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9

Seit ein paar Tagen hauste der Graf wieder in seinem Schloß, wanderte wieder durch seinen Park. Nach dem Reichtum des Herrenhauses von Polchow, der Lieblichkeit des blumenreichen, sorgfältig gepflegten Gartens dort, der Eleganz, die ihn von allen Seiten umgeben hatte, kam ihm, was er nun sah, unsäglich armselig, öde und trostlos vor. Und so erschien ihm sein ganzes Leben.

Aber es war nun einmal sein Schicksal. Er mußte sich damit abfinden.

Wie mit der Leidenschaft, die er von Polchow mit herübergebracht; und von der er jetzt in seiner Einsamkeit erst fühlte, welch tiefe Wurzeln sie in seinem Herzen geschlagen. Hätte es nicht die kaum wieder gewonnene Gesundheit aufs Spiel setzen heißen, er wäre seiner Sehnsucht gefolgt und den weiten Weg zu ihr zu Fuß gelaufen, wie ein Schuljunge.

Sie ließ sich jeden Tag nach seinem Befinden erkundigen und schickte junges Gemüse, Eingemachtes in zierlichster Verpackung. Meistens waren die Sendungen von einem Billettchen begleitet, in welchem sie ihn bat, sich auf jede Weise zu schonen und sich ihr Küchenregime par distance gefallen zu lassen. Die Antworten wurden ihm entsetzlich schwer. Er mußte ein paar höfliche Phrasen zu Papier bringen, während er doch nur immer hätte schreiben mögen: Ich liebe dich. Ich sterbe vor Sehnsucht nach dir.

Und den versprochenen Besuch schob sie von Tag zu Tag hinaus: sie werde kommen, sobald sie die Überzeugung habe, daß er sie ohne Überanstrengung durch Schloß und Park führen könne. So gekräftigt sei er entschieden noch nicht. Überhaupt sei er ihr viel zu früh aus der Schule gelaufen, und sie habe darüber mit Doktor Wachsmut ein sehr ernstes Wort geredet. Ihr guter alter Vater würde ihn gewiß noch nicht fortgelassen haben. Aber junge Leute – zu denen sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren die um die dreißig herum noch sehr rechne – hätten eben keinen Verstand. Er möge ihr die Freundschaft erweisen und eine Ausnahme von der Regel machen.

Als er das Billet – es war das zuletzt erhaltene – las, war sein Auge auf dem Worte Freundschaft haften geblieben und dann wieder zu ihm zurückgekehrt, um abermals auf ihm zu verweilen, als sei es der Schlüssel der Situation. Sie, der die Worte im Reden und Schreiben so zur freiesten Verfügung standen, hatte dies sicher nicht ohne Absicht gebraucht. Warum nicht: »mir zu Liebe,« wie man doch für gewöhnlich sagte, ohne sich viel dabei zu denken? Weil sie gefürchtet hatte, er könne der Fant sein, sich etwas dabei zu denken. Er könne sich einbilden, daß, weil er sie liebe – wie sollte das ihrem Scharfblick entgangen sein! – sie ihn wieder lieben müsse! Oder wenn nicht das, so doch: ich weiß, du würdest mir zu Liebe alles thun. Aber ich habe keine Freude an deiner Liebe; ich mag sie nicht. Kannst und willst du mir deine Freundschaft gewähren; kannst und willst du in dem amikalen Verhältnis des Nachbarn zum Nachbarn unter Austausch von großen und kleinen Gefälligkeiten – wie's eben kommt: hinüber und herüber –; in dem Verhältnis des Kavaliers zur Dame; des Junggesellen zum alleinstehenden Fräulein – willst du so weiter mit mir leben, biete ich dir die Hand.

Und siehst du, mein Freund, wenn ich so lange gezögert habe und zögere, zu dir zu kommen, wie ich versprochen, ist es, weil ich dir Zeit lassen wollte, dir das klar zu machen. Gieb mir ein Zeichen, daß es dir klar geworden ist! Ich durch dein Schloß, deinen Park gehen kann an deiner Seite, ruhig, wie ich mit dir durch mein Haus, meinen Garten gegangen bin!

Der Bote von Polchow, der heute das Freundschaftsbillet mit dem obligaten zierlichen Körbchen überbracht, war längst wieder fort, diesmal ohne Antwort, über die der Graf allzulange gegrübelt. Nun wußte er, was er zu schreiben hatte. Er setzte sich in der Bibliothek an den Tisch, auf dem noch der Ivanhoe zwischen den anderen Scottschen Romanen stand, und brachte langsam, jedes Wort erwägend, die Zeilen fertig:

 

###

»Mein gnädiges Fräulein!

