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Auf seinem Jagdschloß Fürstenstein saß der Herzog vormittags in seinem Arbeitskabinett am Schreibtisch, als die Herzogin durch eine Tapetenthür, die in ihre Gemächer führte, hereintrat. Der Herzog legte das Aktenstück, in welchem er gelesen, aus der Hand und erhob sich.
»Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe,« sagte die Herzogin. »Ich höre von der Seeberg, Graf Bassedow ist angekommen, und du hast ihn zum Frühstück befohlen. Du weißt, ich interessiere mich für seinen Fall und möchte mich gern orientiert zeigen. Könntest du mir wohl den Brief, den er dir noch nach Berlin von Pommern aus geschrieben hat, zu lesen geben?«
»Gewiß,« erwiderte der Herzog, einen Schubkasten an dem Arbeitstisch aufziehend und aus einem Konvolut, das die Aufschrift »privat« trug, einige Blätter nehmend. »Es sind aber zwei Briefe.«
»Schadet nicht. Stört es dich, wenn ich sie hier lese?«
»Nicht im mindesten.«
»Du kannst ruhig weiterarbeiten.«
»Danke.«
»Er nahm sein Aktenstück wieder zur Hand; die Herzogin ging zu einem der Fenster; blickte ein paar Momente nach zwei Rehen, die drüben aus den Buchen auf den Rand der Wiese getreten waren, ließ sich in einen Fauteuil sinken und begann zu lesen.
Polchow bei Greifswald.
6. Juli 86, 2 Uhr nachts.
Gnädigster Herr!
Ew. Hoheit haben die Gnade gehabt, ausführlichen Bericht über die hiesigen Ereignisse von mir zu fordern. Ich beeile mich, Ew. Hoheit Befehlen nachzukommen. Da die Depesche von hier, die mich heute vormittag in Berlin erreichte, nachdem ich kaum das Glück gehabt hatte, Ew. Hoheit eine halbe Stunde lang gesprochen zu haben, keinerlei Details enthielt, halte ich es für geboten, diese vorauszuschicken.
Oder ein Detail enthielt die Depesche doch, und das für mich entscheidend war. Der Ausbruch jeder anderen Krankheit hätte mich nach dem, was vorgefallen, zur Rückkehr keineswegs bewegen können; geistiger Umnachtung gegenüber, von der ich nicht wußte, wann sie ihren Anfang genommen, durften Unmut und Zorn nicht standhalten. Hier war nur eine Empfindung verstattet: Mitleid mit einem grenzenlosen Unglück.
Zum Ausbruch, auch für andere unverkennbar, war die Krankheit gegen drei Uhr nachts gekommen, um dieselbe Zeit also, in welcher ich, den Frühzug zu erreichen, von Selchow nach Greifswald unterwegs war. Ein reitender Bote, den man mir eine halbe Stunde später gesandt hatte, konnte mich deshalb nicht mehr treffen. Glücklicherweise hatte ich meinem Diener die Adresse meines Berliner Hotels hinterlassen. Dagegen durfte ein nach Greifswald gesandter Wagen nicht bloß mit dem Professor Guttmann zurückkehren, einem berühmten Psychiater (wenn ich das Wort richtig schreibe), sondern auch mit dem Geheimrat Lombard, von dem ich Hoheit sagte, daß er nach Bonn zurückgekehrt sei. Er war aber, wie er mir nun mitteilte, in Greifswald geblieben, weil ein eigentümlicher Ausdruck in den Augen der Tochter während einer letzten Unterredung ihn so stutzig gemacht habe, daß er nicht wagte, die Reise fortzusetzen. Wenn ich das gewußt hätte, Hoheit! auch nur hätte ahnen können, daß ich es mit einer Kranken zu thun hatte! jene schreckliche Scene nur die Offenbarung einer sicher schon seit längerer Zeit vorbereiteten Krankheit war! –
Inzwischen hatte sich, noch bevor ich wieder in Polchow eintraf, herausgestellt, daß menschliche Kunst, die doch mich seiner Zeit in einem wohl recht ähnlichen Fall gerettet hatte, hier kaum etwas vermögen werde. Und was war an mir gelegen! Aber sie! sie! Ich habe den Professor Guttmann gebeten, mir die Wahrheit zu sagen. Er hat mir aus der schrecklichen Alternative kein Hehl gemacht: längeres schwerstes, in Tod endendes Siechtum; oder ein sehr plötzliches, vielleicht in kürzester Frist durch Gehirnschlag eintretendes Ende. Das letztere sei bei der hochgradig nervösen Natur der Kranken und der ungeheuren Heftigkeit, mit der die Krankheit aufgetreten, das Wahrscheinlichere. Und, wie er als Arzt sagen müsse: Wünschenswertere – weitaus Wünschenswertere. O, mein Gott!
