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D er Monstreproceß gegen die Rheinfelder Angeklagten ging heute zu Ende. Fünfundvierzig Angeklagte; hundert Belastungs-, achtzig Entlastungszeugen – die Stadt war seit acht Tagen aus einer fieberhaften Aufregung nicht herausgekommen. Acht Tage lang war das Gebäude des Schwurgerichts vom frühesten Morgen an von Menschen umlagert gewesen, von denen nur der kleinste Theil Einlaß in den Sitzungssaal erlangen konnte; acht Tage lang hatten sie in dem Sitzungssaal Kopf an Kopf gesessen und gestanden, mit unermüdlicher Spannung den Verhandlungen folgend. Den Fremden, oder den Neulingen, denen es erst am sechsten, siebenten Tage gelungen war, sich einen Platz im Zuhörerraum zu erobern, wurden von den Habitüés mit einem gewissen Stolz die wichtigsten Personen dieses interessanten Dramas gezeigt. »Der große schwarze blasse Mann auf der Anklagebank, der den Kopf in die Hand stützt, ist Dr. Münzer. – Der Herr auf der zweiten Bank, der sich eben den Kopf mit dem Taschentuche wischt, ist Dr. Holm; der kleine Herr mit dem stahlgrauen starren Haar neben ihm ist Peter Schmitz. – Und sehen Sie wohl die Dame vor ihnen auf der ersten Bank? die blasse, die so starr auf Münzer blickt? Das ist die Dr. Münzer. Man hat ihr während der ganzen Zeit nicht einmal erlaubt, ihren Mann zu besuchen; jetzt hat sie ihn zum ersten Male wieder gesehen. Wenn sie kommt, macht Alles Platz und die Leute ziehen die Hüte, als ob sie eine Königin wäre. Sehen Sie wohl? jetzt sieht Dr. Münzer zu ihr hinüber und sie lächelt ihm zu. Man erzählt, daß Münzer ihr nicht treu gewesen sei und eine Frau von Hohenstein zur Maitresse gehabt habe. Aber das ist wieder so eine Lüge, wie sie von den Aristokraten aufgebracht wird, um dem armen Mann zu schaden. Ich kenne Frau von Hohenstein ganz gut, denn ich habe lange für sie gearbeitet, und ich habe es selbst mit meinen eigenen Augen gesehen, daß die beiden Damen in Frau von Hohenstein's Equipage hierher gefahren und hernach wieder fortgefahren sind. Heute ist Frau von Hohenstein nicht hier; ich habe sie wenigstens noch nicht gesehen; die Tage vorher saß sie immer neben dem Pfeiler, dicht hinter der Frau Münzer. Aber sie hatte immer einen dichten weißen Schleier vor dem Gesicht. – Jetzt steht der Doctor auf; nun sollen Sie aber sehen, wie der redet; so was haben Sie Ihre Lebtage noch nicht gehört.«
Ein Rauschen und Raunen und Flüstern und Wispern ging durch die Versammlung, und dann tiefste, athemlose Stille. Münzer hatte sich, nachdem ihm von dem Präsidenten das Wort ertheilt war, von seinem Platze erhoben. Sein schönes Gesicht war sehr blaß, und scharfe Augen wollten bemerken, daß sein dunkles volles Haar hier und da ergraut sei. Aber es war das vielleicht auch die Wirkung des Abendlichtes, das grau und kalt durch das hohe Fenster, ihm gerade gegenüber, in den Saal fiel. Was Alle bemerkten, war die tiefe kaum geheilte Wunde, die sich breit und roth über seine Stirn vom Winkel des Auges an bis in das Haar zog. Wie sehr diese stolze Kraft durch Krankheit und Seelenleiden auch erschüttert sein mochte – in den dunklen, schönen Augen glänzte noch das alte Feuer, und seine tiefe Stimme hatte ihren Wohlklang noch nicht verloren, als er jetzt zu reden anhub. »Ich bin in der eigenthümlichen Lage,« sagte er, »von dem, was mich betrifft, mit einer Ruhe sprechen zu können, als ob ich aus den Wolken herabschaute