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E s war an einem wunderschönen Sommermorgen, als die drei Abenteurer nach langer und überaus beschwerlicher Wanderung den Rand des Gebirges erreichten. Zu ihren Füßen wand sich durch ein allmälig breiter werdendes Thal ein Fluß, dessen vielfach gewundenen Lauf, auch da, wo er sich ihren Blicken entzog, im Laub der Bäume und Büsche fast versteckte Ortschaften deutlich genug bezeichneten.
»Hier ist gut sein,« rief Rüchel, indem er der Länge nach im Schatten der hohen Bäume sich lagerte.
Wolfgang trat aus dem Schatten heraus an eine Stelle, die, weiter vorspringend, einen freieren Blick in die Landschaft gewährte, und schaute, auf seinen langen Wanderstab gebogen, aufmerksam in die Gegend. Balthasar, der unterdessen aus der Wandertasche den Mundvorrath auf einer Serviette, die er über den Rasen deckte, ausgebreitet, und seine Feldflasche aus einer nahen Quelle, die plätschernd und brausend zu Thal eilte, gefüllt hatte, stellte sich neben Wolfgang.
»Das muß die Eberburg sein,« sagte Wolfgang, auf die Ruinen eines Schlosses deutend, welche jenseits des Flusses den Gipfel eines Hügels krönten, der aus der Sohle des Thals sich zu mäßiger Höhe erhob. »Meinen Sie nicht?«
»Nach der Beschreibung des Jägers kann es kaum etwas Anderes sein,« erwiderte Balthasar.
»Und wie groß schätzen Sie die Entfernung?«
»Drei Stunden mindestens, wobei uns der Uebergang über den Fluß noch nicht aufhalten darf.«
»Ich wollte nur, wir wären erst drüben,« sagte Wolfgang. »Es sollte mich gar nicht wundern, wenn die Regulären ihre Vorposten den Fluß hinauf bis in diese Gegend geschoben haben. Ist die Eberburg wirklich, wie der Jäger sagte, schon seit acht Tagen von den Freischärlern besetzt, so mögen wir uns immerhin auf ein Rencontre mit unsern Freunden gefaßt machen.«
»Wäre es dann nicht besser, wir warteten bis zur Nacht, bevor wir den Uebergang wagten? Von diesem Platze aus steht uns der Rückzug in die Wälder jeden Augenblick frei. Sind wir einmal unten im Thal, werden wir weiter müssen, wir mögen wollen, oder nicht.«
»Ich glaube, in der Lage sind wir bereits jetzt, lieber Balthasar,« rief Wolfgang; »nach Allem, was wir über die Bewegung der Truppen gehört haben, können sich die Freischärler, auf einem so vorgeschobenen Posten nicht einen Tag länger halten. Warten wir die Nacht ab, so laufen wir Gefahr, die Burg, anstatt von unsern Freunden, von unsern Feinden besetzt zu finden. Das Beste wäre, wir marschirten gleich weiter; aber eine Rast müssen wir halten. Ich habe Rüchel beobachtet. Er schleppte sich die letzte Meile nur noch eben weiter, obgleich er es nicht Wort haben wollte; und ich glaube, auch uns Beiden wird eine Stunde Ruhe nach einem fünfstündigen Marsche willkommen sein.«
»Nun, was haben die Herren beschlossen?« fragte Rüchel als die Beiden wieder zur Lagerstätte kamen.
»Wir wollen eine kurze Rast machen.«
»Je länger, je lieber!« rief Rüchel, indem er sich in dem Grase reckte und dehnte; »ich bin müde wie ein Hund; jetzt darf ich es ja wohl sagen.«
»Armer Bursch!« sagte Wolfgang; »es war aber auch eine Parforcetour! Bleiben Sie ruhig liegen; ich will Ihnen Ihr Butterbrot, hinbringen.«
»Das fehlte noch,« rief Rüchel, indem er schnell in die Höhe sprang: »wenn es sich um das Frühstück handelt, bin ich munter wie eine Lerche.«
Trotz dieser Versicherung wollte das Frühstück dem Uebermüdeten gar nicht munden; er brachte mit aller Mühe und nur mit Hülfe eines tüchtigen Schluckes Branntwein (des letzten in der kleinen Feldflasche) einige Bissen herunter; dann schlich er wieder an seinen Platz und war nach wenigen Sekunden fest entschlafen.
