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In der Novelle »Ein Märtyrer der Phantasie« (1874) sagt Heyse von einem traurig zugrunde gehenden Unhelden, der wunderliche Träumer habe, wie er selbst am besten fühlte, zum Poeten nicht die volle Gesundheit der Einbildungskraft besessen. Dies Wort ist wohl zu merken, insbesondere in einer Zeit, da die angeborene oder angezüchtete Perversion dieser Himmelskraft nur zu vielen als gleichberechtigte, ja, als die wahrere Begnadung zum Dichter erscheint. Ganz befreit von dem ironisch witzelnden Spieltrieb jener allerersten, nur zur Erleichterung des geliebten Vaters von Geldsorgen namenlos in den Druck gegebenen Märchenphantasien, von der Schwiegermutter Weisheit nicht beleidigt, aber von der erfahrenen Klugheit eines sicheren Kunstverstandes gebändigt, lebt sich nun mit jenem echten Spieltrieb, den Goethe Jovis Lieblingstochter zuspricht, Heyses Phantasie in einer unvergleichlich großen Zahl von Novellen aus. Der klare, dabei überaus schmiegsame und nie gesuchte Stil dieser Erzählungen entlockt dem gestrengen Wustmann höchstes Lob, er nennt Heyse den besten deutschen Stilisten der Gegenwart schlechthin, und der nicht minder gestrenge Xanthippus (Franz Sandvoß) hebt ihn, »den Mann höchster ästhetischer Kultur, einen, was bei heutigen Klassikern täglich seltner wird, sogar ein musterhaftes Deutsch schreibenden Schriftsteller«, hoch 45 empor, sogar in einem Zusammenhange, wo der Kritiker sich genötigt sieht, Heyse wegen seiner Stellung zu Heine scharf zu bekämpfen. Und ein viel modernerer Geist, Jakob Julius David, selbst ein Dichter, sagt: »Heyse meistert die Sprache in einer ungemeinen Weise. Klar, ebenmäßig und schlank bauen sich seine Sätze. Es ist kein nervöses Hasten darin; gelassen, ohne jede Eile und dennoch knapp strömen sie ihrem vorgesteckten Ziel zu. Er ist niemals weitschweifig noch geschwätzig, eine Fülle jener sinnlichen Wendungen, die unverlierbar im Gedächtnis haften, die ganz bestimmte und bleibende Vorstellungen wecken, blüht auf.« Und wenn wir sahen, wie sich Heyse von den Versnovellen und Idyllen der »Hermen« zur Prosanovelle hin entwickelte, so stellen wir, wiederum mit David, fest: »Es ist Harmonie in dieser Sprache und ein geheimer Rhythmus, wie ihn nur der Prosaiker erschwingt, dem zuvor der Vers sein Geheimnis aufgetan.«
Manches Mal noch zieht diese Kunst ihren Wurzelsaft aus Eindrücken der immer weiter zurücksinkenden Jugend. So gibt »Lottka« (1869) zunächst ganz als Erinnerung ein Erlebnis des Primaners. Ein etwas älterer, schon gereister Mitschüler führt den Dichter, dem in der späten Schilderung die noch unausgeglichene, frühreife Knabenweisheit der Übergangsjahre nicht erlassen wird, in eine Berliner Konditorei, wo der Ältere eine stille, eigenartige Schönheit hinter dem Ladentisch entdeckt hat. Mit der ganzen äußeren Überlegenheit, aber inneren Unsicherheit seiner Jahre versucht der jüngere Freund das Rätsel des schwermütig dreinschauenden Wesens zu lösen. Ihm wird sie nur der Stoff für ein hübsches, trübes Jugendgedicht, dem Älteren wird sie zum Schicksal. Nach einer heftigen Szene zwischen dem 46 völlig Entbrannten und einem Fremden, der Lottka nach seiner Meinung zu vertraulich begegnet, erfahren die Freunde, was es mit dem Mädchen auf sich hat: sie ist die Tochter einer Abenteurerin und eines Polen und hat sich gerade im Hinblick auf die Mutter mit einer herben Sprödigkeit umgeben, die sie nun aus ihrer Stellung auf Nimmerwiedersehen hinwegtreibt. Scheinbar überwindet Sebastian den Schlag, aber da er nach einigen Jahren auf dem Berliner Weihnachtsmarkt die immer noch Geliebte wiederfindet, wie sie arme Kinder beschenkt, brennt alles neu in ihm auf. Und in der Schneenacht gibt sie ihm das ganze Unglück ihres Lebens preis, das ewige Herabsinken, die Unmöglichkeit einer Reinheit, da sie nie von ihrer Mutter loskommt. Sie liest wie etwas unsäglich Zartes und Reines, das ihr immer unerreichbar bleibt, die Weihnachtsbriefe seiner Eltern.
»Sie legte die Briefe in die Schachtel zurück, stand rasch auf und zerdrückte die Tränen, die still aus ihren langen Wimpern hervorbrachen.
»Ich will gehn, sagte sie leise, es wird mir draußen besser werden.
»Gehn? jetzt? und wohin? Der Sturm wird dich umwerfen. Bleib diese Nacht hier, und wenn du willst – die Küche ist ja nebenan, ich kann da auf ein paar Stühlen – ohnehin ist mir nicht nach Schlafen zumut.
»Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Plötzlich schlug sie die Augen voll zu ihm auf, mit einem Ausdruck, der sein Herz hoch klopfen machte.
»So nicht, sagte sie. Aber es ist wahr, der Sturm draußen würde mich doch zu Boden werfen, und wohin sollte ich auch? Ist heute nicht Heiligabend? und der letzte, den wir zusammen feiern? Ich muß dir doch 47 noch etwas schenken; die Bescherung an die Kinder hat mir ohnehin keine rechte Freude gemacht. Und warum soll ich nicht auch heute an mich denken? nicht wahr, Sebastian?
»Sie hatte ihn nie bei seinem Namen genannt.
»Du willst mir etwas schenken? fragte er und sah sie erstaunt und zweifelnd an.
