Heinrich Spiero
Paul Heyse
Heinrich Spiero

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6. Dramen der Reife

Dem glücklichsten Genie wird's kaum einmal gelingen,
Sich durch Natur und durch Instinkt allein
Zum Ungemeinen aufzuschwingen:
Die Kunst bleibt Kunst! Wer sie nicht durchgedacht,
Der darf sich keinen Künstler nennen;
Hier hilft das Tappen nichts; eh' man was Gutes macht,
Muß man es erst recht sicher kennen.

Je älter er wurde, um so stärkere Bedeutung gewann der Sinn, den dies Goethewort umschließt, für Paul Heyse. So selten er sich in späteren Jahren theoretisch vernehmen ließ, nachdem er seine kritische Tätigkeit für den literarischen Teil des »Deutschen Kunstblattes« eingestellt hatte, so sehr ergeben nicht nur die Einleitungen des »Deutschen Novellenschatzes«, sondern insbesondere die den Jugenderinnerungen angeschlossenen Bekenntnisse, wie sehr dieser Dichter das ist, was man in manchen Zeiten über Gebühr verworfen hat, ein sogenannter denkender Künstler, wie wenig freilich das, was wiederum andere Zeiten zu Unrecht emporheben – ein scheinkünstlerischer Merker der Tabulatur. Jene Befreiung, die in Bonn einsetzte und von der schon mehrmals die Rede sein mußte, kam ja Heyses dramatischem Schaffen vor allem zugute, und mit der kritischen und selbstkritischen Klarheit, die alle seine Lebensäußerungen auszeichnet, hat er denn auch 85 gerade über die Grundlinien, innere und äußere Erfolge und Mißerfolge seiner dramatischen Schöpfungen ausführlich gehandelt. Trotz dem lauten Widerhall, den sein Lustspiel »Die Weisheit Salomos« (1886), zumal in Berlin, fand, und trotz zahlreichen anderen, kleineren und größeren Erfolgen hat Heyse, besonders seit dem Beginn der jüngsten Bewegung, nie am Vorderplatz gestanden. Sein warmes, durchaus preußisches und von frischem Humor durchzogenes vaterländisches Schauspiel »Colberg« hat fast allein in den letzten Jahren seinen Namen auf Bühnen jedes Ranges festgehalten, und wenn sich große Theater, an denen er früher Heimatrecht hatte, seiner Dramen entsinnen, so wählen sie merkwürdigerweise nicht die großen, von tiefen Leidenschaften in echter Aussprache durchfluteten, sondern etwa den schwächlichen, von dem Dichter selbst nicht eben hochgehaltenen »Hans Lange« (1866), ein Stück, das freilich einige dankbare Rollen bietet, aber in der Charakteristik, mit Ausnahme des Herrn von Massow, selten bis zu beherrschender Höhe aufsteigt.

Heyses dramatische Entwicklung, die mit »Ludwig dem Bayern« die erste Höhe erreicht hatte, zeigt immer wieder dasselbe Charakteristikum der Einfachheit, das wir in seinen übrigen Werken aufzuweisen hatten. Schon im äußeren Aufbau sind seine Dramen immer wieder nicht konzentriert auf kunstvoll gruppierte Massenszenen, auf Wirkungen durch eine Fülle auftauchender und verschwindender Gesichte, sondern sie gehen stets aus auf die Darstellung der großen, tiefen Leidenschaft, die sich an einer anderen dramatisch entzündet. Nicht immer kann sich da der Novellist ganz verleugnen und tut dann einen halben Fehlgriff, wie in »Maria Moroni« (1863). Die Gestalt der Frau im Mittelpunkt dieses 86 Stückes ist eine nahe Verwandte anderer Heysischer Frauen, wie sie uns in seinen erzählenden Dichtungen entgegentreten; sie lebt in einer ruhigen, aber tieferen Glückes baren Ehe, bis der Mann in ihr Leben tritt, dem sich ihr Herz in heißer Abwehr und doch in Erkenntnis der Fruchtlosigkeit des Widerstandes hingibt. Sie will ihn fliehen, sagt ihm für immer lebewohl und sieht ihn dann doch in einem Rückfall seines alten Leichtsinns, verblendet von seiner Leidenschaft, ihr wie der ersten besten nachstellen. Ihr Gatte tötet ihn meuchelmörderisch, sie geht in den Garten, aus dem der Täter entflohen ist, und kehrt mit dem blutigen Dolch in der Hand zurück. Wieder wie im »Verlorenen Sohn« ertönt doppelsinnige Antwort auf eine Frage:

                                Maria

Der Weg ist frei. Aber ihr weckt ihn nicht mehr.