»Wollen Sie sich nicht auch hinlegen, lieber Herr?« sagte Balthasar; »der Tag wird sehr heiß werden. Sie wissen, ich brauche wenig Schlaf.«
»Ich bin nicht müde; die Ruhe allein wird mich vollkommen wieder herstellen. Und dann ist der Morgen so göttlich schön; und der Blick in's Thal hinab so lieblich – es wäre ein Jammer, so viel Herrlichkeiten zu verschlafen.«
»Und doch verschlafen wir schließlich die Herrlichkeiten dieser Welt,« sagte Balthasar, sich an Wolfgang's Seite in das Gras setzend.
»Mir däucht, Balthasar, Sie denken in letzter Zeit öfter an den Tod, als es einem Philosophen zukommt,« sagte Wolfgang.
»Gesetzt, ich wäre ein Philosoph,« entgegnete Balthasar: – »aber Sie wissen am besten, daß ich keiner bin – weßhalb sollte ich nicht an den Tod denken? Mir däucht: die Philosophie hat sehr viel mit dem Tode zu thun. Ja, ich möchte behaupten: wer sich auf den Tod nicht recht versteht, kann sich auch auf das Leben nicht verstehen.«
»Sie meinen: wer nicht weiß und nicht bedenkt, daß es für ihn mit diesem Leben zu Ende ist, wird sich schwerlich in unserm Sinne auf Erden ausleben wollen und können. Nicht wahr?«
»Ja, das meine ich,« sagte Balthasar eifrig; »Sie drücken das nur besser aus, als ich es vermöchte.«
»Und insofern könnte man sagen,« fuhr Wolfgang fort, »daß eine Revolution in den Gedanken, welche sich die Menschen vom Tode machen, der politischen Revolution vorangehen, sie zum wenigsten begleiten müßte, wenn aus der Letzteren etwas Gescheidtes werden soll.«
»Ja, ja,« sagte Balthasar; »entwickeln Sie das nur näher.«
»Ich meine,« sagte Wolfgang, »die Revolution wird in dem Augenblicke geboren, wo es in den Köpfen der Menschen klar wird, daß der Tod nicht ein Uebergang in den Himmel oder die Hölle ist – wozu ihn die Pfaffen so gern machen möchten – sondern ein definitiver Untergang, aus dem es weder nach dieser noch nach jener Seite ein Entrinnen giebt. Sobald die Leute zu dieser Einsicht kommen, steht für sie die Welt nicht länger in dem romantischen Schein der Religion da, sondern in dem klaren Lichte der Vernunft; das Leben ist ihnen nicht mehr ein endliches Mittel zu einem unendlichen Zweck, sondern ist sich selbst Zweck; sie sehen die Dinge, wie sie sind, zum wenigsten ist ihnen erst dann die Möglichkeit des richtigen Sehens gegeben; erst dann ist ihnen zum Beispiel möglich, in den Herrschern nicht länger ein dämonisches Geschlecht zu erblicken, das, Gott weiß wie, mit ganz besonderen Kräften begabt, eine geheimnißvolle Macht über ›die Unterthanen‹ zu üben, berufen und befähigt ist; sondern eine Menschenklasse, die mit dem Aberglauben, der sie zu einer so unverhältnißmäßigen Höhe hinaufgetragen hat, steht und fällt.«
»Mir kommt es weniger auf die Großen an,« versetzte Balthasar, »als auf die Kleinen, auf die Armen und Elenden, die an Geist und Körper Kranken; aber freilich kann auch für die nur Rath werden, wenn ihr Unglück nicht länger als eine Strafe des Himmels, sondern als eine nothwendige Folge sehr natürlicher Ursachen, als eine Folge ihrer eignen Thorheiten und Laster, und ach! wie viel öfter noch: der Ungerechtigkeit ihrer Menschenbrüder angesehen wird. Erst wenn man die Ursachen der Krankheit erkannt hat, wird man die rechten Heilmittel anzuwenden wissen. Darum komme ich immer wieder darauf zurück: die fortschreitende Erkenntniß der Natur der Dinge – das ist die wahre Revolution.«
»Ich erinnere mich,« sagte Wolfgang, »daß eines unsrer ersten Gespräche gerade dies Kapitel behandelte; ich behauptete damals: mit der bloßen Erkenntniß sei es nicht gethan; die Freiheit müsse sich mit dem Schwerte ihren Weg durch die Nationen bahnen. Die Erfahrung scheint für die Richtigkeit meiner Behauptung zu sprechen. Wo immer die Völker zur Freiheit gelangten, da haben sie sich dies höchste Gut erobern müssen. Ohne die Erkenntniß geht es freilich nicht; aber das ist auch ein Stück Erkenntniß, daß man, wenn es sein muß, sein Leben lassen müsse für die Freiheit. Die Erkenntniß reift die Frucht, aber die Frucht würde am Baume verfaulen, wenn man sie nicht herunterschüttelte. Glauben Sie mir, mein Freund: ich habe die Kaste, welche die Gewalt und die Macht usurpirt, kennen gelernt. Diesen Menschen ist mit Vernunftgründen nicht beizukommen, und wenn man etwas von ihnen haben will, so muß man es ihnen mit Gewalt nehmen.«