»Das einzige, was ich noch besitze – mich selbst, hauchte sie und schlang die Arme um seinen Hals.«
Aus der Liebesnacht geht Lottka in den Tod. Sebastian lebt, überschattet, weiter. »Als er in der Mitte der Dreißiger starb, hinterließ er weder Weib noch Kind.«
Nicht zum ersten und nicht zum letzten Male taucht hier das Motiv der einmal geschenkten Liebe auf, nicht zum ersten und nicht zum letzten Male tragisch ganze Lebensläufe bestimmend. So in der »Ungarischen Gräfin« (1874), wo der junge Hofmeister des blöden Grafensohnes sich durch seine standhafte Liebe und seine liebedurchtönte Musik das Herz der verwitweten Gräfin erobert und beide nach der einen Gewährung von dem so geschmiedeten Schicksal nicht wieder loskommen bis zum Untergang. In der Troubadournovelle »Die Rache der Vizgräfin« (1880) straft die schöne und keusche Assalide den wankelmütigen Geliebten, der sie eben vor dem Ende der Prüfungszeit leichtsinnig hinterging, indem sie dem treueren und nichts begehrenden Diener einmal gewährt, was dem Herrn versagt blieb, und dann für immer hinter Klostermauern verschwindet. Umgekehrt kann ein einziger, der »Macht der Stunde« (1899) verdankter Kuß die Empörung eines verwundeten Herzens heilen, weil es nun erst dem im Zorn verlassenen Mann sein unter der gleichen Macht begangenes Vergehen zu verzeihen bereit ist. 48
Und dann wieder will ein tapferes, weibliches Herz diese gefährliche und beglückende, schenkende und enttäuschende Macht nicht erst aufkommen lassen, und »Die kleine Mama« (1865) entfernt den Pflegesohn liebevoll, wahrhaft mütterlich, aus dem Hause, um die für die viel ältere und immer noch schöne Halbmutter im Busen genährte Glut nicht zu einer verderblichen Flamme aufschlagen zu lassen. Sie selbst aber ergreift, nicht in trüber Resignation, sondern mit tapferem Lebensmut, ein stilles Glück, das sich ihr längst suchend genaht hat.
Immer wieder werden in Heyses Novellen nach dem höheren Gesetz, nicht nach der Konvention und der landläufigen Sitte Leidenschaften niedergezwungen, wenn das Glück geliebter Menschen es verlangt, Rachegefühl wird als ein erbarmungslos, ohne Luftweg im Herzen schwelendes Feuer bewahrt und nicht ans Licht gelassen. So in dem Meisterstück »Der verlorene Sohn« (1869). Eine bernische Patrizierin, Frau Helena Amthor, hat neben einer guten, schönen und wohlgeratenen Tochter einen verwilderten, trotz aller Liebe völlig verwahrlosenden Sohn. In der Nähe ihres stillen Hauses entspinnt sich eines Tages ein Streit, bei dem nur zu rasch die Klingen entblößt werden. Schwer verwundet sucht der eine der beiden Hauptkämpfer, der den anderen noch schwerer geschlagen hat, Schutz im Amthorschen Hause. Er wird gepflegt, sorglich den Weibeln verhehlt und hat, da er geheilt das Haus verläßt, das Herz der Tochter gewonnen, deren Hand ihm die Mutter nach einer kurzen Prüfungszeit zusagt. Während der junge Mann abwesend ist, um den Segen der eigenen Eltern zu erbitten, betritt der Großweibel der Stadt das Haus – der zweite Kämpfer jenes Schreckenstages, der den anderen blutdürstig jäh angefallen und nur eine 49 Abwehr in der Notwehr empfangen hatte, ist tot aufgefunden worden. Das Mädchen, um das der Streit ging, das sich dem widerwilligen, nunmehrigen Schwiegersohn des Hauses rettungsuchend an den Hals geworfen hatte, hat den Totengräber gebeten, den in ihrer Kammer befindlichen Leichnam des anderen, ihres Gefährten, heimlicherweise zu verscharren. Dies ward dem Rat gemeldet, der Tote besichtigt, und der Großweibel hat auf dem Ring des Toten ein dem Familienwappen der Amthors gleiches, in seinem Antlitz einen Zug wie auf dem Totengesicht seines verstorbenen Freundes, eben des alten Amthor, zu sehen gemeint.
»Der würdige Mann, als er so weit in seinem Bericht gekommen war, machte eine Pause, während deren er die Frau, die ihm gegenüber saß, nicht anzusehen wagte; obwohl er die ganze Größe des Unglücks, das über der Matrone schwebte, nicht ermessen konnte. Wußte er doch nicht, daß das Geschick ihrer beiden Kinder davon abhing, ob der fremde Tote ihr leiblicher Sohn war oder nicht.« Frau Helene verspricht, nachdem sie sich einigermaßen gesammelt, selbst zum Spittel zu kommen und den Toten zu betrachten.
»Darauf verließ sie der Besucher. Sobald sie allein war, sank sie, wo sie stand, in die Knie, und wie eine hohe Flut schlug der Jammer über ihrem Mutterherzen zusammen.«
Allein tritt sie an die Bahre. Ein Blick in das Antlitz des Toten lehrt sie die furchtbare Wahrheit. Aber als sie endlich, wieder ihrer Kräfte sicher, hinaustritt, darf die Wahrheit nicht über ihre Lippen, freilich auch nicht die Unwahrheit.
»Ich habe euch warten lassen, sagte sie; es wäre nicht nötig gewesen. Schon ein Blick genügt für eine 50 Mutter, um die Wahrheit zu wissen. Aber es hat mich angegriffen. Ich habe ein wenig ausruhn müssen.
»So ist er's nicht? rief der getreue Freund, Gott sei gepriesen!
