Tränen ausbrachen.

Das weiße Gesicht ist der Idealstil.

Was ist Afrika?

 

Ein Kriterium der Größe

Wer in der Geschichte die Unbeständigkeit des Geschmackes, die Wandelbarkeit der Urteile, die Unsicherheit der zuversichtlichsten ästhetischen Grundlagen wahrgenommen, fragt sich besorgt, ob es denn nicht gemeinschaftliche Merkmale gebe, welche, dem Kreislaufe der wechselnden Ansichten zum Trotz, jederlei Größe zu jeder Zeit von der Mittelgröße oder Scheingröße unterscheiden ließen. Ein solches Merkmal, nicht das einzige, scheint mir die Prägnanz zu sein, auf deutsch: das Bedürfnis nach bündigem Ausdruck, oder, von der Kehrseite betrachtet, der Abscheu vor ausgedehnteren minderwertigen Übergangsstellen, der Haß gegen die Breite, der Horror vacui. Jeder Große, wer er auch sei und wann er auch lebe, gibt immer viel auf einen kleinen Raum; ob er nun die Schätze nur so über die Ufer schäume, oder ob er haushälterisch die Kraft zusammenhalte. Nehmen Sie, wen Sie wollen, Homer oder Schiller oder wen sonst, und schlagen Sie irgendeine beliebige Seite auf, jede Seite zahlt mit Gold, überall werden Sie gefesselt, überall spüren Sie Hochluft, überall ist Schönheit. Es kommt bei den Großen nicht vor, daß der Genießende sich erst durch Sandhaufen wühlen müßte, ehe er Goldkörner entdeckt, es kommt namentlich nicht vor, daß größere Partien Wert erst durch den Zusammenhang gewinnen, also nur Übergangs- oder Kompositionswert besitzen.

«Lesen Sie nur weiter, Sie werden dann schon sehen.» Nein, ich lese nicht weiter. Denn ein Großer versteckt die Schönheit nicht in eine Wurst von Mehl und Häcksel. Musik oder Poesie, unser Prüfstein paßt für beides. Wer Ihnen dicke Haufen von Tönen zu verschlucken gibt, ehe er Ihnen etwas Nahrhaftes mitunter schenkt, der ist kein Großer, er heiße, wie er wolle. Nehmen Sie dagegen Beethoven oder Mozart oder Haydn, einerlei: Eins, zwei, drei: in den ersten Takten schon haben Sie Form, Klarheit, Energie, meistens auch bereits Schönheit.

Das kommt davon, daß ein Großer, während er schafft, in der Ewigkeit lebt, wo die Zeit kostbar ist. Denn in der Ewigkeit bedeutet die Sekunde mehr als im Alltag die Stunde.

 

Konsequenz und feste Führung

Der Schaffende zagt wohl etwa, aus der ersten, obersten Vision, die ein Werk entstehen ließ, sämtliche Konsequenzen nach allen Seiten zu ziehen, besonders wenn ihm sein Werk als ein rein subjektives, dem allgemeinen Interesse entlegenes bewußt ist. Die Konsequenzen drängen ihn aber weiter, als er ursprünglich ahnte und wollte, und wie sollte er hoffen dürfen, die Teilnahme des Lesers für Dinge zweiter Ordnung zu erhalten, wenn schon das Oberziel des Werkes ihn wahrscheinlich kühl lassen wird?

Wer so denkt, unterschätzt zunächst die Bereitwilligkeit der Menschen, in die Voraussetzung eines Kunstwerkes einzutreten. Der Genießende, wofern er nur nicht in irgendeine ästhetische Dogmatik verbohrt ist, folgt gerne jedem Stoff und jeder führenden Hand, unter der einzigen Bedingung, daß er eine sichere Hand spüre. Fehlt diese Bedingung, so meutert selbst der bestwilligste Leser. Natürlich, denn ob er auch willens war, sich in jede Welt des Dichters zu versetzen, so muß es doch eine rechtschaffene Welt sein, mit deutlichen Umrissen und festen Gesetzen; was dagegen der Vorstellung nicht Form und Stand hält, das lohnt auch nicht des Denkens. Unsicherheit erachte ich daher für den unheilvollsten aller Fehler, für den Selbstmord eines Werkes.

Dann ist der Schluß: ‹wenn die Grundidee dem Leser ferne liegt, und so weiter›, durchaus irrig. Im Gegenteil, die folgerichtige Durchführung vermag das abwesende Interesse an dem Hauptthema nachträglich herbeizuzwingen. Sei es durch überwältigende Schönheiten, die sich daraus ergeben, sei es durch die Freude am Können des Künstlers, an seiner Meisterschaft. Es stände schlimm mit der Fortdauer der Kunstwerke, wenn das Interesse an ihnen von dem Interesse an ihrem Hauptthema abhinge. Sämtliche Kunstwerke vergangener Zeiten haben ja den Themawert für uns verloren und können uns nur durch die Kunst der Behandlung und die Schönheit des Anlasses fesseln. Endlich: es sind gerade die subjektivsten Künstler und willkürlichsten Werke, welche, wenn sie nur rücksichtslose Konsequenz aufweisen, die Welt unterjochen, obschon selten die Mitwelt, doch immer die Nachwelt. Subjektivität nämlich, die anfänglich das Interesse lähmt und erkältet, wirkt auf die Länge als Anziehungskraft. Nichts eitler als die Prophezeiung, der oder das könne niemals populär werden, niemals ins Volk kommen. Ins Volk vielleicht nicht, aber um so eher in die Völker. Wir drehen uns eben auf einer krummen Erde, wo starke Tatsachen Maß und Recht bestimmen und die Gemüter umstimmen. Ein der Subjektivität entsprossenes, sicher in sich selbst ruhendes, folgerichtig ausgearbeitetes Kunstwerk gehört aber zu den starken Tatsachen.

Aus alledem folgt, daß man vor keiner noch so unwillkommenen Konsequenz seines Themas umbiegen darf. Bedenken, Zweifel, Zagen gehören vor den Entschluß, nach dem Entschluß bleibt keine andere Rettung mehr, als, was man tut, ganz zu tun. Ein Künstler muß müssen können.

 

Von der Glaubhaftigkeit

Warum arbeiten wir gedrängt, geschlossen, gefügt, mit T-Balken? Um Spannung und Gipfelung zu gewinnen? Diese Erklärung möchte zur Not für das Drama gelten und genügen. Allein geschlossene, ‹dramatische› Handlungsführung ist ja durchaus nicht eine Eigentümlichkeit dramatischer Arbeit; sie kommt ebenso sehr der Novelle, dem Roman, dem Epos zugute. Zielt doch zum Beispiel die Odyssee nicht minder als «Macbeth» oder «Wallenstein» vom ersten Worte an nach dem Ende.

Der Hauptvorzug einer geschlossenen Führung beruht vielmehr darauf, daß sie die Glaubhaftigkeit eines Werkes erhöht. Ich meine natürlich nicht die bäurische Glaubhaftigkeit, welche ein Werk auf seine Wirklichkeitsfähigkeit prüft, sondern die poetische Glaubhaftigkeit, mit anderen Worten die Möglichkeit, daß ein vernünftiger Leser sich willig mit Herz und Seele in die Welt des Dichters versetze, sei nun dessen Welt ein Abbild der Wirklichkeit oder eine geträumte. Diese Glaubhaftigkeit wird also durch geschlossene Handlungsführung gefestigt und zwar auf mehrfache Weise.

Die Vorahnung eines Ziels verleiht dem Weg Zweck und Sinn, den Zwischenstationen pathetische Bedeutung, unterstreicht jedes einzelne Ereignismoment, jedes geringste Wort, indem alles und jedes neben seinem unmittelbaren Ereignis- oder Redegehalt obendrein noch Erklärungs- oder Symbolwert für die aufgesparte Hauptszene besitzt. Ja, sogar die bloße Witterung einer Absichtlichkeit zwingt uns schon zum engeren Anschluß an das Werk. Ein Kunstvorteil, den nach Schiller am öftesten und bewußtesten Conrad Ferdinand Meyer ausgenützt hat, indem er dem Leser die Absichtlichkeit, das heißt die zielstrebende Nebenbedeutung der Anfangsereignisse und Reden so stark verrät, daß keiner sie übersehen kann. Ich möchte fast sagen: er reibt sie dem Leser unter die Nase.

Sodann – und dies scheint mir das Wichtigste – erzeugt geschlossene Führung eine Unmenge von Beziehungen, nicht bloß die schon erwähnten Beziehungen zwischen den Teilen eines Werkes, also zwischen Anfang und Ende und zwischen den Unterabteilungen, sondern auch Beziehungen sämtlicher geschilderten Personen zueinander. Je mehr Wechselbeziehungen aber ein Werk innerhalb seines Darstellungskreises enthält, einerlei welcher Art die Beziehungen seien, desto glaubhafter wird es, desto stärker zwingt es uns in seinen Bann, desto unauslöschlicher beharrt es in unserer Seele. Ich glaube nämlich dem Dichter inniger eine solche Gestalt, an welche eine zweite Person des Gedichtes glaubt, als eine noch so treu geschilderte Person für sich allein oder in loser Verbindung mit anderen. Von allen Beweisen des wechselseitigen Glaubens aneinander ist aber der überzeugendste die stetige Beeinflussung des einen durch den anderen, wie sie bei geschlossener Handlungsweise stattfindet. Diesem Beziehungsgesetze entspringt unter anderm auch die von Schiller bemerkte Tatsache, daß das sicherste Mittel, uns eine Person sympathisch darzustellen, darin besteht, zu zeigen, wie sie auf andere sympathisch wirkt.

Und die psychologische Erklärung des Beziehungsgesetzes? Sie lautet: Wir erkennen alle Kräfte der Erde, also auch die Menschenseele, nur an ihren Wirkungen.

 

Über den Wert zyklischer Sammlungen

Der Brauch, bei Herausgabe lyrischer Gedichte möglichst Vielfaches und Verschiedenes zusammenzustellen, Lieder, Balladen, Sprüche, Erzählungen, Rätsel, Formübungen, Festgedichte und so weiter in einem nämlichen gemeinsamen Band, hat gewiß seine trefflichen Gründe, unter anderen den, daß meistens nicht allzuviel Brauchbares vorhanden sein wird, daß folglich aus allen Schubfächern die Reserven herbeirücken müssen, um einen ansehnlichen Band vorzustellen. Lyrik geht eng zusammen, wenigstens gute Lyrik. Meist muß toter Ballast nachgeladen werden, um dem Verleger das nötige Gewicht zu liefern. Daher die unvermeidlichen Übersetzungen und Reiseverse. Beiläufig gesagt: Jeder Dichter sollte einen fürchterlichen Schwur leisten, erstens niemals eine Stadt oder Gegend anzudichten, selbst nicht Venedig oder Capri, zweitens niemals eine Übersetzung in seine Sammlung aufzunehmen. Der Umstand, daß gerade die Gedichte dieser Art von der Kritik als ‹unvergängliche Perlen der Literatur› gerühmt zu werden pflegen, beweist ihm schon, daß er hier auf Abwegen wandelt.

Also praktisch ist der Brauch. Immerhin: eine Sammlung von Verschiedenem ist keine Vereinigung. Das Buch hat unter solchen Umständen kein anderes Band als den Einband. Nimm den Deckel oder den Titel weg: sofort fallen die Gedichte auseinander und kriechen wieder in ihre Schubladen. Aber auch solange Deckel und Titel haften, solange der Einband hält, die Vorstellung des Lesers kanns nicht zusammendenken, nicht in ein einziges großes Erinnerungsbild fassen. Denn ein Sammelbuch ist nicht organisch gegliedert, nicht übersichtlich proportioniert, hat keinen Mittelpunkt und keinen Gesamtbeobachtungspunkt. Man orientiert sich anfangs schwer, man erinnert sich nachträglich nur mit Mühe der Stellen; man ist gezwungen, mit Bleistiftstrichen im Register sich notdürftig einen Weg zu merken, wie ein Verschönerungsverein an den Buchen, um sich später in dem Gehölz wieder zurechtzufinden.

Das ist übrigens Nebensache. Hauptsache ist: Zwanzig verschiedenartige Gedichte sind zwanzigmal ein einzelnes Gedicht, nicht aber zwanzig Gedichte. Es summiert sich eben nicht. Das Gefühl kann ein Rätsel, eine Ballade und eine Ghasele so wenig zusammenzählen als der Verstand Kleider, Gemüse und Haustiere. Es gehört zwar demselben Eigentümer, auch soll es ihm ehrlich zum Vermögen gerechnet werden, doch nebeneinander wirkt es als Hausrat oder Gerümpel. Verschiedenes wird mehr, wenn mans sondert, weniger, wenn mans zusammentut.

Demgegenüber erachte ich die Zusammenstellung möglichst gleichartiger Erzeugnisse, also die Kette, den Kranz, den Zyklus oder wie wirs sonst nennen wollen, für ein höheres Sammelprinzip. Durch Zyklen, also durch die Nebeneinanderstellung des Gleichartigen, entsteht nämlich eine Vereinigung, eine Verbindung, ein Gesamtding, das über den Einzelwert des besonderen Stückes hinaus noch einen neuen Wert schafft, einen Kollektivwert, der seinerseits nicht bloß Buchwert, sondern auch Kunstwert enthält.

Das geht so zu: Jedes gute Gedicht oder Musikstück erschließt eine ganze Welt von verwandten Schönheitsmöglichkeiten, die in der nämlichen Richtung liegen und deren unbestimmte Umrisse ein befugter, mit Phantasie begabter Leser oder Hörer ahnt und sehnsüchtig begehrt. Werden nun die geahnten begehrten Umrisse vom Dichter verwirklicht, werden mit anderen Worten dem einzelnen Kunstwerkchen die verwandten hinzugefügt, so entsteht eine ausnehmende Befriedigung. Zunächst die Erfüllung des Wunsches. Dann Ruhe, indem der Leser nun nicht gezwungen wird, erst den Standpunkt zu wechseln, um das Folgende zu genießen. Ferner eine Art Wohnlichkeits- und Heimatsgefühl, da uns wiederholt die nämliche Welt mit denselben Kunstmitteln vorgeführt wird. Endlich der Eindruck des Reichtums, weil Gleichartiges sich summiert und sich einheitlich verbunden der Erinnerung vorstellt. Hier verhält es sich mithin gerade umgekehrt als bei der kunterbunten Sammlung. Zwanzig Balladen sind mehr als zwanzig Balladen, nämlich eine Welt voll Balladen.

Hierbei wird es ein weiterer Vorzug sein, wenn sich die Gemeinsamkeit auch auf die äußere Form erstreckt. Das Streben des Dichters, sich in den verschiedensten Versmaßen zu betätigen, ist ja erklärlich, in bestimmten Fällen sogar löblich; doch diesem Streben entspricht keineswegs ein Bedürfnis des Lesers. Einerlei oder ähnliche Form erlaubt uns, die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zu konzentrieren, und leistet dem obenerwähnten Heimatsgefühl Vorschub; allzu häufiger Wechsel oder allzu exzentrische Verschiedenheit der Form wirkt als Unstetheit. Wer daher das Anschmiegen des Verses an den Inhalt übertreibt, indem er auf Schritt und Tritt mit der Form dem Inhalt nachjagt, wird unruhig werden. So wie das Epos den einmal gewählten Vers festhält, so wie die poetische Erzählung sich mit Vorteil in eiserne Strophen zwängt, so wird auch die zyklische Einheit sich mit Vorteil gemeinsamer oder wenigstens verwandter Formen für jedes einzelne Stück bedienen.

Kleinere und kleinste Stücke verlangen geradezu mit Notwendigkeit den Zyklus, bei Strafe, durch eine Spalte des Gedächtnisses in die ewige Vergessenheit zu sinken. Es gibt Dinge, die man einzeln, andere, die man nur in der Vielzahl serviert. Man darf eine Melone, ein Drama anbieten, aber nicht eine Kirsche oder ein Lied. Eine Kirsche ist eine Beleidigung, ein Lied ein Armutszeugnis. Hier ist einmal sogar weniger als keinmal. Daß das blinde Huhn ein Körnchen gefunden hat, dieses erstaunliche Ereignis behält man klugerweise für sich. In vollem Ernst: ich bin der Ansicht, wer nur zwei Balladen oder nur sechs Lieder hat, soll diesen Bettelschatz für sich behalten, selbst dann, wenn die zwei Balladen und sechs Lieder im höchsten Grade vollkommen sind.

Deshalb, weil Lieder und Balladen in einem guten Garten traubenförmig wachsen, zwanzig an einem Stengel. Einzelne abgeklaubte Beeren, das ist zu mager, zu geizig.

Was wir hier mit Denken gefunden haben, das soll uns die Erfahrung bestätigen.

