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Es war für heute morgen nach dem Kaffee eine gemeinschaftliche Spazierfahrt zu einem hochgelegenen Punkte verabredet, von welchem Lotter der Gesellschaft das Manöverfeld demonstrieren wollte. Bertram hatte im letzten Augenblick hinabsagen lassen, er habe zu seinem Bedauern vergessen, daß er für die mittags fällige Post einige notwendige Briefe zu schreiben habe und zu Hause bleiben möchte, aber dringend bitte, man möge um seinetwillen die Partie nicht aufgeben.
Sie wollten erst nicht, berichtete Konski; na, da habe ich einen Trumpf darauf gesetzt, und eben wird angespannt, für die Damen heißt es; die Herren reiten. Sie können nun ruhig noch eine Stunde schlafen; es war wohl wieder eine miserable Nacht?
In der Tat war diese Nacht für Bertram noch schlimmer gewesen als die vorige, und heute hatte der Morgen nicht wie gestern »alles besser gemacht«.
Das mußte er sich sagen, nachdem er sich vergeblich bemüht, den Rat seines Getreuen zu befolgen, und endlich verdrossen aufgestanden war und sich angekleidet hatte, um zu versuchen, ob eine Promenade in den Terrassengängen des Gartens ihm die heiße Stirn kühlen und die müde Seele erquicken wollte.
Er durfte nicht müde sein; er mußte, wenn sie zurückkamen, ihnen heiter und frisch entgegentreten – das gehörte zu seiner Rolle; wie soll man jemand sein Vertrauen schenken, der zu sich selber: der eigenen Kraft, dem eigenen Mut, keines zu haben scheint.
Und er würde alles Mutes bedürfen, um Erna, wenn es sein könnte, tiefer, als es bis jetzt geschehen, in die Augen und in das Herz zu blicken; und all seiner Kraft, wenn dieser Blick ihm bestätigte, was er gestern noch für eine Unmöglichkeit gehalten und die schlimme Nacht ihm als durchaus möglich, ja als wahrscheinlich gezeigt hatte. Sollte es aber sein, so war damit auch der ganze schöne Plan, den er gestern dem Freunde entwickelt, hinfällig geworden. Ottos Verlegenheiten waren schwerlich so groß, als er sie dargestellt; und hatte der Wankelmütige nicht übertrieben, was konnte es nützen, die Entscheidung hinauszuzögern? Im Gegenteil: je schneller sie eintrat, um so besser für alle Teile. War der Baron ein Ehrenmann, würde er nicht zurücktreten, wenn er erfuhr, daß das Mädchen, das er liebte, nicht reich sei; hatte er Einfluß bei Hofe, war dieser Einfluß von Bedeutung, so würde er nun erst recht alles daran setzen, ihn für den zukünftigen Schwiegervater geltend zu machen. Sie mochten sich dann arrangieren, wie sie konnten; und sie würden sich arrangieren: hinüber und herüber Opfer bringen, auf gewisse Hoffnungen verzichten. Was opfert man nicht, worauf verzichtet man nicht, wenn man von Herzen liebt! Dem Schauspiel aber dieser opferfreudigen, herzlichen Liebe zuzusehen – nimmermehr! die Flucht war Feigheit – zweifellos; aber die Tapferkeit ist doch auch wie die Ehrlichkeit nur da am Platze, wo sie nötig ist und nützt. Man mußte beizeiten auf einen schicklichen Vorwand denken, der eine plötzliche Abreise ermöglichte.
So, in trübste Gedanken verloren, war Bertram die Terrassengänge auf und nieder geschritten, jetzt an sonnigen Spalieren hin, wo durch die breiten Blätter sich die Trauben bereits rötlich drängten, jetzt zwischen Buchenhecken, die über seinem Haupte sich zu dämmerigen Lauben wölbten.
An dem Ende eines dieser Laubengänge angelangt, blieb er erschrocken stehen. Vor ihm auf dem Altan, zu dem sich die Terrasse erweiterte, saß Erna unter der großen Platane, die den ganzen Platz mit ihren breiten Ästen überschattete. Auf dem runden Tische lag ein Buch aufgeschlagen; nun schrieb sie eifrig, über eine Mappe gebeugt. Die anmutige Gestalt, das feine Gesicht waren im scharfen Profil auf der grünen Seitenwand der höheren Terrasse abgezeichnet. In dem gedämpften Licht schien die zarte Wange noch bleicher als sonst; und als sie jetzt, die Feder in der Hand behaltend, die lange Wimper hob und nachdenklich zu dem Blätterdach aufschaute, erglänzte das große Auge musenhaft.