»In Ewigkeit! sagte die Frau.«
Gerade an diesem Tage hat die Tochter einen glücklichen Brief des Verlobten empfangen – sie erfährt nichts von dem ganzen Zwischenfall. Und da nun der Bräutigam mit seiner Sippe stattlich herübergereist kommt, fehlt bei der Hochzeit nur eines: das frohe Lächeln auf dem Gesicht der Brautmutter. Sie kann den Schwiegersohn nicht mehr in die Arme schließen, kann Kinder und Enkel nicht besuchen, und was sie auf dem Totenbett dem Stadtpfarrer gebeichtet, hat erst einem Urenkel in später Zeit der Geistliche vertraut, einem Urenkel, der das Grab der Ahne besuchen kam: »das hatte sie sich an der Kirchhofsmauer bestellt neben dem längst eingesunknen Hügel, unter dem ihr verlorner Sohn die letzte Ruhe gefunden hatte.«
Das ewige Schweigen über dem zeitlichen wählt eine andere heldische Natur in der Novelle »Zwei Gefangene« (1879). Zwei einsame Menschen, ein ehemaliger katholischer Priester und ein spätes Mädchen, finden sich zufällig und beschließen, da sie keine Verpflichtungen mehr haben, gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Da sie von Hamburg übers Meer zu reisen sich anschicken, gewinnt die lange zurückgehaltene Sinnlichkeit in Joseph es ihm ab – er wird ihr untreu. Sie aber empfindet darin nicht seinen Fehl, sondern sie erkennt die Unbedachtheit der Verbindung, die sie, das verblühende Mädchen, an den kraftvollen Mann fesseln soll. Schon will sie sich von ihm trennen, als leidenschaftlich beschwörende Worte von ihm sie die Gefahr 51 lehren, daß er ohne sie in dem einmal begonnenen leichtfertigen Spiel versinken könnte. So folgt sie ihm noch auf das Schiff, das ihn in ganz andere Verhältnisse zu neuer Arbeit führen soll, und ist eines Morgens, da er sie sucht, im Meere versunken, während er träumte – »von einem schönen, jungen, leichtsinnigen Geschöpf mit schlanken Gliedern und schwarzem Haar, das nach Ambra duftete«.
Nichts, das den Augen und den Ohren, den Sinnen dieses Dichters vorüberging, blieb ohne sichtbaren Niederschlag in seinen Dichtungen. Die Eindrücke der Kindheit und ersten Jugend kommen spät noch immer wieder empor, da der Zurückschauende kleinere Abschnitzel zu der Charakterbildersammlung »Menschen und Schicksale« (1908) sammelt. »Lottchen Täppe« (1905) wirkt in seiner schlichten Hinerzählung wie ein schmerzliches Idyll aus dem Berlin der dreißiger und vierziger Jahre, da noch Goldlack und Reseden an dem Fenster manches Altjungfernstübchens der stillen Stadt blühten. Die junge Charlotte hat kurz vor der Hochzeit durch ein Gewitter, das sie auf offener Landstraße überfiel, eine dauernde Verkrümmung erlitten und gibt dem Bräutigam sein Wort zurück, bleibt, da er sich endlich auf ihr Drängen mit einer anderen vermählt, die Freundin des Hauses, deren einsames Geschick Heyses Mutter und ihre Kinder miterleben. Nie verläßt sie bei aller Teilnahme ihre Wohnung hoch oben im vierten Stock eines Eckhauses an der Stechbahn vor der Schloßfreiheit, und hier empfängt sie denn auch den Besuch der Kinder, die bei ihr die alten Volksbücher lesen und in alten Erinnerungen kramen. Erst als ihr ehemaliger Verlobter auf dem letzten Bett liegt, entschließt sie sich, ihrer Klause zu entsteigen und ihn aufzusuchen. In dem ungewohnten 52 Gedräng der Straße wird die kleine Gestalt überfahren und stirbt in der Wohnung ihres Jugendfreundes zugleich mit diesem.
Nach der anspruchslos milden Zeichnung dieses Bildchens, vor dem einem bescheidene Holzschnitte aufsteigen, wie sie aus jener bescheidenen Zeit noch in manchen alten Berliner Stuben hangen, wirkt »Der letzte Centaur« (1870) wie ein heiteres Gemälde von Böcklinscher Farbenpracht. Hier sprechen zunächst Münchener Erinnerungen. Der Dichter kehrt aus einer Gesellschaft in der Nähe der Frauenkirche heim, der Kopf war ihm heißer und das Herz immer kühler geworden, und da er nun über einem zierlich geschnitzten Torweg den Namen einer alten, ihm wohlvertrauten Weinstube liest, tauchen ganz andere, so viel vollere Stunden vor ihm auf, Abende, da er mit Genelli, Koch und anderen guten Gesellen hier beim Wein gesessen hat. Langsam gehen die Schatten der Toten, nun nicht mehr Schatten, da Heyses Kunst sie sich belebt, an uns vorbei, zuletzt der Riese Karl Rahl mit dem Löwenappetit und dem geistreichen Gespräch. Einsam sitzt der Träumende auf einem der leeren Fässer in dem tiefen Hausgang, wie wir deren noch heute immer wieder in den älteren Straßen Münchens antreffen. Der alte Aufwärter von damals erscheint und lädt ihn ein, nur hereinzukommen – drinnen ist die alte Tafelrunde, nachdenklich, trübselig und nur wieder lebhafter, wenn dann und wann ein bedächtiger Schluck aus einem Glase roten Weins genommen wird. Und endlich tut Genelli den Mund auf und erzählt von einem Erlebnis seines ersten Münchener Sommers. Die Hitze hatte ihn ins Land hineingetrieben, ein Wirtshaus an der Halde winkt ihm aus dichtem Waldeslaub, und wie er unter 53 kegelnden, trinkenden, juhschreienden Bauern behaglich beim Wein sitzt, kommt ein merkwürdiger, wunderlicher Zug auf ihn zu, den Heyse ihn so, im echten Plauderton humorvoller Erinnerung schildern läßt:
»Stellt euch vor, in der goldigsten Herbstsonne kam auf der weißen, staubenden Bergstraße ein riesenhafter Centaur dahergetrabt, in einem würdevollen, beschaulichen Viervierteltakt, wie der alte Schimmel, der in Wilhelm Tell mitspielt und den Landvogt in die hohle Gasse tragen muß; hinter ihm drein, aber in scheuer Entfernung, etwa um einige Pferdelängen, zottelte und trottelte ein lautloser Haufen alter Mütterlein, lahmer und preßhafter Männlein und ganz junger Kinder, alles nämlich, was von jenem abgelegenen Dorfe entweder zu alt oder zu jung gewesen war, um die nachbarliche Kirchweih mitzufeiern.«
Alles flüchtet, nur Genelli (»als ein alter, eingeteufelter Heide, der ich war, unter der ganzen fabelhaften Naturgeschichte wohl bewandert«) bleibt sitzen. Der Centaur sprengt auf die hohe Laube Genellis zu, nimmt einen Rosenzweig hinterm Ohr hervor, riecht erst daran und überreicht ihn dann der schönen Schenkin, die gerade bedienend neben dem Maler steht. Sie steckt die Blume ein und reicht ihm die beiden vollen Flaschen, die er so rasch, wie unsereins zwei Gläser Champagner, leert.