Welcherlei Gedicht- und Musiksammlungen sind denn die beglückendsten, die berühmtesten, die beliebtesten? Die verschiedenartigen oder die gleichartigen? Immer die gleichartigen. Die Schillerschen Balladen, die Schubertschen Lieder, die Bachschen Präludien und Fugen, die Beethovenschen Sonaten, die Mendelssohnschen Lieder ohne Worte, die Chopinschen Nokturnen und Mazurken und so weiter. Nehmen wir an, Beethoven hätte bloß die vier ersten seiner Sonaten, Bach bloß die vier ersten seiner Präludien geschrieben, würden diese vier ohne ihre Nachfolger denselben Wert für die Welt besitzen, wie jetzt die nämlichen vier innerhalb des Zyklus? Nein, denn einmal würden sie in der Phantasie der Menschheit überhaupt nicht haften, sie würden ferner der Verbindungslinien verlustig gehen, die jetzt von ihnen zu ihren Schwestern hinüberleiten. Die Vielzahl hat eben im Zyklus nicht bloß Summenwert, sondern Vereinigungswert.

Zum Überfluß noch die Probe auf das Exempel. Haben ‹Klavierstücke› irgendeines Meisters, haben ‹Ausgewählte Kompositionen› jemals eine ähnliche Bedeutung zu erlangen vermocht wie die Zyklen der Sonaten? Warum behaupten Webers glänzende Klavierkompositionen so wenig Raum im Bewußtsein der Nation? Weil sie vereinzelt auftreten, von jeder Gattung spärliche Proben. Warum sind Kompositionen allerersten Ranges wie die Mozartschen Klavierphantasien nahezu unbekannt? Weil ihrer zu wenig sind. Wären es zwanzig statt vier, alle Welt möchte sie spielen.

 

Über den Wert der Einzelschönheit

Rossinis Jubiläum ist verklungen, und die Artikel der Tagesblätter zu seinen Ehren oder Unehren sind verrauscht. Was mir in den letzteren am meisten zu denken gab, ist die nachlässige Art, mit welcher man über die Einzelschönheiten, über die elementar-musikalischen Offenbarungen des Meisters hinweggeht, um die Frage einzig nach Auffassung, Charakteristik, Dramatik und ‹Tiefe› zu stellen. Von dem Rossinischen Feuer des Tempo, von dem schwebenden Flug seiner Allegri, von dem zauberhaften Decrescendo am Schluß seiner Einleitungen zur Ouvertüre (zum Beispiel bei «Tankred» und «Semiramis»), von dem goldenen Vokalklang seiner A-capella-Stücke (zum Beispiel der As-Dur-Intermezzi im «Barbier» und im «Othello»), von dem wunderbaren Rücken der Harmonie in den Übergängen, von den schwellenden Akzenten seiner Melodien, welche die Seele schon auf rein psycho-mechanischem Wege zum Jauchzen zwingen, von seiner Kunst, durch die einfachste Intervallenfolge innerhalb des Dreiklanges beiläufig Kavatinen und Refrains zu gestalten, und tausend andern Genialitäten kaum eine Andeutung; als ob das Nebensachen wären.

Ich behaupte aber, der öffentlichen Meinung zum Trotz, daß das die Hauptsache und das übrige die Nebensache sei. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich mir erlauben, gegenüber der maßlosen Überschätzung der Kunst oder vielmehr des Kunstmäßigen und Beziehungsvollen, gegenüber der elementaren, unmittelbar durch sich selbst, ohne Rücksicht auf den Zusammenhang wirkenden Schönheit ein warnendes Wort zu sprechen. Es gibt nicht bloß unsterbliche Werke, sondern auch unsterbliche Motive, ja unsterbliche Takte. Mag auch die Form des Ganzen noch so verfehlt, der Oberzweck, dem die Einzelheit dienen soll, noch so ungereimt und vergänglich, der Ausdruck noch so unpassend für den bestimmten Anlaß sein, Melodien, Motive und Harmonienfolgen ersten Ranges können zwar vergessen und verstäubt, nie aber entwertet werden. Ein Umschwung der Mode oder auch bloß ein naives Ohr und Gemüt – und sofort strahlt ihr Glanz wieder wie vor hundert Jahren.

Umgekehrt schwebt über der zweckmäßigsten, geschlossensten Kunst, wofern sie nicht in ihren Unterabteilungen mit Einzelschönheit auszahlt, die Drohung, eines Tages zu veralten, und dann auf Nimmerwiedersehen. Die Nachwelt wird das Plan-, Zweck- und Gesetzmäßige der Form als ein Zeugnis des starken Willens achtend erwähnen, aber die betreffenden Werke der Geschichte überweisen und zwar der Geschichte des barbarischen Fleißes, dahin, wo die indischen Welt- und Zeichensysteme, die spekulative Philosophie, die scholastische Theologie und zahlreiche ähnliche kunstvolle Spintisierungen eines die Grundlage verlassenden Menschengeistes kaserniert wohnen. Eine Kunst ohne Einzelschönheiten, die für sich allein schon unmittelbar bezaubern, ist ein Zeichen barbarischer Völker oder Zeiten. Ich nenne das etwas ungenau aber deutlich: Wischnu.

Wer sich gegen diese Behauptungen sträubt, dem möchte ich folgendes zu bedenken geben:

Erfahrungsmäßig wird der schaffende Künstler hauptsächlich von den Einzelheiten eines Gemäldes entzückt, während der Laie, der Kunstkenner und der Ästhetiker ausschließlich den Zweck und die Kunstmäßigkeit des Ganzen ins Auge fassen. Niemand wird aber darüber im Zweifel sein, welches der beiden Urteile maßgebender ist. Ferner: die größten Meister der geschlossenen Form, zum Beispiel Shakespeare, Schiller und Dante, haben gleichwohl der Einzelschönheit so großes Gewicht beigemessen, daß Seite für Seite, ja Satz für Satz mit solcher ausgerüstet erscheint. Man nenne mir doch solche Kunstwerke der Vergangenheit, welche einzig und allein durch ihre dramatische oder sonstige planmäßige Kraft fortlebten. Dagegen sind ewige Werke, denen Form und Schluß fehlt, in einer erlauchten zahlreichen Elite vorhanden: zum Beispiel Ilias, Orlando, Don Quichotte. Endlich das schlagendste Beispiel: die Göttliche Komödie. Als Gesamtkunstwerk für uns Wischnu, durch die Einzelschönheiten in Ewigkeit genießbar.

 

Die ‹stereotypen Wendungen› in der erzählenden Poesie

Wenn man die stereotypen Wendungen bei Homer nicht bloß begründen und erklären (was hundertmal geschehen ist), sondern auch von innen heraus begreifen, das heißt als unumgänglich notwendig erkennen will, so darf man sie nicht als eine auffallende Eigentümlichkeit Homers auffassen. Man muß sich vielmehr daran erinnern, daß die erzählende Poesie naiven Stils aller Völker Ähnliches aufweist. Wir haben ja die stereotypen Wendungen auch in den Märchen der Tausendundeinen Nacht, wir haben sie im deutschen Märchen, wir finden Ansätze dazu im Alten Testament. Und in allen diesen Fällen ist der Grund und der Zweck der nämliche: Es handelt sich darum, gewisse Situationen, zum Beispiel Anfänge, Überleitungen und Schlüsse, die sich ewig wiederholen, zu stilisieren, ein für allemal in feste geläufige Redeformen zu gießen. Damit erstens dem Dichter die unnütze Mühe und hoffnungslose Aufgabe erspart bleibe, die nämlichen und verhältnismäßig unbedeutenden Dinge hundertmal immer auf neue Weise zu sagen. Damit zweitens aus der Not eine Tugend entstehe, das heißt, damit Einleitungen, Überleitungen, Schlüsse und dergleichen, die weder zum Wesen der Erzählung gehören, noch die Phantasie anzusprechen vermögen, poesiemäßig und gedächtnisfähig würden. Damit endlich zwischen Dichter und Hörer sich ein freundschaftliches Einverständnis auch in Nebensachen bilde, ein Einverständnis von Erwartung und Erfüllung. Die Seele des Hörers lächelt zustimmend, wenn immer wieder angefangen wird: «Es war einmal» oder wenn immer von neuem der Satz kommt: «Als die rosenfingrige Eos». Und wenn sie zwölfmal zustimmend gelächelt hat, so lächelt sie fortan zum voraus, hoffend, daß die gewohnte, trauliche Wiederholung nicht ausbleibe. Man versuche nur einmal die stereotypen Wendungen aufzulösen und Abwechslung dafür zu bieten, so wird man erfahren, daß die Abwechslung nicht etwa erfrischt, wie man hätte erwarten sollen, sondern daß sie ermüdet und langweilt. Also Lächeln statt Gähnen, Poesie statt Prosa, Stil statt Diffusion, das ist der Zweck der stereotypen Wendungen bei Homer wie in der gesamten erzählenden Poesie naiven Stils.

 

Ein wichtiger Nebenzweck der direkten Rede in der Poesie

Von den beiden Hauptbestandteilen jedes größeren Gedichtes, Handlung und Rede, ist es wohl immer die Handlung, welche den Genießenden, sei er Leser oder Hörer, interessiert. Wenigstens den modernen, denn bei den Griechen und Römern, gemäß ihrer dialektischen Geistesbildung, scheint das Umgekehrte der Fall gewesen zu sein, wie ja auch der moderne Franzose, bei welchem die höhere Bildung noch in der Renaissance-Antike wurzelt, jedes Geschehen als Anlaß zu einem Wort betrachtet.

Aus dem überwiegenden Interesse des Genießenden für den Handlungsbestandteil hat man nun auch auf einen inneren Vorwert der Handlung schließen wollen, woraus dann im Drama durch möglichste Verkürzung der Reden der berüchtigte Laubesche Telegrammstil erwuchs. Diese Ausschreitung darf heutzutage, vornehmlich durch das Verdienst der Realisten, für überwunden gelten; nicht jedoch die Neigung zur Hintansetzung der Reden überhaupt, so daß ein Wort hierüber schwerlich überflüssig sein wird.

Unter den mannigfachen Gründen, warum der direkten Rede, trotzdem sie doch entschieden weniger interessiert, in jedem größeren Gedicht gleichwohl ein ganz beträchtlicher Raum muß gestattet werden, ist einer, der nach meinem Dafürhalten noch nicht genügende Beachtung gefunden hat. Die direkte Rede besitzt unter anderem auch Mäßigungswert, sie zähmt, indem sie die Phantasie bei einer gegebenen Szene zu verweilen zwingt, die dem Dichter unwillkommene, unkünstlerische, rein sachliche Neugier, und zwar kommt hierbei gerade die räumliche Ausdehnung der Rede, ihr Zeitwert, ihr äußeres Proportionalverhältnis zur Ausdehnung der Handlungselemente in Betracht. Ein Drama, in welchem die direkte Rede räumlich der Handlung nicht das Gegengewicht hält, gerät barbarisch, ein Epos phantastisch.

Beim Epos erhöht außerdem die direkte Rede die Wahrscheinlichkeit der Erzählung; denn die Illusion einer Person, die in direkter Rede meine Sprache spricht und meine Logik denkt, ist stärker als die Illusion einer Person, von der nur eine Handlung erzählt oder nur der ungefähre Hauptinhalt ihrer Worte in indirekter Rede mitgeteilt wird. Ob freilich das gewaltige Übergewicht, welches Homer der direkten Rede gegenüber der Handlung gönnt – so gewaltig, daß bei ihm öfters die Handlung nur als Einleitung oder Nachschlag der Reden Platz findet –, ob solch ein Übergewicht als ewig vorbildlich gelten dürfe, scheint mir zweifelhaft. Das muß wohl den nationalen Eigentümlichkeiten zugezählt werden, wie die Reden des Thukydides.

Uns Neuen aber könnte ein wenig von dieser Redezucht in der Poesie nicht schaden.

 

Wozu dienen die Vergleichungen in der erzählenden Poesie?

Es gibt zwei extreme Wertschätzungen der Vergleichungen. Die eine meint, Vergleichungen wären ein Armutszeugnis, indem die Kunst des Erzählers sich darin zeigen müsse, den Vorgang selber so lebendig zu schildern, daß eine Vergleichung überflüssig werde; da man aber nicht recht wagt, Homers Kunst und Einsicht in Zweifel zu ziehen, so drückt man sich lieber so aus, Gleichnisse wären veraltet. Die andere Schätzung hält Vergleichungen für den Prüfstein des Erzählers, so daß ein Berufener an der größern oder geringern Gleichniskraft eines Dichters geradezu sein Genie oder die Abwesenheit des Genies abzulesen vermöge. Ich könnte einen berühmten Dichter nennen, der so urteilte. In ähnlicher Richtung, obschon einige Kilometer tiefer, bewegt sich die Meinung, je mehr Gleichnisse, desto besser.

Ich frage mich vor allem: Sind Vergleichungen in der erzählenden Poesie notwendig oder nicht? Und ich antworte mir: Unbedingt notwendig sind sie gewiß nicht, man kann auch ohne sie auskommen. Nur genügt es eben in der Poesie und vor allem in der epischen Poesie nicht auszukommen, sondern man muß reich sein und mit vollen Armen spenden. Wann streut nun ein Dichter mit Vernunft und Vorteil aus seinem Reichtumsüberschuß Vergleichungen in die Erzählung? Etwa, wenn es sich um deutlichere Veranschaulichung handelt? Ich behaupte: nein; denn die genaueste Anschaulichkeit läßt sich ganz leicht ohne Gleichnisse bewerkstelligen, ferner sind gar oft, sogar bei guten Dichtern, die Gleichnisse weniger anschaulich als die Situationen, die sie angeblich veranschaulichen sollen; mehr noch, Homer selber gibt nicht gar so selten bloß halbpassende oder halblogische Gleichnisse, und dennoch dienen sie ihm und wirken sie auf uns. Mithin kann Verdeutlichung der Anschauung nicht der Zweck der Vergleichungen sein. Sondern folgendes halte ich für den tiefsten vernünftigen Grund und Zweck der Vergleichungen: Sie dienen als Hemmschuh, der die Erzählung an einem Punkt stille stellt, wo der Dichter wünscht, daß der Leser verweile und tief mit dem Auge hineinsehe. So erklärt es sich denn auch, daß treffliche und schiefe Vergleichungen nicht entgegengesetzt wirken, sondern ähnlich. Das also halte ich für den Zweckmäßigkeitswert, mit andern Worten für den Kunstwert der Vergleichungen: das Stillestellen des Lesers vor einer Augenblickssituation.

Ihren poetischen Wert aber erblicke ich darin, daß der Dichter durch die Vergleichungen Gelegenheit erhält, in den heroischen Strom seiner Erzählung einen zweiten Nebenstrom des täglichen Lebens in Parenthese einfließen zu lassen, wodurch sein Werk stückweise um eine ganze Welt bereichert wird. Aus den Gleichnissen der kriegerischen Ilias blickt uns ein anderes, idyllisches Griechentum an. Nimm sie weg, so wird die Dichtung, ob ihr schon nichts Wesentliches geraubt ist, unfreundlicher, strenger, dürftiger.

Nachsatz. Was die dramatische Poesie betrifft, so glaube ich, daß dort die Vergleichungen in das Kapitel Rhetorik gehören. Ihr Wert für den dramatischen Dialog ist eine Sache für sich; in der epischen Poesie wirken solche Gleichnisse, die aus dem rhetorischen Trieb stammen, leblos und seelenlos und können deshalb in der Tat als veraltet bezeichnet werden.

 

Über die tiefere Bedeutung von Vers und Reim

Im Jahre 1913 über die Bedeutung von Vers und Reim zu sprechen, scheint unbescheiden, unnötig; das ist ja schon hundertmal besprochen worden, darüber wissen wir endlich, Gott sei Dank, alles Wissenswerte. Wirklich? Es ist noch kaum zwanzig Jahre her, daß Professoren der Literaturgeschichte Vers und Reim für absterbende Formen der poetischen Sprache erklärten. Wir alle erinnern uns, daß unlängst eine ganze literarische Partei, und zwar die maßgebende, einen förmlichen Krieg gegen die Verssprache führte, ja, wir können heute noch alle Tage die Meinung öffentlich aussprechen hören, Vers und Reim wären nur äußerliche Nebenumstände, so eine Art Verzierungen; im Grunde bedeute es keinen wesentlichen Unterschied, ob man Poesie in schmucklosem prosaischem Gewande oder in Versen, und wenn in Versen, ob in reimlosen oder gereimten Versen darstelle. Und was der und jener gelegentlich ausspricht, also die Überzeugung, Vers und Reim wären bloß ein äußerlicher, mithin entbehrlicher Sprachschmuck, das ist gegenwärtig die allgemeine Annahme; nicht jeder denkt so, weil eben nicht jeder denkt, aber so ziemlich alle Welt setzt voraus, es wäre so.

Wenn ich es daher unternehme, überzeugen zu wollen, daß Vers und Reim nicht bloß äußerliche Schmuckgegenstände, nicht bloß Sprachangelegenheiten sind, sondern das Mark und die Seele der Poesie angehen, daß es einen tiefinnersten Unterschied ausmacht, ob ich das nämliche in Prosa oder in Vers, in gereimtem oder ungereimtem Vers erzähle, so begehe ich hiermit alles andere als etwas Selbstverständliches; ich besorge eher, etwas Verwunderliches vorzubringen.