                                Falcone

Den Fürsten Savello, Frau? Ihr hättet ihn – getötet?

                                Maria

Er ist tot. Das übrige – soll mit uns sterben.

Und sie stirbt ihm nach, von eigener Hand.

War die dramatische Bewegung nicht recht geeignet, das Spiel und Widerspiel der Leidenschaften, ihr Erwachen und ihre Wandlungen in der Brust der Maria Moroni voll herauszustellen, so schuf Heyse um so bewundernswerter die ganze Stufenleiter fremdartiger und doch wieder allzu menschlicher Gefühle zum dramatischen Bilde, die Kaiser Hadrian in seiner Verknüpfung mit Antinous bewegen. »Hadrian« (1864) birgt in dem Titelhelden eine in allen Naturfarben eines seltsamen, tief unglücklichen Charakters spielende männliche Seele. 87 Durch des Kaisers Brust gehen alle Zweifel einer aufgeregten Übergangszeit.

Ein Gleichnis! Und wer bürgt mir, daß es gleicht?
Ich will Gewißheit, Sonches, will erfahren,
Erkennen, daß ein All sei hinterm Nichts,
Nicht glauben müssen euch, die ihr vielleicht –
Im besten Fall – euch selbst betrügt.

Nichts Krankhaftes, sondern einen durchaus glaubhaften Zug zur Erfassung eines plötzlich nahe vor die Augen tretenden Glückes enthält die rasche Neigung des Kaisers zu Antinous, den er als den langentbehrten Sohn an sich fesselt. Im Gegensatz zu der Umgebung, die im Menschen nur den Herrscher, den Untertan, den Sklaven, nie den Menschen an sich sieht, empfindet Hadrian Ehrfurcht vor einer echt adligen Gestalt.

Ein muntrer Bursch? Muß ich dich Ehrfurcht lehren?
Ist dir das schupp'ge Ungetüm des Sumpfs,
Der Wurm im Schlamm, den deine Sohle tritt,
Ein heilig Wunder, und dies Menschenbild,
An Leib und Seel' untadlig, eine Blüte,
Frisch aufgebrochen und vom Tau gekühlt, –
Du gehst vorbei mit Achselzucken? Hörst du
Nicht eine Stimme, die vernehmlich ruft:
Ihr sucht im Schein das Ew'ge? Schaut es an!
Schönheit steht neben euch und reine Jugend.

So erwidert er dem Priester, und wie wir bei seinen ersten Worten der Stimmungen der »Kinder der Welt« gedenken, so tritt uns hier etwas von Balders Gestalt vor die Seele. Furchtbar steigert sich die allmählich aufbrennende Friedlosigkeit des rasch entfremdeten Antinous, die Enttäuschung des Kaisers, der sein erworbenes Vaterrecht mit tiefer Leidenschaft festhalten will, bis zum blutigen Konflikt, dem wie durch ein 88 Schicksal Klythia, des Antinous Pflegeschwester und Stillgeliebte, zum Opfer fällt. Ihr gegenüber, die den Bruder zurück erbittet, bricht Hadrians nun wieder enttäuschte Seele voll aus:

Götter? Will mir das Kind von Göttern schwatzen,
Die milde wären? Gaben sie mir je,
Um was ich bat? Ich hab' mir's nehmen müssen,
Mit eigner Müh', und weiß, daß mich kein Gott
Entschädigte, ließ' ich mich jetzt berauben.

Hadrian empfindet, daß er für Klythias Tod mit Antinous quitt wird, als dieser in völliger Verblendung einen Mordversuch auf den Kaiser begeht. Und er fühlt die reinigende und versöhnende Kraft des Todes, als ihm, den eben noch gaukelnde Priester mit Totenerscheinungen betrogen haben, der Nil den toten Liebling zurückgibt, der in der letzten Stunde, aus der Verwirrung zur Klarheit erwacht, Worte des Dankes für Hadrian gesprochen hat.