Das entspannt die Stimmung. Es geht eine Unterhaltung an, bei der sich herausstellt, daß der arme Bursche vor Tausenden von Jahren in einer Gletscherhöhle eingeschlafen und jetzt plötzlich erwacht sei. Die Welt mit ihren kleinen Abmessungen erscheint ihm merkwürdig, am furchtbarsten die Gestalt des Gekreuzigten, die er an einem Marterl hat hängen sehen. Aus einer Kirche 54 ist er rasch entflohen, behagt sich aber nun um so besser in dem allmählich anhebenden neugierigen und weinlustigen Treiben um sich herum. Nicht die Kauflust des Pferdejuden Anselm Freudenberg noch die Neugier des Schmiedes, der solches Roß noch nie beschlagen, noch die Berufseifersucht des italienischen Schaubudenbesitzers kann der Luft etwas anhaben – erst die Liebeseifersucht des Dorfschneiders bringt den Stein ins Rollen. Das hübsche Schenkmädchen, seine Braut, macht dem Kleidermacher für seine Vorwürfe eine Szene, und als die Musikanten anfangen zu spielen, umfaßt der Centaur, ohne ein Wort zu sagen, die schöne Nanni und setzt sie mit einem leichten Schwung sich auf den Rücken. Dem von allen lachend bewunderten Kurbettieren des Roßmenschen macht die Polizei ein Ende, die der Italiener und der Dorfschneider herbeiholen. Von ihrer Aufforderung versteht jener, der sich mit Genelli griechisch verständigt hat, kein Wort, zeigt weder Paß noch Wanderbuch vor, und da ihm der ganze Zwischenfall unbehaglich wird, setzt er sich in Galopp, drückt die Hände des Mädchens, die vor seiner Brust verschränkt sind, sanft an sich und sprengt über die Köpfe der Bauern hinweg ins Gebirge. Vor einer tiefen Schlucht, wo keiner ihn mehr so rasch erreichen kann, läßt er das Mädchen, von ihrem Flehen gerührt, zu Boden und in die Hut des solidere Versorgung bietenden Schneidermeisters gleiten, und seelenruhig entschwindet er dann der auf ihn losgelassenen wilden Jagd in der pfadlosen Kluft, um nie wieder aufzutauchen.
Alle haben dem Künstler andächtig zugehört, da mahnt der Wirt, der alte Schimon, an die Polizeistunde – es ist gleich ein Uhr – und einer nach dem anderen gehen die Freunde nun den düsteren Hausgang entlang, 55 ohne daß ein Fußtritt gehört wird, aber der Gang will kein Ende nehmen, und so sehr der Dichter sich sputet, er kann die Freunde nicht mehr erreichen, sitzt schließlich auf einem Faß nieder, die anderen sollen draußen auf ihn warten.
Da hat die Mär ein Ende. In den Traum ertönt eine Stimme: »Das Haus wird geschlossen. Ich muß schon bitten, Herr, daß Sie sich eine andere Schlafstätte suchen.«
Vom Frauenturm schlägt es eins, und unter ein paar verwehten Klängen aus der Walpurgisnacht wischt sich der Dichter den Traum von der Stirn und geht durch die nächtliche Stadt nach Hause.
Bewundernswert ist hier alles auseinander gehalten: der Stil, den das wirkliche Erlebnis des späten Heimgangs und des Eintritts in den alten, bekannten Wirtshausgang erfordert, die Unterhaltung der gespenstischen Gesellschaft am Stammtisch und die phantastische Erzählung vom Centauren, die den Kern bildet. Und gleich sicher sind die verwandter Mischung aus Ahnung und Gegenwart entflossenen Novellen aufs echteste gefärbt, die Heyse unter dem Titel »In der Geisterstunde« (1892) zusammenfaßt, entstanden in einer Zeit, die sich lebhafter als andere wieder einmal mit Spiritismus und Geistererscheinungen beschäftigte. (Es ist die Stimmung, in der manche Teile von Adolf Wilbrandts späterem Roman »Franz« entstanden.) Da plaudert ein befreundeter Kreis in der Mitternachtstunde über die rätselhaften Erscheinungen, »die auf der helldunklen Grenze zwischen Seelen- und Nervenleben stehen und selbst von der hochmütigen Wissenschaft nicht länger mit Schweigen und Achselzucken abzufertigen sind«. Und nun gibt der eine und der andere aus dem Kreise eine 56 solche helldunkle Erzählung zum besten. Die schönste, die erste, heißt »Die schöne Abigail«. Ein junger Offizier hat sich in eine blendende, etwas fremdartige und rätselhafte Schönheit verliebt, ohne zu einem entscheidenden Wort zu gelangen. Der deutsch-französische Krieg entführt ihn dem Bannkreis ihrer Augen, nicht ohne daß er vorher einen Spruch der Hoffnung von ihr erbeten hätte. Sie aber nennt sich entsetzlich abergläubisch und will ihm kein festes Anrecht auf sie gewähren in der Furcht vor den Lenorennächten, wenn er am Beiwachtfeuer oder in der Schlacht sein werde. Auf keinen der Briefe aus dem Felde erfolgt eine Antwort. Während er verwundet bei den Seinen liegt, kommt ein Brief Abigails mit der Anfrage, ob er ihrer Hilfe bedürfe. Sie ist nicht nötig, und nie wieder empfängt er ein unmittelbares Lebenszeichen von ihr. Später vernimmt er, sie habe sich einem hochbejahrten, reichen Norddeutschen vermählt. Der Liebende, der immer noch nicht vergessen kann, findet sich zufällig in einem Städtchen wieder, das bei dem Tode dieses Mannes seine reiche Galerie geerbt hat. Da er nach einem nächtlichen Spaziergang, von schweren und zweifelnden Gedanken bewegt, sein Zimmer betritt, findet er Abigail auf dem Sofa sitzen. Sie habe vernommen, daß er hier sei, verbietet ihm aber, Licht zu machen, da er die Spuren der vielen Jahre auf ihrem Gesicht nicht sehen soll. Sie läßt ihm statt der Blumen auf seinem Tisch ein Sträußchen Immortellen von ihrer Brust, entzieht sich aber seiner Umarmung und heißt ihn ihr in ihr eigenes Haus folgen. Unhörbar schwebt sie über die Treppe hinab zum unverschlossenen Haus hinaus. »Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, das Haar war aufgegangen und floß unter dem Schleier über ihren Rücken, 57 die nackten Arme lagen übereinandergeschlagen unter der entblößten Brust, die sie dem Nachtwind preisgab.« Verspätete Fußgänger gehen an ihnen vorbei, als sähen sie nur den Mann, und nun stehen sie endlich vor dem breiten, eisernen Gitter, das den Eingang in den Garten der schönen Witwe verschließt. Sie gleitet durch den Zwischenraum zweier Eisenstäbe hindurch, und da sein Verlangen fleht, nicht so grausam mit ihm zu spielen, wendet sie sich langsam ab, um die Allee hinauszuschreiten. Einen Kuß aber gewinnt er ihr ab.