Mein Raum ist knapp, ich springe deshalb gleich mitten in die Hauptsache hinein. Es handelt sich um folgendes:

Der Rhythmus stimmt die Seele des Hörers anders, als sie im gewöhnlichen Alltagsleben gestimmt ist, denn in der spricht man Prosa; der Rhythmus weckt Bedürfnisse, die unter den gewöhnlichen Umständen schlummern, rückt Dinge, die im Hintergrund der Seele ruhten, an den ersten Platz und beseitigt dafür andere, die im täglichen Leben das große Wort führen. Die Seele des Hörers erwartet und begehrt einen anderen Inhalt von der rhythmischen Rede als von der prosaischen Rede und ist gewillt, gewissen Ansprüchen, die sie an die prosaische Rede oder Erzählung stellt, zu entsagen.

Was wird da begehrt und worauf wird verzichtet? Für die lyrische Poesie und ihre Verwandten ist die Antwort klar und wird auch von allen Einsichtigen gegeben. Es werden Gefühlswerte begehrt; ihnen wird die Herrscher- und Gesetzgeberrolle willig zuerkannt, und zu ihren Gunsten verzichtet der Hörer auf die Gesetze der nüchternen, verstandesmäßigen Logik, also zum Beispiel auf Einleitungen, auf Situationsvollständigkeit, auf den hübsch ordentlichen, lückenlosen Fortschritt des Gedankens, auf das säuberliche grammatische Satzgefüge. Man singt nicht in der Lyrik mit Einleitungen oder mit Sätzen, die mit ‹welcher› oder ‹obschon› anfangen, die Lyrik schätzt nicht die Wörtlein ‹denn›, ‹aber› und ‹also›, sie verbindet überhaupt nicht die Sätze, sondern stellt sie unvermittelt aneinander, sie macht namentlich mit Vorliebe ganz gewaltige Gedankensprünge, vor welchen sich die Prosa entsetzen würde. Kurz, die Lyrik folgt einer anderen Logik als der Verstandeslogik, nämlich der Gefühlslogik. Um aber dies zu dürfen oder zu können, bedarf sie unbedingt des gereimten Verses, zum mindesten des Verses oder eines Ersatzes des Verses, also zum Beispiel etwa des Parallelismus. Denn sobald ich den Vers beseitige, erhält sofort die Verstandeslogik die Obermacht. Alle Versuche zu einer unrhythmischen Lyrik werden ewig mißlingen, und eine rhythmische Lyrik ohne Metrum ergibt eine bloß rhetorische Lyrik. Aber wohlverstanden, freies Metrum, das sich dem Inhalt anschmiegt, ist auch ein Metrum.

So weit sind wir alle miteinander einverstanden. Die Erfahrung hat auch die prinzipiellen Verächter des Verses und des Reimes gezwungen, wenigstens der Lyrik den Vers und den Reim zu bewilligen.

Ich möchte aber nun zeigen, daß die Lyrik keine Ausnahme darstellt, sondern daß die nämlichen Gründe, welche die Lyrik zur Vers- und Reimsprache nötigen, auch für die poetische Erzählung gehobenen Stils, also für die epische Poesie gelten.

Wenn ich eine epische Poesie ohne starkschwingenden Rhythmus und ohne Vers und Reim bringen wollte, so würde ich unter die Herrschaft der nüchternen Verstandeslogik zu stehen kommen; der Hörer würde den Mangel einer Einleitung, einer genauen Situationsbeschreibung, die Unterlassung der Charakterschilderung als Lücken, die Gedankensprünge als Stöße und beides als Fehler empfinden. Auch hier erzeugen Rhythmus, Metrum und Reim andere Seelenstimmung, andere Wünsche und dadurch die Herrschaft einer anderen, höheren Logik. Nur ist es diesmal nicht die Gefühlslogik, die an die Stelle der prosaischen Logik tritt, sondern die Phantasielogik, oder mit einem andern Wort: die Bildlogik. Und diese ist von der nüchternen Verstandeslogik noch viel weiter entfernt als die Gefühlslogik. Noch ungleich kühner sind hier die Sprünge, noch verwegener die Nebeneinanderstellungen, und zwar im vollen Einverständnis mit dem Hörer, der überaus willig von Bild zu Bild mitspringt. Begreiflich, denn das Schauen ist wonniger als das Denken, und es ist der Seele angenehmer, zu fliegen als zu kriechen. Nämlich die Bildlogik mit ihrem unmittelbaren und unvermittelten Nebeneinanderrücken der Bilder erlaubt eine Kürze, wie sie außerhalb ihres Herrschaftsgebietes, also ohne Vers und Reim, ganz unmöglich wäre. Wenn man einem Epos, das im Reim und starkschwingendem Rhythmus, also zum Beispiel in sechsfüßigen Jamben, läuft, den Reim wegnimmt und einen schwächer schwingenden Rhythmus an die Stelle setzt, also zum Beispiel den fünffüßigen Jambus, so braucht man, um den nämlichen Inhalt zu erzählen, mindestens den doppelten Umfang an Zeit und Raum. Ich weiß, was ich sage, denn ich habe es versucht. Würden wir vollends noch den Rhythmus wegnehmen und den Inhalt in prosaischer Sprache erzählen wollen, so würden wir den zehnfachen Raum für den nämlichen Inhalt nötig haben. Ich will das mit einem Beispiele verdeutlichen:

«Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein,
Bei einer Frau Wirtin, da kehrten sie ein.»

Wenn wir den Inhalt dieser zwei Verse in prosaischer Erzählung, also unter der Herrschaft der Verstandeslogik mitteilen wollten, bei der immer eines hübsch ohne Sprünge aus dem andern folgt und alles Vorzustellende gesagt werden muß, so müßten wir anfangen: «Es war an einem klaren sonnigen Herbstmorgen, die Blätter und so weiter, die Vögel und so weiter, der Himmel und so weiter, da kamen durch die duftigen Nebelschleier, die kaum noch und so weiter, den Feldweg herunter gegen eine Fähre des Rheinufers drei junge Männer und so weiter. Der eine, ein schlankgewachsener Mann von vielleicht zwanzig Jahren, den Hut –, den Mantel –, der zweite –, der dritte –»; und dann käme noch der Fährmann daran. Wir hätten mindestens sechs Seiten nötig, bis wir die Kerle nur glücklich über den Rhein gebracht, und sechs weitere Seiten, bis wir das Aussehen des Wirtshauses, das Gesicht und die Kleider der Wirtin geschildert hätten. Gar nicht davon zu reden, daß ein in der Wolle gefärbter Prosaerzähler noch bei jedem der drei Burschen seine Vorgeschichte und seine Familienangelegenheiten getreulich gemeldet hätte: «Sein Vater war ein schlichter –, seine Mutter eine einfache –, seine Erziehung –, und so weiter.» Statt dieses ganzen Gemüses von Dutzenden von Seiten, bei dessen bloßer Vorstellung einem übel wird, braucht der Dichter, wenn er sich des Verses und des Reims bedient, zwei Zeilen, und wir sind zufrieden damit. Und nun frisch und fröhlich in zwei Zeilen bringen kann oder sie mühselig in zwölf Seiten vom Platze schleppen muß?

Jetzt habe ich bloß noch zu sagen, daß es sich mit dem Epos dem Wesen nach gleich verhält wie mit der kurzen poetischen Erzählung, obschon nicht ganz in so hohem Grade, und daran zu erinnern, daß in den modernen Sprachen hauptsächlich der Reim darüber entscheidet, ob mir der Wortlaut einer Dichtung von selber im Gedächtnis haftet oder nicht. So hoffe ich überzeugt zu haben: Vers und Reim bedeuten unendlich viel mehr als bloß einen glänzenden, spielerischen Sprachschmuck, sie haben für die Poesie organische, also wesentliche Bedeutung.

Denjenigen aber, welche Rhythmus, Vers und Reim im Namen der Natur anfechten möchten, habe ich zu erwidern, daß nicht der Rhythmus und der Vers und der Reim unnatürlich sind, sondern daß die Prosa eine unnatürliche Sprache ist.

Prosa ist nur eine Konventionalsprache, dienlich für die Verständigung, ein Volapük der Begriffe, ein künstlich gemünztes und ein schon abgegriffenes Tauschgeld. Wenn ich auf dem Markte einen Apfel kaufe, wenn ich über den Unterschied von objektiv und subjektiv lehre, ja, dann spreche ich Prosa. Aber was tun unsre Kinder, wenn sie spielen? Sie zählen ihre Spiele in Versen und Reimen ab. Sind etwa Kinder und Kinderspiele unnatürlich? Und wenn wir gemeinschaftlich durch den Wald wandern, was tun wir? Wir gehen im Marschschritt und singen ein Lied im Takt. Ist der Wald, ist das Wandern, ist das Singen ‹unnatürlich›? Ich denke vielmehr: die täglichen Sorgen, das Schelten über die Zeitläufte, das Zanken mit den Dienstmädchen sind ‹unnatürlich›. Sobald sich der ganze Mensch beisammen hat, wenn die Seele sich regt und der Mut sich bewegt, so sucht er nach einem besseren, gesunderen, natürlicheren Ausdruck seines Lebensgefühls, als ihm die Prosa bietet. Die Prosa herrscht ja nur unter der Bedingung, daß zugunsten der Geschäfte das Beste im Menschen unterdrückt und verschwiegen wird. In der Kunst aber will das Beste im Menschen obenauf und zur Sprache kommen. Und darum spricht die Dichtkunst nicht die Konventionalsprache der Prosa, sondern die ihr natürliche Sprache, also Rhythmus, Vers und Reim.

 

Die Lehre vom Reim

Während die Reimkunst in Deutschland allmählich recht hoch gediehen ist – der Durchschnitt hat sich bedeutend gehoben und hebt sich jährlich mehr –, bewegt sich die Reimlehre noch immer in den alten Geleisen. Sie ist primitiv, auf die gröbsten Anforderungen zugeschnitten, sie genügt nicht mehr. Heutzutage reimt sogar ein gescheiter Dilettant besser und zum Teil anders, als es die Reimlehre weiß. Es ist aber durchaus nicht gleichgültig, wenn die Erkenntnis, statt der Praxis den Weg zu erleuchten, der Praxis nachhinkt oder gar außer Gesichtsweite hinter ihr stehenbleibt. Zwar der Dichter selber, so meint man wenigstens, bedarf der Erkenntnis nicht, denn er trifft mit unfehlbarem Instinkt das Richtige. Ich persönlich glaube, er bedarf ihrer zwar am Montag bis Donnerstag nicht, aber bedarf ihrer am Freitag; weil nämlich ein Dichter an verwünschten Tagen mit unfehlbarem Instinkt das Unrichtige trifft. Jedenfalls kann es nie schaden, wenn einer weiß, was er tut. Lassen wir das dahingestellt; jedenfalls bedarf der Genießende, insofern er urteilt – und unwillkürlich urteilt ja jeder Genießende –, und ganz dringend bedarf der Kritiker der klaren Einsicht. Sonst kann es ihm begegnen, daß er dem Schaffenden Vorzüge als Fehler aufmutzt. Und das begegnet ihm auch wirklich. Ich könnte hiefür merkwürdige Beispiele anführen. Allein wozu Beispiele? So ziemlich alle Welt urteilt ja: Der Reim stimmt, folglich ein guter Reim; der Reim stimmt nicht, folglich ein schlechter Reim. Natürlich, man hat es ja so gelernt.

Diese alte Theorie nun, die das meint, daß es beim Reim einzig auf den Übereinklang und immer auf den Übereinklang ankäme, ist falsch. Was die Verslehre für einen guten Reim ausgibt, gilt dem Dichter höchstens für einen genügenden Reim. Ein genügender Reim ist aber noch lange kein guter, sondern er ist an den meisten Orten für einen guten Reim zu wenig und an einigen wenigen Orten für einen guten Reim zu viel. Die Reimlehre ist überhaupt anders anzufassen.

Vor allem muß ihr die Einsicht dämmern, daß man nicht einerlei reimt, sondern in verschiedenen Kunstformen, verschiedenen Stilarten, verschiedenen Gefühlstönen verschieden, daß, was an der einen Stelle ein Vorzug, an einer andern Stelle ein Fehler ist. Man reimt eine Satire anders als einen Gefühlserguß, einen getragenen, hochgehobenen Vers anders als ein Lied. Ein Lied mit reinen, tadellosen, wohlklingenden Reimen wäre ein schlecht gereimtes Lied; hier sind Ungenauigkeiten, also vermeintliche ‹Fehler› Vorzüge; während wiederum ein pathetischer Gefühlserguß die größte Vollkommenheit sowohl hinsichtlich der Klangfülle wie der Reinheit verlangt. Sodann muß die wichtige Wahrheit gewußt werden, daß es beim Reim keineswegs bloß auf den Klang ankommt. Der Dichter sieht sich bei seinem Reim vor die Aufgabe gestellt, noch eine Menge anderer Dinge zu berücksichtigen und mit der Gefühlswaage abzuwägen. Ich will einige davon nennen: Es kommt zum Beispiel auf die Betonung, auf den Akzent an, welchen ein Reimwort im Satz hat. Es gibt tonlose, schwachbetonte, matte, und es gibt stark betonte, scharf betonte und zudringliche Reime, ja, es gibt sogar scheinbare Reime; und, wohlverstanden, alle haben an ihrem Ort ihre Berechtigung. Es kommt ferner auf den grammatischen Wert des Wortes an, das man in den Reim setzt. Ein Zeitwort, ein Hauptwort schafft einen ganz anderen Reim als ein Fürwort oder ein Adjektivum. Es ist auch nicht dasselbe, ob ich beim nämlichen Klang ein Zeitwort in der Vergangenheit mit einem andern Zeitwort in der Vergangenheit oder ob ich ein Zeitwort mit einem Partizipium oder Substantiv reime. ‹Nannte› und ‹wandte› ergibt nicht einen Reim vom nämlichen Karat wie ‹nannte› und ‹Verwandte›. Auch Zusammensetzungen erzeugen andre Reimwerte als einfache Worte. ‹Kann› mit ‹Mann› reimt anders als ‹Kann› mit ‹Zimmermann›. Es kommt ferner darauf an, ob ein Reimwort den Redesatz schließt oder mitten im Spruch steht. In ersterem Falle erhalten wir einen behauptenden, im letzteren Fall einen gleitenden, flüchtigen Reim. Es kommt ferner auf den logischen Gedankenwert an, welchen das Reimwort im Sinne des Satzes hat. Wenn zum Beispiel der Gedanke des einen Verses zu dem Gedanken des andern Verses in Gegensatz tritt und der Gegensatz gerade in den Reimworten zündet, so erhalten wir einen beispiellos scharfen Reim, den antithetischen Reim. Es kommt ferner auf die dynamische Kraft an, mit welcher der Rhythmus des Gedankens und des Verses in den Reim stürzt. Da wären noch eine Menge Dinge zu nennen, allein ich maße mir ja nicht an, eine neue Reimlehre zu begründen; ich erlaube mir bloß, den Weg anzudeuten, welchen meiner Ansicht nach eine neue, rationelle Reimlehre wird einschlagen müssen.

Beiläufig möchte ich auch empfehlen, endlich einmal mit einigen alten, albernen Titeln endgültig aufzuräumen. Ich denke an die Titel ‹Knittelvers› und ‹Schüttelreim›. In ‹Knittelversen› kann man einen Faust dichten; und der ‹Schüttelreim› kann, wenn verständig angebracht, sein Recht und seine Wirkung haben; bekanntlich betrachtet der Franzose den ‹Schüttelreim› sogar als den König aller Reime. Wozu also dieser höhnische, verächtliche Name? Dem ‹Schüttelreim› gebührt von Natur und Wahrheit wegen ein solcher Name, der seine Eigentümlichkeit bezeichnet, also der Name ‹Doppelreim›.

 

Verstechnisches

  1. Sprechen Sie einmal natürlich, so wie Sie immer sprechen, den Satz aus: «Ich habe mir dabei verschiedene Gedanken gemacht.» Haben Sie nun in den Worten: ‹verschiedene Gedanken› mehr als zwei Betonungen vorgenommen? Nein: Sie haben die Vokale ie und a betont und die übrigen Silben gänzlich tonlos gelassen. Folglich: Weg mit der Behauptung, es gebe im Deutschen keine drei unbetonten Silben nebeneinander.
  2. Sprechen Sie wiederum natürlich, so wie Sie immer sprechen, den Satz aus: «Er ist um neun Uhr heute morgen abgereist.» Haben Sie während dieses Satzes eine Atempause vorgenommen? Oder auch nur das Bedürfnis nach einer solchen verspürt? Nein. Also weg mit der Forderung, jeder sechsfüßige Vers müsse durchaus eine Zäsur haben.

 

Poetische Sprache vor dem nüchternen Verstand

Darf der nüchterne Verstand sich unterfangen, den poetischen Ausdruck zu beurteilen? Oder dasselbe mit andern Worten: Soll der Dichter verpflichtet werden, so zu sprechen, daß seine Sprache vor dem nüchternen Verstand bestehe? Wir sind geneigt, das rundweg zu verneinen. Denn da wir schon in gewöhnlicher täglicher Sprache einander ‹hundert› Grüße senden und ‹tausend› Gründe besitzen, obwohl wir sie nicht gezählt haben, wie sollte dies und mehr als dies dem Dichter nicht erlaubt sein? Wenn daher Boileau den tausend Gründen gegenüber mit feinem Lächeln zu erwidern pflegte: «Vielleicht warens nur neunhundertneunundneunzig Gründe», so schelten wir ihn einen Pedanten. Warum schelten wir ihn einen Pedanten? Weil er das nüchterne Verstandesmaß an den poetischen Ausdruck anlegte, während für uns seelische Stimmungsmaße gelten sollen.