Einen Labetrunk für den schattenlosen Rest des Weges, und – geh! geh! sprach Bertram bei sich.
Er hätte, ohne daß sie ihn bemerkte, zurücktreten können; er tat es nicht; sein starrer Blick hing an dem holden Bilde, wie des Durstigen Lippe an dem Rande des vollen Bechers; und da wandte sie sich.
Onkel Bertram!
Sie hatte es ganz ruhig gesagt! und so, ohne Hast, legte sie die Feder hin und klappte die Mappe zu, indem sie zugleich aufstand und ihm, der nun herantrat, die Hand reichte:
Ich fühlte, daß mich jemand ansah –
Während du doch ungesehen, wenigstens ungestört bleiben wolltest. Aber wie konnte ich dich hier vermuten? Weshalb bist du nicht mit?
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Ich hatte ebenfalls Briefe zu schreiben.
Du hast wenigstens geschrieben.
Du nicht? das ist freilich bös. Wenn man sich ausredet, muß man auch mit der Ausrede Ernst machen. Hinterher bildet man sich ein, es sei einem damit Ernst gewesen.
Ich will es mir für die Zukunft merken. Aber weshalb sagst du mir so auf den Kopf zu, daß mein Briefschreiben eine Ausrede gewesen?
Ich dachte es mir: du mochtest eben nicht; und ich glaube, ich weiß weshalb.
Da wäre ich neugierig.
Ich will es dir sagen – ich wollte es gestern abend schon – denn ich bemerkte gestern abend wohl, wie gern du dich von der Partie entschuldigt hättest, nur daß dir vielleicht nicht gleich ein schicklicher Vorwand einfiel – aber ich hätte es in ein paar Worten nicht sagen können und deshalb heute jedenfalls versucht, einmal ungestört mit dir zu sprechen. Wollen wir uns nicht setzen?
Sie hatten Platz genommen, Erna vor ihrer Schreibmappe, Bertram ihr gegenüber. Die großen Augen zu ihm aufgeschlagen – er hatte noch eben so sehr danach verlangt, tief, bis auf den Grund der Seele, in diese Augen schauen zu können; und jetzt, da es sein konnte, sein sollte, bangte er davor zurück, wünschte den Moment hinausgeschoben. Er erfuhr es ja noch immer zu früh.
Onkel Bertram – ich wollte dir sagen, daß –
Die dunkeln Lider waren nun doch herabgesunken; so sah sie wenigstens nicht die atemlose Erregung, mit der er an ihren Lippen hing. Er hörte ja schon die folgenden Worte: – ich mich gestern abend mit dem Baron verlobt habe. – Die sekundenlange Pause dünkte ihm eine Ewigkeit.
Liebes Kind, sagte er mit tonloser Stimme.
Daß du dir um meinetwillen nicht eine Last auferlegen sollst, die du auf die Dauer nicht tragen kannst.
Die großen Augen sahen ihn wieder fest an, wahrend er in tödlicher Verwirrung die seinen senkte.
Du bist zu gut, um mich verstehen zu wollen; aber das Übermaß deiner Güte drückt mich, ängstigt mich. Ich weiß, daß du mich lieb hast, daß du es nur mir zuliebe tust; aber ich habe dich auch lieb, Onkel Bertram, sehr lieb, viel mehr als früher, wo ich dich doch eigentlich noch gar nicht kannte, gar nicht begriff. Ich bin kein Kind mehr, und so solltest du mir auch nicht wie einem verzogenen Kinde jeden Willen tun, noch dazu, wenn ich eingesehen, daß ich etwas verlangt habe, was ich nicht durfte. Ich durfte nicht verlangen, ich durfte dich nicht bitten, daß du gegen Tante Lydie freundlich sein solltest. Und jetzt bitte ich: sei es nicht, nicht in dem Maße! Ich kann es nicht ertragen. Sie hat dich so furchtbar gekränkt, wie – wie nur ein böses Menschenherz ein gutes kränken mag. Und sie soll deine Hand fassen dürfen, dir ins Auge sehen, mit dir scherzen dürfen, als wäre nichts geschehen? Wenn ich – wenn mir – ich würde es nicht dulden –, nimmermehr!
Ihre Stimme bebte, ihre Lippen zitterten; die bleichen Wangen waren gerötet, die großen Augen blitzten. Sie hatte ihn nicht gekannt, nicht begriffen; aber was hatte er denn von ihr gewußt? von der Kraft der Empfindung eines Herzens, das so gemessen zu schlagen schien! Seine Blicke hingen unverwandt an ihr in entzücktem Staunen, wie eines Menschen, dem sich ein Göttliches offenbart.