»Aber,« sagte Balthasar, »ist nicht dem Einen recht, was dem Andern billig ist? weshalb sollte ein Dritter, was Sie durch Gewalt gewonnen haben, Ihnen nicht wieder mit Gewalt entreißen? Wie kann ein Besitz gesichert sein, der auf keinen besseren Titel sich stützt, als auf das Recht des Stärkeren über den Schwächeren? Wenn Sie keinen Mißbrauch von der erkämpften Herrschaft machen, wer bürgt Ihnen dafür, daß ihre Nachkommen ebenso bescheiden sind? und muß die blutige Arbeit, die Sie abgethan glaubten, dann nicht wieder von vorn beginnen? und ist die Menschheit in diesem verderbenschwangeren Kreislauf also auch nur um einen Schritt weiter gekommen?«
»Sollten Sie,« erwiderte Wolfgang, »indem Sie diese Fragen aufstellen, deren Beantwortung allerdings schwierig genug ist, nicht in den Cardinalfehler verfallen, welcher, wie Sie selbst zugegeben haben, die Wurzel alles Uebels ist? ich meine in den Fehler, die Menschen nicht zu nehmen, für das, was sie in Wirklichkeit sind, sondern an ihre Stelle ideale Wesen zu setzen, die nirgends existiren, als in unsrer Phantasie? Wenn nun die Menschheit so geartet ist, daß sie ihre Tugenden nicht entfalten kann, ohne daß auch ihre Laster freies Spiel haben, was wollen wir dagegen thun? Sollen wir deshalb eine gute That nicht thun, weil wir wissen, daß wir nicht immer im Leben gut gehandelt haben, auch in Zukunft nicht immer gut handeln werden? oder sollen wir aufhören, wahrhaftig und gerecht zu sein, weil wir wissen, daß andre Menschen Lügner und Schelme sind? Denken Sie an Ihren Lessing, der in der reinen Wahrheit ein Eigenthum der Gottheit verehrt, und sich, dem erdgebornen Menschen, nur das Streben nach Wahrheit vorbehält! Warum sollen wir unserm Ideal: die Vernunft auf Erden zur Herrschaft zu bringen, nicht nachleben, auch wenn wir wissen, daß der Weg unendlich und mithin das Ziel unerreichbar ist? ja, daß die Mittel, die wir anwenden müssen, dem Zweck nicht immer zu entsprechen scheinen? In gewissem Sinne heiligt allerdings der Zweck die Mittel. Ich würde herzlich gern nur immer durch Ueberredung zu wirken suchen, wenn ich die geringste Hoffnung hätte, daß meine Rede erfolgreich sein würde. Aber wenn der Gegner mich für meine gutmüthige Thorheit, ihn belehren zu wollen, verhöhnt, und an sein Schwert schlägt – was bleibt mir übrig, als mich entweder seinem Uebermuth schweigend zu fügen, oder der brutalen Gewalt die Gewalt entgegenzusetzen? Sehen Sie, mein Freund, diese Ueberzeugung habe ich nicht von Anfang an gehabt; sie hat sich bei mir erst nach und nach herausbilden müssen. Es gab für mich eine Zeit, wo ich die Tyrannei haßte, ohne daß mir deshalb mein Essen weniger gut geschmeckt, oder ich deshalb eine Stunde weniger geschlafen hätte; eine Zeit, wo ich die Tyrannei los zu sein glaubte, wenn ich sie einfach weg decretirte. Seitdem habe ich die Gewalt in ihren Schild- und Schwertträgern kennen gelernt – habe selbst persönlich von dem Uebermuth dieser Menschen gelitten, und ich weiß jetzt, daß es mit dem ideellen Haß nicht gethan ist, daß man die Tyrannei in den Tyrannen bekämpfen muß. Bin ich aber deshalb weniger ein Streiter für die gute allgemeine Sache, weil ich mich dabei zugleich meiner eignen Haut wehre? ich glaube es nicht. Wie das Ganze in jedem seiner Theile, und der Horizont, den mein Blick umspannt, für mich die Erde ist, so kämpfe ich jeden Kampf, den ich für mein gutes Recht kämpfe, nicht für mich allein, sondern für die ganze Menschheit. Das ist es ja eben, mein Freund, daß die Menschen hier und da und