Gut. Aber wenn nun ein Schüler schildert: «Die Münstertürme neigten sich im Morgenrot» oder ein Dilettant dichtet: «Stockdunkel wars, der Mond schien helle», was tun Sie da? Sie lachen. Warum lachen Sie? Weil Ihr nüchterner Verstand Ihnen sagt: «Wenn die Münstertürme sich im Morgenrot neigen, so fallen sie ja um, und wenn der Mond helle scheint, so kann es unmöglich stockdunkel sein.» Sie haben also genau dasselbe getan was Boileau, und der Schüler, der Dilettant, den Sie auslachen, nennt Sie in seinem Herzen mit demselben Recht Pedant, wie Sie Boileau einen Pedanten genannt haben.

Also davon, daß man die Kritik des nüchternen Verstandes der poetischen Sprache gegenüber einfach mit überlegener Gebärde verachten dürfte, davon ist keine Rede, außer es rede einer, ohne zu denken, was vorkommen soll. Es gibt tatsächlich niemand, nicht einen einzigen Menschen, der nicht auch an die poetische Sprache das Maß des nüchternen Verstandes anlegte; ja in gewissen Punkten, zum Beispiel im Punkt des Reimes, wird allgemein sogar sehr scharf und sehr nüchtern mit dem Verstande nachgesehen, ob die Reimworte auch logisch in den Gedanken stimmen.

Es handelt sich also nicht um die Befugnis des nüchternen Verstandes, diese steht über der Frage, sondern bloß um den Bereich, die Grenzen seiner Befugnis. Die Grenzen nun setzt der Geschmack fest. Der Geschmack aber entscheidet in verschiedenen Zeitaltern und verschiedenen Nationen verschieden. Und da nicht wir den Geschmack als Monopol gepachtet haben, ist es rätlich, mit dem Vorwurf ‹Pedant› etwas vorsichtiger umzugehen. Um auf unser Beispiel zurückzukommen: Boileau fühlte und wußte eben, was jeder Denker und jeder Dichter weiß und nur der Pfuscher nicht weiß, nämlich, daß es auch im poetischen Ausdruck darum zu tun ist, die Wahrheit, und zwar die genaue Wahrheit zu sagen und nicht mit flunkernden Worten herumzufuchteln. Stimmung, ja, aber nicht unbestimmte Stimmung. La Bruyère hat den richtigen, wohlerwogenen Spruch getan: «Der Dilettant und das dichterische Genie unterscheiden sich in folgendem: der Dilettant will erhaben sein, das Genie begnügt sich, genau sein zu wollen». Er meint natürlich: in der Sprache, denn dem Franzosen ist ja die Poesie vor allem eine Sprachangelegenheit. Wenn daher einer weiß, was in der poetischen Sprache die Wahrheit wert ist, und erfahren hat, welche ununterbrochene Aufmerksamkeit und Geduld es kostet und wieviel Geist es braucht, auch in der Poesie niemals bloß unbestimmt ‹poetisch›, sondern immer zugleich wahr und genau wahr zu sprechen, dann kann es schon, ohne ein Pedant zu sein, begegnen, in den Grenzgebieten, wo verschiedener Geschmack verschieden urteilt, einmal im Wahrheitseifer zu weit zu gehen, wenigstens nach unserm heutigen Geschmack zu weit.

 

Die Bedeutung der Sprache für die Poesie

Man pflegt die Sprache das Werkzeug des Dichters zu nennen und empfiehlt diesem deshalb die größtmögliche Sorgfalt und Aufmerksamkeit für sie. Nun will ich gewiß nicht bestreiten, daß der Dichter schließlich kein anderes Mittel übrig hat, als sich der Sprache zu bedienen; in Hieroglyphen kann er sich ja – leider! – nicht verständlich machen. Allein daß die Sprache jene entscheidende Wichtigkeit hätte, die man ihr beimißt, daß sie das Instrument und den Stoff der Dichtkunst bedeuten sollte, daß sie gleichsam das Fleisch zu der Seele der Poesie darstelle, das hat mir nie eingeleuchtet, weder damals in meinen Kinderjahren, da ich der Poesie als Leser gegenüberstand, noch heute, da ich sie selber übe. Denn bei weitem der größte und schwierigste Teil, ich sage sogar der entscheidende Teil der Dichtertätigkeit geht vor, ehe der Dichter nur sich an die Sprache erinnert. Er denkt und dichtet ja nicht mit der Sprache, sondern mit dem Bilde, mit der Vision: Avenarius hat einmal vorgeschlagen, die Dichtkunst als ‹Bildnerei mit Vorstellungen› zu betrachten. Kommt er endlich dazu, sich der Sprache zu bedienen, so ist die Hauptsache schon geschehen, und der sprachliche Ausdruck ist im Vergleich zu der sorgenvollen vorsprachlichen Dichtertätigkeit ein so leichtes Kinderspiel, daß es sich gar nicht einmal der Mühe lohnt, davon zu reden, daß ich vielmehr jedem, der das Vorsprachliche im reinen hat, das Gelingen auch des sprachlichen Ausdrucks mit Sicherheit zu verbürgen wage. Hiermit will ich natürlich nicht etwa der leichtsinnigen Handhabung des sprachlichen Ausdrucks das Wort reden; gewiß nicht, sondern im Gegenteil. Nur begeht man einen Fehler, wenn man gar zu großes Aufsehen von der Sprache macht und hiermit den Dichter verleitet, seinen sprachlichen Gelüsten und Studien als solchen Wichtigkeit beizumessen. Es ist eben von der Natur dafür gesorgt, daß jeder, der einen rechten poetischen Gedanken oder Inhalt hat, von selber auch den richtigen sprachlichen Ausdruck dafür findet, einerlei, ob er will oder nicht will. Wäre ich hierüber im Irrtum und die andern, die eine entgegengesetzte Ansicht vom Wert der Sprache haben, im Recht, dann müßte ja, wer seine Sprache und seine Verstechnik mit Fleiß geübt hat, einen gewaltigen Vorsprung vor jenem haben, der sich nie um Sprache und Vers kümmerte. Das ist aber erfahrungsmäßig nicht der Fall. Ob einer mit fünfzehn Jahren schon fehlerlose Sonette reime, oder ob ein anderer erst mit dreißig Jahren seinen ersten Vers versuche, das ist für die Beurteilung seiner Sprach- und Verskunst völlig gleichgültig; jener hat nicht den mindesten Vorsprung vor diesem voraus, nicht einmal verstechnisch. Darf ich mit meinem eigenen Beispiel exemplifizieren? Ich habe mich nie im mindesten um die Ausbildung meiner Sprache als solcher gekümmert, ich habe als Siebenunddreißigjähriger meinen ersten Reim gewagt, und dennoch geht die Sage, ich handhabte Sprache und Vers nicht übler als ein anderer. Die sprachliche Technik hat eben für den Dichter nicht die Bedeutung wie für den Maler und den Musiker die Technik der Farben- und die der Tongebung.

Wie kommt es nun aber, daß die Welt anderer Meinung ist? Daß immer von der Sprache der Dichter gar so viel Aufhebens gemacht wird? Ich glaube, das kommt davon, daß uns die Dichter, vor allem die griechischen und römischen Dichter, von den Sprachgelehrten vermittelt worden sind.

 

Wie Gedichte entstehen

Sie werden wohl den Titel meines Vortrages kaum so aufgefaßt haben, als ob ich Ihnen eine Anleitung zum Dichten geben wollte. Die Zeiten des Nürnberger Trichters sind vorbei.

Auch darin sind wir gewiß einig, daß wir nur die gedeihliche Art des Dichtens ins Auge fassen wollen. Denn wie unersprießliche Gedichte entstehen, das ist bekannt genug.

Meine Absicht ist vielmehr, Ihnen zu zeigen, wie wenig es braucht, wenn einmal die Vorbedingungen vorhanden sind, um ein Gedicht ins Leben zu rufen, und wie merkwürdig es oft dabei zugeht.

Ich sage: wenn einmal die Vorbedingungen vorhanden sind. Denn auf die Vorbedingungen kommt alles an. Dieselben sind ebenso leicht zu nennen, als schwer und mühselig zu erringen. Denn geborene Dichter in dem Sinne, als ob einer von Natur ein fertiges Talent mit auf den Weg bekäme, das ihm die Inspirationen in die Feder diktierte, gibt es nicht und hat es nie gegeben.

Die Vorbedingungen lauten: Eine feste Persönlichkeit, welche jeden Ausspruch und Ausdruck individuell stempelt, ein gewisses Maß von Geistesbildung, je mehr, desto besser, und eine Seele, welche von Phantasie und Poesie dermaßen strotzt, wie ein Schwamm von Wasser oder eine Wetterwolke von Elektrizität. Das ists, das entscheidet, darauf und nur darauf kommt es an.

Sie werden vielleicht unter den Vorbedingungen zwei Eigenschaften vermissen: die Sprachkunst und die Verskunst. Ich habe dieselben mit Bewußtsein übergangen, und zwar aus folgenden Gründen:

Sprache im schriftstellerischen Sinn ist etwas anderes als Sprache im grammatischen Sinn. Sie bedeutet Neuschöpfung und Neuprägung, oder mit einem andern Worte: Stil. Der Stil aber hängt unzertrennbar mit der Persönlichkeit zusammen und kann weder gelernt noch geübt werden. Ein Platen und Rückert, welche ihr Leben lang sich peinlich um die Sprache bemühten, sind in der Sprachmeisterschaft nicht entfernt so weit gekommen wie ein Keller oder Meyer, von denen der eine zuerst Maler war und der andere bis in sein spätes Mannesalter schwankte, ob er ein französischer oder ein deutscher Schriftsteller würde. Warum? Weil die letztgenannten weitaus die stärkern Persönlichkeiten waren und weil sich aus einer starken Persönlichkeit ein starker Stil oder, mit einem andern Wort, die sprachliche Meisterschaft von selbst ergibt.

Mit der Verskunst verhält es sich ähnlich. Es ist ja allerdings möglich, dieselbe zum voraus zu erlernen und zu üben. Allein es ist nicht rätlich. Denn auch hier steht es so, daß Persönlichkeit, Seelenschwung und Gedankengröße mit einem einzigen Schritt weiter kommen als die langjährigste Vorübung. Wer mit seinem sechzehnten Jahre schon Sonette fehlerlos zu reimen versteht, hat keinen Vorsprung vor jenem, der erst im spätem Mannesalter seinen ersten Reim schreibt.

Es verhält sich eben mit der Technik in der Dichtkunst ganz anders als in den übrigen Künsten. Man kann einen angehenden Musiker nie früh genug aufs Konservatorium, einen angehenden Maler nie früh genug auf die Akademie schicken. Dagegen kann ein Dichter nie spät genug anfangen, Verse zu schreiben und zu reimen. Nicht als ob in der Dichtkunst die Technik weniger wichtig wäre, aber sie ist weniger selbständig, sie läßt sich nicht vom Stoff und von der Persönlichkeit trennen. Man lernt in der Dichtkunst nicht durch Übung, sondern durch Leistung.

Nehmen wir nun die Vorbedingungen als vorhanden an, und sehen wir uns nach den Entstehungsursachen der einzelnen Gedichte um.

Der bei weitem wichtigste Anlaß zu Gedichten, die eigentliche Quelle der Poesie, zu welcher jeder Dichter, wer er auch sei, immer wieder zurückkehren muß, ist das Erlebnis. Unter Erlebnis ist jedoch nicht ein äußeres Ereignis zu verstehen, sondern eine starke und nachhaltige Gemütsbewegung, sei dieselbe nun veranlaßt wie sie wolle. Man kann fremdes Leid erleben, man kann eine Überzeugung erleben, man kann Wahrheiten und große Gedanken erleben. Schillers «Drei Worte des Glaubens» sind nicht minder erlebt als Goethes «Mignon». In den meisten Fällen wird freilich das Erlebnis Mandelaugen mit langen seidenen Wimpern haben und Handschuhe Nummer sechs tragen. Alle erlebten Gedichte genießen ein königliches Privilegium: Sie können kaum mißlingen, und es ist fast unmöglich, sie umzubringen.

Mit einer besonders merkwürdigen Art von erlebten Gedichten möchte ich Sie bekanntmachen, mit den ‹Ruinengedichten›, wie ich sie nenne. Ich will Ihnen den Ausdruck erklären: Wenn einer in seiner grünen Jugend mit unreifer Kraft und Kunst irgendeinen poetischen Plan treu und ehrlich arbeitet, so wird ihm zwar die Arbeit mißlingen und glänzend mißlingen. Nimmt er jedoch in spätem Jahren den Plan wieder auf, so hat er damit eine größere Sicherheit des Gelingens als mit einem frischen Plan. Nicht etwa, weil schon vorgearbeitet wäre, denn Pfuschen ist keine Vorarbeit, sondern weil ein ganzes Nest von Seelenfäden, von getäuschter Jugendhoffnung an dem alten Plan hangen geblieben ist. Mit andern Worten: weil der Plan jetzt den Charakter eines Erlebnisses hat. ‹Ruinengedichte› nenne ich solche Gedichte, weil sie aus den Trümmern untergegangener Gedichte gebaut werden. Auch auf sie erstreckt sich das gnaden volle Privileg der erlebten Gedichte. Die Ruinengedichte spielen in der Literatur eine höchst bedeutende Rolle. Goethes Faust zum Beispiel ist ein Ruinengedicht. Ich kann Ihnen sogar einen bedeutenden Dichter nennen, dessen ganzes Schaffen sich hauptsächlich auf Ruinen stützt: Conrad Ferdinand Meyer. Aus den Trümmern seiner mißlungenen Dramen hat er seine Novellen gebaut.

Um aus einer Ruine ein neues Gedicht fertigzustellen, sind oft die sonderbarsten Verwandlungen und Manipulationen nötig. Wie kraus es dabei manchmal zugeht, will ich Ihnen an ein paar eigenen Beispielen illustrieren.

Ich hatte es vor Jahren einmal unternommen, die Schmetterlinge poetisch zu schildern, die wirklichen, leibhaftigen Schmetterlingsinsekten. Unter jenen Gedichten fand sich eines über den sogenannten Trauermantel. Sie kennen ja alle den schönen purpurschwarzen Schmetterling mit dem goldenen Flügelbande. Das Gedicht verlief so: Einige Trauermäntel spielen im letzten Abendsonnenschein um einen Waldfelsen. Eine herrschaftliche Equipage mit einem Herrn und einer Dame darin fährt durch den Wald. Ein Trauermantel setzt sich auf den Wagenschlag, kehrt zurück und erzählt seinen Gespielen die Gespräche, die er belauscht hat. Das Gedicht war fertig, erschien mir aber zu lang und zu kompliziert. Ich las es einem berühmten Schriftsteller, Fritz Mauthner in Berlin, vor. Der riet mir, die Mitte, also die Equipage, wegzulassen und nur die spielenden Schmetterlinge zu geben. Dann las ich es einem hervorragenden Schweizer Dichter vor. Der riet mir, den Anfang und das Ende, also die Schmetterlinge, wegzulassen und nur die Equipage zu geben. Die Folge davon war natürlich, daß ich sowohl den Anfang als die Mitte und das Ende wegließ und das Gedicht aus der Sammlung ausschloß. Ein paar Jahre später fiel mir ein, die Schmetterlinge in Fliegen zu verwandeln, und siehe da, augenblicklich geriet das Gedicht nach Wunsch. Es heißt jetzt «Die drei Fliegen». Ein anderes Schmetterlingsgedicht konnte erst dann gelingen, nachdem ich den Schmetterling, also den ursprünglichen Grund und Zweck des Gedichtes, gänzlich entfernt hatte. Das Gedicht heißt jetzt «Die Jurakönigin».

Sehr häufig sind die Fälle, wo ein Dichter aus einem größern mißlungenen Werk einzelne kleine Motive rettet. Auch auf ihnen ruht der Segen des Erlebnisses.

 

Scheinbar nahe verwandt mit dem erlebten Gedichte, in Wirklichkeit aber das gerade Gegenteil davon, ist das Stimmungsgedicht.

Die Stimmung verhält sich zum Erlebnis wie der Schein zur Wahrheit, wie Strohfeuer zu einem nachhaltigen Feuer, wie die Oberfläche zum Inhalt. Für den Dilettanten ist die Stimmung die Hauptquelle, ja so ziemlich die einzige Quelle des Dichtens. Für einen kraftvollen Dichter eine der seltensten (Schiller). Wenn man das Wesen haben kann, so hascht man nicht nach dem Schatten. Ich weiß wohl, was die Stimmung für die Lyrik wert ist, und vergesse keineswegs, wieviel Schönes durch sie geschaffen wurde – allein ein Nebenmotiv bleibt sie trotz allem, überdies ein gefährliches Motiv, am gefährlichsten für den Dilettanten. Die Stimmung des Dilettanten ist meist eine Verstimmung, In verstimmtem Zustande soll man aber überhaupt nicht dichten, sondern eine Haydnsche Symphonie spielen. Ferner verwechselt der Stimmungsdichter gar leicht Seelenverstimmung mit Nervenverstimmung, Melancholie mit Hypochondrie und die traurige Empfindung des Nichtkönnens mit Gemütsschmerz. Andere Stimmungsdichter arbeiten sich künstlich in eine Art astronomische Sentimentalität und atmosphärischen Weltschmerz hinein. Wenn man ihnen glaubte, so gäbe es Menschen, welche beim Anblick eines nächtlichen Froschteiches melancholisch werden und beim Anblick des Vollmondes zu sterben begehren. Was mich hindert, diese barometrische Sentimentalität mitzumachen, ist, abgesehen davon, daß sie nicht wahr ist, die Frage: Ist sie nicht ein bißchen – wie soll ich sagen – einfältig? Auch stört mich eine nicht gerade erhebende Konkurrenz, nämlich eine vierbeinige. Wer winselt den Vollmond an? Nicht die Nachtigall, denn die seufzt nach dem Weibchen, sondern Phylax der Hofhund.

