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Graf Kurt Bassedow besichtigte seinen Parkgarten. Er ging langsam und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um zu sagen: »Peters, diesen Gang wünsche ich von dem Unkraut gereinigt! – Peters, diese Hecke muß verschnitten werden.« Worauf Peters, der immer zwei Schritte hinter ihm blieb, die Brust andeutungsweise herausdrückte und im ordonanzmäßigen Ton erwiederte: »Zu Befehl, Herr Graf!«
Der Graf bog in einen Gang ein, der von struppigen Haselnußbäumen völlig überwölbt wurde und in gerader Linie bis zum äußersten Ende des Parkes führte. Peters hielt es für an der Zeit. Er trat dem Vorausschreitenden an die linke Seite und stellte sich völlig in Positur: »Wenn ich jetzt den Herrn Grafen gehorsamst allein lassen dürfte?«
»Was haben Sie vor?«
»Holzhacken, Herr Graf.«
Über des Grafen Gesicht flog ein Schatten. Aber er sagte nichts, als: »Gehen Sie, Peters!«
Peters machte vorschriftsmäßig auf den Hacken kehrt und ging nach dem Hause zurück, der Graf weiter den Haselnußgang hinab.
Er war gestern nachmittag nach der langen Eisenbahnfahrt vom Genfer See herauf, die er, aus Sparsamkeitsrücksichten, ohne Unterbrechung, wenn auch erster Klasse zurückgelegt, zu ermüdet gewesen, Schloß und Park einer genaueren Inspektion zu unterziehen. Weshalb auch? Zeit dazu würde er noch genug haben. Vielleicht den ganzen Rest seines Lebens. Sehr wahrscheinlich sogar. Er war sich darüber ganz klar gewesen, als er vor ein paar Tagen in Ouchy – genau ein Jahr, nachdem er den Dienst quittiert – seine Bilanz aufstellte und nach einigermaßen komplizierter und infolgedessen langwieriger Berechnung herausfand, daß die Zinsen seiner letzten hunderttausend Mark zu einem Aufenthalt in der Fremde nicht reichten. Auch wenn man gar keine Sprünge machte, sondern nun schon über sechs Monate in dem langweiligsten aller Nester festklebte, an seiner halben Flasche vin du pays zwei Mittage trank und in dieser erbärmlichen Weise weiterknauserte. Zum Beispiel die für die Unterhaltung von Schloß und Park und der Petersschen Eheleute angesetzte Summe reduzierte. Das ging nicht: sie war so schon bescheiden genug. Und ein paar hundert Mark mehr würden den mageren Kohl auch nicht fetter machen.
Dann hatte er geraume Zeit am Fenster – qui donnnait sur le lac – gestanden und überlegt, ob er Miß Arabella Greene heiraten solle. Man hatte ihm die junge Dame auf dem Präsentierteller angeboten. Erst der umfangreiche Papa Greene, der irgendwo in England sehr engros in Eisen arbeitete, dann die klapperdürre Mama Greene, schließlich Edward Greene, Lieutenant in ihrer Majestät Flotte, offenbar auf Urlaub nach Ouchy kommandiert, sich den Schwager in spe anzusehen und seine Meinung über ihn abzugeben. Übrigens ein ganz leidlicher Bursch. Freilich das einzig Leidliche an der ganzen Familie, Miß Arabella inklusive. Die blauen Augen – na, das ging zur Not. Aber dann die mütterliche Bohnenstangenfigur, knapp einen Zoll kleiner als er selbst, und die fürchterlichen langen weißen Hände und endlosen platten Füße! Aber hunderttausend Pfund sofort zur Mitgift, und eine runde Million nach dem Tode der Eltern. Davon konnte zur Not auch ein preußischer Graf leben.
Ein dicker Nebel hatte sich, während er so am Fenster stand und hinausstarrte, über den See gebreitet, daß jetzt nur noch die Spitzen der Savoyer Alpen drüben aus dem Dunst ragten. Selbst der Dampfer, der unmittelbar unter ihm an der Brücke anlegte, verschwand beinahe hinter dem blaugrauen Schleier. Desto deutlicher hörte er die Signalglocke und den Ruf des Kapitäns: débarquement! embarquement!
embarquement! das war das richtige Kommando.
Und er hatte nach dem Zimmerkellner geklingelt und um seine Rechnung gebeten.
Gott sei Dank, daß er der Versuchung nicht erlegen war! Es wäre zu ordinär gewesen.