da und hier zu dieser Einsicht gekommen sind, was diese ganze Bewegung hervorgerufen hat und noch erhält. Schon der eine Umstand, daß die Menschen heut zu Tage wagen, die Privatunbill, die ihnen geschehen ist, als ein der Menschheit angethanes Unrecht zu empfinden, erhebt unsre Zeit weit über die vorhergegangenen Jahre. In einer sclavisch gesinnten Nation duldet Jeder schweigend; freut sich, wo möglich, daß auch sein Nachbar zu dulden hat. Darüber sind wir, Gott sei Dank, hinaus. Und, lieber Balthasar, steht es denn mit Ihnen viel anders, als mit mir? Das Leid, das schlechte Menschen über Sie, den Friedfertigen, Guten, Edlen brachten, hat Ihren Blick für die Leiden aller Menschen, ja, was sage ich, für die aller Creatur geschärft. Der einzige Unterschied ist, daß Sie noch mit Medicamenten auskommen zu können glauben, wo ich kein anderes Mittel sehe, als die bösen Schäden auszuschneiden und auszubrennen.«
Balthasar schien durch Wolfgang's Worte nur halb überzeugt zu sein. Er schüttelte traurig den Kopf und sagte:
»Es ist ja leicht möglich, daß mein Intellectus nicht scharf genug ist, dergleichen complicirte Probleme zu lösen, oder daß meine angeborne und durch die jahrelange Einsamkeit noch vermehrte Zaghaftigkeit mir alle gewaltsamen Schritte in einem Lichte erscheinen läßt, das sie für ein muthigeres Auge gar nicht haben; aber ich kann mich mit Ihren Theorien nicht versöhnen. Was hilft das bischen äußerliche Freiheit, das Sie im günstigsten Falle mit dem Schwerte erobern können, wenn die viel schlimmere Tyrannei der Dummheit und des Aberglaubens nach wie vor auf der armen unglückseligen Menschheit lastet? was hilft es Ihnen, der Hyder einen Kopf abschlagen, wenn sie hundert Köpfe hat, von denen jeder einzelne, eben weil Sie dem Wurm nicht am innersten Leben schaden, alsbald wieder wächst!«
»Aber, Balthasar,« rief Wolfgang fast ungeduldig, »was sollen wir denn thun? das Scheusal leben lassen, wie es will und mag?«
»Den Sumpf austrocknen, in welchem es lebt,« erwiderte Balthasar.
»Doch darüber können Jahrtausende vergehen, und des Menschen Leben währet siebenzig, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre!«
Balthasar antwortete nicht, sondern blickte träumerisch zu den Kronen der Bäume empor, in denen die Vögel zwitscherten und die Sonnenstrahlen spielten.
»Ich habe mir während dieser Tage schon oftmals ein Gewissen daraus gemacht,« fing Wolfgang wieder an, »daß ich nicht lebhafter in Sie gedrungen bin, von dem Wagestück abzustehen, Ihr Schicksal mit dem zweier Deserteurs zu identificiren. Mir wird das Herz schwer, wenn ich daran denke, was Sie beim Anblick der Gräuel eines Kampfes empfinden werden, an welchem Sie, Ihren Principien nach, nicht Theil nehmen können, und der Ihnen deshalb doppelt und dreifach abscheulich erscheinen muß.«
»Fürchten Sie Nichts für mich, lieber Herr!« erwiderte Balthasar; »an Ihrer Seite würde ich durch die Hölle gehen, ohne mit den Wimpern zu zucken. Seit dem Augenblick, wo ich Sie zum ersten Male sah, habe ich mich nach Ihnen gesehnt, wie der Schatten nach seinem Körper. Wie oft habe ich auf dem Punkte gestanden, zu Ihnen in die Stadt zu kommen und Sie zu bitten, mich bei Ihnen zu behalten; aber ich wagte es nicht, weil ich für Andere Alles, für mich Nichts thun kann. Auch sagte mir eine Ahnung, daß Sie über kurz oder lang kommen und mich von dem Fluch, der auf meinem Leben liegt, erlösen würden. Und sind Sie nicht gekommen, wie die Noth am größten war? Sie sind der Erzengel Michael, der dem Drachen den Kopf zertritt; ich muß Sie lieben und bewundern; lassen Sie mich, in Liebe und Bewunderung, Ihnen folgen, aber verlangen Sie nicht, daß ich an Ihren Thaten, zu denen ich mich zu schwach fühle, einen andern Antheil nehme.«
Der wunderliche Mann ergriff Wolfgang's beide Hände und drückte sie zärtlich an seine Brust. Die Thränen standen ihm in den sanften blauen Augen; auch Wolfgang war sehr gerührt.