Ihre Freundschaft ist mir so wertvoll, daß, bedürfte es dafür wirklich noch der Beweise, Sie ganz andere von mir fordern könnten, als den, mich nicht stehenden Fußes aufzumachen und in Polchow als ›aus dem Revier entlassen‹ vorschriftsmäßig zu melden. Ich könnte es wohl, denn, dank der so umsichtigen, fortgesetzten Pflege, wachsen meine Kräfte mit jedem Tage und werden bald das Normalmaß wieder erreicht haben. Aber ein alter Soldat, wie ich, weiß, was es heißt: Ordre parieren. So werde ich ruhig auf meinem – nebenbei schauderhaft langweiligen – Posten ausharren, bis ich abgelöst werde. Ich hätte beinahe geschrieben: erlöst. Brauche ich Ihnen, gnädiges Fräulein, zu sagen, worin für mich die Erlösung besteht?

Ihr – wie Sie sehen – wirklich ganz gehorsamster

Kurt Bassedow.«

 

Der Graf war, als er es überlas, mit diesem Elaborat zufriedener, als er es sonst mit seinen schriftlichen Erzeugnissen zu sein pflegte. Er meinte, wäre er in dieser Stimmung gewesen, als er vor ein paar Wochen seine Memoiren schreiben wollte, der Versuch wäre weniger unglücklich ausgefallen. Daß er es ihr, einzig ihr zu verdanken habe; das bißchen Geist, das ein sehr wohlwollender Leser in seinem Briefchen etwa spürte, nur ein schwächster Wiederschein von dem Glanze des ihren sei, dessen war er sich völlig bewußt.

Wie dem auch sein mochte, sie sollte es heute noch in ihren wundervollen weißen Händen haben.

*

Peters wurde aus dem Park gerufen, wo er an dem Kugelfang des Pistolenschießstandes arbeitete, für den der Graf nun doch die Zeit gekommen glaubte, und sollte sich mit dem Billet nach Polchow auf den Weg machen.

Es war wieder ein sehr heißer Tag. Aber das und die unliebsame Unterbrechung in seiner Arbeit war es nicht, was Peters ärgerte.

»Nanu!« rief seine Frau, als sie aus der Waschküche in die Stube kam und ihn fand, wie er seinen guten Rock abbürstete, während er dabei wütend durch die Zähne pfiff. »Wo geht denn die Reise hin?«

»Wo wird sie hingehen!« brummte Peters. »Nach Polchow. Wohin sonst?«

Und er fuhr in die Rockärmel und setzte seine Dienstmütze auf.

»Nu sei mal ausnahmsweise nicht dumm,« sagte die Frau, ihm die schwarze Binde, die sich verschoben hatte, zurechtrückend. »Wenn er die Jüdsche partout zur Frau Gräfin machen will, du kannst es nicht hindern und ich auch nicht.«

»Nu ne!« brummte Peters.

»Na also! Und wenn wir dann nicht lieb Kind bei der Gnädigen sind, dann fliegen wir. Verstehst du? Ich ärgere mich schon genug, daß ich ihr damals so grob gekommen bin. Nun fehlt man bloß, daß du auch den Brummbär spielst. Dann ist es mit dem Kastellan im Schloß und der Frau Kastellanin Essig.«

»Mich schickt der Herr Graf nicht weg.«

»Ich sage dir: wir fliegen. Darauf kannst du Gift nehmen. Lehre du mich die Jüdschen kennen! Die sind so hart wie Flintenstein. Wenn einer sechs Jahre lang Köchin bei Kommerzienrats Schmalbach gewesen ist, dann kennt er das. Verstehst du?«

Und Frau Peters schob ihren Mann zur Thür hinaus.

*

Der Graf hatte Peters ausdrücklich gesagt, daß »keine Antwort« nötig sei. Dennoch wurde er sehr ungeduldig, als Stunde auf Stunde verging und Peters noch immer nicht zurück war, Es konnte doch sein, daß sie etwas erwiderte, und wäre es auch nur ein mündliches Wort. Ein Gruß. Irgend etwas.

So kam der Abend heran. Der Architekt – er war bereits den ganzen Nachmittag im Schloß gewesen, ohne sich zu melden – klopfte an und fragte, ob er den Herrn Grafen störe?

Der Graf bat, näher zu treten.

»Wir sind heute abend fertig geworden,« sagte Herr Bartels. »Ich habe die Rechnungen und Belege mitgebracht, die der Herr Graf zu prüfen die Güte haben wollen. Die Totalsumme geht vierhundertzweiundfünfzig Mark über den Voranschlag hinaus. Der Herr Graf werden sich erinnern, daß ich Sie sofort auf die Möglichkeit aufmerksam machte.«

»Ich erinnere mich,« sagte der Graf.