Vereinigen sich hier alle Strahlen der dramatischen Spiegelung auf der einen überragenden Gestalt des Kaisers, in dessen Lebenskreis ganz von ferne auch bereits das Christentum tritt, so ergibt sich eine mehrfältige und darum um so reizvollere Verkettung einzelner, in sich berechtigter tragischer Schickungen zu einem Gesamtbild in dem Trauerspiel »Die Göttin der Vernunft« (1869). Das Stück spielt in Straßburg im Jahre 1793, in den Tagen, da im altehrwürdigen Münster die Anbetung der Vernunft gefeiert wird. Die Schauspielerin Heloise Armand soll als Bild der neuen Göttin auf die Revolutionskanzel treten. Sie, das illegitime Kind eines alten, nun ausgewanderten Aristokraten, steht nach bitteren Erfahrungen mit einem anderen Aristokraten, den sie liebte, auf der Seite der neuen 89 Ideen und wird durch die neu aufflackernde Leidenschaft zu dem wiederkehrenden, schuldlos von ihr gerissenen Geliebten in ihr wahres inneres Leben, in ihr Gleichgewicht zurückgebracht. Um den Vater zu retten, den sein Fluchtschicksal ihr ins Haus brachte, entschließt sie sich doch, auf Bitte des sich um sie verzehrenden Bürgers Ankläger, die Göttin darzustellen, entspringt aber dem Münster, da ihr Vater auf seinen Stufen von einer alten Rache um ihre Mutter ereilt wird. Der Greis stirbt im Gefängnis, gleich seinem versöhnten Todfeinde; Heloise und ihr Geliebter aber, wie der düstere Ankläger des Revolutionstribunals, sterben unter dem Fallbeil.

Es klingt durch dies Stück etwas von dem entfesselnden und entfesselten Rausch der Carmagnole, das Ça ira! tönt nicht als rein historische Begleitung der Vorgänge über die Bühne, die ganze Stimmung des Stücks ist aufs echteste durchtränkt von den Fieberdünsten der Revolution. So fein und klar wie im »Ludwig« ist hier wieder der Volkscharakter dramatisch herausgebracht, das querköpfige Deutschtum des nur halb verwelschten Elsasses, das an den neuen Schwindel nicht recht glauben kann und mag, auf der anderen Seite das Durcheinander von Schwärmern, Betrügern und Betrogenen, Schreckensmännern von kleiner Statur, über die die großen Pariser die furchtbaren Hände recken. Und Heloise ist eine jener wundervollen Heysischen Frauengestalten, die von sich sagen dürfen: »Dir erscheint eine Torheit, was mir das Höchste ist: nichts zu tun, was mich mit mir selbst entzweit.« Ein Weltkind scheinbar, das auf der Bühne die Zuschauer hinreißt, und im Tiefsten doch eine Sehnsucht nach Ewigem, nach größerer Vollendung trägt: »Es ist ein Heiliges, das mitten im dunklen Rausch der Leidenschaften die 90 Seelen ergreift und in die Höhe reißt aus allen Abgründen.« Der einstige Gardist von 1848 bringt hier mit größerer Reife als in der frühen Versnovelle »Urica« den ganzen inneren und äußeren Tumult der Revolution heraus und bewährt in ihrer Zeichnung das tief bürgerliche Empfinden, das die besten seiner Zeitgenossen – Hebbel, Fontane, Keller, Freytag und wie viele noch – gegenüber dem ehrfurchtlosen Wahn erfaßte, jenes tief bürgerliche Empfinden, auf das gestützt der von Heyse hoch gepriesene und geliebte Bismarck das Reich schaffen konnte. Nicht das Recht der Freiheit wird verkannt, nicht die furchtbare Not der versunkenen Zeit unterdrückt, aber der freche und selbstsüchtige Hochmut einer nichts glaubenden Schreckensherrschaft ganz realistisch dargestellt. Nur solcher Empfindung konnte die kräftige und wiederum im besten Sinne bürgerliche Darstellung preußischer Freiheitskämpfe entspringen, die »Colberg« (1865) brachte, und von der eine unverkennbare Linie, wie schon von den »Pfälzern in Irland«, zu dem späteren Drama Ernsts von Wildenbruch hinüberführt.