»Möchte doch,« sagte er, »ein Tropfen von dem Quell unendlicher Liebe, der in Ihrem Herzen fließt, jede Lippe benetzen, die jetzt von heißem Haß und glühendem Rachedurst zuckt – die Erde wäre, wie sie an diesem wonnigen Morgen von dieser Höhe herab erscheint: ein friedliches Campanerthal voll blühender Gärten und goldigen Sonnenscheins. – Aber wir verträumen die Zeit und doch müssen wir weiter, wenn Rüchel sich nur irgend erholt hat. Wie steht's, Rüchel?«
»Munter wie ein Fisch,« rief Rüchel, sich die Augen reibend; »ah, war das ein Schlaf! ich habe sogar von meinem Schatz geträumt. Das ist ein gutes Zeichen.«
»So wollen wir das gute Zeichen benutzen,« sagte Wolfgang lächelnd; »auf Rüchel! in drei Stunden haben wir die Eberburg erreicht.«
»Und was machen wir, wenn wir den Fluß besetzt finden?« fragte Balthasar.
»Wir schleichen uns durch,« sagte Rüchel, den Ränzel auf die Schulter schwingend; »wir verstehen das! nicht wahr, Herr Lieutenant?«
»Wollen sehen,« erwiderte Wolfgang; »hoffentlich kommen wir unangefochten hinüber.«
Die drei Wanderer stiegen jetzt einen Fußpfad, der von der Höhe, wo sie Rast gemacht hatten, in's Thal führte, hinab. Zu ihren Füßen lag ein Dörfchen, aber so tief unter hohen Bäumen versteckt, daß sie nicht viel mehr als einige Häuserdächer davon wahrnehmen konnten. War das Dörfchen nicht besetzt, und war es möglich, an dieser Stelle über den Fluß zu kommen, so hatten sie gewonnen. Bald gelangten sie, vorsichtig vorwärts schreitend, zu den ersten Hütten. Bis dahin hatten sie nichts Verdächtiges wahrgenommen; aber ohne vorherige sorgfältige Recognoscirung das Dorf zu betreten, schien nichts desto weniger unräthlich. Rüchel, dessen Gewandtheit in solchen Dingen erprobt war, schlich sich daher an den Hecken weiter, während die beiden Andern in sicherem Versteck verborgen blieben. Nach ungefähr zehn Minuten kam Rüchel zurück, mit halb ängstlicher, halb lachender Miene.
»Gott sei Dank, daß wir nicht so ohne Weiteres hineingelaufen sind,« flüsterte er; »in dem Dorf liegt ein Unterofficier mit zehn Mann. An dem Ufer steht ein Posten; der Bauer, den ich sprach, sagte: sie ließen Nichts weder hinüber, noch herüber. Ich klagte ihm meine Noth; sei ein armer Handwerksgesell, müsse hinüber. Da sollte ich bis zum nächsten Dorfe, sagte er; das sei nicht besetzt; sei auch eine Fähre da; der Fluß ist nicht zu passiren; er hat hier überall hüben oder drüben so tiefe Stellen, daß Roß und Reiter darin versaufen können.«
»Sie können ja Beide schwimmen,« sagte Balthasar; »lassen Sie mich hier!«
»Das fehlte noch,« sagte Wolfgang; »weiter zum nächsten Dorf!«
Sie schlichen durch die Büsche, zwischen den Weingärten, das Dorf, das sie eben berührt hatten, in einem weiten Bogen umkreisend. Es war ein mühseliger Marsch. Auf dem schwarzen Schiefer, aus denen die Berge zum größten Theil bestanden, brannte die Sonne mit fast unerträglicher Gluth. Dazu kam, daß sie fortwährend gebückt gehen mußten, um von der Landstraße aus, die sich am Ufer hinzog, und auf der sie mehrere Menschen gehen sahen, nicht bemerkt zu werden. Unglücklicherweise geriethen sie in eine tiefere Schlucht, aus der sie sich nur mit Mühe und nachdem sie längere Zeit die Landstraße gänzlich aus den Augen verloren hatten, wieder herausarbeiteten. Dafür hatten sie aber auch die Genugthuung, ihr Ziel, das sie noch ziemlich entfernt vermutheten, bereits erreicht zu haben. Es that ihnen wahrlich Noth. Der beschwerliche Weg in der übergroßen Hitze hatte ihre Kräfte erschöpft. Ihre Lippen lechzten nach einem Labetrunk; sie mochten es sich nicht versagen, als sie an dem kleinen weinlaubumrankten Wirthshause am Ufer anlangten, für einen Augenblick einzutreten, um den quälenden Durst mit einem Glase Wein zu löschen.