Ich stelle alles Gott anheim und danke ihm, daß von der überaus peinlichen Scene, deren Verlauf ich Ew. Hoheit andeuten zu müssen glaubte, und von der ich nicht ahnte, daß Fräulein Lombard mit jedem Blick, jedem Wort bereits im Bann der entsetzlichen Krankheit stand, hier niemand etwas weiß und wissen kann, da sie ohne Zeugen stattfand, und der Brief, in welchem ich den Vorfall dem Herrn Geheimrat in Bonn melden wollte, erst in Berlin geschrieben werden sollte, nachdem ich wieder in Besitz der sich geziemenden Ruhe gelangt war. So konnte ich meine Fahrt nach Berlin durch einen mir telegraphisch zugegangenen Befehl Ew. Hoheit schicklich erklären.
Man hat mich nicht zu der Kranken gelassen; aber versprochen, mich zu rufen, falls nach Gottes Ratschluß das Ende eintreten sollte.
Sieben Uhr morgens.
Gnädigster Herr!
Man rief mich um fünf Uhr und sagte mir: es gehe zu Ende. Verstatten Ew. Hoheit, daß ich eine Schilderung der folgenden Scenen auch nicht einmal versuche! Ich erkannte die Leidende kaum wieder; so völlig hatten Krämpfe ihr Gesicht entstellt. Jetzt, da sie tot, ist sie schön wie je. Ich möchte sagen: schöner; erlöst von dem Fluch des Trotzes gegen Gott, der ja ihre Krankheit war; und den Gottes Gnade – so glaube ich zuversichtlich – im Tode von ihr genommen hat.
Ew. Hoheit werden es in der Ordnung finden, wenn ich dem Begräbnis beiwohne. Es ist außerdem noch verschiedenes Geschäftliche zu erledigen.
Ew. Hoheit wollen die Gnade haben, zu befehlen, wann und wo ich mich wieder vorstellen soll.
Polchow bei Greifswald, 9. Juli 86
Gnädigster Herr!
Das Begräbnis hat heute in früher Stunde stattgefunden unter Umständen, die so außergewöhnlich sind, wie die Lage, in die ich mich hier verstrickt sah und deren Wirrsal wohl nur der Tod des einen oder des anderen von uns lösen konnte.
Es wird mir schwer, es auszusprechen: Fräulein Lombard wollte sich nicht nur nicht zum Christentum bekennen – sie hatte sich, wie ich jetzt erfuhr, auch von dem jüdischen Glauben losgesagt, bereits vor Jahren, in einer Broschüre, die sie, während sie in Zürich ihren Studien oblag, hatte drucken lassen, und in welcher sie ihren Standpunkt zu rechtfertigen versucht hat. Ich habe die Broschüre nicht gelesen, und werde sie nicht lesen. Fielen doch in unserer letzten schrecklichen Unterredung Worte von ihren Lippen, die weit hinausgingen über alles, was die Broschüre enthalten kann. Worte, die ich der Toten nicht mehr anrechnen darf, wie grausam ausschlaggebend sie auch für mich in dem Augenblicke waren. Ach, Hoheit, in welch schwerem Dunkel tappen wir armen Menschen doch bei allem redlichen Willen, das Rechte und das Gute zu thun –
Verzeihen, Hoheit, die Verwirrung dieses Briefes! Mir ist der Kopf so wüst; das Herz so schwer –
Ich wollte vom Begräbnis sprechen.
Wie die Umstände nun einmal traurig lagen, durfte der sehr gewissenhafte Vater an eines nach jüdischem Ritus nicht denken; von einem christlichen konnte selbstverständlich nicht die Rede sein.