»Sie kehrte um und trat wieder dicht an das Gitter heran. Mit den beiden glatten, weißen Armen griff sie durch die Stäbe hindurch und zog meinen Kopf rasch an ihr Gesicht heran. Ganz nahe sah ich ihre großen, grauen Augen, die auch jetzt ohne Liebe und ohne Haß in kaltem Glanze strahlten. Dann fühlte ich, wie ihr Mund sich auf den meinen preßte, und ein seltsamer Schauer, halb Angst, halb Seligkeit, rann mir durch das Blut.« Kraftlos sinkt er nach dem Kuß zusammen, ein helles Gelächter erschallt zwischen den Stäben, er verliert die Besinnung und wird am anderen Morgen draußen am Friedhof gefunden. Ein Immortellenstrauß aber liegt statt der frischen Blumen im Glase auf seiner Stube.
Gleich sicher sind die anderen Novellen des Kreises in die Sphäre zwischen Wahrscheinlichem und unsagbar Unirdischem getaucht. Einem alten Historiker ist einst in einem einsamen Garten nahe der Elbe in der Mittagstunde, da er durch Hermann Linggs Sonett »Mittagszauber« sich noch mehr eingesponnen hat, eine schlanke Frauengestalt erschienen in der Tracht alter Zeit, die Braut eines an der Beresina gefallenen Offiziers, die einst ihren Schmerz in der Elbe ertränkt hat. – Wenn 58 diese Erzähler noch nicht von Skepsis frei sind, so gibt die alte, liebenswürdige Tante auf jede Gefahr hin als wahres Erlebnis das Erscheinen eines kleinen, ihr sehr lieben, schwachköpfigen Kindes, das früh durch einen Hundebiß gestorben ist. In der Vollmondnacht nach dem Begräbnis kommt das Lisabethle wieder, seine Kaninchen zu besuchen, deren Todesnot, da niemand mehr für sie sorgte, das Kind aus dem Grab gerufen hat.
Wie der Erzähler sich in diesen und in den beiden noch folgenden Stücken desselben Kreises, »Das Waldlachen« und »Martin der Streber«, niemals aus der selbstgewählten Bahn verliert, so bleibt er ganz im echten Kolorit der Troubadourzeit, wenn er, der alte romanische Philologe und Übersetzer, seine Troubadournovellen aufrollt. Von einer, »Die Rache der Vizgräfin«, war schon die Rede, eine andere, »Die Dichterin von Carcassonne« (1880), holt das Motiv wieder hervor, das die Jugendnovelle »Marion« durchklungen hatte. Wie dort die Frau des Sängers von Arras mit seinen eigenen Versen seine Abwendung besiegte, so singt hier die Dichterin, von der der Gatte, der Troubadour, sich schnöde gewendet, ihm wieder Heimat, Freiheit, Haus und Hof zurück, in denen er dann auch das alte verstoßene Liebesglück wiederfindet, nun ein durch Reue, Kampf und Leiden gestählter Mann. Und es stellt das Verhältnis dieser Novelle des Fünfzigjährigen zu der des Zweiundzwanzigjährigen erst ins rechte Licht, daß es die kleine Tochter des Paares ist, die mit dem sanften Ton ihrer Geige dem harten Sieger Freiheit und Besitz des Vaters abgewinnen hilft. Man kann den Hauch, der charakteristisch über all diesen Troubadournovellen liegt, mit keinem anderen Wort benennen, als mit dem 59 jetzt leider sehr abgebrauchten Beiwort »süß«. Süß, wie die Lüfte in der Provence wehen, voll von dem Duft der Mandelbäume, der den herberen des Lorbeers überflutet, süß, wie jedem, der einmal in jenen lachenden Fluren geweilt hat, die weiche, schimmernde Glücksglut dieses Landes in den Sinnen lebt – so »süß« hat Paul Heyse das alles wieder dichterische Wirklichkeit werden lassen. Es ist in den Troubadournovellen etwas von dem Zauber, der die Dichtungen des großen Südfranzosen Frederi Mistral durchtränkt. Und dabei ist nichts aus der Geschichte jener Zeiten, die Heyse so gut bekannt ist, verschönert oder verniedlicht, die oft nur zu tiefe Unsittlichkeit und Lüsternheit, die jenes glänzende Gebaren verhüllen hilft, nicht verschwiegen; nur daß, wie etwa auch in dem »Lahmen Engel« (1880) die echte, gehaltvolle Natur immer wieder zum Bildnis wird, das allein der Liebe, der liebevollen Darstellung wert ist. Mit jener kräftigen Einsicht und entsagungsvollen Stärke, die Heyse so oft seinen Frauen vor den Männern mitgibt, überwindet da die alternde Vizgräfin Beatrix von Beziers die Leidenschaft zu einem jungen Schützling und sendet ihn selbst fort zu Fremden, wo er, der begabte Sänger, sich sein Glück schmieden soll. Und da er nach Jahren, nun wirklich ein großer Dichter und ein ganzer Mann geworden, zurückkehrt, erwacht in der Gealterten die alte Leidenschaft noch einmal, und der Besucher findet die Tote hingegangen über einem Elixir, mit dem sie, die heilkundige Ärztin, für ihn noch einmal Jugend und Schönheit gewinnen wollte. »Der Mund der Toten aber lächelte, wie von einer seligen Hoffnung oder Erinnerung verklärt.«