Ein schlankes, schwarzäugiges Mädchen bediente sie flink und willig. Rüchel bemerkte, daß die hübsche Kleine unter ihren langen dunklen Wimpern hervor wiederholt zu Wolfgang blickte, und er konnte es nicht unterlassen, seine Bemerkungen darüber zu machen. Das Mädchen antwortete schnippisch und Wolfgang verwies ihm seine Unart: »Trinken Sie Ihren Wein, Rüchel, und halten Sie uns nicht auf; die Minuten sind kostbar.«
Er hatte das kaum gesagt, als auf dem Pflaster vor den weinlaubumrankten Fensterchen der eilige gleichmäßige Schritt, den nur Soldatenstiefel schreiten können, erschallte. Alsbald wurde auch die Thür aufgerissen und ein Unterofficier trat, mit dem Gewehr in der Hand, in das Zimmer. In der Thür, die er offen ließ, erschienen mehrere Soldaten. Der Unterofficier trat auf die Abenteurer zu, die sich in nicht geringer Bestürzung von ihren Plätzen erhoben hatten. Ein Blick in des Mannes sonnverbranntes bärtiges Gesicht genügte, Wolfgang und Rüchel mindestens darüber zu beruhigen, daß sie es nicht mit Leuten von ihrem eigenen Regiment zu thun hatten.
Der Unterofficier forderte ihnen in barschem Tone ihre Legitimationspapiere ab. Die Abenteurer hatten sich für einen derartigen Fall ein Märchen ausgedacht, das Rüchel nun mit großer Zungenfertigkeit vortrug. Er selbst und Wolfgang waren Schreinergesellen, Balthasar ein Schneider; ein Trupp Freischärler hatte sie heute Morgen in dem Walde ihrer Felleisen beraubt und dem Schneider nur die schäbige Reisetasche gelassen. Der Herr Unterofficier sollte sie doch nicht noch unglücklicher machen, als sie nach Verlust aller ihrer Habseligkeiten schon wären.
Der Unterofficier wollte wissen, weshalb sie sich in dem Dorfe, durch welches sie eben gekommen waren, so genau nach der Stellung der Freischaaren und der Truppen erkundigt hätten. Das sei im höchsten Grade verdächtig; und weshalb sie nicht, wie andere ehrliche Leute, auf der Landstraße gegangen seien? Das sollten sie einmal erklären. Auch darauf wußte Rüchel eine Antwort.
»Du lieber Himmel, Herr Unterofficier,« rief er mit kläglicher Stimme; »wollen Sie uns verdenken, daß wir keinem Menschen mehr trauen? Die verdammten Freischärler rauben uns aus, die Herren Soldaten wollen uns nicht passiren lassen; wo sollen wir armen Teufel denn den Muth herkriegen, uns an die helle Sonne zu wagen? Aber mir ist Alles Eins; machen Sie mit uns, was Sie wollen; schießen Sie uns meinetwegen todt, ich habe das Hundeleben satt.«
Rüchel setzte sich wieder auf die Bank und stützte, wie in Verzweiflung, den Kopf in beide Hände. Er hatte seine Rolle so meisterhaft gespielt, daß der Unterofficier, dessen Scharfsinn überdies nicht eben groß sein mochte, an der Wahrheit der ihm gemachten Aussagen kaum zu zweifeln schien. Leider seien seine Instructionen der Art, daß er Leute ohne Legitimation durchaus nicht passiren lassen dürfe; er müsse in das nächste Dorf flußabwärts schicken und dem Officier, der dort liege, die Sache melden. Der möge dann darüber entscheiden, ob sie ihren Weg fortsetzen dürften; bis dahin hätten sie sich als Gefangene zu betrachten.
Er ging hinaus und schloß die einzige Thür, die das Zimmer hatte, hinter sich ab.