Überhaupt ist den Dichtern nicht so jämmerlich zumute. Wenn denn schon Verstimmung sein soll, so empfehle ich einen gesunden, währschaften Zorn. Der hat schon manches Schöne geschaffen. Aber der Zorn muß aus einem gutartigen Herzen und einer vornehmen Seele springen, sonst wird er gehässig und hiemit häßlich.

 

Ganz wie mit den Stimmungsgedichten steht es mit den Gelegenheitsgedichten, nur noch ein bißchen schlimmer. Ein Dichter auf der Höhe seiner Kraft gibt sich damit nur in den seltensten Ausnahmen ab. Tut einer das häufiger, so muß das als ein Symptom der Altersschwäche oder der Talentschwindsucht gelten. Kommen Sie daher einem Dichter, den Sie hochschätzen, nie mit einem Album.

 

Was ich viel eher Dichtern und Dilettanten anraten würde als das Stimmungsgedicht, das ist die Nachahmung erlauchter Vorbilder. Mit Unrecht verhüllt man sich dem gegenüber in seine sogenannte Bescheidenheit. Lernen und Versuchen ist keine Unbescheidenheit. Eine Unbescheidenheit ist es dagegen, ungeniert an den großen Vorbildern vorbeizugehen, um abseits zu pfuschen. Und wer es nicht wagt, den großen Mustern mutig ins Auge zu sehen, der bleibt überhaupt besser der Kunst fern. Denn in der Kunst haben nur Leistungen ersten Ranges Wert. Hier gibt es keine Werte zweiten und dritten Ranges; was nicht ersten Wert hat, ist wertlos. Die treue, gewissenhafte Nachahmung von Vorbildern ist vielmehr nach dem Erlebnis die segensreichste Entstehungsquelle von Kunstwerken. Es gibt kaum einen großen Meister, der nicht seine Vorgänger direkt nachgeahmt hätte; sogar der originelle Beethoven hat nachgeahmt, und die größten Nachahmer aller Zeiten heißen Mozart und Raffael.

Die Nachahmung kann eine direkte sein, indem man sich mit vollem Bewußtsein die Aufgabe stellt, etwas Ähnliches mit ähnlichen Mitteln in ebenbürtiger Vollendung zu erreichen. Für diesen Fall gelten folgende Gesetze: Man muß sich die denkbar vollkommensten und schwierigsten Muster auswählen, damit man bei dem Versuche auch im Falle des Mißlingens etwas lernt. Das Muster muß ferner der eigenen Lust und Individualität möglichst widerstreiten, damit man sein Talent erweitere.

Oder statt Nachahmung kann es ein Wettstreit sein, so daß man gleich anfangs die Gewißheit verspürt, etwas Ähnliches auch zu können. Die Lust zum Wettstreit wird sich namentlich gegenüber mitlebenden Dichtern einstellen und erzeugt meistens Erfreuliches. Von einem Wettstreit datiert der höchste Aufschwung der italienischen Malerei. Aus einem Wettstreit ist Rossinis «Wilhelm Tell» entstanden. Einem zweimaligen Wettstreit verdankt Verdi seine beiden feinsten Opern: den «Ballo in maschera» dem Wettstreit mit Aubers gleichnamiger Oper, die «Aida» dem Wettstreit mit Wagner.

Es bedarf übrigens nicht einmal stets des Studiums des Vorbildes. Schon die bloße Erinnerung an das Dasein oder an den Namen eines bewunderten Lieblingsmeisters genügt oft, um fördernd und lebenzeugend zu wirken. Man kann sich an einem großen Meister emporschämen, in der deutschen Dichtung am besten an Schiller. Bei diesem Anlaß will ich Ihnen ein kleines Berufsgeheimnis verraten. Jacob Burckhardt erzählt irgendwo von einem italienischen Dichter, der sich an einem griechisch geschriebenen Homer emporschwang, obschon er keine Silbe griechisch verstand. Das klingt wunderbar, indessen läßt sich das Experiment noch heutzutage mit Nutzen wiederholen. Legen Sie, wenn Sie dichten wollen, ein Bändchen Schillerscher Gedichte auf den Schreibtisch, unter andere Bücher versteckt, so daß nur ein kleines Eckchen davon hervorschaut. Ich schwöre Ihnen, es wird nicht lange gehen, so tönt Ihnen aus dem Bändchen eine Stimme entgegen, welche Sie alle Augenblicke in der Arbeit unterbricht. Mit Bemerkungen wie die folgenden: «Auf dem Wege bringst du nie etwas Rechtes zustande.» «Ich hätte das in achtzeiligen Strophen geschrieben.» «Dieser Vers taugt gar nichts.» Und so weiter. Erst wenn die Stimme sagt: «Nicht übel, das hätt ich dir nicht zugetraut», findet man Ruhe.

 

Ein wichtiges und in vielen Fällen ersprießliches Entstehungsmotiv von Gedichten ist die Aufgabe, das heißt eine von außen her gestellte Anforderung, einen bestimmten Stoff unter gegebenen Bedingungen fertigzustellen. Man sollte nicht denken, daß auf diese Weise etwas Rechtes gedeihen könnte. Und doch ist es so. Und zwar je unerbittlicher der Zwang ist und je beschränkender die Bedingungen, desto besser. Nämlich der Zwang wetzt den Willen durch den Widerstand und vermehrt die Kraft, wie ein gezogener Gewehrlauf die Kugel fördert. Freilich, nicht alle Künstler vermögen nach Aufgaben und Zwang zu schaffen. Diejenigen aber, die es können, tun es mit Vorliebe.

Die Kunstgeschichte verdankt dem Zwang oder, wenn Sie lieber wollen, der äußerlichen Aufgabe Unermeßliches. Maler und Bildhauer schaffen meistens nach Zwang, Aufgabe oder Anlaß. Von den Dichtern kommt der Dramatiker am häufigsten in die Lage, unter dem Zwang zu schreiben. Ja, im Grunde genommen ist das Theater überhaupt ein Zwang.

Oder an die Stelle des Zwanges kann die freundschaftliche Nötigung treten, zum Beispiel die Überredung oder die Anregung oder der drängende Rat von Freunden. Solchen Künstlern und Dichtern, welche im Dunkeln tappen, sich selbst suchen und ein ihrem Talent entsprechendes Thema nicht finden, kann das mitunter wohlbekommen. Es sind meinem Gedächtnis zwei Beispiele gegenwärtig, wo ein Schriftsteller sein Meisterwerk der Überredung von Freunden verdankt. Flauberts «Madame Bovary» entstand auf Anregung von Maxime du Camp. Unser Landsmann Joachim erhielt die Anregung zu seiner «Lonny» von Landammann Vigier.

Bedeutend tiefer an Wert steht die Aufgabe durch Verlockung, also durch Preisausschreibungen und dergleichen. Auf ganz junge, unbekannte und hilflose Talente mag das mitunter wirken, die Beispiele von Rousseau und Mascagni beweisen das. Aber das sind seltene Ausnahmen. Ein reifer Künstler läßt sich auf keine Preisaufgaben ein. Denn die Muse läßt sich weder durch Geschenke noch durch Lorbeeren ködern.

Genau wie der Zwang wirkt sein Gegenteil, die Abhaltung. Denn auch sie wirkt durch den Widerstand spannend. Es kommt vor, daß Gedichte, welche nicht gelingen wollen, während man freie Zeit hat, augenblicklich sich fügen, nachdem eine unabweisliche Abhaltung dazwischengekommen. Das erklärt Ihnen, warum zuweilen der Druck einer Berufstätigkeit dem Dichter zum Segen gereicht. Aber wohlverstanden, der Druck der Berufstätigkeit darf weder schwer noch anhaltend sein, sonst erstickt er die poetischen Keime. Gottfried Keller hat während seiner Landschreiberei das Dichten einstellen müssen.

 

Tausenderlei Motive bietet ferner willig und ungesucht das tägliche Leben. Und zwar erzeugen gerade die geringfügigsten Anlässe mitunter das Erfreulichste. Da sind zum Beispiel die Fenstergedichte, wie ich sie nenne, das heißt solche, die dadurch entstehen, daß man einfach zum Fenster hinaussieht. Oder die Zeitungsgedichte, die bei der Lektüre irgendeines Tagblattes entstehen. Sowohl Tagesbericht als die Vermischten Nachrichten oder die Inserate können dazu taugen, schwerlich jedoch der Börsenbericht. Am ergiebigsten sind die Vermischten Nachrichten. Auch Gottfried Kellers «Romeo und Julia», wurde durch eine Vermischte Nachricht ins Leben gerufen.

Auch die Tabellen des Zivilstandesamtes können etwa dienen. Da lese ich zum Beispiel den Tod eines dunkeln Ehrenmannes, bei dem jedermann unwillkürlich ausruft: «Um den ist es weiß Gott nicht schade». Wollen Sie hören, wie man den Gedanken «Um den ist es nicht schade» poetisch ausdrückt:

Vermischte Nachricht

Er war mir feind und keinem andern freund,
Gleichgültig las ich gestern seinen Tod.
Da träumte mir in der verwichnen Nacht:
Er wandelte im öden Heidefeld,
Fern von den Menschen, bettelnd mit dem Teller,
Träte zu mir und schüttelte den Teller:

«Ein armer Toter auf der Wanderschaft,
Der fortan keinem Menschen Böses schafft,
Ersucht den Herrn, ihm seine Schuld zu schenken,
Und bittet um ein mildes Angedenken.»

 

Kann man im Traume Gedichte schaffen? Korrigieren gewiß. Denn der Traum läßt nur die einfachsten und klarsten Bilder erscheinen, und Vereinfachung ist meist eine Verbesserung. Aber neu schaffen doch wohl nur in den seltensten Ausnahmen. Die Weltliteratur besitzt eine herrliche Menge der entzückendsten Träume. Dieselben sind aber alle im wachen Zustand verfaßt. Immerhin erlaube ich mir, Ihnen ein kleines Privatgeheimnis anzuvertrauen. Wir sind ja unter uns. Sie werden mich nicht verraten: Einem Traum verdankte ich meine Anstellung an der «Neuen Zürcher Zeitung».

 

Nun zum Schluß zu der letzten Entstehungsquelle, zu der berühmtesten von allen: zu den unwillkürlichen Gedichten oder, mit einem andern Wort, zu den Inspirationsgedichten. Jedes wahre Gedicht muß teilweise unwillkürlich oder inspiriert sein. Denn ohne einen plötzlichen Blitz der Phantasie kommt nichts Rechtes zustande. Allein es gibt Fälle, wo statt einer willkommenen zweckdienlichen Inspiration auf störende Weise, alle Arbeit durchkreuzend, eine fremde, übermächtige Inspiration sich gebieterisch anmeldet. Dieselbe rührt natürlich nicht von einem rätselhaften Genius her, sondern taucht aus den Tiefen der Seele auf, wenn ein großer Gedanke oder eine starke Gemütserschütterung den Seelengrund aufrührt und gleichzeitig die Phantasie in den Sturm hineinblitzt. Es kommt aber nichts aus der Seele, was nicht schon darin lag.

Die Schwierigkeit ist nun, die Echtheit der Inspiration zu prüfen, das heißt die Inspiration von einer gemeinen Stimmung oder einem flüchtigen Einfall zu unterscheiden, von denen ja stets Tausende den Dichter umschwirren. Es gibt übrigens ein untrügliches Kennzeichen: Was eine echte Inspiration ist, das kommt immer von neuem wieder, wie oft man sie auch abweise. Daher gilt als goldene Regel, nichts in Arbeit zu nehmen, ehe es sich viele Dutzend Male gemeldet hat, ehe man weiß und spürt, daß sich der Stoff nicht wegweisen läßt. Mit andern Worten: auch die Inspiration muß erst ein Erlebnis werden.

Neben der seelischen Inspiration gibt es übrigens auch eine Inspiration des Blutes. Es gibt Pulsgedichte, das heißt solche Gedichte, bei welchen zuerst der Puls rhythmisch schwingt und singt und der Inhalt sich erst hinterher in den Schwung hineinwirft. Und zwar meist fabelhaft schnell.

Pulsgedichte werden augenblicklich fertig, leicht und lustig, scheinbar ohne die mindeste Anstrengung, in Wirklichkeit jedoch unter Aufreibung und Zerstörung des Nervensystems. Gewisse Gattungen der Poesie können einzig und allein durch den Puls gelingen, vor allem das Lied. Das Pulsdichten entsteht gewöhnlich im spätem Verlauf nachhaltiger poetischer Arbeit. Auf die Weise, daß allmählich, nachdem man den Puls für den Vers in Dienst genommen, der Puls selbständig weiterschwingt und aus einem Diener ein Tyrann wird. Dann tanzt mitten in die ernsteste Arbeit der rhythmische Kobold die seltsamsten Ballette. Und kein Wille und kein Ärger vermag ihn zu verscheuchen. Zum Ärger ist oft Anlaß genug. Denn zu den spielenden und tänzelnden Rhythmen gesellt sich naturgemäß der neckische oder selbst nichtsnutzige Gedankeneinfall.

 

Einige Bemerkungen über lyrische Poesie

I

Ich glaube nicht, daß irgendein Mensch imstande ist, zu erklären, was eigentlich lyrische Poesie ist, worin ihr Wesen hegt und worauf ihr Wert beruht; der lyrische Dichter vielleicht am allerwenigsten. Man kann es fühlen, man kann es umreden, man kann eine Menge schöne und unanfechtbare Sätze darüber schreiben, allein man kann nicht die Wahrheit mit vernünftigen Worten ins Herz treffen. Wenn schon die Poesie überhaupt ein Rätsel ist, so ist die Lyrik das Rätsel der Rätsel.

Ich gehe noch weiter. Je länger, je mehr befestigt sich meine Überzeugung: Es vermag niemand über ein frisch entstandenes lyrisches Gedicht, das ihm vorgelegt wird, mit Sicherheit zu entscheiden, ob es bleibenden Wert hat. Den Unwert kann man wohl erkennen, und zwar mit Leichtigkeit und sofort, oft in der ersten Zeile, nicht aber den Wert. Ein lyrisches Gedicht kann sämtliche Vorzüge besitzen, die sich denken lassen, und dennoch wertlos sein. Ich glaube, der Wert eines lyrischen Gedichtes kann nicht auf dem Wege der Kritik eines einzelnen gefunden werden, sondern die Zeit und das Bedürfnis der Nation fällt die Kritik. Das lyrische Gedicht muß sich bewähren.

Aber unerläßliche Eigenschaften lassen sich nennen, ohne welche ein lyrisches Gedicht zum vornherein verloren ist. Zum Beispiel Takt des Herzens, Zartgefühl und eine unglaublich raffinierte Kunst, darunter Vers-, Reim- und Sprachkunst. Damit will ich beileibe nicht etwa sagen, die Kunst müßte dem Dichter bewußt sein, oder gar, er müßte künstelnd und tiftelnd dichten, das wäre genau das Gegenteil meiner Meinung, sondern ich will damit sagen: es kommt bei der Lyrik auf haarscharfe Erwägungen und minutiöse Unterschiede an, von einer Feinheit, von welcher der Laie und der Dilettant keine Vorstellung hat. Lyrik ist ein Juwel, die lyrische Dichtkunst ist eine Ziselierkunst, die Werte jeder Zeile, jedes Wortes müssen auf der Diamantwaage gewogen werden. Das alles kann unbewußt geschehen, ja, es kann nicht nur, sondern es muß unbewußt geschehn, es darf und soll auch mühelos und spielend geschehen, es kann ferner merkwürdig schnell geschehn, augenblicklich sogar, die Hauptsache in einem einzigen Wurf erledigend, aber es muß unbedingt geschehen. Ein Blitz schafft das Gedicht, mit dem bloßen Instinkt, aber der Instinkt muß eine außerordentlich feine Nase haben, um die Aufgaben zu wittern, und der Blitz außerordentlich scharfe Augen, um im Vorbeijagen sämtliche Aufgaben zu treffen und nicht nebenbei zu treffen. Daß übrigens ein gutes lyrisches Gedicht bis auf das letzte Wort fertig in einem einzigen Wurf gelingen könne, glaube ich einfach nicht. Neunundeinhalb Zehntel davon, ja; aber es fehlt immer zuerst noch ein halbes Zehntelchen. Und dieses halbe Zehntelchen, das noch fehlt, nicht zu mißachten, sondern nicht zu ruhen, bis auch das letzte, unbedeutendste Wort richtig steht, das unterscheidet den lyrischen Dichter vom lyrischen Dilettanten.