In meinem Parke von Selchow findet sich in einer abgelegeneren Partie ein flacher, kreisrunder Hügel von etwa fünfzig Meter im Durchmesser, der im Laufe der vielen Jahre mit Epheu fußhoch versponnen ist. Aus seiner Mitte ragte ein anderthalb Meter hoher Stein in Pyramidenform, der auf der Spitze eine Kugel trug und auf der Vorderseite eine Inschrift zeigte, die das Alter beinahe völlig verwischt hatte. Auf einer Promenade, die ich mit der Verstorbenen machte, fiel ihr die wirklich recht eigenartige Stelle auf, und sie äußerte: einen schöneren ewigen Ruheplatz könne sie sich nicht denken. Ich solle ihr versprechen, daß sie dort bestattet werde, falls das Schicksal sie vor mir abrufen sollte.
Hoheit! es war eine Stunde, in der man einer Dame, die man liebt, alles gern gewährt!
Wir ließen jetzt die Stelle untersuchen. Unter dem Stein, der entfernt und an einer anderen Stelle des Parkes wieder aufgerichtet wurde, fand sich nichts. Wir brauchten also keinen Grabesfrieden zu stören, um ihr an diesem Orte ihrer Wahl die Ruhestätte zu bereiten. Ich darf sagen, daß die Beisetzung, welche in Gegenwart einiger Damen und Herren, Freunden und Freundinnen der Verstorbenen, der Dienerschaft von Polchow und meinen Leuten stattfand, und bei welcher Professor Guttmann einige schöne Worte sprach, der Feierlichkeit nicht entbehrte. Auf Wunsch des Vaters soll eine Platte aus schwarzem Marmor das Grab bedecken, auf der in goldenen Lettern nur ihr Vorname steht. Ich habe meine Einwilligung gegeben.
Mit einer Wärme, die mich innigst rührte, hat der Geheimrat mich gebeten, unsere auf das Zustandekommen der Ehe hin getroffenen Abmachungen auch jetzt gelten lassen und mich weiter als seinen Schwiegersohn, respektive Erben betrachten zu wollen. Aus Gründen, die ich Ew. Hoheit nicht einmal anzudeuten brauche, habe ich diesen gewiß hochherzigen Vorschlag des alten würdigen Herrn ablehnen müssen; dafür mit ihm vereinbart, daß Schloß und Park Selchow nach meinem Tode in seinen Besitz übergehen, dessen ganzes Vermögen im Falle seines Ablebens ausschließlich zu wohlthätigen Zwecken verwandt werden soll.
So ist denn meine ökonomische Situation genau dieselbe, wie sie vor dieser so überaus leidvollen Episode meines Lebens war. Ich armer, kurzsichtiger Mensch! der ich glaubte, mit meinem Leben abgeschlossen zu haben! Und dem Gottes unerforschlicher Ratschluß vorbehalten hatte, hier in meiner erträumten Zurückgezogenheit von der Welt binnen weniger Wochen alle Lust und alles Weh zu erfahren, das ein Menschenherz treffen kann! Möge Gott mich nun genug geprüft haben!
Was die Ausführung meiner bescheidenen Absichten für die Zukunft angeht, setze ich heute, wie neulich, meine Hoffnung in die Güte Ew. Hoheit.
Dem erhaltenen Befehle gemäß, werde ich mich am Dienstag in Fürstenstein vorstellen und Ew. Hoheit, sowie Dero erlauchter Gemahlin, der Frau Herzogin, königliche Hoheit, meine Ehrerbietung zu Füßen legen.
*
Die Herzogin hatte die Blätter gelesen und in den Schoß sinken lassen. Der Herzog wandte sich im Sessel.