Gelang es Heyse selten, Konflikte des Lebens der Gegenwart im Drama auf die letzte Formel zu bringen, wie etwa der Einakter »Ehrenschulden« (1886) ein Versager blieb, so zwang er immer wieder Leidenschaften zur echt tragischen Aussprache, wenn er den spezifischen Konflikten der Gegenwart auswich und in andere Zeiten zurückglitt, ein Vorgang, so logisch, daß wir ihn bei allen unseren großen Dramatikern wiederfinden – der Abstand, der innerlich zu nehmen ist, gibt eine deutlichere Beleuchtung, läßt dem Dramatiker, ob er nun Schiller oder Kleist, Hebbel oder Grillparzer, Wildenbruch oder der Hauptmann der »Weber« hieße, die 91 Umrisse deutlicher erscheinen, die Konflikte klarer heraustreten, hebt ihm alles aus dem Gemeinen bis in jene Sphäre des Ungemeinen, die, ohne das Unwirkliche zu sein, doch die allein dramatische ist. Es ist wie ein Wunder, daß unsere gegenwärtige deutsche Bühne auf ihrer rastlosen Suche nach dem neuen Drama hohen Stils die allerverwunderlichsten Werke der Vergangenheit und Gegenwart aufgreift, aber an Heyses schönsten, geschlossensten und lebendigsten dramatischen Schöpfungen vorbeigeht, an der »Elfride« und dem »Grafen Königsmark« (beide 1877 erschienen). »Elfride« behandelt einen Stoff aus der englischen Vorzeit, den, wie Erich Schmidt anschaulich dargestellt hat, von Massinger und Lope de Vega bis zu Klinger viele dramatisiert haben und an dem auch Schiller sich gelegentlich kurz versucht hat. Der junge Ethelwold, ein Hofmann König Edgars von England im zehnten Jahrhundert, soll dem als Wüstling bekannten König Elfride, die Tochter des Earl von Dorsetshire, freien. Von ihrer Schönheit bestrickt, wirbt er, ohne seinen Auftrag zu bekennen, für sich um die Junge, noch ganz Unberührte, führt sie auf sein einsames Jagdschloß und berichtet dem König, sie sei bäurisch und plump und zur Königin verdorben. Ein entlassener Knecht, den Elfrides wundersame Schönheit berückt hat, schwatzt in London, und König Edgar sagt sich zur Jagd an. Atemlos eilt Ethelwold nun voraus, gesteht Elfride alles, ihr, die nun zum ersten Male den Gatten in anderem Licht sieht, als einen, der einmal ihr und dann anderen gelogen hat. Hier lag in dem Stoff und liegt in dem Stück eine leise Verwandtschaft mit dem Mariamnenmotiv Hebbels und seines Stoffes; Elfride entfernt sich innerlich von Ethelwold, sie geht aber auf den Mummenschanz ein, den er ihr vorschlägt, 92 und erscheint dem Könige entstellt. Aber auch ihre weibliche Eitelkeit ist rege geworden, sie hat, unwissend, was Liebe sei, wie die Toinette der »Kinder der Welt«, jetzt erst wirklich Feuer gefangen, ist jetzt erst erwacht.

                                Ich war ein Mädchen,
Das voller Neugier noch ins Leben blickte,
Und lachte nur, wenn man von Liebe sprach.
Du kamst mit stürmend jäher Leidenschaft
Und ließest mir nicht Zeit, mich zu besinnen
Auf mein Gefühl. Ich sah in kind'scher Freude
Die schöne Glut, und warm von deinen Flammen
Wähnt' ich zu glühn.

Sie wähnt es zum zweiten Male, da der König die plötzlich in ihrer Schönheit Erkannte mit Huld und Anbetung umgibt, und ist in ihrem Gefühl so verwirrt, daß sie in einer sicher herbeigeführten Lauschszene die Frage, wen sie jetzt, wenn sie noch frei wäre, wählen würde, so beantwortet, daß der lauschende Ethelwold aus der Welt geht, wie er's dem König versprochen, falls er unterläge. Er scheint in einer tiefen Kluft, die schon einen seines Geschlechts verschlang, verschwunden, und im nächsten Jahr wird Elfride des Königs Gemahl. Nun aber rächt sich die Verwirrung des Herzens, jetzt empfindet sie, daß der Mann, dessen Lüge sie einst zurückgestoßen, allein der ihre war, und da der Totgeglaubte wieder erscheint, flieht sie mit ihm, um dann, von dem König eingeholt, für beide zu sterben.