»Die Arbeiten sind gut und dauerhaft ausgeführt,« fuhr Herr Bartels fort, ein Konvolut Papiere auf den Tisch legend. »Der Herr Graf werden sich davon überzeugen. Ich habe mir die Überwachung der Leute um so angelegener sein lassen, als der Herr Graf leider krank waren und selbst nicht nach dem Rechten sehen konnten. Was trotz der scheinbar großen Kosten geschafft ist, ist freilich nur das eben Notwendige. Indessen, es ist doch ein solider Grund gelegt, auf den man sich verlassen kann, im Falle der Herr Graf vielleicht später einmal weitere Reparaturen an dem Bau vornehmen will. Er verdient es schon. Wir haben desgleichen in der ganzen Provinz nicht. Auf dem Lande gewiß nicht.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Graf. »Ich werde die Papiere da durchsehen und Ihnen morgen eine Anweisung auf meinen Banquier in Greifswald schicken.«

Er machte eine leichte Verbeugung zum Zeichen, daß er die Unterredung für beendet halte. Herr Bartels zögerte; der Graf blickte verwundert auf: »Ist noch etwas?«

»Wenn ich mir noch ein Wort verstatten dürfte,« sagte der junge Mann, den breitrandigen weichen Hut langsam durch die Hände drehend. »Der Herr Graf haben mich, als ich zuerst kam, so freundlich aufgenommen; so gütig mit mir gesprochen. Das dauerte ungefähr acht Tage. Dann – dann wurde es plötzlich anders. Ich habe mir vergeblich den Kopf zerbrochen, wodurch ich mir das Mißfallen des Herrn Grafen zugezogen haben kann. Ich würde dem Herrn Grafen dankbar sein, wenn Sie mir es sagen wollten.«

»Ich glaube, die Höflichkeit gegen Sie niemals aus den Augen gesetzt zu haben,« erwiderte der Graf kühl.

»Gewiß nicht!« sagte Herr Bartels eifrig. »Darüber beklage ich mich auch nicht. Beklagen ist überhaupt nicht das richtige Wort. Es ist nur –«

»Nun wohl,« entgegnete der Graf, als der andere betreten schwieg. »Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen! Ich habe aus Ihrem Munde Äußerungen gehört, politischer Natur und anderes der Art, die mir äußerst mißfielen. Ich maße mir keine Kontrolle über ihre Gesinnungen an; wohl aber vindiziere ich mir das Recht, auf den genaueren Verkehr mit solchen zu verzichten, von denen ich weiß, oder zu wissen glaube, daß ihre und meine Gesinnungen durchaus entgegengesetzte sind.«

»Der Herr Graf halten mich für einen Socialdemokraten,« sagte der junge Mann, den Kopf hebend und den Hut jetzt fest in den Händen haltend. Ich muß es gestehen: ja, ich bin es. Aber wenn der Herr Graf mein Leben gelebt hätten: eines armen Maurermeisters Sohn, der es sich blutsauer hat werden lassen müssen, bis er es zum Baumeisterexamen bringen konnte; und dann, wie wir bei unserem Beruf täglich Gelegenheit haben, in die Verhältnisse der kleinen Leute, all die Not, all das Elend, hineingesehen hat und sich tausendmal gefragt hat: muß denn das so sein? ist denn da gar keine Abhilfe möglich? Ja, Herr Graf, da kommen einem allerhand sonderbare Gedanken über die Leute, die die Gesetze machen; und über das, was von den Kanzeln als Christentum gepredigt wird; und –«

»Bitte, brechen wir ab!« unterbrach ihn der Graf. »Dies führt zu nichts. Ich gehöre zu denen, die Gott und den König ehren; Sie zu denen, die Gott und den König nicht ehren. Damit ist die Situation völlig klargestellt. Guten Abend!«

Der junge Mann verbeugte sich und ging.

Der Graf blickte ihm ein paar Momente nach und fing an, in dem dämmerigen Gemach auf- und abzuschreiten.

Er war nicht zufrieden mit sich. Was er gesagt, konnte er verantworten. Aber das Wie! Warum seine böse Laune nicht still in sich verwinden? Und der junge Mann hatte ihn zuletzt so traurig angesehen! Da war nun wieder einer, der betrübt, gekränkt, beleidigt aus diesem Zimmer von ihm ging. Jetzt der junge Mann, damals der alte Herr. Ihr Vater! Würde sie ihm recht geben, wenn sie diese Unterredung mit angehört hätte? Was wußte er denn, wie sie über Gott und den König dachte? Und er liebte sie! Wie er sie liebte!

Es kamen Schritte über den Flur. Endlich!

»Nun, Peters, was bringen Sie?«

Peters brachte nichts. Das gnädige Fräulein war über Land gewesen. Frau Krafft hatte gesagt: sie wisse selbst nicht recht, wohin. Er habe gewartet und gewartet, weil er gemeint, der Herr Graf würde am Ende doch gern eine Antwort –

»Es ist gut,« sagte der Graf. »Bringen Sie die Lampe!«

Peters ging. Der Graf trat an eines der Fenster und stierte in den Park, auf dessen Baumwipfeln ein letztes Abendrot verglühte.

»Warum sie mich nur nicht da am Wege hat liegen lassen! So wäre jetzt längst alles aus.«

* * *


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