Kurz, gute lyrische Gedichte entstehen zwar blitzschnell und spielend leicht, müssen aber sorgfältig und minutiös, mitunter jahrelang nachgebessert werden. Denn gerade auf die sogenannten Kleinigkeiten kommt es an. Nebensachen sind in der Lyrik Hauptsachen, eine einzige schwache Zeile, ein ungeschicktes Wort kann ein lyrisches Gedicht aus der Literatur in den Papierkorb befördern. Machen Sie einmal folgende Probe: Lassen Sie in einer lyrischen Anthologie ‹also in einer Sammlung lyrischer Gedichte der verschiedensten Verfasser› die Verfasserunterschriften verdecken, und versuchen Sie dann, aus den einzelnen Gedichten selber zu erkennen, ob dieses Gedicht einen Meister oder einen mittelmäßigen Dichter zum Verfasser habe. Sie werden schon sehr bald, in der zweiten oder dritten Zeile, darüber im reinen sein, nicht etwa wegen des Inhalts, sondern wegen des Ausdrucks, vielleicht wegen eines einzigen Wortes.

Aber ja kein Mißverständnis! Das sprachlich Rechte ist in der Lyrik nicht etwa gleichbedeutend mit dem grammatisch Richtigen. Eher umgekehrt. Ein untadeliges lyrisches Gedicht, wo alles unsträflich wäre, jeder Reim und jedes Wort, wäre schon allein wegen dieser Unsträflichkeit ein schlechtes lyrisches Gedicht, denn es wäre ein ängstliches, mithin schwaches Gedicht. Es gibt kein einziges meisterliches lyrisches Gedicht, keines von Heine, keines von Uhland, keines von Goethe, dem man nicht sogenannte Fehler nachweisen könnte. Daß im besondern die Unvollkommenheit des Reims bei einem lyrischen Gedicht deutschen Stils nicht etwa einen Fehler bedeutet, sondern einen Vorzug, daß ein tadellos gereimtes lyrisches Gedicht ein schlecht gereimtes Gedicht wäre, werden Sie wahrscheinlich wissen. Wo nicht, so wollen wir ein andermal darüber reden.

II

Etwas anderes: Lyrische Gedichte sind Dinger von kleinem Umfang und leichtem Gewicht; man hat sie ja oft genug, sogar oft zu viel mit windbewegten Blättern, mit Vögeln und Schmetterlingen verglichen. Nun, um Blätter, Vögel und Schmetterlinge zu treffen, muß man nicht Belagerungskanonen darauf richten, und was fliegen soll, muß man nicht mit Zentnern belasten.

Ich halte es für einen verhängnisvollen Grundirrtum des deutschen Jünglings, daß er, wenn ihn die Krankheit der Unsterblichkeit heimsucht, auf die Lyrik verfällt. Denn schon allein, weil er zu viel von seiner Lyrik erwartet, zu Großes mit ihr will, muß sie ihm ja mißlingen. Man darf Lyrik nicht mit dem ganzen Willen anfallen, man darf nicht zu scharf das Visier nach ihr richten. Beiläufig, in den Pausen größerer, mächtigerer Arbeiten, gelingt sie am besten. Möchte einer Lyriker werden, so gebe ich ihm den Rat, mit ganzer Seele Dramatiker oder Epiker sein zu wollen; ihm ergibt sich dann die Lyrik lieber, als wenn er Lyriker sein will. Wille und Absicht verscheuchen geradezu das lyrische Glück. Um die lyrischen Vögel zu fangen, muß man nicht den Hühnerhund und die Vogelflinte nehmen, sonst fliegen sie schon von weitem davon. Sondern man muß feine Fallen verbergen, dann auf die Hirschjagd gehn, und, wenn die Vögel schüchtern nahn, tun, als sähe man sie nicht. Erst wenn sie von selber in die Falle gegangen sind, zieht man schnell das Netz zu.

III

Es ist endlich noch zu sagen, daß es keine lyrischen Dichter im Unterschied von dramatischen oder epischen Dichtern gibt. Es gibt zwar besondere lyrische, dramatische und epische Kunstformen, aber keine besondern lyrischen Dichter. Denn in jedem Dichter steckt von selber ein Lyriker, auch im Dramatiker und im Epiker. Jeder Dramatiker, jeder Epiker kann sich von heut auf morgen auch als Lyriker entpuppen, es fehlt ihm inwendig nichts dazu; bloß eine äußerliche Bedingung muß er erfüllen: das kleine Schlüsselchen zum lyrischen Türlein zu finden. Hat er das Geschick und das Glück, das Schlüsselchen gefunden zu haben, so strömt die in ihm von jeher enthaltene, bloß verhaltene Lyrik gleich massenhaft zutage. Interessant ist das Beispiel jener epischen Dichterin – war es nicht Annette von Droste-Hülshoff? – die, ohne je vorher ein lyrisches Gedicht versucht zu haben, sich anheischig machte, nötigenfalls gleich ein paar hundert herzustellen. Und siehe da, sie gewann die Wette glänzend.

Aber nicht umgekehrt ist in einem jeden Lyriker ein Dramatiker oder Epiker enthalten. Wenn Sie also über einen Dichter vernehmen, daß er vorzugsweise lyrische oder nichts anderes als lyrische Gedichte gemacht habe, so beweist das nicht etwa, daß er mehr Lyriker wäre als ein Epiker oder Dramatiker, der auch lyrische Gedichte gemacht hat; es beweist bloß, daß er sich nicht an die größeren Aufgaben des Epikers oder Dramatikers herangewagt hat oder daß ihm diese mißlangen. Ein bloß lyrischer Dichter ist ein fragmentarischer Dichter.

 

Endlich noch die Bemerkung, daß noch mehr als in der übrigen Poesie in der Lyrik die Treffer eine Zufallssache sind, Glückstreffer. Und wenn schon überhaupt niemand mit Sicherheit weiß, was hier Wert hat, so weiß es jedenfalls der Dichter am allerwenigsten. Und es ist gut, wenn er weiß, daß ers nicht weiß, denn wenn ers zu wissen glaubt, so täuscht er sich. Es gibt Gedichte, auf welche ein Lyriker seine ganze Hoffnung abstellte und die für Null zählen, und gibt wieder Gedichte, die er aus der Sammlung ausschließen wollte, weil sie ihm gar zu unbedeutend und nichtig vorkamen, und die sich nachher als die besten erweisen. Selbstkritik, ja, die kann und soll er üben; aber Selbstwertkritik, die gilt nicht in der Lyrik.

 

Über die Ballade

Ganz mit Unrecht hat man die Ballade unter die epischen Dichtungsgattungen rechnen wollen. Denn die Gestaltung eines Epos, auch des kürzesten, erfordert ganz andere Fähigkeiten und Stimmungen als die Ballade. In der Verlegenheit wählte die Poetik folgendes Auskunftsmittel: nicht episch, nicht lyrisch, folglich ‹lyrisch-episch› oder ‹episch-lyrisch›. Ob das logisch sei, scheint mir zweifelhaft. Ein Tier, das weder ein Hund noch eine Katze zu sein scheint, ist deshalb keine Hundekatze.

Ich frage einfach: Wer schreibt und wer schrieb von jeher Balladen? Die Literaturgeschichte antwortet: der Lyriker. Daraus ziehe ich den Schluß, daß die Ballade zur lyrischen Poesie gezählt werden muß. Indirekte Lyrik; Lyrik mit einer Maske vor dem Gesicht.

Weit wichtiger als die Definition der Ballade, welche, beiläufig gesagt, niemand gelingt, ist die Unterscheidung ihrer Unterabteilungen. Denn die Unterscheidung verfeinert das Stilgefühl und läßt neue Aufgaben finden. Da ergibt sich denn vor allem die Trennung der naiven Volksballade von der bewußt und virtuos ausgearbeiteten Kunstballade. Zwei gewaltige Hälften, welche ihrerseits wiederum eine Menge von Unterabteilungen haben.

I

Ich beginne mit der Volksballade. Dieselbe hat entweder einen mythologischen Hintergrund oder, als Ersatz dafür, einen Idealismus menschlicher Übermacht, vor allem der Königskrone. Ich spreche daher von mythologischen Balladen und von Königsballaden.

Die mythologische Ballade beschäftigt sich mit alten degenerierten Heidengöttern, welche, aus Religion und Weltanschauung vom Christentum verdrängt, im Volksaberglauben weiterspukten, am liebsten mit Nixen und Elfen. Diese Götter greifen handelnd in das Menschenschicksal ein. Sie werden ursprünglich als menschenfeindliche Wesen aufgefaßt; ihre Begegnung bringt Unheil. Deshalb hat die echte, naive Volksballade meist tragischen Ausgang und grausige Stimmung.

So noch bei Bürger.

Die Gespensterballade und die blutige Schauerballade sind Unterarten, beziehungsweise Abarten und Unarten der mythologischen Ballade. Merkwürdig übereinstimmend erscheinen die mythologischen Gestalten in der Volkspoesie der verschiedensten Nationen. Sie treffen die Nixen und Elfen unter andern Namen fast überall.

Wenn Sie die zweite Art der Volksballaden, die Königsballaden, nachfühlen wollen, so müssen Sie sich erinnern, daß die Krone dem Mittelalter als etwas mit dem Übersinnlichen Verwandtes erschien. Hat doch im Volksmärchen der Königssohn ungefähr Feenrang. Die Königsfamilie erscheint wie eine höhere Art Mensch, deren bloßer Name schon idealistisch wirkt und deren Wesen und Gebaren durch einen glänzenden Schimmer verhüllt wird. Deshalb keine Spur einer Charakteristik, so wenig wie die Phantasie Engel charakterisiert. Mich wandelt, wenn ich so einen Balladen- oder Märchenkönig sehe, immer die Lust an, mit ihm Skat zu spielen. Es sind Kartenspielkönige.

Es ist übrigens die Königswürde nicht unerläßlich für einen Helden der Königsballade. Es können andere Stände dafür vikariieren, vorausgesetzt nur, daß der Stand einen idealistischen und edlen Schimmer in der Volksphantasie gewinnt. Ich betrachte die Heldenballade, die Ritterballade, die Sängerballade, die Liebesballade nur als Unterarten der Königsballade.

Bekannterweise, aber auch merkwürdigerweise, versteht die Volksphantasie das Kunststück, famose Verbrecher mit einem idealistischen Nimbus zu umgeben, vorausgesetzt, daß der Verbrecher in wohltuender Ferne arbeitet oder regelrecht halspeinlich unschädlich gemacht worden ist. Denn vorher lautet es anders.

Es gibt daher auch eine Halunkenballade, und zwar in reichhaltigem Assortiment. In Osteuropa erhält der Heiduck, der Kosak, deren Name ursprünglich einen räuberischen Freibeuter besagt, die poetische Verklärung; in Westeuropa sind es Banditen und Privaträuber, Rinaldo Rinaldini, Fra Diavolo und dergleichen. Den Korsaren hat sogar ein Dichter vom Range Byrons zum Liebling erwählt. Und noch heutzutage ist kein Geköpfter vor dem Besungenwerden sicher. Die mörderliche Bänkelsängerei der früheren Jahrmärkte ist ein echter, direkter Abkömmling der alten Volksballade.

Dagegen hat die Volksphantasie niemals dem Gericht, den Betreibungsbehörden, dem Steuerwesen und den Pfändungsbeamten eine poetische Seite abgewonnen. Es gibt keine Polizeiballade.

II

Nun zur zweiten Hälfte der Balladendichtung: zur Kunstballade.

Es genügt nicht, daß ein Künstler sich der Volksballade zuwende, damit eine Kunstballade entstehe. Denn der Künstler kann sich seiner Persönlichkeit und seiner Bildung entäußern, um die Naivität der Volkspoesie nachzuahmen. So handelten zum Beispiel Bürger und Uhland. Dann entsteht ein archaistisches Kunstwerk, das heißt ein solches, welches absichtlich im Geiste einer entschwundenen Zeit oder entschwundener Vorstellungen und Stilformen arbeitet. Wenn Mendelssohn Fugen und Oratorien im Geiste Bachs komponierte, so komponierte er archaistisch: wenn unsere Baumeister Häuser in Rokoko oder Gotik bauen, so bauen sie archaistisch.

Die Kunstballade entstand, als ein Dichter, ohne sich seiner Bildungshöhe und seiner Kunst zu entäußern, mit seiner ganzen Persönlichkeit sich der Ballade annahm. Und jener Dichter war, wie Sie wissen, Goethe. Er hat die Kunstballade geschaffen. Tiefeingreifende, wenn auch nicht auffällige Unterschiede von der Volksballade zeigt die Goethesche Kunstballade; Unterschiede im tiefsten Innern wie in der äußern Form.

Der ursprüngliche mythologische Gehalt wird in der Kunstballade allegorisch gedeutet und rationalistisch erklärt. Die ehemaligen Götter sind nur noch bildliche Umschreibungen der Naturkräfte. Die tragische und grausige Stimmung kommt abhanden; an ihre Stelle tritt ein hoher Gedankengehalt, der alles durchgeistigt. Ruhe und Anmut, Klarheit und Schönheit der Bilder, des Tons und der Sprache durchsonnen die Goethesche Kunstballade; so daß, selbst wenn ein tragisches Ende erfolgt, keinerlei Rührung, geschweige denn Erschütterung bewirkt wird; denn die Befriedigung des ästhetischen Sinns ist so stark, daß selbst der Bericht des Todes die Harmonie nicht stört. Witz und Humor, ja sogar das Lehrhafte, tritt in der Goetheschen Ballade zutage.

Nicht ausnahmslos ist die Goethesche Kunstballade der Volksballade überlegen. Den Erlkönig zum Beispiel mit seiner etwas aufdringlichen Rationalistik vermag ich nicht als ebenbürtig mit seinen naiveren Vorbildern zu erkennen, und ich stehe mit diesem Urteil unter den Dichtern nicht allein. Aber im ganzen bedeutet die Goethesche Ballade eine Erhöhung, und zwar eine gewaltige Erhöhung.

Wenn Sie nun ein Rezept haben wollen, um zu erkennen, ob eine Ballade der Volksballade, beziehungsweise ihrer Nachahmung, der archaistischen Ballade, angehöre, so fragen Sie sich einfach: «Hat die Ballade einen klaren Gedankensinn oder, was dasselbe ist, eine durchsichtige Symbolik?» Wenn ja, dann ist es eine Kunstballade. Denn die Volksballade arbeitet aus der Stimmung, die Kunstballade aus dem Gedanken.

Von allem bisher Behandelten grundverschieden sind die Schillerschen Balladen. Diese sind überhaupt nicht aus dem Stamm der Volksballaden gewachsen, auch nicht darauf gepfropft, sondern eine selbständige Pflanze mit eigenen Wurzeln. Von der Ballade haben sie nichts als den Namen; und dieser Name ist verfänglich, wie eine Etikette, die durch Verwechslung auf eine andere Flasche geheftet wird.

Soll man die Willkür der Benennung bedauern? Ich glaube nicht; denn hierdurch wird der Begriff der Ballade erweitert, wenn schon etwas gewaltsam. Die Poetik gewinnt damit einen Obertitel für die erzählende Lyrik im allgemeinen, und ein solcher Titel ist wünschenswert, vielleicht sogar nötig, einerlei wie er laute. Nur muß man verstehen und sich verständigen. Wenn einer zum Beispiel an den Schillerschen Balladen das Wesen der Ballade im allgemeinen studieren wollte, wie das mit Bürger und Uhland und teilweise auch mit Goethe gelingen kann, so würde er auf abenteuerliche Irrtümer verfallen.

Was sind denn die Schillerschen ‹Balladen›? Vielleicht historische Balladen? Scheinbar ja, in Wirklichkeit nein, denn historisch kann bloß heißen, was durch sein Thema der Weltgeschichte angehört. Es genügt aber nicht, daß etwas vergangen und einer tot ist oder nie gelebt hat, damit er zur Weltgeschichte gehöre.

Wie heißen denn die Helden der Schillerschen Balladen? Was tun sie? Wann haben sie gelebt? Haben sie überhaupt wirklich gelebt? Beantworten Sie sich diese Fragen, die Schillerschen Gedichte in der Hand, so werden Sie auch die Antwort auf die Frage finden, was die Schillerschen Balladen sind: nämlich Anekdotenballaden.

Der gründliche Geschichtskenner, der unvergleichliche Geschichtsdramatiker ist in seinen Balladen der großen Geschichte aus dem Wege gegangen und hat geflissentlich die staubigsten Winkel der vergessensten Anekdotensammlungen abgesucht. Warum tat er das? Weil er unbedeutende Themen brauchte, um daran seine Riesenkraft und Meisterlust spielend zu betätigen. Der gegebene Stoff, das Geschichtchen, ist nichts; ja oft noch weniger als nichts, nämlich unleidlich; aber keines, das nicht Schiller zur Unsterblichkeit, zum Gemeingut aller Nationen erhebt. Er braucht ja bloß etwas anzurühren, so hat es den Stempel seiner Meisterhand. Schiller mißlingt überhaupt nichts.