Der Gang nahm ein Ende, mit ihm der Park, den hier, wie ringsum, eine mannshohe Mauer einschloß, von der überall der weißgetünchte Kalk in großen Stücken abgefallen war. Manchmal sahen die Flächen zwischen den etwas höheren, mit einer Kugel ornamentierten Pfeilern wie eine richtige Landkarte aus. An dieser Stelle war die Mauer neben einem großen Eisengitterthor von einem chinesischen Pavillon überragt, der auf vier hohen gewundenen Säulen stand. Von der hinaufführenden hölzernen Treppe fehlten ein paar Stufen, und die anderen waren so morsch, daß der Graf einige Vorsicht anwenden mußte, um nach oben zu gelangen. Aber als er vor zwanzig Jahren als Knabe hier sein Wesen getrieben, war der schon damals verlassene und vernachlässigte Pavillon sein Lieblingsplatz gewesen. So überkam ihn denn doch etwas wie Wehmut, als er, die unverschlossene Thür aufdrückend, den kleinen Raum betrat. Ein muffiger Duft kam ihm entgegen. Kein Wunder! An den beiden Fenstern – das eine nach dem Park, das andere nach den Feldern – fehlte wohl die Hälfte der vergilbten, in Blei gefaßten Scheiben; Wind und Regen hatten freien Zutritt gehabt. Diversen kühnen Spatzen war der Vorteil nicht entgangen: sie hatten sich bei Unwetter hier hineingeflüchtet oder an schönen Sommerabenden Mottenjagden angestellt und überall sichtbare Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen. Auch der Anfang zu einem Nest war gemacht worden, das Unternehmen schien sich aber an der wackeligen Konsole, auf der ein ausgestopfter, stark vermauserter Seeadler stand, als zu schwierig erwiesen zu haben. Die Möbel – ein kleines, gradlehniges Sofa, vier Stühle, alle mit grünem Rips überzogen; ein runder Tisch mit eingelegter Platte auf einem plumpen Fußgestell – befanden sich in der kläglichsten Verfassung. Aus den von Motten zerfressenen, von den Spatzen zerhackten Überzügen quoll überall das Roßhaar hervor; ein Stuhl, an dem der Graf ein wenig rückte, verlor sofort zwei Beine.
Das Fenster nach den Feldern war besonders hart mitgenommen; der verquollene Rahmen ganz vermorscht. Als der Graf, es zu öffnen, einige Gewalt anwandte, brach der eine Flügel mit den Haspen heraus und fiel klirrend nach unten. So hatte er den Blick völlig frei.
Den Blick in eine Landschaft, ihm so völlig vertraut, als hätte er sie gestern und nicht vor zwanzig Jahren zum letztenmal gesehen. Da an der Waldlisiere rechts hatte er seinen ersten Hasen auf dem abendlichen Anstand geschossen. Dort links auf dem Wege, der sich in einiger Entfernung in beinahe gerader Linie durch die Felder zog, hatte ihn der Pony, den ihm die Eltern zu seinem Geburtstage geschenkt, ein paar Tage später abgeworfen, und er war mit gebrochenem Schlüsselbein und arg zerschunden in das Schloß zurückgekommen; der Pony aber erst in Polchow wieder eingefangen. Polchow! Das mußte da in der Thalsenkung liegen hinter der Tannenschonung. Die war aber inzwischen sehr gewachsen: man konnte nicht mehr, wie früher, darüber weg und den Gutshof sehen. Desto besser: so brauchte er sich bei dem Anblick nicht zu ärgern, daß Hof und Gut jetzt dem Juden gehörten. Freilich: nach rechts hin, wo sich zwischen den Tannen und dem mit gemischtem Laubholz bestandenen letzten Ausläufer des langgestreckten Hügels, auf dessen Abdachung Schloß und Park von Selchow lagen, weit die Ebene öffnete: dort Brandshagen, etwas nach links Voigthagen, hinter den beiden Faschwitz mit dem stumpfen Kirchturm – das alles war seiner Väter, noch seines Vaters so gut wie schuldenfrei ererbtes Eigen gewesen. Und der Vater hatte es mit Schulden überlastet und dann verschachert, Stück für Stück, bis alles in den Händen des Juden war. Und wieder Juden waren die Inhaber der Bank gewesen, der er nach dem Verkauf von Selchow auf den Rat des Rechtsanwalts – dieses Esels, den er für ein Wunder von Pfiffigkeit gehalten – seine sämtlichen Aktien – volle zwei Drittel seines Vermögens – in Depot gegeben, und die dann ein Jahr darauf, nachdem man sie mit ihren angeblichen fünfzig Millionen für bombenfest erklärt, zusammenklappte wie ein Kartenhaus. Wenn sich die Schufte bei der Gelegenheit erschossen hatten – seine zweihunderttausend war er los. Nicht einen roten Dreier hatte er wieder zu sehen gekriegt. Es war schon ein Vergnügen eigener Art, sich mit Juden in Geschäfte einzulassen!