auf das Erdentreiben. Denn, meine Herren, ich habe von Ihrem Spruche nichts zu fürchten und nichts zu hoffen. Für das, was ich auf einem andern und größern Schauplatze that, bereits zu lebenslänglicher Gefangenschaft begnadigt, müßten Sie erst das seltene Geheimniß verstehen, die Zahl der mir vom Schicksal zugetheilten Tage zu vergrößern, wenn Sie mir die Qual des Kerkers noch verlängern wollten, oder Sie müßten mir das Leben selber aberkennen. Jenes können Sie nicht, und dieses dürfte Ihnen unter den obwaltenden Verhältnissen kaum möglich sein. So ist denn jede leidenschaftliche Erregung, die sonst das Gemüth eines Angeklagten trüben mag, von mir genommen; ich fühle mich Ihnen gegenüber so frei, wie sich nur ein Gleicher unter Gleichen fühlen kann. Gewappnet gegen den Arm der weltlichen Gerechtigkeit, ohne Haß, wie ohne Furcht, ohne Zorn, wie ohne Hoffnung, darf ich die Wahrheit sagen, und ich will es. Ja, meine Herren, ich gestehe Ihnen ganz offen – und Sie wollen darin nicht einen Beweis der Mißachtung sehen, sondern nur das Resultat zweimonatelanger ununterbrochener Beschaulichkeit, die auch ein stürmisches Herz in Ruhe wiegen kann – ich würde heute von dieser Gelegenheit, noch einmal, zum letzten Mal in meinem Leben ein freies Wort zu sprechen, keinen Gebrauch machen, sondern schweigend in die Nacht meines Kerkers zurücktauchen, wenn ich nur meine Sache zu führen hätte, wenn ich nicht, indem ich meine Sache führe, auch zugleich die Sache Dieser hier führte, dieser meiner Genossen und Gefährten, die um meinethalben – ja, meine Herren, um meinethalben! – heute auf der Bank der Angeklagten sitzen. Sclaven der Armuth und der Unwissenheit, wie sie es zum großen Theile sind, hätte sich, so viel ich weiß, keiner von ihnen zum Widerstand gegen den Druck und den Stoß eines ärmlichen, erbärmlichen Geschicks emporgerafft, wenn nicht ich, wie die Personification ihres dumpfen Grolls, ihrer heimlichen Erbitterung, ihrer namenlosen Leiden an sie herangetreten wäre, sie das Wort, das furchtbare Wort: Revolution hätte buchstabiren und lesen lehren, sie durch wohlgesetzte Reden aus ihrer Apathie aufgerüttelt und aufgeschreckt, sie zu Thaten, zu der That, wegen derer sie jetzt ihr Urtheil erwarten, aufgehetzt und aufgestachelt hätte. Das Bewußtsein der Verpflichtung, dies Zeugniß hier in dieser feierlichen Stunde, die für mich die letzte schwache Dämmerung von dem Abendroth meines Lebens und den Anfang einer ewigen Nacht bedeutet, Angesichts meiner Mitbürger, Angesichts meiner Feinde und Freunde, Angesichts der Menschen, auf deren Liebe ich im Leben und im Tode sicher rechnen darf – ablegen zu können, dies Bewußtsein hat mich alle Leiden meines Körpers und meiner Seele mit stoischem Gleichmuth ertragen lassen, hat mich nicht sterben lassen. Und so sage und bekenne ich vor Ihnen und vor jenem höheren Richterstuhle der Geschichte, vor dem Sie, meine Herren, und ich und diese hier gleicherweise Clienten sind, daß auf mich, den Agitator, den Zubläser, den Rädelsführer die Hälfte der Schuld fällt, soweit in menschlichem Verstande hier von Schuld die Rede ist; aber die andere Hälfte, die andere Hälfte, die vielleicht mehr als die Hälfte ist – sie fällt – doch darüber lassen Sie uns hernach sprechen; verstatten Sie mir vorerst den Schwerpunkt meiner Schuld, den das öffentliche Ministerium auf seltsame Weise verrückt hat, an die rechte Stelle zu bringen.