Goethe und Schiller und ihre Nachfolger haben das Gebiet der Kunstballade keineswegs erschöpft. Überhaupt erschöpft ja niemand die Kunst.

 

Vom Lehrgedicht

Das Lehrgedicht spielt, wie man weiß, in der Weltliteratur eine ganz bedeutende Rolle, und zwar, wohl zu beachten, bei den poesiebegabtesten Völkern in ihrer allerbesten Zeit. Hierfür sind die Beispiele so massenhaft vorhanden und jedem gegenwärtig, daß ich auf deren Nennung verzichten kann. Bei uns steht das Lehrgedicht in Fluch und Bann, mehr noch: es herrscht eine Art abergläubischer Furcht davor, etwa so, als ob man besorgte, das Lehrgedicht möchte die übrige Poesie infizieren, gleichsam mit einem linear förmigen, ledernen Prosabazillus.

Wie aber sollen wir uns den Reiz erklären, den das Lehrgedicht ausnahmsweise auch auf einen wirklichen Dichter auszuüben vermag? Anwesenheitsgefühl überschüssiger Sprach- und Formvirtuosität bei augenblicklicher Abwesenheit der Inspiration. Also der nämliche Reiz, der Goethe zur Versifikation des Reineke Fuchs antrieb. In einer anderen Atmosphäre aufgewachsen, würde Goethe seine Farbenlehre zum Lehrgedicht erhoben haben, wie das der in französischer Atmosphäre aufgewachsene Haller mit seinen «Alpen» getan hat. Nach meiner Ansicht würde Goethes Farbenlehre durch den Vers gewonnen haben.

 

Das Kriterium der epischen Veranlagung

Als Kennzeichen der epischen Veranlagung gelten mir: die Herzenslust an der Fülle des Geschehens, seien es nun Taten oder Ereignisse, die Freude am farbigen Reichtum der Welt, und zwar, wohlbemerkt, Reichtum der äußeren Erscheinungen, die Sehnsucht nach fernen Horizonten, das durstige Bedürfnis nach Höhenluft, weit über den Alltagsboden, ja über die Wirklichkeitsgrenzen und Vernunftschranken.

Wer dergleichen nicht ersehnt, wer nicht mit jungem Morgenmut auf Flügeln der Phantasie in die Welt hinaussprengt, neugierig, was ihm Frau Aventiure über den Weg jagen werde, der ist kein geborener Epiker.

Zur Kontrolle von der Gegenseite her dient mir als sicheres Kennzeichen des Nichtepikers: die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse – also an psychologischen Problemen –, an der Entwicklungsgeschichte des Helden, an der wohl motivierten logisch-vernünftigen Erzählung. Der Epiker kann zwar charakterisieren, wenn er will, aber er kann es nicht auf die Dauer wollen, weil er auf andere Ziele, die ihm wichtiger scheinen, seinen Blick gerichtet hat. Er wird zwar nicht Andromache wüten lassen wie Ajax, aber er ist imstande, eine Hauptfigur durchaus in nebelhafter, schwankender Persönlichkeit zu liefern, ohne nur einen Versuch zur Charakteristik. So hat zum Beispiel Homer mit der Helena getan, von der er selber nicht weiß, noch zu wissen begehrt, was er von ihr hält oder wie er sie auffaßt. Unbewußt und ungewollt charakterisiert wohl mitunter auch der Epiker, mit derselben Notwendigkeit wie ein Harmoniker, wenn er einen Choral komponiert, eine Melodie durch die Stimmenführung erzeugt, ob er will oder nicht will; aber die Charakteristik ist ihm niemals Hauptsache, ja nicht einmal eine wichtige Sache.

Gegen Psychologik verspürt der Epiker mehr als Gleichgültigkeit, nämlich Widerwillen; weil es ja das oberste Gesetz epischer Kunst ist, Seelenzustände in Erscheinung umzusetzen. Umständliche seelische Motivierung, von innen heraus geschildert, würde also jedesmal in einem epischen Gedichte einen Fehler bedeuten. Dagegen solche äußere Erscheinungen zu erfinden, welche die seelischen Voraussetzungen im kürzesten und allgemeinverständlichsten Bilde rückwärts erraten lassen, das ist der Triumph der Kunst in der Epik. Zwei Beispiele: Odysseus, wenn er beschimpft wird, macht nicht Seelenkämpfe vor den Augen des Lesers durch, sondern er schüttelt einfach das Haupt. Das zweite Beispiel möchte ich geradezu als Paradigma epischer Kunst hinstellen: Bei den italienischen Rolandepen kommt es einmal vor, daß, ich weiß nicht mehr welcher Held, ich glaube Rinaldo, nachdem er sich jahrelang um die Liebe einer Dame umsonst bemüht, sie nicht mehr liebt und nun von ihr, die er nicht mehr liebt, geliebt wird. Ein Nichtepiker, also zum Beispiel ein Romanerzähler, würde sich gezwungen glauben, diese Tatsache möglichst glaubhaft seelisch zu begründen, und diese Begründung würde ein Hauptstück seiner Erzählung ausmachen; sie würde auch einen großen Raum beanspruchen, da er ja das erste Auftauchen der veränderten Gesinnung vermerken müßte, hierauf die Zweifel und Selbstkämpfe schildern, bis er endlich den gewünschten Abscheu statt der früheren Liebe gewonnen hat. Da es sich ferner um ein Umkehrungsphänomen bei zwei Menschen handelt, so müßte obendrein die ganze Operation mit zwei multipliziert werden. Was gäbe das für eine umständliche ausführliche Bourgetiererei! Und nun sehen Sie, wie der Epiker die Aufgabe löst: Er erdichtet eine Wunderquelle, welche den daraus Trinkenden zur Liebe, und eine zweite, welche den daraus Trinkenden zum Abscheu nötigt. Also statt der Psychologik das denkbar schroffste Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller Motivierungen: ein Trunk Wasser. Aber gerade das ist im epischen Gedicht der Triumph der Kunst und der goldenste Strahl dichterischer Schönheit. Wer so etwas erfinden kann, der ist ein epischer Meister.

Und nun vergleiche man damit die Aufgaben und Maßregeln des Romanerzählers! Das ist ja nicht etwas Ähnliches auf anderer Stufe, nein, es ist das schnurgerade Gegenteil in allem und jedem. Ein solches Gegenteil, daß schon die bloße Tatsache, daß einer Romane zu schreiben pflegt, mich vermuten läßt, er sei kein Epiker. Was bleibt denn schließlich Gemeinsames? Die Fortbewegung der Geschichte auf dem Wege der Erzählung. Ja, das ist eine Ähnlichkeit wie zwischen einer Schnecke und einem Husaren. Sie mögen sich allerdings beide auf demselben Wege bewegen, allein deswegen die Schnecke einen Reiter zu nennen, würde doch wohl nicht richtig sein. Vielmehr wird richtig sein, aus der Tatsache, daß einer mit Behagen auf dem Bauche kriecht, zu schließen, daß er kein geborener Reiter ist. Und darum wiederhole ich: Der Romanerzähler ist kein Epiker, sondern das Gegenteil davon.

 

Mythus und Epos

Daß Mythus und Epos nahe Verwandte sind, weiß jedermann. Es bleibt aber noch zu sagen, daß sie nur stoffverwandt, nicht geistesverwandt sind, daß die mythische Poesie und die epische Poesie Dichterpersönlichkeiten von verschiedener, ja gegensätzlicher Naturanlage verlangt, daß beiderlei Dichterpersönlichkeiten sich nur in den seltensten Ausnahmefällen in einem einzigen Menschen vereinigt finden, dann nämlich, wenn Proteuslust und Proteuskraft in ihm waltet. Für gewöhnlich gilt der Satz: der mythische Dichter gestaltet keine Epen, und der epische Dichter erfindet keine Mythen. Warum nicht, darüber lohnt es sich, ein Wort zu reden.

Die mythische Poesie ist im Urgrund religiöse Poesie, sie beschäftigt sich mit den Welträtseln und hat demgemäß einen tiefsinnigen, ernsten, schwermütigen Charakter. Ihre eigenste, angemessenste Form ist die kurze symbolische Erzählung; symbolisch, weil alles Übersinnliche sich nicht anders poetisch bezwingen läßt als durch das Mittel des Symbols: ohne das Symbol würde das Übersinnliche abstrus. Die epische Poesie dagegen ist durch und durch weltlich, nur mit dem äußern Erscheinungsglanz des Lebens sich befassend, Mut, Kraft und Abenteuerlust atmend, oft bis zum Übermut und Scherz. Ein größerer Gegensatz läßt sich kaum denken. Wenn daher die epische Poesie sich eines vom Mythus vorgedichteten Stoffes bemächtigt – und das tut sie mit Vorliebe, wegen des tiefen Poesiegehaltes solcher Stoffe –, so muß sie erst den Mythus verweltlichen, also, vom gedanklichen Standpunkt beurteilt, frivolisieren. Vor allem wirft sie die ursprüngliche symbolische Bedeutung der Fabel über Bord, falls diese symbolische Bedeutung nicht ohnehin schon von selber in Vergessenheit geraten war, und liefert bloß eine äußerlich glänzende Geschichte, welche an sich Vergnügen bereitet, ohne daß der Leser sich der symbolischen Bedeutung mehr bewußt wird. Aber diese bleibt dennoch als unsichtbare Wurzel unter der Geschichte lebendig, und der mit dem Bewußtsein nicht mehr zu spürende mythische Saft verleiht der Erzählung noch immer einen eigentümlichen Beigeschmack, der von der naiven Volksseele geschmeckt wird und ihr köstlich mundet, ob ihm auch kein Fühlhorn des Verstandes mehr beizukommen vermag. Epische Gestalten, die aus vergessenen, verdufteten Mythen stammen, leben länger und leuchten schöner als andre epische Gestalten. So zum Beispiel Kalypso und Kirke, Damen von vornehmstem metaphysischen Adel, aber vom Epiker entgöttert, entgeistigt, frivolisiert. Das homerische wie das germanische Epos bezieht seine Helden aus dem Mythus, aber erst nachdem der Mythus verwest war. Und je vollständiger der Verwesungsprozeß des Mythus sich vollzogen hat, um so besser eignet sich der Stoff für den Epiker. Geschah die Verwesung nur halb, ist der symbolische Gehalt des Helden noch dem Verstand und Bewußtsein fühlbar, so ist das kein Vorteil, sondern bewirkt eine Schädigung. Wie denn zum Beispiel Jacob Burckhardt von der schönen Helena mit vollem Recht urteilt, sie habe sich selbst bei Homer noch nicht völlig von ihrem alten Leuchtberuf ‹erholt›.

Daraus ergibt sich, daß jener, der Mythiker und Epiker zugleich ist, zwei verschiedene wesentlich und zeitlich getrennte Dichtungsprozesse üben muß: erst muß er einen tiefsinnigen Mythus erdichten, und hernach muß er ihn wieder umbringen, weil nicht der lebendige Mythus, sondern bloß der mythische Leichnam für die epische Poesie taugt.

 

Die Gottheit im Epos

Daß das innerste Wesen des Epos, sein Herz und sein Blut, weltlich, mithin frivol ist, beweist der Stil, in welchem der Epiker die Gottheit behandelt, sobald diese in den Vordergrund tritt und Gestalt annimmt. Was dem denkenden Geist das Höchste, Ernsteste und Heiligste ist, also Gott oder Götter, das behandelt der Epiker mit Übermut, sogar mit einem Stich ins Ironische. Ob er will oder nicht will, er muß. Homer nimmt Achilles und Odysseus ernst, mit Zeus, Hera und Aphrodite springt er mutwillig um. Auch die Umgebung des christlichen Gottes muß sich diesem Gesetz fügen; das Märchen und die Legende spielen Gott und die Seinen ins Gutmütige, etwas Philiströse, selbst das Vorspiel des Faust gibt Gott etwas Behäbiges, Schmunzelndes. Würde einem modernen Epiker die Aufgabe zufallen, die Natur persönlich zu gestalten und handelnd in den Vordergrund zu ziehen, er würde ihr eine fröhliche Seite abgewinnen, er würde gar nicht anders können. Es ist, als ob sich die Phantasie, in ihrer Freiheitslust, durch den Scherz dafür entschädigen müßte, wenn sie vom Gedanken zur ehrerbietigen Verbeugung gezwungen werden will. Nehmen wir aber den Fall, ein Epiker trotzte dem Zuge zum Scherz, er lieferte die vom Geist geforderte ehrfürchtige Verbeugung vor der Gottheit, dann würde das entstehen, was wir bei so vielen Schul-Epen der Vergangenheit beobachten: die berüchtigte epische Maschinerie, wenn es sich um klassische Götter, die kaum minder berüchtigte fromme Langeweile, wenn es sich um christliche Götter und Heilige handelt, in jedem Falle: Blutlosigkeit.

Ich muß aber noch einmal ausdrücklich betonen: die übermütige Behandlung der Gottheit im Epos tritt bloß dann ein, wenn die Gottheit als Person in den Vordergrund tritt. Im Hintergrund gehalten, ist auch dem Epiker die Gottheit oder wie man sonst die übersinnliche Weltkraft nennen will, etwas Ernstes, wie denn die Weltanschauung des Epikers tiefernst, ja pessimistisch sein kann. Ebenso verfällt eine solche Gottheit nicht dem epischen Humor, welche nicht vollständig Person geworden ist: also zum Beispiel Okeanos, Ate, Ananke bei den Griechen. Endlich kann durch innige Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehungen zu einem Helden eine Gottheit an dem Pathos des Helden teilnehmen, wie Thetis in der Ilias, wie Pallas Athene in der Odyssee, die uns wie eine erhabene Freundin des Odysseus lieb wird.

Schließlich noch eine kleine Merkwürdigkeit: Alle Wassergötter haben eine Neigung, ins Komische zu fallen. Warum, weiß ich nicht. Aber die Tatsache ist da. Ich habe mich früher darüber gewundert, warum Rubens und Böcklin die Wassergötter von dieser Seite nahmen. Als mir aber dann einer unter die Finger kam, ging es mir trotz meinem Widerstreben ebenso.

 

Über das Epos

Nehmen wir einmal an, in die geschäftige Pariser Romanfabrik (zu drei Franken fünfzig das Stück) würde plötzlich ein olympisches Epos in gereimten Alexandrinern hineinschneien, was würde wohl geschehen? Nun, es würde ungefähr geschehen, was geschehen soll: Frankreich würde angenehm erstaunt zu dem Mutigen aufschauen. «Tiens! Venus? Jupiter? Kalchas? unsere alten trauten Bekannten? Ei, sieh doch! Ein Epos! Ah! Das wäre ja das denkbar Höchste! Aber freilich auch das Schwerste. Gereimte Alexandriner? Nun, das versteht sich von selbst, denn dem edlen Stoff gebührt die edle Form. Es kommt nur darauf an, wie die Alexandriner sind.» Hernach würde man mit gespannter Aufmerksamkeit das Werk prüfen, zwischen Hoffen und Zagen. Mit Jubel, wenn es die Prüfungen besteht, mit ehrerbietigem Bedauern, wenn sich der Verfasser seiner kühnen Aufgabe nicht gewachsen zeigte. Nicht wahr? Das würde geschehen. Und das scheint Ihnen sogar selbstverständlich, so daß Sie sich kaum vorzustellen vermöchten, was sonst geschehen könnte. Gut.

Nehmen wir aber jetzt den Fall, dasselbe Phänomen ereigne sich in der nicht minder fleißigen Berliner Romanfabrik (zu sechs Mark das Stück oder auch acht Mark). Was meinen Sie, daß dort geschehen würde? Strengen Sie sich nicht unnütz an. Sie erraten es doch nicht. Zunächst würde man sich unter der Hand in schonender Weise nach den Gesundheitsverhältnissen des Verfassers erkundigen. Ob ihn die Heimatbehörde frei herumlaufen lasse, ob er etwa erblich belastet wäre und dergleichen. Lauten wider Erwarten die ärztlichen Zeugnisse günstig, so heißt es: «Gottlob, es ist nur ein vorübergehender Anfall. Demnach können wir immer noch hoffen, daß er uns das nächste Mal wieder etwas Vernünftiges, Menschenmögliches schreibe.» Und damit wandert das Werk in den Papierkorb, ungelesen und ungeprüft. Vergebens ereifert sich der Verfasser: «Aber, meine Herren, so prüfen Sies doch zuerst, ehe Sies in den Papierkorb werfen.» – Haben wir gar nicht nötig. Gehen Sie heim und studieren Sie Ihren ästhetischen Katechismus. Ein Epos heutzutage schreibt man nicht; mythologische Personen interessieren uns nicht. Ein Epos reimt man nicht. Alexandriner soll man nicht. Punktum: in den Papierkorb!» Im schlimmsten Fall, wenn der Name des Verfassers es durchaus erfordert, geht auch wohl einer oder der andere verdrossen an die Lektüre. «Na, ich weiß zwar zum voraus, daß es nichts taugt, aber man kanns ja immerhin ansehen.» Wie es aber mit der Prüfung steht, wenn der Prüfende zum voraus weiß, daß es nichts taugt, kann man sich denken. «Nun ja, es sind ja meinetwegen einige ganz nette Einzelheiten darin, aber als Ganzes ist das Werk durchaus verfehlt. Denn ein Epos schreibt man nicht, mythologische Personen interessieren uns nicht, und so weiter. Also bleibts dabei: in den Papierkorb.»

