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I m zweiten Sommer nach diesen Ereignissen, an dem Abend eines heißen Julitages, musterten drei Männer die Fortschritte, die ein gewaltiger Bau, der den Vorsprung eines Hügels an einem der schönsten Punkte der Schweiz krönen sollte, während der letzten Woche gemacht hatte. Der älteste dieser Männer – ein rüstiger Fünfziger, mit einem feinen, intelligenten Gesichte – hatte den Arm vertraulich in den Arm seines jüngeren Gefährten gelegt und hörte unter manchem Kopfnicken und vielem Hm's und Ja-ja's den Erörterungen zu, die ihm Jener über den Stand des Baues gab, während der Dritte – ein schlanker, schwarzäugiger Krauskopf, der Papiere und Zeichnungen unter dem Arm (und die Mütze auf das rechte Ohr gerückt) trug und wohl der Oberaufseher sein mochte, nebenher ging, und das Lob, das ihm der ältere Herr spendete, als Etwas, das sich von selbst verstand, hinnahm.
»Sehr gut, sehr gut;« sagte der ältere Herr; »Ihr seid Teufelskerle, das muß ich sagen; wir kommen wahrhaftig vor dem Winter noch unter Dach – das übertrifft meine kühnsten Erwartungen; sehr gut, sehr gut.«
»Wenn es den Herren genehm ist, so möchte ich jetzt in die Bauhütte,« sagte der mit den Zeichnungen; »ich habe die Zahlungslisten für die Maurer noch nicht abgeschlossen.«
»Sehr gut;« sagte der ältere Herr; während sein Gefährte freundlich mit dem Kopfe nickte.
Der mit den Zeichnungen faßte militairisch grüßend an seine Mütze, drehte sich auf dem Hacken um und sprang leicht und sicher die ansehnlich hohen Terrassen, die an dieser Stelle den Hügel hinauf gemauert waren, hinab.
»Ein prächtiger Mensch, der Rüchel,« sagte der ältere Herr; »gefällt mir sehr; rührig, intelligent, brav – ein Capitalkerl – Ihr bei Euch zu Lande könnt solche Leute natürlich nicht brauchen, natürlich!«
»Das klingt ja gerade wie ein persönlicher Vorwurf für mich,« sagte der Andere lächelnd.
»Für Sie, lieber Wolfgang? nein, gewiß nicht! Sie kann man dort auch nicht brauchen – zum Glück für mich. Was sollte ich ohne Sie anfangen?«
»Und haben sich doch so lange ohne mich beholfen.«
»Behelfen müssen! weil ich Niemand hatte, der auf meine Ideen einging, eingehen konnte. Und wahrhaftig: es war Zeit, daß ich Sie fand; die Sachen wuchsen mir zuletzt über den Kopf; so lange man jung ist, glaubt man Alles ganz allein thun zu können; je älter man wird, desto mehr kommt man zur Einsicht, daß unsre Kraft doch sehr beschränkt ist und daß wir nur in Gemeinschaft mit Anderen eine Garantie für den Erfolg unsrer Bestrebungen haben. So ist mir auch die Verbindung mit Ihrem Onkel unschätzbar. Er ist ein volkswirthschaftliches Genie; sein System des Credit-, Sparkassen- und Consum-Vereinswesens, wie er es mir heute Mittag entwickelt hat, ist bewunderungswürdig. Auf den starken Schultern dieses Mannes ruht wahrlich ein Theil der Zukunft nicht blos Deutschlands, sondern Europa's, ja der ganzen Welt. Ich rechne es mir zu einem der größten Glücksfälle meines Lebens, daß es mir vergönnt war, einen solchen Mann zu dem Einen verholfen zu haben, woran es ihm von je gefehlt hat: zu einem ordentlichen Capital. Und wie haben sich unsre Fabriken gehoben, seitdem er die Commission für Deutschland übernommen hat. Wir werden einen glänzenden Jahresabschluß haben.«
Herr von Degenfeld rieb sich vergnügt die Hände und blickte an dem hohen Gerüst hinauf, auf welchem die Leute noch munter arbeiteten.