»Da säßen wir in der Falle,« sagte Rüchel, die Gefährten mit einer Miene, die noch halb dem unglücklichen Schreinergesellen und halb schon wieder dem lustigen Schelme gehörte; »was thun wir nun?«
»Jedenfalls wollen wir nicht die Ankunft des Officiers abwarten,« erwiderte Wolfgang; »wenn wir nur wüßten, wieviel ihrer sind!«
»Einer patrouillirt vor dem Fenster, so viel ist gewiß,« sagte Rüchel.
In diesem Augenblicke wurde leise an einen kleinen hölzernen Laden gepocht, der, wie sie jetzt erst bemerkten, in der Seitenwand des Zimmers angebracht war. Rüchel lief hin; der Laden wurde zurückgeschoben; durch die Oeffnung schaute das Gesicht der hübschen Kellnerin.
»Holdes Kind,« sagte der galante Rüchel, »hilf uns hinaus, und ich heirathe Dich auf der Stelle.«
»Ihn will ich gar nicht,« sagte die Kleine schnippisch.
»Aber meinen Collegen?« fragte Rüchel.
»Der ist Ihr College nicht,« sagte das Mädchen mit großer Bestimmtheit.
»Was die Mädel für Augen haben,« sagte Rüchel, sich mit lachendem Gesicht zu Wolfgang wendend.
Wolfgang trat an den Schalter: »Lassen Sie mich mit der Kleinen sprechen; gehen Sie an's Fenster und beobachten Sie die Schildwache.«
»Wollen Sie uns forthelfen, liebes Kind?« fragte Wolfgang.
»Ich möcht's gar zu gern,« sagte das Mädchen schnell.
Ihre schwarzen Augen blitzten, wie sie das sagte, und über ihre braunen Wangen flog eine dunkle Gluth.
»Wieviel Soldaten sind es?«
»Drei; zwei sind in der Stube auf der andern Seite; ich habe ihnen vom Besten gegeben; der Vater ist bei ihnen und trinkt mit ihnen; er hat mich hergeschickt.«
»Und sonst wärst Du nicht gekommen?«
»Doch,« sagte das Mädchen eifrig, die dunklen Wimpern, die sie für einen Moment auf die glühenden Wangen gesenkt hatte, wieder hebend; »der Bruder soll Sie übersetzen; er ist schon nach dem Kahn hinab.«
»Wo haben sie ihre Gewehre?«
»Stehen auf dem Flur neben der Thür; die Thür ist nicht sehr fest; wenn Sie recht kräftig dagegen stoßen, springt sie wohl aus dem Schloß. Ich würde Ihnen aufschließen, aber sie haben die Thür nach der andern Stube weit offen gelassen; ich kann's nicht.«
»Und solltest es auch nicht, wenn Du könntest. Du darfst Dich keiner Gefahr aussetzen.«
»Nehmen Sie sich in Acht; die Schildwache kommt auf das Fenster zu,« sagte Rachel.
»Habe Dank, liebes Mädchen,« sagte Wolfgang. Die Kleine schob den Laden wieder vor; Wolfgang trat schnell von der Wand zurück.
Die Schildwache kam an das geschlossene Fenster, blickte in das Zimmer und setzte, da sie die drei Gefangenen noch vorfand (Rüchel wischte sich mit seinem rothen Taschentuche die Thränen aus den Augen), ihr Auf- und Abwandern fort.
Wolfgang theilte den Gefährten seinen Plan mit. Sie wollten in einem Augenblick, wo der Posten sich möglichst weit vom Fenster entfernt hätte, die Thür sprengen und, herausstürzend, sich der Gewehre bemächtigen. Das Uebrige würde sich dann wohl finden.
Balthasar wurde an das Fenster postirt; Wolfgang und Rüchel ergriffen eine der langen Bänke, um sich derselben als Sturmbock zu bedienen.
»Das Mädchen ist zu ihm getreten und bietet ihm Wein; er trinkt,« rapportirte Balthasar.
»Blitzmädel, das!« sagte Rüchel.
»Eins, zwei, drei!« commandirte Wolfgang.
Von dem kräftigen, gut geführten Stoß sprang die Thür krachend aus dem Schloß. Wolfgang und Rüchel fielen beinahe hinterher. Im Nu hatten sie die Gewehre, die, wie es das Mädchen gesagt hatte, gleich zur Hand standen, ergriffen. Dann sprangen sie zum Hause hinaus auf die Schildwache zu, die, in der einen Hand die Flasche, in der andern das Glas, das Gewehr bei Fuß, ein Bild hülflosen Schreckens dastand und von Rüchel ohne Mühe entwaffnet wurde.