Wie er die literarhistorische Entwicklung des Stoffes zeichnet, so hat Erich Schmidt auch Heyses Drama selbst fein analysiert und bekennt dabei, was ich ganz unterschreibe, daß er die ersten Akte mit großem Genuß, ja mit Entzücken gelesen habe. Er stellt dann aber ebenso richtig fest, daß in den beiden letzten Aufzügen etwas 93 mühsame Konstruktion liegt; es fehlt hier etwas von dem rasch mitreißenden Gang der ersten drei. Wir verstehen nicht recht, daß Ethelwold, da er Elfrides völlige Abwendung zu fühlen glaubt, nicht ganz aus der Welt geht, und wissen, wie wiederum Schmidt richtig sagt, daß er nur leben muß, »weil der Dichter ihn für seine Elfride nicht unter den Lebenden missen kann. Es galt, ein Weib zu zeichnen, das erst durch die Schuld über den bloßen Geschlechtscharakter hinausgehoben wird und, indem es die Freude an sich verlor, das Verlangen nach Hingebung in sich erwachen fühlt – jetzt zu spät, so daß nur noch eine tragische Sühne durch Selbstaufopferung übrig bleibt«.

Immerhin entstellt diese leichte Abschwenkung das Drama so wenig, daß es seinen hohen Rang in der neueren deutschen Dramatik vollauf behält, und überdies bietet es nicht nur in den drei Helden, sondern auch in zweien der wenigen Nebengestalten so dankbare Aufgaben für freilich ungewöhnliche schauspielerische Begabungen, wie unter den gleichzeitigen Dramen des Dichters eben nur noch der »Graf Königsmark«. Liegt in der »Elfride« alles eingebettet in die mattfarbige Welt des zehnten Jahrhunderts im grauen englischen Norden, so umgibt uns hier der Glanz des Zeitalters, da der Roi Soleil Sitten und Unsitten der großen Welt, zumal auch in deutschen Landen, beherrschte. Am kurhannöverschen Hof erscheint zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts Graf Philipp Königsmark, nun ein gereifter Mann, nachdem er als Junker die Hauptstadt verlassen hatte. Den flüchtig Durchreisenden hält das rührende Bild der in der Ehe mit dem kalten und frivolen Kurprinzen tief unglücklichen Prinzessin Sophie fest. Zwischen beiden knüpft sich ein inniges 94 Herzensbündnis, das sie einander auch äußerlich in die Arme führt, nachdem der Prinz seine Roheit der Gemahlin gegenüber bis zum Letzten enthüllt hat. Eine Gräfin Platen, der der Jüngling einst ohne Liebe, von ihrer Leidenschaft unbefragt mitgerissen, angehört hat, und die jetzt dies sie vernichtende Bekenntnis von dem Herausgeforderten anhören muß, verrät, daß Königsmark die Prinzessin der sie peinigenden Umgebung entführen will, um mit ihr, wie sein ritterlich romantischer Sinn es träumt, auf einer ionischen Insel zu leben, die ihm das Schwert in den Diensten der Republik Venedig gewinnen soll. Königsmark wird getötet, und das Schicksal der Prinzessin scheint für immer ganz umdunkelt, während die Gräfin dem Wahnsinn anheimfällt.

Mit einer sicheren Kühnheit wird hier die Handlung mit immer wieder angespanntem Atem fast pausenlos durchgeführt. Der immer noch jugendfrische, alle, auch die Gegner bezaubernde Königsmark, die schmale, zarte, liebebedürftige Prinzessin Sophie, die von später Leidenschaft verzehrte und verblendete Gräfin Platen, der in seinem uradligen Welfentrotz fast mit Treitschkischer, hohnvoller Deutlichkeit gezeichnete Kurprinz, seine Maitresse de rigueur, der Gräfin Platen Schwester, und deren durch solch hohe Gunst beglückter kammerherrlicher Gatte, der rasch versöhnte Rivale Königsmarks um ein hohes Hofamt, Major von Ilten – sie alle sind gleich farbig hingestellt, sie alle charakterisieren einander niemals indirekt, sondern mit der stärksten und echtesten dramatischen Gebärde charakterisiert jeden eigenes Wort und eigene Handlung. Die Zeitstimmung ist genau so echt wie in der »Göttin der Vernunft« – es ist ein in der Zeit seines Erscheinens und noch bis weit danach unvergleichlich feines und starkes dramatisches Werk. 95