Das öffentliche Ministerium hat meinen Einsichten eine lange Lobrede auf Kosten meines Charakters gehalten. Wenn Sie ihm Glauben schenken wollen, so verdiente ich, was jene betrifft, einen Platz bei den Weisesten aller Zeiten, was diesen anbelangt, so wäre der Schwefelpfuhl auf dem jüngsten Gericht des Rubens noch nicht feurig genug für mich. Das öffentliche Ministerium hat versucht, einen Menschen aus mir zu machen mit dem Herzen eines Catilina und dem Gehirne eines Plato, das heißt eine Chimäre, eine psychologische Unmöglichkeit, ein moralisches Unding. Ich werde mich hüten, meine Herren, in denselben Fehler der Uebertreibung zu verfallen und am Ende gar den Versuch machen, Ihnen den Beweis vom Gegentheile zu führen. Das Wahre von der Sache ist vielmehr, daß ich weder so weise, noch so schlecht bin, wie das öffentliche Ministerium meint, oder zu meinen scheint; weder so weise, denn sonst stünde ich nicht hier, weder so schlecht, denn sonst stünde ich wiederum nicht hier. Was ich büße und zu büßen bereit bin, ist gerade die Mangelhaftigkeit meiner Einsicht, die auf dem Gebiete der Politik ein Verbrechen ist; was ich büße und zu büßen bereit bin, ist gerade, daß ich Herz genug besaß, um von den Bildern der Armuth und des Elends, die meine Augen täglich schauten, ergriffen, von den heiseren Stimmen des Hungers und der Sorge, die meine Wiege schon umtönten, erschüttert und gefoltert zu werden. Wäre ich ein kalter Selbstling, ich hätte mich für meine socialen Theorien nicht geschlagen; wäre ich blos klug gewesen, ich hätte mich zur rechten Zeit salvirt, wäre ich weise gewesen, so hätte ich mir sagen müssen, daß die Mine, mit welcher ich den äußerlich so stolzen und innerlich so morschen Bau unsrer modernen Gesellschaft in die Luft zu sprengen hoffte, lange nicht tief, lange nicht mächtig genug war, daß man mit einer Hand voll guter Leute, denen man ihre elende Lage zum Bewußtsein gebracht hat, keine deutsche Republik gründen kann.
So könnte ich sprechen, meine Herren, wenn es mir blos darauf ankäme, anstatt der Karrikatur, die das öffentliche Ministerium von mir entworfen hat, Ihnen wenigstens ein Bild zu geben, das menschliche Züge trägt und die Wahrscheinlichkeit der Aehnlichkeit für sich hat. Aber ich wollte Ihnen die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts wie die Wahrheit, und so mache ich Ihnen denn das Geständniß, daß ich an jenem Abend, als ich durch mein Beispiel das Signal zu dem Zug nach Rheinfelden gab, an das Gelingen dieses Unternehmens, ja an einen erträglich guten Ausgang der ganzen deutschen Erhebung nicht mehr glaubte; daß meine That die That eines Verzweifelten gewesen ist, der die Sache, für die er zwanzig Jahre lang gekämpft hat, verloren sieht, und sein Leben gleichgültig der verlorenen Sache nachwirft. Ob ich als Gatte, als Vater ein Recht hatte, so über mein Leben zu disponiren, das ist eine Frage, in deren geheime Tiefen nur das Auge allverzeihender Liebe dringt; ob ich als Politiker es durfte, darüber werden die bald mit ihrem Urtheil fertig sein, die weder die Begeisterung noch die Verzweiflung kennen; aber, was ich weder als Mensch, noch als Politiker durfte, das war: diese meine Anhänger und Schüler mit mir in den Abgrund zu reißen, über ihr Leben, ihr Vermögen, zu verfügen, als ob sie nur der Schatten meines Leibes wären. Hätte ich an jenem verhängnißvollen Abend meine Stimme so laut erhoben, um von dem Zuge nach Rheinfelden abzurathen, wie es einige Freunde von mir thaten, denen ich jetzt im Geiste die Hand dafür drücke, so wäre Alles anders gekommen, und was auch aus mir geworden wäre – diese säßen jedenfalls nicht hier. Daß sie hier sitzen, das ist mein Verbrechen, ist die eine Hälfte der Schuld, für die ich in meinem Bewußtsein schon eine schwerere Strafe habe, als Sie, oder irgend eine Jury der Erde mir auferlegen kann.