Dies Alles war so schnell geschehen, daß die beiden Soldaten, die in dem Zimmer auf der andern Seite ruhig bei ihrem Wein gesessen hatten, sich überrumpelt sahen, bevor sie wußten, wie ihnen geschehen war. Rüchel hatte Balthasarn, der sich immer dicht hinter Wolfgang gehalten, das dritte Gewehr in die Hände gedrückt. Die Soldaten, die recht gut wußten, daß ihre Gewehre scharf geladen waren, dachten an keinen Widerstand. Der schlaue Wirth that auf das Aeußerste erschrocken, als Wolfgang ihm die Bayonnetspitze auf die Brust setzte und mit fürchterlicher Stimme befahl: sie sogleich mit seinem Kahn an das andre Ufer zu fahren. Rüchel, der sofort auf Wolfgang's Absicht einging, tobte und fluchte, wie ein Besessener und drohte das Mädchen zu erschießen, das mit den Soldaten scharmuzire, anstatt ehrlichen Kerlen zur Flucht zu verhelfen. Er stellte den Wüthenden so natürlich dar, daß das Mädchen alles Ernstes erschrak und Wolfgang mit gefalteten Händen und thränenden Augen um Rettung anflehte. Wolfgang faßte sie bei der Hand und rief: »Er soll Dir Nichts thun; aber mit zum Boot mußt Du; der Alte mag hier bleiben; jetzt marsch! Adieu, ihr Herren!«
»Adieu!« rief Rüchel, »und wenn der Officier kommt, sagt ihm nur: der Lieutenant Hohenstein und der Unterofficier Rüchel vom neunundneunzigsten ließen sich ihm empfehlen.«
Wolfgang hielt es für die höchste Zeit, dieser Scene ein Ende zu machen. Der Lärmen hatte die Dorfbewohner herbeigelockt, die sich bis jetzt allerdings in scheuer Ferne hielten, von denen man aber doch nicht wissen konnte, ob sie nicht zuletzt für die Soldaten Partei nehmen würden. Glücklicherweise waren es nur wenige Schritte von dem Wirthshause bis zur Fähre. Ein sechzehnjähriger Bube, den die schwarzen Augen deutlich genug als Bruder des Mädchens bezeichneten, stand bei dem plumpen Kahn und zeigte seine weißen Zähne, als Rüchel (immer noch in seiner Bramarbas-Rolle) ihm den Kolben des Gewehrs über dem Kopf schwang und ihn umzubringen drohte, wenn er sie nicht ordentlich hinüberbrächte.
Rüchel und Balthasar waren in den Kahn gestiegen. Wolfgang faßte das hübsche Mädchen bei der Hand und sagte:
»Leb wohl! ich wollt', ich könnte Dir danken, wie Du's verdienst.«
Das Mädchen blickte sich scheu um; es war ihnen Niemand bis an's Ufer gefolgt.
»Behüt' Dich Gott!« sagte sie, Wolfgang's Hand mit beiden Händen erfassend und Augen und Mund zu ihm erhebend. Wolfgang drückte einen Kuß auf die frischen Lippen, sprang in den Kahn; der Bursche stieß ab, und erzählte während des Ruderns, das ganze Dorf sei »republikanisch.« Zwei von ihnen seien drüben bei den Freischärlern; ob die Herren ihn nicht mitnehmen wollten? Rüchel war gleich dazu bereit, aber Wolfgang wollte nichts davon wissen. »Kommt Zeit, kommt Rath,« sagte er; »für diesmal kehr' Du nur ruhig wieder um, lieber Junge; und hörst Du, laß Dir nicht merken, daß Du uns gern gefahren hast!«
Er drückte, als sie gelandet waren, dem Burschen ein Goldstück in die braune Hand und war aus dem Kahn, bevor der Bursche vor Erstaunen über das hohe Fährgeld zu Wort gekommen war. Die Andern folgten. Von der Stelle, wo sie gelandet waren, schlängelte sich ein Fußpfad durch Wiesen und Kornfelder landeinwärts. Das sei der nächste Weg zur Eberburg, hatte der Bursche gesagt. In der Entfernung von ungefähr einer halben Meile blickten die ehrwürdigen Ruinen von ihrem Hügel zu ihnen herüber. Kein Hinderniß lag jetzt zwischen ihnen und ihrem nächsten Ziel. Wolfgang schüttelte den Gefährten die Hände und rief fröhlich: »Vorwärts marsch!«