Wieder und wieder wird diesem Dichter, wenn er etwa nur »Einen von Hunderten« (1896) geben will, 60 doch dieser Eine zu dem Einen aus Hunderten, der unseres menschlichen Interesses wert ist. Wenn Heyse den großen italienischen Dichter Giacomo Leopardi zum Helden einer Novelle nimmt, so schmückt er nicht etwa den kargen Stoff durch den Glanz eines großen Namens, sondern bringt ein Erlebnis, wie er es zur Überwindung eines so großen Geistes bedarf. »Nerina« (1874) läßt uns den körperlich mißratenen, geistig immer wieder tiefgedrückten Dichter schauen, wie er die einzige Liebe, die sich ihm einmal heiß darbietet, mit höchster Selbstüberwindung sanft abwehrt, nicht willens, schöne Jugend an sein verkrüppeltes Leben zu schmieden. Und wiederum liegt hier Duft und Glanz der Umwelt, diesmal Italiens, über der knapp erzählten und mit prachtvoll übersetzten Leopardischen Versen durchzogenen Geschichte. Weniger voll erscheint uns diese italienische Stimmung und Luft über den »Novellen vom Gardasee« (1902) zu liegen, innerhalb deren insbesondere »San Vigilio« etwas zu weit ausgesponnen und in der Lösung durch eine Namensverwechslung nicht eben glücklich aufgebaut erscheint. Um so voller, wie schon aus der venezianischen Novelle »Andrea Delfin«, atmet die Luft Italiens wiederum aus ein paar Stücken vom Ende der sechziger Jahre. Hier war zunächst in »Barbarossa« (1869) die Geschichte einer alles überflutenden und schließlich die Geliebte selbst dem Untergange weihenden Leidenschaft kräftig hingestellt, wie sie auch mit tragischem Schlußlaut etwa in dem späteren, in Augsburg, das Heyse überhaupt liebt, spielenden Stück »Jorinde« (1875) die düstere Handlung überspannt. Dann aber blüht der volle Reiz der historischen Novelle in der »Stickerin von Treviso« (1868) empor, angeblich nacherzählt einer Chronik aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, die sich bei 61 den Dominikanern von San Niccolo zu Treviso in der Lombardei vorfindet. Im vierzehnten Jahrhundert, in einer Fehde zwischen Treviso und Vicenza gewinnt Treviso, vor allem durch die Tapferkeit des Jünglings Attilio Buonfigli, den Sieg, freilich nicht ohne daß dieser mit einer schweren Halswunde aus dem Kampfe zurückkehrt. In der unterworfenen Stadt Vicenza wird er gepflegt, und ein Ehebündnis mit der Tochter eines edeln Vicentiner Hauses soll nun den Frieden zwischen beiden Städten bekrönen. Der nicht gerade sonderlich erwärmte Bräutigam hält sich still zurück. Bei seinem Einzug in Treviso wird ihm ein herrlich gesticktes Banner entgegengebracht, das die kunstfertige Giovanna, die Blonde, gearbeitet hat. Auf der Tribüne beim Einzug sitzt die schon Zweiunddreißigjährige, und ihr Anblick trifft den eben genesenen, kaum wieder seiner Kraft bewußten Attilio aufs stärkste. Sie will nicht dulden, daß der sie Bestürmende das Verlöbnis löse und so neue Feindschaft, neues Unheil über die eben befriedeten Städte bringt – sie wird, unwiderstehlich zu ihm gezogen, seine Geliebte. Im Hochzeitsturnier wird er durch seinen Schwager, der die Verbindung nur ungern sieht und selbst Giovanna umworben hat, niedergestreckt. Die alte Wunde öffnet sich, und während alles die blutige Szene umsteht, erscheint Giovanna, »bleich wie ein Gespenst, aber mit einem Anstande, als ob sie soeben mit der Dornenkrone des Schmerzes zur Königin über alle Weiber gekrönt worden wäre«. In ihren Armen stirbt er. Dicht hinter dem Sarge vor allen Verwandten, im Witwenschleier, schreitet Giovanna. »Als sie den Schleier zurückschlug, um die Stirn des Toten zu küssen, zeigte sich mit Staunen allem Volk das Wunder, das geschehen war. Denn das Gold ihres Haares, das 62 weithin zu leuchten pflegte, war in wenigen Nächten ein fahles Silber geworden und ihre Züge welk und verblichen wie einer Greisin.« Die Tote birgt man später zu Füßen des Geliebten, und Besucher des Grabes erzählten sich noch lange »die Geschichte von Gianna la Bionda, die ihrem Geliebten alles, was sie besaß, mit in die Gruft gab, auch ihre Ehre, obwohl es ihr ein leichtes gewesen wäre, sie unangetastet zu erhalten, wenn sie geschwiegen hätte«.
Zu dem Liebesthema, das immer wieder abgewandelt wird, tritt das der Freundschaft, dem Heyse zweimal, im »Buch der Freundschaft« (1883) und in der neuen Folge dieses Buches (1884), Sammlungen von untereinander unverbundenen Stücken gewidmet hat. Von allen, »Nino und Maso«, »Siechentrost«, »Die schwarze Jakobe«, »Gute Kameraden«, »David und Jonathan«, »Im Bunde der Dritte«, erscheint »Grenzen der Menschheit« (1882) als die konsequenteste Durchführung des Freundschaftsmotivs, dem wir in manchen der anderen Novellen vielleicht nicht so ganz zu folgen vermögen, weil unseren Tagen unleugbar der Begriff naher Männerfreundschaft fremder geworden ist, wie er das Leben der Menschen, und zumal der großen Menschen, bis vor einem Menschenalter durchzog. So mutet uns vielleicht in manchen dieser Freundschaftsnovellen der Austausch der Gefühle ein wenig mehr weiblich als männlich an, weil wir vergessen, daß wir gerade auch in dieser Hinsicht heute anders leben als die Vorfahren, nicht nur die, die sich »Lieder in die Ferne aus sieben Meilen« schrieben, sondern auch noch die Menschen in den letzten Jahren des Deutschen Bundes. Das ruhige, mehr eingesponnene Leben ließ solche nahe Freundschaft zwischen Männern, auch zwischen Frauen, eher 63 entstehen, als unser heutiges Arbeits- und Genußzeitmaß, das seltener außerhalb der auch nur allzuoft schwankend gewordenen vier Wände der eigenen Familie wirklich tiefe und unzerreißbare Herzensbeziehungen unter Geschlechtsgenossen entstehen läßt. »Grenzen der Menschheit« aber ist schon durch die Seltsamkeit des Stoffes in eine andere Höhe gehoben, die Freundschaft zwischen Riese und Zwerg mitten in einem keineswegs märchenhaften alltäglichen Leben hat etwas Zwingendes und Rührendes, der Ungefüge und der Winzige gehen lebhaft, mit der Tragik ihrer Erscheinung beladen, durch die bewohnte Welt, und ihr Freundschaftsbund gewinnt gerade durch ihre eigene Abnormität etwas Natürliches, dessen jähen Abbruch durch fremde Roheit wir mitfühlend beklagen.