Aber, meine Herren, merken Sie wohl: dies ist nur die eine Hälfte der Schuld, die andere Hälfte wälze ich – nicht auf Sie – ich kenne Sie nicht, will Sie nicht kennen – ich wälze sie auf alle die Indifferenten, die Lauen, die Halben, die nicht Ja und nicht Nein sagen können, oder die vielmehr Ja und Nein sagen in einem Athem; ich wälze sie auf die Pflichtvergessenen, die in der Stunde der Gefahr nicht zu finden sind, die nicht begreifen, oder nicht begreifen wollen, daß in Zeiten politischer Erregung Jeder, er sei, wer er sei, Partei ergreifen muß, wenn der Dämon Revolution nicht zum Scheusal werden soll; ich wälze sie auf den reichen Bourgeois, der mit bleichen Lippen die Freiheit für dreißig Silberlinge verschachert; auf den blöden Gelehrten, der mit selbstgefälligem Lächeln versichert, daß sein Studirzimmer seine Welt sei; auf den blasirten Gecken, der jede Begeisterung verhöhnt, auf den feigen Beamten, der jede Demüthigung mit seinem ›lieben Brot‹ hinunterschluckt, auf die zahllose Schaar der Schwächlinge und Feiglinge jedes Alters und Standes, die, alles selbstständigen Charakters baar und zu keiner Mannesthat fähig, die faule Ruhe um jeden Preis wollen, und wäre es um den Preis der schimpflichsten Demüthigungen. Sie, diese Drohnen im Haushalte des öffentlichen Wesens, die sich immer und überall an die Tyrannei hängen und die Wucht derselben vergrößern, sie haben durch ihr Nichtsthun mehr verschuldet, als einer der armen Menschen, die in dieser Zeit muthig für ihr politisches Ideal, und wäre es das wahnwitzigste, das je aus einem Gehirn entsprungen, zur Flinte oder zum Pflastersteine griffen, je hat verschulden .können. Sie sind der schlimme Mehlthau, der noch auf jeden Frühling gefallen ist, in welchem unsere arme, gemißhandelte Nation zu neuem Leben und neuer Macht erblühen wollte; sie haben vor drei Jahrhunderten ruhig zugesehen, wie der unglückliche, an die Scholle geheftete Sclav sich in grimmem Zorn gegen seine adligen Peiniger erhob und haben ruhig zugesehen, wie der Adel mit Feuer und Schwert die gerechteste Erhebung, die die Welt gesehen, zu Boden warf; sie haben heute ihr angestammtes Recht der ruhigen Zuschauerschaft abermals siegreich zu wahren gewußt, und abermals verschuldet, daß der junge Tag der Freiheit sich nach wenigen Stunden in die alte Nacht verwandelt hat. Und wenn diese Nacht dennoch nicht ganz so finster ist, wem haben es die Drohnen, die sich so gerne im Glanz der Freiheit sonnen möchten, zu verdanken, als eben jenen politischen Verbrechern, als eben jenen hirnverbrannten Thoren, als eben jenen räuberischen Demokraten, die doch wenigstens den Muth haben, eine Büchse abzuschießen und eine Büchse auf sich abschießen zu lassen. Ja, meine Herren, in diesem Sinne nehme ich keinen Anstand, meine That, die ich im anderen Sinne als ein Verbrechen bezeichnen mußte, eine rühmliche That zu nennen. An diesen armen Menschen hier habe ich mich versündigt, um Sie aber habe ich mich verdient gemacht. Diese armen Menschen hier, die ich um das fragliche Glück ihrer Existenz betrogen habe, können mir fluchen, Sie aber, Sie sind mir eine Lorbeerkrone schuldig. Daß Sie Ihr Haupt noch so frei erheben können, wie Sie es thun, ist wahrlich nicht Ihr Verdienst, es ist das Verdienst des un sterblichen Gesindels, vor dem die Tyrannei mehr Respect hat, als sie sich merken läßt, von dem sie wohl in offener Feldschlacht, oder im Barrikadenkampfe, oder in