Aber schon im nächsten Moment hatte das wunderbare Mädchen die leidenschaftliche Wallung bezwungen; die Züge gewannen wieder den früheren Ausdruck, und in ruhigem Tone fuhr sie fort:
Und du, Onkel Bertram, darfst es auch nicht dulden; du am allerwenigsten. Du kannst nicht heucheln, nicht lügen. Das mögen die anderen tun; dir steht es schlecht, es ist deiner unwürdig. Ich kann nichts Unwürdiges an dir sehen; ich will es nicht. Ich will einen Menschen haben, dem ich unbedingt glauben und vertrauen kann. Dieser eine bist du, mußt du sein; nicht wahr, Onkel Bertram?
Sie reichte ihm über den Tisch herüber die Hand. Er konnte sie nicht zurückweisen; und doch, als er die schlanken Finger berührte, durchzuckte es ihn, als habe er sich einer Entweihung schuldig gemacht.
Du denkst zu gut und zu groß von mir, sagte er; – so kann ich dir nur erwidern: ich will versuchen, dein Vertrauen zu verdienen.
Und ich will dir gleich dazu Gelegenheit geben. Auch ich bin mit mir nicht zufrieden; auch ich bin – um anderer willen – Papa und Mama zuliebe, die es sehr zu wünschen schienen – freundlicher zu jemand gewesen, als es mir ums Herz ist, und muß mein Betragen gegen ihn künftig ändern. Du weißt, wen ich meine?
Er hat dir einen Antrag gemacht?
Einen Antrag? mir?
Um die seinen Lippen zuckte es spöttisch.
Verzeihe, liebe Erna! Er war gestern so sehr um dich bemüht; du selbst gibst zu, daß du freundlicher zu ihm gewesen, als es dir nachträglich lieb ist. Und der Mann scheint mir zu denen zu gehören, welche die Hand nehmen, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht. Und dann, ich weiß, daß deine Eltern ihn protegieren – sehr; und er weiß das jedenfalls auch. So war denn meine Frage nicht völlig grundlos; dennoch bitte ich dich um Verzeihung.
Du bedarfst derer wirklich in diesem Falle, Onkel Bertram. Oder sollte ich mich so kindisch benommen haben, daß ein so kluger Mann, wie du, es auch nur für möglich halten konnte?
Nein, nein! bitte, suche zu vergessen, was ich so unbedacht gesagt! oder nimm es als Beweis, daß ich recht hatte, daß ich weder so gut noch so klug bin, wie du dachtest. Es klang schüchtern, fast demütig; aber in seinem Inneren war eitel Stolz und Jubel; und die Vögel oben in den schattigen Tiefen der Platane schienen bisher geschwiegen zu haben und nun alle auf einmal hell zu zwitschern und zu singen, und von den Terrassen unten wogte der Duft der Levkojen und Nelken in süßen Wolken herauf. Wie schön, wie zauberhaft schön war der Morgen!
Wir wollen gegeneinander in Zukunft offener sein, erwiderte Erna, dann werden dergleichen Mißverständnisse nicht mehr vorkommen. Dies ist freilich für mich beschämend genug. Der Baron wäre der letzte, für den ich mich auch nur interessieren könnte. Ich finde das meiste, was er sagt, dumm und albern, und wenn einmal ein leidlicher Einfall dazwischenläuft, kann man doch keine Freude daran haben, weil man sich fragt: Welcher Unsinn wird nun kommen? Übrigens lerne ich ihn eigentlich jetzt erst kennen; er ist freilich schon sehr oft hier gewesen, aber dann war ich es nicht; und in der Stadt bei Tante Lydie, die er manchmal besuchte, bin ich ihm immer aus dem Wege gegangen.
Du hast überhaupt noch wenig junge Männer kennen gelernt?
Und die wenigen haben mir die Lust verleidet, die anderen kennen zu lernen.
Das klingt sehr hart; aber, offengestanden, du bist nicht das erste Mädchen, das ich so reden höre.
Ich wundere mich nur, daß nicht alle so reden oder doch so denken. Ich meine, die Männer sind von Haus aus eigennützig, leichtsinnig, eitel, und werden erst in späteren Jahren gut und edel und liebenswürdig – das heißt, die paar Ausnahmen, denn die meisten bleiben wohl, wie sie waren.
Ist das dein Ernst?