Mit besserem Grunde befremdend wirken einige, zumeist späteren Jahren entstammende Heysische Novellen, in denen der Konflikt übersteigert erscheint, alles nahezu auf die Spitze getrieben, die gesunde Empfindung, insbesondere die Liebesempfindung, bis an die Grenze des Krankhaften verfolgt. Dazu rechne ich etwa – in »Fedja« (1893) – die Schilderung einer recht unerquicklichen Gewissensehe, von der eine alternde Frau nicht loskommt, obwohl sie den Unwert des Geliebten einsieht. Dahin gehört die Novelle »Männertreu« (1897), in der das Motiv der einen Liebesnacht rasch bis ins Widrige verzerrt wird, da durch die schnelle Gewährung die Frau nur den Beweis der Unzuverlässigkeit des eben Witwer gewordenen, scheinbar untröstlichen Mannes erbringen will. Wenn in »Tantalus« (1900) Ähnliches wieder zarter gegeben erscheint, so mutet der Konflikt in »Medea« (1898) wieder fast krankhaft an, die Geschichte einer Mulattin, die, von dem 64 Geliebten verlassen, im beginnenden Wahnsinn ihr Kind tötet.
Manche Beurteiler haben in solchen Werken eine unwillkürliche Hingebung an Zeitkrankheiten, manche gar den Wunsch eines Rivalisierens mit den grassen und grellen psychologischen Darstellungen sehen wollen, die der Naturalismus um diese Zeit aufbrachte. Ich kann mich beiden nicht anschließen: der ersten Ansicht nicht, weil Paul Heyse in denselben Jahren so ganz in seinem alten, reinen Stil die Novellen der »Geisterstunde« und manches andere schuf; der zweiten nicht, weil Heyse seiner selbst viel zu sicher und seiner Kunstanschauung sich viel zu bewußt war, als daß er gerade in diesen kampferfüllten Tagen, an denen er durchaus Anteil nahm, der Gegenseite zuliebe sich gewandelt oder sich herbeigelassen hätte, ihr zu zeigen, daß er auch anderes könne. Überdies hatte er schon viele Jahre vorher in »Kleopatra« (1865) einen verwandten Stoff, freilich auch nicht sehr glücklich, wenigstens im Abschluß nicht, gestaltet. Es war wohl einmal der Drang, den Rahmen so weit als möglich zu spannen, der Heyse die Feder führte. Nie war er ein Blaßmacher, ein Schönfärber gewesen, immer hatte er den tiefen tragischen Kern der Erlebnisse herauszuholen versucht, so mochte er denn auch einmal den menschlichen Gehalt aus solchen Stoffen ziehen wollen. Wir erleben ganz ähnliche Entwicklungen im gleichen höheren Alter bei Spielhagen, der sich dann aber auch wieder herausfand, und noch bei weitem greller und bis zum Peinlichen vertieft bei Ferdinand von Saar, dessen unsäglich schweres körperliches Leiden ihm freilich den Ausweg verwehrte. Im übrigen hatte der Dichter in zweien seiner meisterhaftesten Stücke wirklich aus solchen 65 peinlichen Stoffen, ohne ihnen von ihrer Wahrhaftigkeit etwas zu nehmen, das Letzte gewonnen, sie dabei von jedem peinlich zu tragenden Erdenrest, ohne Umbruch der inneren Wahrhaftigkeit, befreit. In der Novelle mit dem merkwürdigen Titel »F. V. R. I. A.« (1885) wird von einem Künstler berichtet, der an eine Frau ohne jeden inneren Halt gelangt und sie trotz aller Warnungen heimführt; sie aber verläßt ihn in Gesellschaft eines jungen Schülers. Der in seinem Schmerz völlig Verstörte geht im Wahnsinn zugrunde. Vorher aber hat er die Gestalt der treulosen Frau aus weichem Holz mit einer nie vordem erreichten Meisterschaft geschnitzt und dem Heiland gegenüber an ein Kreuz geschlagen unter den rätselhaften Buchstaben F. V. R. I. A. Da er sich verantworten soll vor geistlichem Gericht, er, der hochberühmte Heiligenbildhauer, erklärt er die Inschrift: Femina Vniversi Regina In Aeternum; sie sei ihm, wie er in seinem hellen Irrsinn es schildert, von dem Besteller, der wohl der Fürst der Finsternis gewesen sei, diktiert worden. Und die letzten Wochen seines Lebens füllt der Arme, indem er immer wieder in den reizendsten Variationen jenes große Teufelskruzifix in kleinerem Maßstab von neuem schnitzt. Man möchte auch über diese Novelle den Titel der anderen »Grenzen der Menschheit« setzen, wie man der etwas älteren »Geteiltes Herz« (1881) die Aufschrift »Grenzen des Herzens« wünschen möchte. Auch diese Erzählung ist, ebenso wie F. V. R. I. A., eine Ich-Novelle, aber hier berichtet nicht ein liebender Freund, sondern der, der selbst an sich das Schicksal erfuhr. Er war mit einer heißgeliebten Frau vermählt und lernt, da er mit ihr und seinem Kinde am Genfer See weilt, nach achtjähriger Ehe noch voll heißen Glücks, eine andere Frau 66 kennen, mit der ihn zunächst die gemeinsame Musikliebe in Zusammenhang bringt. Und nun entflammt der Mann sich rasch, oder, besser gesagt, die Flammen schlagen über ihm zusammen, das alles aber, ohne daß er sich seinem Weibe auch nur für einen Augenblick um eines Hauches Kühle entfremdet fühlt. Die neue Geliebte fährt, selbst Leidenschaft im Herzen, ab, und Mann und Frau kehren heim – aber ein Schwert liegt zwischen ihnen, »unsichtbar, aber nicht unfühlbar«. Erst als die falsche Nachricht von der Verlobung der Fremden eintrifft, löst sich die Spannung, und die beiden leben bis an den Tod der Frau das alte, innige, gemeinschaftliche Dasein. Als aber der Mann die andere, die frei geblieben war, wiedertrifft, vermag er es nicht, sie an sich zu fesseln. »Ich empfand ganz scharf und nicht ohne Schmerz, daß ich jetzt erst unsittlich handeln würde, wenn ich die Hälfte meines Herzens ihr wieder einräumte. Denken Sie nur, wie wunderlich: immer klang mir das Wort im Ohr ›sie schlief, damit wir uns freuten‹ – und während ich das warme Leben mit allem Zauber neben mir atmen fühlte, überlief mich ein kalter Schauer, als ob eine Tote neben mir stände, eine Vergangenheit, die mächtiger sei als die warmblütigste Gegenwart.«