den Wallgräben einer eroberten Festung so viele niederknallt, als sie irgend vermag, dem sie aber dann auch wieder Concessionen macht, – Concessionen, die Ihnen allein zu gute kommen. Aber verlassen Sie sich nicht allzusehr auf die schwieligen Fäuste, die ihnen zu dem constitutionellen Nothbau, in welchem Sie es sich nach Ihrer Weise behaglich machen, frohnden müssen, um selbst draußen jedem Ungemach der Witterung preisgegeben zu sein. Denken Sie bei Zeiten daran, das Gebäude so zu erweitern, daß auch jene dann Aufnahme finden! Sie möchten Sie sonst einmal zu sehr ungelegener Zeit aus dem Schlafe pochen! Bedenken Sie wohl, daß die sociale Revolution ist wie die Römische Sibylle, daß sie noch so oft mit schnöden Redensarten und schäbigen Geboten abgewiesen, immer wieder kommt, aber jedesmal um größeren Preis ein Geringeres bietet. Höret, Ihr Reichen und Mächtigen und Schriftgelehrten, auf die Stimme eines Mannes, der sich in diesen dunkeln, schwer verständlichen Büchern Kopf und Herz müde gelesen hat: zahlet den Preis, ehe es zu spät ist! ergreifet die schwielige Hand, ehe sie Euch zermalmt! machet Friede mit dem Proletar, dem blinden Simson, bevor er – denn einmal müßte und würde er es thun – die morschen Säulen einreißt, und sich und Euch unter den Trümmern begräbt. – Wenn ich denken könnte, daß dieser Mahnruf nicht unverstanden an den Wänden dieses Saales verhallte, wenn ich denken könnte, daß das Genie unseres Volkes, indem es die Lösung der großen politischen und socialen Fragen sucht, mit uns nur Experimente angestellt hätte, an denen wir freilich zu Grunde gehen, aus denen es aber für die kommenden Geschlechter das rettende Gesetz entdeckt – o, so will ich für mein Theil gern ohne Ruhm und ohne Dank von dem Schauplatze abtreten und, komme, was da will, mich damit trösten, daß der Stein, den die Baumeister verwarfen, dennoch zu der Ecksteine einem geworden ist. Und möge dieser Gedanke auch sie trösten, die mich lieben! Mögen sie an jenem herrlichen Morgen, wenn die Banner, die jetzt in den Staub getreten sind, von allen Zinnen und Dächern wehen und die goldne Sonne freudig herabstrahlt auf ein freies Volk, meiner ohne Schmerz gedenken, mögen sie mir die Anerkennung nicht versagen: er hat im Leben viel geirrt und viel gefehlt, aber er ist gestorben für sein Ideal, für die einige deutsche Republik.«
Mit athemloser Stille hatten die Hunderte und Hunderte, die den Gerichtssaal bis in die fernsten Ecken füllten, dieser Rede gelauscht; jetzt, als Münzer bleich und erschöpft auf seine Bank zurücksank, brach ein Sturm los, als sollten diese Mauern aus ihren Fugen gesprengt werden. Es war kein Hurrah, es war kein Lebehoch – es war ein Getöse, wie prasselnder Donner, oder das Krachen eines mächtigen Katarakts. Man sah Frauen in Thränen zerfließen; man sah Männer, die mit den Zähnen knirschten und die geballten Fäuste drohend in die Luft stießen.
Das pergamentne Gesicht des Präsidenten war noch gelber geworden; man sah, wie er in seiner Angst flehende Blicke zu Münzer hinüber warf. Münzer erhob sich, trat an die Barriere heran und hob die Hände ruheheischend empor. Und plötzlich, wie diese Raserei losgebrochen war, verstummte sie auch wieder, und wieder herrschte lautlose Stille.
Der Präsident glaubte diesen Augenblick benutzen zu müssen; er erklärte mit zitternder Stimme, daß das Publikum den Gang der Verhandlung störe und in Folge dessen den Saal zu räumen habe.