Daß einem anderen, späteren Heysischen Drama, der »Maria von Magdala« (1899), ein weit größerer, ja, einer der größten Heysischen Erfolge überhaupt beschieden war, hatte andere Gründe, lag nicht in den Vorzügen des Stückes, das an frühere nicht heranreicht, sondern an heute vergessenen zeitgeschichtlichen Umständen, Zensur- und Polizeifragen. Das Drama »Maria von Magdala«, dem Heyse erst jüngst (1909) ein anderes biblisches, »König Saul« – voll der Tragik des Alterns – nachgesandt hat, behandelt mit dem Konflikt der Maria zugleich den des Judas Ischarioth und ein großes Stück der Leidensgeschichte des Heilandes. Es setzt Maria Magdalena mit Judas Ischarioth in Verbindung und bringt sodann wiederum die Tat des Verräters mit seiner Eifersucht und seiner tief verletzten Liebe zusammen. Und Judas ist zugleich der Jünger, der mit ganz besonderer Inbrunst und Liebe an Jesu gehangen hat und nun, durch andere Leidenschaft losgerissen, darum auch ins tiefste Extrem hinüberschlägt. Heyse geht damit Bahnen, die vor ihm andere gegangen sind, Geibel in seinem Gedicht »Judas Ischarioth«, Elise Schmidt in dem Drama »Judas Ischarioth«, und vor allem Friedrich Albert Dulk in seinem »Jesus der Christ«. Aber so gewiß Heyse ein weit größerer Dichter ist als der immerhin begabte und vielfach höchst interessante Dulk, so sehr hatte Dulk doch in diesem Punkt vor ihm voraus, daß er sich nicht scheute, Jesus selbst mitten in sein Drama hineinzurücken, so daß wir mit dem Herrn nicht nur als einer benannten, sondern als einer bekannten Größe rechnen dürfen. Die Not der tatsächlichen Bühnenverhältnisse, die Heyses Freund Adolf Wilbrandt zwang, seinen Christus unter dem Decknamen eines prophetischen Mahners Hairan zu 96 verstecken, veranlaßte Heyse, den der Stoff nun einmal lockte, Christus nur hinter der Szene sprechend einzuführen und sich und uns dadurch um die lebendige Wärme des Gegenspiels zu bringen. Überdies fehlt dem Drama auch der volle Brand der Leidenschaft im Judas, wie ihn Heyse sonst, was andere auch dagegen einwenden mögen, gerade im Drama wohl zu zeigen verstanden hat. Heyses dramatisches Pathos ist nicht die trotzige Leidenschaft, die mit der Gewalt des Genius alles überrennt, wie bei Heinrich von Kleist, nicht die dämonisch durch sich selbst weiter gezwungene Friedrich Hebbels, nicht die größte von allen, die mit weltgeschichtlicher Fittichschwere einherrauschende dramatische Leidenschaft Friedrich Schillers – es ist die von Goethe über Grillparzer empfangene Leidenschaft, die dem oberflächlichen Beschauer nur zu oft marmorne Leiber ohne Leben zu bilden scheint, deren Blutlauf hinter dem schönen Kontur sich aber dem tiefer Schauenden, dem tiefer Horchenden durch den lebendigen Herzschlag kundgibt. Gerade hier zeigt sich bei Heyse stark der romanische Einfluß seiner Neigungen und Studien, wenn wir, vergleichend, an Goethes unter italienischer Sonne neu empfangene Tragödie, an Grillparzers von den Spaniern beeinflußte dramatische Lebensarbeit denken. Wenn einst, und hoffentlich bald, aus der großen Zahl von Heyses Dramen eine rein nach ästhetischen Gesichtspunkten getroffene Auswahl der schönsten vorgelegt wird, so wird man erstaunt, empört über die Ungerechtigkeit der deutschen Spielpläne, erkennen, daß, der sonst das Leben zu meistern wußte, es auch in der Form des Dramas in den höchsten Augenblicken seiner künstlerischen Entwicklung immer wieder festzuhalten verstand. 97

 


 


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