»Wie das wächst!« sagte er. »Und wie ich mich schon auf das nächste Jahr freue! Von allen Enden werden sie herbeiströmen. Das Curhaus zum Jungfraublick soll in kürzester Frist ein weltberühmter Name sein. Wo auf der Erde giebt es einen Ort, der, wie dieser, Alles vereinigt, einen zerrütteten Organismus wieder zur Gesundheit zu stimmen: mildestes Klima, reinste Luft und eine Natur, die den größten Hypochonder zum Glauben an die Herrlichkeit der Welt bekehren muß. Wem hier nicht geholfen wird, dem ist nicht zu helfen; meinen Sie nicht auch, Wolfgang?«
Der junge Mann hatte die letzten Worte seines väterlichen Freundes nicht vernommen; eine kleine Gesellschaft von zwei Herren und zwei Damen, die den eben fertig gewordenen bequemen Weg zum Hügel hinaufkamen, hatte seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch gefesselt.
»Da kommen sie!« sagte er, unwillkührlich ein paar Schritte nach der Richtung hin machend, und sich dann, als schämte er sich seiner Ungeduld, schnell wieder zu Herrn von Degenfeld wendend.
»Aha!« lächelte dieser; »immer noch der Liebhaber, trotzdem das Kind zu Hause in der Wiege schreit! Sehr gut! Aber wollen denn unsere Gäste wirklich morgen schon fort? Reden Sie ihnen doch zu, Wolfgang!«
»Ich habe schon meine ganze Ueberredungskunst aufgeboten; aber Sie wissen ja, daß der Onkel unbeugsam ist in Dem, was er für seine Pflicht hält.«
Unterdessen waren die Vier herangekommen; voran Peter Schmitz, der Ottilien führte; hinter ihnen Dr. Holm, der Tante Bella untergefaßt hatte. Ottilie machte sich von dem Onkel los und kam ihrem Gatten entgegengehüpft: »Hedda schläft wunderschön,« flüsterte sie ihm zu, während sie schnell ihren Arm um seinen Nacken schlang; »solche rothen Bäckchen! sie sieht aus wie ein kleiner Engel.«
Peter Schmitz hatte sich zu Herrn von Degenfeld gesellt. Dr. Holm wischte sich den Schweiß von der kahlen Stirn, blickte spähend zu dem Bau empor, dessen colossale Verhältnisse sich von dieser Stelle herrlich präsentirten, und sagte zu Tante Bella gewandt: »Sehr – orum gut – orum!« Tante Bella antwortete nicht; ihre thränenfeuchten Blicke hingen an Ottilien und Wolfgang, die jetzt Arm in Arm in eifrigem flüsternden Gespräch nach dem Walde zu gingen.
»Ich werde sie nicht wiedersehen!« sagte Tante Bella.
Dr. Holm schüttelte den Kopf.
»Bleiben Sie hier, Tante Bella,« sagte er; »Sie halten's bei uns nicht aus; die Sehnsucht nach dem kleinen Wesen, das Sie nun zwei Monate lang, ich weiß nicht wie viel Stunden täglich, auf den Armen gewiegt und heute schließlich über die Taufe gehalten haben, wird Ihnen keine Ruhe lassen. Bleiben Sie hier.«
»Nimmermehr!« erwiderte Tante Bella mit großer Bestimmtheit; »Ottilie braucht mich jetzt nicht mehr, und, so gern sie mich auch hier behielte, in einer jungen Ehe ist ein Dritter immer das fünfte Rad am Wagen. Und wenn ich hier wäre und Nichts zu thun hätte, und denken müßte, daß Sie und Peter sich zu Tisch setzten in der großen einsamen Stube, und Ihr hättet Niemand, der Euch vorlegte und zumal Petern, der immer nicht ordentlich ißt, wenn man ihm nicht Alles zurechtschneidet, und die Suppe wäre versalzen, was Sie durchaus nicht vertragen können, Holmchen, und nun gar des Abends, wenn Ihr von Eurer Arbeit kommt – nein, nimmer – nimmermehr!« und die gute Seele brach in Thränen aus.