»Nun? was sagst du?«
»Ich sage: es ist ein großes Glück, daß aus der Heirat nichts geworden ist.«
»Warum?«
»Weil es sonst ein kolossales Unglück gegeben hätte.«
»Meinst du?«
»Wie du fragst! Solche Differenzen könnte nur die größte Liebe überbrücken. Von der ist doch hier nichts zu spüren.«
»Wenn du Bassedow kenntest, würdest du konzedieren müssen, daß ihm wissentlich kein unwahres Wort von den Lippen kommt. Er hat das Mädchen geliebt – grenzenlos.«
»So dann: sie nicht ihn.«
»Selbst das ist mir nicht sicher. Ich habe über den Fall viel nachgedacht und bin zu der Überzeugung gekommen: hier haben zwei Menschen den Kampf der differenten Charaktere, Temperamente und so weiter, der sonst erst in der Ehe ausgefochten zu werden pflegt, schon als Brautleute engagiert, was denn, da die Bande noch nicht fest geknüpft sind, leicht zu einer Katastrophe führt. Dazu bedarf es manchmal nur einer Bagatelle, die zur Gelegenheitsursache wird. Zum Beispiel eine zur unrechten Zeit gestellte Frage um den Vortritt. Daß die Sache, die sonst wohl ins Banale verläuft, hier eine so tieftragische Wendung nahm, scheint mir die Folge von Momenten, die zweifellos zum Teil individueller Natur sind, zum Teil aber sicher mit gewissen krankhaften Dispositionen und Tendenzen der Menschen von heute im innigsten Konnex stehen.«
»Das fasse ich nicht ganz.«
»Ich erkläre dir gelegentlich, wie ich's meine. Für den Augenblick wollte ich dich nur bitten, wenn die Rede auf das Hofmarschallprojekt kommt, nicht etwa in ihn dringen zu wollen. Ich, als alter Kamerad, kann mir zur Not ein Refüs von ihm gefallen lassen; du kannst es nicht.«
»Du meinst, er bleibt bei seinem nach meiner Ansicht ganz absurden afrikanischen Projekt?«
»Du hast ja gelesen: in seinen Augen ist die Situation unverändert. Bitte, gieb mir die Briefe!«
Der Herzog schloß die Briefe in das Schubfach.
»Nun ja,« sagte die Herzogin, »den Luxus eines armen Oberhofmarschalls können wir uns allerdings nicht gewähren. Er wäre mir freilich noch immer lieber als ein reicher mit einer Dame als Gattin, die von Haus aus Jüdin war. Nicht meinethalben – ich denke und fühle darin ganz wie du – wohl aber ihrethalben, die man es doch sicher gelegentlich hätte fühlen lassen. Und da du ihn doch einmal gerne um dich hättest – wenn ich ein paar tausend Mark aus meiner Schatulle zulegte – damit ginge es am Ende doch.«
»Und ich bitte dich: gieb den Gedanken definitiv auf. Ich kenne meinen Bassedow. Was der sich in den Kopf gesetzt hat, das führt er durch.«
»Aber ein früherer Gardeoffizier in der afrikanischen Schutztruppe!«
Der Herzog zückte die Achseln.
» que voulez-vous! Man hat ihn im Militärkabinett wirklich zu leicht fallen lassen. Hätte ich eine Ahnung davon gehabt! Als ich es erfuhr, war es zu spät.«
»Aber in Afrika!«
Der Haushofmeister erschien:
»Hoheit! der Herr Graf Bassedow.«
»Ich lasse bitten.
Der Graf trat, in das Gemach. Der Herzog erschrak: der Mann, den er vor acht Tagen in Berlin gesehen, schien um das Doppelte an Jahren gealtert.
»Ach, lieber Graf! Freue mich herzlich. Dies, liebe Luise, ist mein alter Regimentskamerad, von dem ich dir so viel erzählt!«
Der Graf küßte der Herzogin die Hand; die Herzogin war sehr gnädig. Der Haushofmeister meldete, daß das Frühstück serviert sei.
Im Frühstückssalon harrten der Kammerjunker von Bohl und der Geheime Kabinettsrat Amsler, die befohlen waren, der Herrschaften. Der Graf kannte nur den Kammerjunker. Der Herzog stellte ihm den Kabinettsrat vor. Während die Herren, ein paar Worte wechselnd, sich voreinander verneigten, flüsterte die Herzogin mit einem Blick auf den Grafen dem Herzog zu, als dieser ihr, ehe noch ein anderer zuspringen konnte, das Taschentuch, das sie hatte fallen lassen, überreichte: »Der kommt aus Afrika nicht wieder.«
»Ich bin überzeugt: eben darum geht er hin,« flüsterte der Herzog zurück.
* * *