Es lag auf der Hand, daß es nur eines Winkes von Münzer's Hand bedurfte, und diese Hunderte, deren Blut bis zum Wahnsinn erhitzt war, hätten sich, wie ein entfesselter Strom, über die Barriere gestürzt, hätten Richter, Geschworene, Büttel – Alles, was sich ihnen entgegenstellte, zerrissen, unter die Füße getreten, zermalmt. Aber Münzer gab den Wink nicht. Seine Worte: »Mir zu Liebe! ich bitte Euch!« fielen wie Oel in die von neuem dumpfaufbrausende Wuth.
Alles erhob sich, still feierlich, wie wenn der Priester den Segen auf die Gläubigen vom Himmel herabfleht. Man sah, wie Peter Schmitz auf Clärchen Münzer zuging und ihr den Arm bot, um sie hinaus zu geleiten. Dr. Holm folgte ihnen. In dem furchtbaren Gedränge war mit einem Male eine Gasse wie durch einen Zauber aufgethan. Weinende Augen, schmerzlich starre, ehrfurchtsvolle Gesichter. Und hinter ihr schloß sich die Gasse wieder, und langsam wälzte sich der Strom durch die weit geöffneten Flügelthüren, die Corridore entlang auf den Platz vor dem Justizpalast, wo er in die Tausende mündete, die hier des Ausgangs des Processes harrten.
Und alle die Tausende entblößten ihre Häupter, als Clärchen jetzt, von Peter Schmitz und Holm begleitet, die Freitreppe hinab in die Equipage stieg, in welcher die beiden Herren ebenfalls Platz nahmen.
Es fehlte nicht viel, so hätte das Volk die Pferde ausgespannt und die Gattin des Mannes, in welchem sie jetzt einen Märtyrer der Freiheit sahen, im Triumph nach Hause begleitet.
Die Aufregung pflanzte sich von dem Platze durch die ganze Stadt fort. Ueberall sah man Gruppen beisammen stehen, in denen die neuesten Nachrichten aus dem Justiz-Palast besprochen wurden. Die Sitzung kam erst um elf Uhr Abends zu Ende; Münzer und die Hälfte der Angeklagten war zu längeren und kürzeren Gefängnißstrafen verurtheilt worden; man hörte, daß Münzer in aller Heimlichkeit durch einen verborgenen Gang in sein Gefängniß zurückgeführt sei. Erst lange nach Mitternacht verliefen sich die Menschenmassen von dem Platz vor dem Justizpalast.
Aber der nächste Tag brachte noch Außerordentlicheres. Erst als unverbürgtes Gerücht, dann immer bestimmter, zuletzt als, freudige Gewißheit durchflog es die Stadt: Der Wagen, in welchem man Münzer bei Nacht und Nebel habe wegtransportiren wollen, sei kurz vor dem Dorfe Rheinfelden von einer Schaar bis an die Zähne bewaffneter, maskirter Reiter angehalten, die begleitenden Gensd'armen trotz ihrer verzweifelten Gegenwehr entwaffnet und in die Flucht geschlagen und Münzer entführt worden. Menschen, die sich in ihrem Leben nicht gesehen hatten, erzählten es sich auf der Straße. Hat man keinen Verdacht! – Verdacht die Hülle und Fülle; aber wo anfangen, wo aufhören? Die halbe Stadt ist im Complot. – Wissen Sie's denn schon? – Ja freilich! – Auch daß bei Peter Schmitz und Frau von Hohenstein Haussuchung gewesen ist? – Sie werden schwerlich was gefunden haben. – Gott bewahre! – Müssen aber brave Kerle gewesen sein! – Ja, das wollt' ich meinen. Wär' für mein Leben gern dabei gewesen. – Und wohin glauben Sie – he? – Die französische Grenze ist nicht weit. Und für gute Passe werden sie ja auch wohl gesorgt haben! ha, ha, ha!
Unterdessen spielten die Telegraphen und flogen reitende Boten nach allen Seiten. Die ungeheure Keckheit, mit welcher der Streich ausgeführt war, hatte den Zorn der Behörden entflammt und sie zur energischsten Thätigkeit angespornt; aber es vergingen ein, zwei, drei Tage und noch immer war auch nicht die mindeste Spur weder der Entführer, noch des Entführten aufgefunden worden.