Mein völliger Ernst. Und deshalb habe ich dir vorgestern abend durchaus nicht recht geben können, als du behauptetest, ein junges Mädchen könne einen älteren Mann nicht lieben, oder begehe doch eine Torheit, wenn sie es tue; und werde es früher oder später zu ihrem Schaden einsehen, und also je früher, je besser. Es ist auch gar nicht diese Einsicht, was Hilarie abwendig macht und sie dem jungen Menschen, der sich so kindisch und toll benimmt, dem Flavio, in die Arme treibt – der Grund ist ein ganz anderer.
Du kanntest die Novelle?
Nein, ich habe sie erst eben jetzt gelesen und lange suchen müssen, bis ich sie in den Wanderjahren fand – da liegt das Buch. Und nun weiß ich auch das eine, wovon du vorgestern sagtest, Goethe habe es nicht angebracht, oder in Anwendung gebracht – wie sagt man in dem Fall? –, weil sonst aus der Komödie eine Tragödie geworden wäre.
Was ist das eine?
Daß ihr Onkel sie gar nicht liebt. War es nicht das?
Allerdings; ich staune nur, daß du es herausgefunden.
Und ich, daß Hilarie es nicht früher entdeckt hat. Sie muß sehr blind gewesen sein, nicht zu sehen, wie der Onkel ihre Liebe aus schierer Barmherzigkeit erwidert oder vielmehr nicht erwidert, daß seine Neigung im besten Falle ein matter Widerschein ihrer Liebe ist. Sieh hier: Du machst mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne! rief er aus und fiel ihr zu Füßen. – Wie matt und geziert ist das! Und sie ist damit zufrieden – glücklich! Ich hätte mich geschämt.
Du mußt den Geist der Zeit, die Manieren und Ausdrucksweise der Menschen in Rechnung bringen – da erscheint und klingt es freilich nicht ganz so schlimm. Aber die andere Seite der Medaille! du meinst: Hilarie habe den Onkel wahrhaft geliebt und würde ihrer Liebe treu geblieben sein trotz aller Flavios, wäre ihre Leidenschaft erwidert worden?
Ganz gewiß.
Gut also: er liebe, liebe mit Leidenschaft. Nun kommt Flavio und liebt, liebt mit Leidenschaft. Der Vater sieht es; sieht, daß seine eigene Liebe das Unglück des geliebten Sohnes besiegelt; – weiter: er ist überzeugt, er muß es sein, wenn er kein eitler Tor, wenn er ein Mann von Herz und Verstand – daß Hilarie die Liebe des Sohnes zweifellos erwidern würde, wenn er nicht unglücklicherweise zwischen ihnen stände; daß die Liebe des jungen Mädchens zu dem jungen Manne, und umgekehrt, das einzig Natürliche, das heißt Richtige – und eben deshalb Hilarie ihn gar nicht wahrhaft lieben kann, ihre Liebe vielmehr, wenn nicht Unnatur, so doch ein Irrtum, eine Verirrung ist, von der sie zurückkommen wird und muß – habe ich unrecht, zu behaupten, daß die Komödie sich dann in eine Tragödie verwandelt – eine Tragödie, deren verschwiegener Schauplatz allerdings nur das Herz des älteren Mannes sein wird? Gibst du mir nicht recht?
Ich muß es wohl, wenn ich dir zuvor deine Voraussetzungen und Annahmen zugegeben habe, vor allem die, daß die Liebe eines jungen Mädchens zu einem älteren Manne in jedem Falle ein Irrtum, eine Verirrung ist. Dann sehe ich aber wieder nicht ein, weshalb die Liebe des älteren Mannes zu dem jungen Mädchen nicht ebenfalls auf eine Selbsttäuschung hinauslauft, hinter die er, als der Weitsichtigere, Klügere, Verständigere, doch um so schneller kommen wird; und wo bleibt dann die Tragödie?
Die großen Augen blitzten, auf der Stirn lag eine Wolke von Unmut, die zarten Lippen bebten. In seinem Herzen schrie es: hier! hier! denn ich liebe dich! und es ist unmöglich, daß je in dein jungfrisches Herz ein Funken von dem Brande fällt, der hier lodert; – aber es gelang ihm auch jetzt, den Aufruhr in seiner Brust zu bändigen und lächelnd zu sagen:
Ich hoffte, vielmehr ich wußte, daß du diesen Einwand machen würdest, der vollkommen richtig ist und dem Meister wieder zu der absoluten Souveränität und unfehlbaren Richtigkeit in Herzenssachen verhilft, die ich ihm mutwillig zu bestreiten suchte. Ja, so liegt die Sache, man mag sie drehen und wenden, wie man will: die Liebe Hilariens ist eine Illusion, genauer: eine Vorahnung der echten, wahren Leidenschaft, welche sie einst empfinden wird; die des Majors eine Reminiszenz, eine Erinnerung dessen, wovon sein Herz durchglüht war in seiner Jugend längst entschwundenen Tagen, und nun und nimmer wieder durchglüht sein kann. Was dann etwa noch von wärmeren Gefühlen in ihm lebt, das mag ausreichen für eine Vernunftheirat mit der geistreichen Witwe, bei deren Empfindungen für ihn die Reminiszenz wiederum die Vermittlerrolle spielt, und – aber ist das nicht – wahrhaftig, sie sind schon zurück! Wollen wir ihnen entgegengehen?