»Muth gefaßt also, Tante Bella!« sagte Holm; »Niemand kann zween Herren dienen. Und dann haben Sie ganz recht: Ihr Platz ist bei uns; Schmitz würde Sie – ganz abgesehen von mir – doch grausam vermissen; er fragte mich heute: ob Sie sich nun entschieden hätten, und als ich sagte: Sie würden wohl jedenfalls mitkommen, lächelte er, strich sich mit der Hand durch's Haar und sagte: sie ist ein braves Mädel.«
»Hat er das wirklich gesagt?« fragte Tante Bella, indem ihre Augen auf's Neue zu tropfen begannen.
»Hallo! wohin geht denn die Reise!« rief Herr von Degenfeld.
»Ich denke, nach der Matte; zu einem längeren Spaziergang ist es doch zu spät geworden!« rief Wolfgang zurück.
Sie schritten nun auf dem Wege hin, den Wolfgang für die Curgäste in Spirallinien um den ganzen mit den verschiedenartigsten Laub- und Nadelhölzern dicht bestandenen Hügel bis zur höchsten Spitze hinauf hatte führen lassen. Die Anlagen waren noch nicht vollendet; noch waren die steinigen Wände des Hügels, wo man sie, um den Weg zu gewinnen, hatte abarbeiten müssen, nicht, wie es im Plane lag, mit Rasen und Schlingpflanzen überkleidet; noch waren viele Stellen, wo man Ruheplätze und Trinkhallen anzulegen gedachte, erst mit provisorischen Bänken versehen; aber der kühne, treffliche Plan, der dem Ganzen zu Grunde lag, war doch wohl zu erkennen und fand die einsichtige Anerkennung Onkel Peter's und Holm's. Man konnte sich an den herrlichen Bildern, welche die Durchblicke, die man durch Wegnehmen der Bäume hier und da gewonnen hatte, nicht satt sehen, und so war die Sonne bereits hinter den Hügeln untergegangen, als man aus dem Walde auf die Matte heraustrat. Wolfgang brachte aus dem Holzhäuschen Decken herbei, auf denen sich die Gesellschaft lagerte, mit Ausnahme des Herrn von Degenfeld, der vorläufig noch, die Hände reibend, auf- und niederging, um sich des Entzückens, das Alle in dem Anschauen dieser Herrlichkeit empfanden, um so bequemer freuen zu können. Herr von Degenfeld besaß mehr Häuser, Güter und Fabriken, als er selbst in jedem Augenblicke gegenwärtig hatte, aber diese kleine, ein paar Morgen große Matte war sein höchster Stolz. Und er hatte auch Ursache dazu. Einen schöneren Punkt mochte man schwerlich finden. Zu Füßen das freundliche, von Dörfern und Häusern übersäete Thal, aus dem die schroffen, vom letzten Abendschein umflimmerten kahlen Felswände so machtvoll herauswachsen; im Rücken die lieblichen waldbewachsenen Hügel, auf welche die hohen Berge, die weiter zurück stehen, still und groß herabschauen, und nun, wo sich rechts die Felscoulissen auseinanderschieben, so weit zurück, daß man das Donnern der mächtigsten Lawinen nicht mehr hört, und doch so nah, daß man jede Spalte in den Gletschermassen erkennen kann, die Riesen der Alpenwelt, die mit ihren eisigen Häuptern wunderbar in den tiefblauen Abendhimmel, wie in die Ewigkeit, wachsen.