Dieses Bild wird Sie einigermaßen befremden. Sie haben vielmehr gelernt: Frankreich hat literarischen Regelzwang, Deutschland dagegen ist in ästhetischen Dingen frei. Sie sind nicht falsch belehrt worden. Deutschland ist allerdings frei, dank einigen großen Dichtern und Denkern, die es befreit haben, aber Deutschland ist nicht freisinnig. Die kurze Zeit von hundertfünfzig Jahren einer glorreichen Literatur hat nicht genügt, um die gesamte Nation mit jener stillen, ehrerbietigen Bescheidenheit vor der Poesie zu durchdringen, wie Sie sie bei Nationen von älterer literarischer Erziehung finden, ich meine mit jener Bescheidenheit, die es einem verwehrt, in poetischen Dingen den Dichter zu schulmeistern. Sie hat vor allem nicht vermocht, den aus mittelalterlichen Höhlen entlaufenen Geist der Scholastik auszurotten, der sich darin offenbart, daß der deutschen Nation die Literaturgeschichte wichtiger ist als die Poesie, die historische Physiognomie des Dichters wichtiger als sein Werk und die Lehre vom Schönen wichtiger als das Schöne. Jahrein, jahraus wird da um ästhetische Orthodoxie gezankt mit einem Fanatismus, der an die Kirchenväter erinnert, mit einem Höllenspektakel, der an den Karneval gemahnt. Schreibe nun in diese ästhetische Fastnacht hinein ein stilles poetisches Buch, so handelt es sich nur darum: Paßt das Buch irgendeiner der rumorenden literarischen Parteien in den ästhetischen Katechismus oder nicht? Wenn ja, so wird es triumphierend als Fahne geschwungen und gelegentlich auch als Keule gebraucht. Wenn nein, so wandert es nach einigen grüßenden Redensarten der Kritik in das Archiv der Vergessenheit und bleibt dort so lange liegen, bis die ästhetischen Katechismen der Nation sich derart verändert haben, daß das Buch zufällig in einen hineinpaßt. Ein Epos aber paßt gegenwärtig in keinen Katechismus. Und das Publikum? Gibt es denn keinen Appell an das Publikum? Nein, den gibt es in Deutschland eben nicht. Denn das deutsche Publikum ist ästhetisch stramm einexerziert, so daß ihm nicht gefällt, was ihm gefällt, sondern was die Theorie lehrt, daß ihm gefalle. Der letzte Handlungsreisende, das naivste Liebespärchen, das durch den Gotthard fährt, weiß es so gut wie der Kritiker und doziert es auch: «Ein Epos schreibt man heutzutage nicht.»

Ganz anders aber, nämlich umgekehrt, verhält es sich, wenn wir die Frage so stellen: In welchem Lande halten Sie es für möglicher, daß unsere Annahme sich verwirkliche? Schwerlich in Frankreich. Denn der moderne französische Schriftsteller ist ein praktischer Herr, der für seine poetische Mühe auch den verdienten Lohn begehrt: Ruhm, wohlverstanden sofortigen Ruhm, nicht Ruhm nach dem Tode, Ehre, Frauenhuld und Reichtum. Zu einer kurzen ‹tragédie› reicht es im besten Falle noch. Aber ein Epos, dem man ein Stück Leben in entsagender Einsamkeit weihen muß, so ein dutzendmal tausend gereimte Alexandriner, das lohnt sich nicht. Dagegen in deutschem Sprachgebiet, und wohl heutzutage einzig von Europa im deutschen Sprachgebiet, mag es wohl hie und da noch einen sonderbaren Kauz geben, der ungeachtet aller Warnungen seine Kraft, seine bange Mühe, ein großes unwiederbringliches Stück seines kurzen Lebens in Einsamkeit und Entsagung an eine solche hohe Aufgabe wagt, die seine Zeitgenossen als eine irrige bezeichnen. Gerne tut er es zwar auch nicht. Im Gegenteil. Es wird ihm schwer. Mitunter sogar bitter. Aber er muß. Warum muß der Kauz?

Es gibt so gut eine besondere epische Veranlagung, wie es eine lyrische und eine dramatische gibt. Soll nun etwa der mit epischer Anlage Behaftete, wie es ihm die ästhetische Weisheit in der Tat allen Ernstes zumutet, seinem Talent einen Maulkorb anlegen? Sich ein Jahrtausend oder zwei schweigsam gedulden, bis es der Ästhetik gnädig beliebt, das Epos wieder zu gestatten? Und sich inzwischen mit dem Roman und der Novelle vertrösten? Es ist ja wahr, man nennt sie jetzt auch ‹Epiker›, die Herren Kollegen vom Roman und der Novelle. Und sie lassens sich gerne gefallen. Sie nehmens durchaus nicht übel. Wenn es also nur auf den Namen ankäme! Aber bekanntlich wird, wenn man auf eine Wasserflasche die Etikette ‹Cortaillod› klebt, doch kein Wein daraus. Es ist eben einfach unwahr, daß der Romancier oder Novellist oder Erzähler ein Epiker ist. Das sind gänzlich verschiedene, ja sogar gegensätzliche Dinge, was ich Ihnen leicht nachweisen könnte. Aber wir haben anderes zu tun. Kurz, der geborne Epiker wird nicht umhin können, früher oder später ein Epos zu schreiben. Die Natur läßt ihm anders keine Ruhe.

Nun hat man wieder versucht, ihm mit der Stoffwahl bange zu machen, indem man ihm vorrechnete, daß sämtliche epische Stoffgebiete heutzutage so gut wie unmöglich seien. Das sind Fisimatenten. Ein Dichter wählt ja überhaupt nicht einen Stoff. Sondern ein Stoff drängt sich ihm auf, und wenn er ihn hundertmal vergeblich abgewiesen hat, so nimmt er ihn schließlich an, um sich von ihm zu befreien. In einem derart erworbenen Stoff gibt es aber auch keine Unmöglichkeiten. Welches aber auch der Stoff sei, der Epiker wird bei der Arbeit ein merkwürdiges Phänomen erleben. Nämlich sein Stoff bekundet eine unheimliche Neigung, nach oben zu entgleiten, weit über die Erdoberfläche hinaus in unkontrollierbare Höhen. Wie das Tischlein des Papageno. Er mag noch so fest die Ellbogen darauf drücken, es steigt immer in die Höhe. Denn so sicher wie der Stein nach der Erde, so sicher gravitiert das Epos über die Erde. Das ist so gewiß, daß es ein reines Wirklichkeitsepos gar nicht gibt. Wohl aber gibt es Epen, und wahrlich nicht von den schlechtesten, welche die Erde nur mit einer Zehenspitze, ja sogar solche, die sie gar nicht berühren. Glauben Sie ja nicht, der Epiker verlasse den Erdboden aus Liebhaberei oder verspüre eine besondere Zärtlichkeit für die metaphysische Gesellschaft. Er ist ja auch nicht in einem Adlernest geboren und nicht mit den Göttern und Drachen verwandt. Nein, er tut es einzig, weil er muß. Ein Dichter muß immer. Warum muß der Epiker über die Wirklichkeit und über die Erdoberfläche? Um seinen Gestalten denjenigen idealen Glanz zu verschaffen, der sie befähigt, unauslöschlich zu leuchten. Um für die Betrachtung der irdischen Bilder die richtige Distanz zu gewinnen. Denn wer einen Gegenstand anschauen will, muß sich zu allererst von dem Gegenstand entfernen. Um durch Projektion in die Wolken frische Perspektiven für das Menschliche zu erhalten. Das Tägliche, aus gewohnter Perspektive gesehen, wird nicht mehr gesehen. Aus frischer Perspektive geschaut, wird das Tägliche ein junggeschaffenes Wunder. Endlich ist einem echten Epiker reine, freie undurchflogene Luft an sich schon Bedürfnis, wie der Forelle das Quellwasser. Aus diesen und ähnlichen Gründen also muß der Epiker in mythologische Höhen.

Den landläufigen Einwurf: «Quid mihi Hecuba? Wen interessiert heutzutage noch die Mythologie?» muß er eben stillschweigend ertragen.

Nein, er muß ihn nicht stillschweigend ertragen. Er kann antworten. Folgendes kann er antworten: «Sie haben mir da, mein Herr, ein lateinisches Sprüchlein vorgehalten. Glauben Sie etwa, weil es lateinisch ist, müsse ich es unbesehen annehmen? Und wissen Sie denn auch, wen und was Sie zitieren? Wer gegen wen das Sprüchlein zum ersten Male sagte und in welchem Sinne? Mythologie interessiert Sie nicht? Ich zweifle nicht im mindesten daran, daß die Liebesgeschichte des Assessors Werner mit der Kommerzienrätin Goldstein Sie weit mehr interessiert, und das Allerinteressanteste wäre wohl das literarische Konterfei Ihrer eigenen werten Persönlichkeit. Aber seit wann rechnet denn die Poesie auf ein derartiges, auf ein sachliches, stoffliches Interesse? Seien Sie doch lieber aufrichtig: die ganze Poesie ist Ihnen Hekuba. Nur wagen Sie nicht, das zu gestehen.

Keinen Menschen mehr soll heutzutage die Mythologie interessieren? Bitte, was wird heute in der Pariser Großen Oper gegeben? Die «Walküre». Und in Berlin: die «Walküre». Und in Wien: die «Götterdämmerung», und in Mailand: auch die «Götterdämmerung». Und in Zürich: die «Walküre». Wovon ist die Rede? Von Wotan, Fricka, Freia, Wogelinde, Welgunde, Floßhilde, von Welteschen, Zwergen und sprechenden Vögelein. Halb Europa läuft dem allabendlich gierig entgegen, andächtig lauschend, wie norwegische Götter stundenlang friesländische Halbgöttinnen ansingen. Und Sie kommen wahrhaftig und sagen mir: «Wen interessiert heutzutage noch die Mythologie?» Und Sie selber? Ich müßte mich sehr täuschen, oder ich habe Sie gestern abend leibhaftig in der Loge sitzen sehen, ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung über den Lindwurm Fafner. Nun, den Lindwurm Fafner scheint mir Hekuba noch wert.

Vor einer französisch sprechenden und in französischen Anschauungen erzogenen Versammlung habe ich nicht nötig, mein olympisches Menu weiter zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Aber ehe ich Ihnen einige kurze Proben vorlese, muß ich Sie noch auf eine Enttäuschung vorbereiten. Bei dem Namen ‹Olymp› erwacht die Vorstellung reinen, seligen Schönheitsglanzes. Diese Vorstellung aber ist eine wesentlich malerische. Der Dichter kann sie höchstens in kleineren Gedichten realisieren, und auch hier lehrt die Erfahrung, daß sie zwar den Schaffenden beglücken, aber den Leser ermüden. Im reinen Goldglanz ertrinkt die Poesie. Bei größeren Werken ist daran gar nicht zu denken. Die Poesie will Bewegung und Handlung haben; die Bewegung wieder verlangt ein Ziel und die Handlung einen Zweck. Das treibende Motiv aber nach Ziel und Zweck ist ein Unlustgefühl. Deshalb müssen wir in jeden Stoff den Schmerz als Kern einsäen. Ferner, da alle Poesie in letzter Linie mit Wort und Satz, also mit Gedanken zahlt, können wir eine Weltanschauung nicht umgehen. Weltanschauungen sind aber immer ernst. Vielleicht sogar düster. Ja, des Epikers Weltanschauung ist sogar düsterer als diejenige des Tragikers. Denn der Tragiker schaut aus dem Einzelunheil in eine moralische Weltordnung empor, der Epiker dagegen schaut durch den Sonnenschein der äußern Welt in hohle, finstere Tiefen. Kein Tragiker ist pessimistischer als Homer. Aus diesen Gründen muß der Dichter schwarze Farben in den Glanz mischen; sein Olymp wird daher viel dunkler aussehen als der Olymp des Malers. Ferner: Auf die körperliche Schönheit kann der Dichter nicht abstellen. Diese Süßigkeit fällt weg. Ferner: Auf das Statuenkostüm muß er verzichten. Nicht aus Zimperlichkeit, sondern aus Geschmacksgründen. Man kann zwar ohne Kleider selig sein, aber nicht im Badekostüm ernst daherkommen.

Und endlich das Bedenklichste: Es ist der Übelstand nicht zu umgehen, mit einem solchen Stoffe, wie ich Ihnen anbiete, den Leser oder Hörer zunächst zu verblüffen, dermaßen zu verblüffen, daß er sich fragt, wach ich oder träum ich? Bin ich nicht ganz normal, oder ist der Dichter nicht bei Trost? Es ist aber natürlich der Dichter. Das geht so zu: Rein erfundene Dichtungen können nicht anders als völlig individuell sein. Das Individuum aber ist ein besonderes Ding, kein allgemeines. Darum klammert sich der Dichter ängstlich an den kleinsten gegebenen Halt, zum Beispiel einen bekannten Namen, um dem Übermaß des Individuellen und Originellen zu entgehen. Wenn Sie wüßten, welche entsetzliche Mühe diejenigen, die man der Originalitätshascherei bezichtigt, sich geben, nicht originell zu sein! Ferner: Alle unsere Vorstellungen vom Übersinnlichen, sowohl die poetischen (also die mythologischen) wie die religiösen, sind ihrer Natur nach verschwommen und bieten die unglaublichsten Schwierigkeiten, ja Unmöglichkeiten und Widersprüche, sobald wir den Nebel entfernen und die Vorstellungen genau schauen wollen. Nehmen wir zum Beispiel den christlichen Himmel. Da ist weiter keine Schwierigkeit. Aber wenn Sie sich vorstellen wollen, wo er anfängt und wo aufhört, wie er aussieht, wenn Sie das himmlische Jerusalem mit Häusern und Straßen im Geiste anschauen wollen, da weigert sich einfach Ihre Vorstellungskraft. Sie wenden einfach den Blick weg und sagen: «Das sind abstruse Dinge, damit befasse ich mich nicht.»

Aber der Dichter darf den Blick nicht abwenden, er muß sich damit befassen. Ein Dante zeichnet Ihnen Hölle und Himmel so haarscharf, daß man topographische Karten darnach verfertigen kann. Und so muß der Dichter auch mit dem mythologischen Stoffe verfahren. Denn epische Dichtung ist plastische Dichtung. Er kann Ihnen nicht einen im Glanz verschwommenen unbestimmten Olymp anbieten, er muß ihn genau schauen und zeichnen, er muß entscheiden, ob da neben den Palästen Gärten und Wälder stehen, ob unterhalb noch eine Stadt ist, wo der Weg nach Erden führt, ja, sogar die Aussicht, die man vom Olymp hat, muß er sehen. Er darf Ihnen zum Beispiel auch keine Götterwanderung aus der Unterwelt in die Oberwelt vorführen, ohne sich erst in der Phantasie eine klare Geographie von Unterwelt und Oberwelt gebildet zu haben, sodaß man einen Kiepertschen Atlas darnach zeichnen könnte. Und die Reise muß so genau in allen Stationen geschaut werden können wie eine Rigibesteigung bei Bädeker. Weshalb muß das sein? Damit die Bilder in der Phantasie dauernd haften bleiben. Denn nur das Klar-Anschauliche haftet dauernd in der Phantasie. Daß aber bei solcher Methode zunächst eine ungeheure Verblüffung entstehen muß, das ahnen Sie jetzt wohl.

Noch etwas. So wie der Maler das Nachdunkeln seines Bildes in Berechnung zieht, das heißt sich fragt, wie sein Bild nach hundert Jahren aussehen werde, und deshalb sich das glänzendste Rot versagt, wenn er überzeugt ist, daß dieses Rot nach hundert Jahren graubraun aussehen wird, so muß auch der Epiker wissen, was nachdunkelt, also was zwar anfänglich Effekt macht, aber nach hundert Jahren tot ist. Im Epos dunkelt unfehlbar alles nach, was nicht Anschauungsbild ist. Erstens also vor allem die Überleitungen von einer Szene zur andern. Zweitens sämtliche bloßen Gefühlswerte. Ein Punkt von enormer Wichtigkeit. Denn aus diesem Grunde muß sichs der Epiker versagen, den Stimmungsgehalt seiner Situationen auszuschöpfen. Immer denkt der Leser: «Aha! jetzt kommt es endlich.» Täuschung, im Epos kommt es niemals. Es wird nur berichtet, im besten Fall geschildert und geredet. Aber selbst die Reden sind nicht nach Wunsch, sie sind nicht pathetisch oder lyrisch, sondern dialektisch. Das alles bedeutet anfänglich eine gewaltige Einbuße. Es geht zuerst dem Publikum, das nie und nirgends Gelegenheit findet, mit dem Gefühl Anteil zu nehmen, wie dem Kardinal mit Ariost: «Was sollen diese unnützen Fabeleien! Was will der Dichter damit?» Nun, diese unnützen Fabeleien sollen nichts als bleiben; der Dichter will damit einzig, daß sie nicht wieder vergessen werden können. Hiermit sind Sie gewarnt und einigermaßen auf kommende Enttäuschungen vorbereitet.


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