Von der Veranda her hatte sich die laute Stimme Lotters vernehmen lassen; Lydie rief nach Erna. Bertram war aufgestanden, froh der Unterbrechung; er fühlte, daß seine Kraft zu Ende ging; er ließ die Hand auf der Stuhllehne ruhen, damit Erna, wenn er sie ihr reichte, nicht fühlen möchte, wie sie zitterte. Aber Erna blickte mit demselben düsteren Ausdrucke gerade vor sich nieder.
Ich möchte meinen Brief zu Ende schreiben, sagte sie.
So will ich nicht länger stören.
Er war gegangen, ohne ihr die Hand zu bieten; Erna saß noch eine Weile so, dann schlug sie die Mappe auf und überlas die Seite, an der sie zuletzt geschrieben:
»– immer sehe ich ihn, auch wenn er nicht zugegen ist, sein bleiches, edles Gesicht, die tiefen, sinnenden Augen, den Mund, der so fein spotten und scherzen kann und doch so oft für mich schmerzlich zuckt vor Gram und Weh um ein verfehltes Leben, sein verwüstetes Glück. Für mich! die anderen sehen's freilich nicht – wie sollten sie! Für sie ist er der kalte Egoist, der ewige Spötter, der an nichts glaubt, am wenigsten an die Liebe. Freilich, wer so verraten wurde, wie – ach! Agathe, das ist es ja eben, was mich so unwiderstehlich zu ihm zieht –, daß ich so tief, so tief in sein edles Herz blicken kann, alle Schmerzen nachfühlen kann, die es zerrissen haben und jetzt zerreißen müssen in der Gegenwart der Schlange, die – oh, wie ich sie hasse! Und er gewinnt es über sich, noch gütig zu ihr zu sein, weil ich ihn darum gebeten, ehe ich wußte, wie sich alles verhielt. Er soll es nicht mehr; ich ertrage es nicht, wenn er dann die lieben, treuen Augen auf mich wendet, als wollte er fragen: ist es so recht? Nein, es ist unrecht tausendmal! Aber ist es nicht auch unrecht, daß ich in seinem Herzen lesen darf, und er nicht in dem meinen? soll ich ihm alles sagen? es schwebt immer auf meinen Lippen, aber dann – nein, ich würde mich vor dem Gütigen nicht schämen; er würde mich ja verstehen! Er würde mich die letzten heißen Zornestränen, die mir noch manchmal in die Wimpern kommen, und die ich unwillig abwische, an seiner Brust ausweinen lassen, und ich würde seine Gnade dankbar hinnehmen, aber nur unter einer Bedingung, daß ich da weiterruhen dürfte, daß er mir verstattete, ihn zu lieben, ihm zu dienen – heute und immer als seine Freundin, seine Tochter, seine Sklavin – soll ich es ihm sagen?«
Erna lächelte bitter, nahm das Blatt in beide Hände, um es zu zerreißen. Dann legte sie es wieder hin und griff nach der Feder.
»Die dies geschrieben hat, ist eine eingebildete Närrin, die für ihren Hochmut eine exemplarische Strafe verdient, welche Strafe darin bestehen soll, daß sie ihrem Großmütterchen dies schickt, um umgehend die nötigen Schelte zurückzuerhalten, auch wenn Großmütterchen, um was sie flehentlich gebeten wird, übermorgen kommt. Denn gesprochen wird zwischen mir und ihr nicht ein sterbendes Wörtchen hierüber (und über das andere und – den anderen erst recht nicht!); und damit, liebes Großmütterchen –«
Da ist ja unser gnädiges Fräulein! rief der Baron, der eben mit Lydien aus dem Terrassengange heraustrat.
Wir suchen dich überall, sagte Lydie; großer Gott, wie sich die Kleine das Köpfchen heiß geschrieben hat! An Agathe natürlich!
Wer den Brief lesen könnte! rief der Baron.
Sie kommen nicht darin vor – das kann ich Sie versichern, wenn es Sie beruhigt, sagte Erna, indem sie die Mappe mit dem unbeendigten Briefe zumachte und sich erhob.