Im »Glück von Rothenburg« (1881) wird eine solche Herzensteilung mit feinem Humor von der reifen Frau vermieden, die den verliebten Mann zu dem einzig für ihn passenden Glück seiner einfachen und darum im Künstlerwahn übersehenen Ehefrau zurückführt. Tragisch aber endet die Wandlung von einer Frau zur anderen, die den Grundton der Novelle »Himmlische und irdische Liebe« (1885) ausmacht. Ein junger Professor hat eine schöne und gelehrte Frau heimgeführt, die, im Grunde 67 eine kühle, wie Fontane sagen würde, »nicht auf Liebe gestellte« Natur, je länger je mehr wie seinen Sinnen, so vor allem seinem Herzen nicht genügen kann. Es liegt etwas Kühles und Fremdes zwischen den beiden, so ruhig äußerlich der Gang ihrer kinderlosen Ehe verläuft. Da lernt er eine warmblütige, ganz anders geartete Natur kennen, ein Mädchen, das, niedrigeren, ob auch nicht niedrigen Kreisen zugehörig, ihm beim ersten Anblick das Herz erquickt. Er hat sich wohl in der Hand und wird der anderen erst zu eigen, da seine Frau der zufällig als Näherin in ihrem Haus Arbeitenden in ihrem Tugendstolz rauh die Türe weist, weil eine bekannte Honoratiore ihr Ungünstiges, Unwahres über Traud erzählt hat. Sie wird die Seine, und da die Frau zurückkommt, ohne einen Hauch von Verständnis, in kaltem Hochmut ihn aburteilt, geht er, nachdem er für die andere gesorgt, aus dem Leben. Wundersam ist Tizians »Himmlische und irdische Liebe« in die Erzählung hineinverflochten, die von verhaltener Leidenschaft bebt, fein sehen wir die Charakterforderungen des Mannes und der Frau sich bei einem Streit über die Bedeutung dieses Bildes entfalten und empfinden in dieser Aussprache unüberbrückbarer Gegensätze schon das nahende Verhängnis.
Und als hätten diese achtziger Jahre vor anderen Jahrzehnten dem Dichter eine volle Frucht nach der anderen gezeitigt, diese Jahre, in denen eine ungerechte Jugend ihn vor anderen für abgetan erklärte, so steht auch das diesem verwandte Stück »Unvergeßbare Worte« (1882) in dieser Reihe. Die Worte, die hier einen sich eben flechtenden Liebesbund für immer auseinanderreißen, könnten leichtere Menschen als diese beiden wohl verwinden – ihnen sind sie unvergeßbar, unvergeßbar 68 dem Manne, daß er zufällig hören muß, wie die ihrer Geburt nach über ihm stehende Frau erklärt, aus welch kühl vernünftigen Gründen sie den Hauslehrer zu ihrem Ehegatten erwählen wollte; unvergeßbar ihr, weil sie in jenem Augenblick der Aussprache gegen die Freundin nicht die Wahrheit gesagt, weil, vielleicht ihr damals unbewußt, das Herz eine ganz andere Rede führte als der Mund, der dem Verstand der anderen und dem eigenen zuliebe bloße Worte machte.
Immer wieder sind es im Grunde einfache Motive und einfache Linien, die wir bei Heyse gezogen sehen – selbst wo ein verzwickteres Thema auftaucht, wird es in den Meisterstücken überall auf die ursprünglichen menschlichen Sätze und Gegensätze zurückgeführt, wie denn noch in einer wie aus schluchzendem Herzen erzählten Spätnovelle »Zwei Witwen« (1902) das Geschick einer Frau, die in der Ehe mit einem kranken Mann niemals ganz Frau wurde, unverwischt und doch ganz zart gegeben wurde. »Jede Zeit«, heißt es in der »Stickerin von Treviso«, »erlebt und erzählt ihre Geschichte. Solange das Faustrecht noch galt, waren die Geschichten freilich handgreiflicher, von Achilles bis auf den edlen Ritter aus der Mancha. Seitdem ist etwas mehr Seele in das Leben gekommen, und wenn die Ereignisse innerlicher sind, wird man sie auch nicht so äußerlich mit groben Grundstrichen zeichnen wie eine mittelalterliche Dorf- und Degennovelle. Umrisse und etwas Licht und Schatten tun es nicht mehr; wir wollen das ganze Farbenspiel sehen, die leisesten Halbtöne und allen Reiz des Helldunklen, und da wir selbst mehr Gemütsmenschen geworden sind, ist uns auch der Gemütsanteil, den der Erzähler an seinen Leuten nimmt, nicht mehr 69 gleichgültig.« Was da der Schachspieler sagt, ist zum guten Teil Heyses eigenes Kunstbekenntnis, wie wir es aus der Praxis, aus seinen Novellen heraushören. Denn freilich empfinden wir den Gemütsanteil aufs lebhafteste. Immer bleibt Heyse der Dichter, der »unterscheidet, wählet und richtet«, nicht in dem Sinn, daß er die Guten weiß und die Bösen schwarz malt, sondern in dem, daß er nicht beliebig einen gleichgültigen Stoff schildert oder gar idealisiert, sondern daß er das bedeutende, das eigenartige, das unseres Anteils werte Schicksal mit der tieferen Gerechtigkeit des Dichters darstellt und hinausführt. Und wenn von dem alten Chronikstoff der »Stickerin« dann gesagt wird: »die Geschichte hat etwas von dem Goldton der venezianischen Schule«, so werden wir uns diesen Vergleich für einen guten Teil der schönsten Novellen Heyses um so lieber gefallen lassen, als jeden, der einst entzückt vor den eingeborenen Schätzen Venedigs stand, gerade das Leben aus diesen Bildern fein und stark zugleich angesprochen hat. 70