Die milde ernste Schönheit der Stunde und des Ortes stimmte ganz zu den Gefühlen, von denen die Herzen der guten Menschen, die heute Abend hier noch einmal beisammen saßen, um sich morgen in der Frühe auf lange Zeit wieder zu trennen, bewegt waren. Was die Zeit in der Jahre Vollendung Gutes und Schlimmes gebracht hatte, ging an ihrer Erinnerung vorüber; aber das Schlimme hatte seine Bitterkeit verloren und gesellte sich zum Guten, wie die Nacht sich zum Tage gesellt. Herr von Degenfeld erzählte von seinem Bruder, mit welchem Ernst er schon als Knabe nach dem Höchsten gerungen und wie er die unendliche Güte seines Herzens und den Adel seiner Natur nie verleugnet habe. Auch Münzer's gedachte man, seiner großen Eigenschaften und seines tragischen Schicksals; Antonien's, der jetzt, da ihr Körper seit fast schon einem Jahre in fremder Erde ruhte, selbst Tante Bella Gerechtigkeit widerfahren ließ; Clärchen's, welcher Antonie, als sie die allzuschwere Bürde des Lebens von sich warf, ihr ganzes Vermögen vermacht hatte und deren einziger Reichthum doch nur in der kleinen Ella bestand, die immer lieblicher erblühte und oft mit ihrem geistvoll-phantastischen Wesen – dem Erbtheil des Vaters – der stillen ernsten Mutter ein wehmüthiges Lächeln abgewann; man gedachte des wilden Cajus und seiner letzten furchtbaren That, die noch immer den entflohenen Mördern des alten Generals zugeschrieben wurde und auch zugeschrieben bleiben sollte, obgleich der fanatische Mann längst nach Amerika zurückgekehrt und für Alle, die ihn hier gekannt hatten, in den Einöden des fernsten Westens verschollen war; man gedachte des armen Balthasar und seiner Philanthropie, mit der er eine Welt, die aus den Fugen war, wieder hatte einrenken wollen, und welcher richtige, ja große Gedanke doch seinen Träumereien zu Grunde gelegen hatte; man gedachte jener ganzen wunderbaren Zeit, die so machtvoll den tiefsten Grund des Volkes aufgewühlt, und so viel Schlamm und so viel kostbare Perlen zu Tage gefördert hatte.
»Es war eine große Zeit,« sagte Peter Schmitz, »und nur Böswillige oder Thoren können es leugnen. Was ein Volk, was die Menschheit in ihrem Innersten bewegt, kann nicht klein und verächtlich sein, oder man müßte denn die Menschheit in Pausch und Bogen verachten. Wessen Blick freilich nicht über den engen Horizont seiner persönlichen Interessen und Wünsche hinausreicht, wer die Ideen, an deren Verwirklichung die Jahrhunderte schaffen, in ein paar Monaten oder Jahren vollendet sehen will, – der wird in Allem, was jene Jahre brachten, nur ein Chaos von Aberwitz und Bosheit sehen, und dann natürlich auch in der Consequenz seinen Pessimismus über uns und unser jetziges stilles Wirken die Nase rümpfen. Uns soll das nicht irre machen. Wir wissen, daß unser Ideal einer freien brüderlichen Menschheit unsterblich ist, obgleich wir, die Individuen, wie leichter Rauch verwehen; wir wissen, daß die Zeit, die diese Felsenriesen hier zerbröckelt, auch die Schranken zerstören wird, die Unverstand und Aberglaube zwischen den einzelnen Kreisen der menschlichen Gesellschaft errichtet haben; wir wissen, daß die Nacht der Reaction unter Anderm auch dazu dient, der jungen Freiheit frische Kräfte und neue Säfte zuzuführen, auf daß sie, erwachend, ihre goldnen Locken schütteln und fröhlich an ihr Tagewerk gehen kann. In dieser Ueberzeugung habe ich gelebt, seitdem dem Jüngling zum ersten Mal die Stirn von dem großen Gedanken der Solidarität der Interessen aller Menschen brannte; in dieser Ueberzeugung lebe ich noch, ein grauhaariger Mann, in dieser Ueberzeugung will ich, wenn meine Stunde kommt, sterben.«
Es lag ein eigener Klang in der Stimme, mit der Peter Schmitz diese Worte sprach, ein Klang, der geheimnißvoll die Herzen Aller durchschauerte. So saßen sie still, verständnißinnig nebeneinander. In dem Grase zirpten die Cicaden, Leuchtkäferchen zogen um die stillen Büsche ihre glänzenden Bahnen, dunkler und dunkler stieg die Nacht aus den Thälern an den Bergen hinauf; aber hoch oben glühte noch immer der purpurne Widerschein der Sonne auf den einsamen Firnen der Jungfrau – für die stillen Menschen dort unten ein Sinnbild des unsterblichen Lichtes, das wohl dem einzelnen Menschen, aber nicht der Menschheit untergehen kann.
Ende.
Druck der Hofbuchdruckerei (H. A. Pierer) in Altenburg.