Graf Kurt beschloß, den Pavillon zum ersten und letztenmal betreten zu haben. Mochte der alte Kasten vollends in Trümmer gehen! Hinter der Parkmauer war er vor dem widerwärtigen Blick auf die verlorene Herrlichkeit gesichert, und im Park standen, Gott sei Dank, die alten Buchen und Eichen zu hoch und dicht, als daß man selbst aus den Hinterfenstern des Schlosses über sie weg hätte ins Land sehen können.
Die Treppe schien ihn beim Wort nehmen zu wollen. Als er sie mit geringerer Vorsicht hinabstieg, brachen die mittleren Stufen unter seiner Last zusammen; nur ein schneller Sprung bewahrte ihn noch eben vor einem möglicherweise recht bösartigen Sturz.
Er wollte auf dem Rückweg nach dem Schlosse die Kapelle mitnehmen. So hielt er sich jetzt rechts, erst an der Mauer hin, dann, nach links abbiegend, durch eine größere Gruppe uralter Eichen, die noch kaum Laubknospen angesetzt hatten, und in deren nach den Wipfeln zu abgestorbenem, völlig kahlem, riesigem Geäst die Krähen ein vergnügliches Leben führten. Sie waren es auch wohl, die dem kleinen Vogelvolk den Aufenthalt im Park verleideten: sehr selten, daß einmal eine Meise zirpte, oder ein Fink rief.
Das that Kurt leid. Eines musikalischen Ohrs konnte er sich nicht rühmen – war es ihm anfänglich doch selbst nicht leicht geworden, die Trompetensignale zu unterscheiden – aber am Vogelsang hatte er von jeher seine Freude gehabt. Die Krähen wollte er abschießen. Nur daß er doch auch ihr Krächzen eigentlich gern hörte! Und zur Winterzeit, wenn Schloß und Park still unter ihrer Schneedecke lagen, würden sie doch etwas Leben in die melancholische Sache bringen.
Nun, melancholisch genug war die Sache jetzt schon. In seiner Phantasie hatte sich ihm das Spielrevier seiner Kinder- und ersten Knabenjahre immer als etwas wie eine Wildnis präsentiert; aber in einem Licht, das ihm als romantisch galt, und voller geheimnisreicher Dunkelheiten, die zu ritterlichen Abenteuern lockten. Mit der Wildnis hatte es insofern noch seine Richtigkeit, als man seit Jahren und Jahren hier alles hatte stehen und liegen lassen, ohne mit einer Hand daran zu rühren; aber von ihrem einstigen Zauber verspürte er nichts mehr: die verwachsenen Hecken; die vom wuchernden Unkraut fast unkenntlich gemachten Wege; die verwüsteten Blumenrabatten; die von Maulwürfen durchwühlten Rasenplätze; die greulich verwitterten Sandsteinfiguren; das große, völlig verödete Gewächshaus mit den zerschlagenen Glaswänden – es beleidigte alles nur auf das empfindlichste seinen Ordnungs- und Sauberkeitsinn. Im Sommer würde es sich ja zweifellos besser machen als jetzt, wo nur die Büsche, Faulbäume und andere niedere Sorten mit zartem Grün überlaufen waren, die Buchen eben erst ihre großen braunen Knospen getrieben hatten und die alten verwitterten Eichen meistens noch völlig kahl standen – eine Wüstenei blieb es doch. Um sie zu einem erfreulichen, menschenwürdigen Aufenthalt umzuschaffen –
Der Graf fing an zu rechnen: ein Dutzend Arbeiter, der Mann so und so viel für den Tag, macht die Woche – lächerlich! woher sollte der Packen Geld kommen! Also ein halbes Dutzend! das mochte eher gehen. Aber wenn man statt der Woche einen Monat in den Kalkül setzte, ergab sich doch wieder eine unerschwingliche Summe. In Anbetracht besonders, daß für Reparaturen im Schloß unbedingt etwas übrig bleiben mußte, sollte es ihm nicht eines Tages über dem Kopf zusammenfallen. Dann, vorausgesetzt, er kam mit dem Leben davon, hatte er in der That ›kein Hüsung‹, wie es bei Fritz Reuter hieß.
Als er die unverschlossene Kapelle betrat, verabschiedete er energisch so gemeine, für den geweihten Ort höchst unschickliche Gedanken und nahm pietätvoll den Hut ab. Gott sei Dank, hier war noch alles, wie er es sich aus seiner Kinderzeit erinnerte: dort links von der Kanzel der abgeschlossene, etwas erhöhte Herrschaftsstuhl, wo er mit den Eltern, der Schwester, ihrer Gouvernante und seinem Erzieher gesessen hatte; hier, durch das Schiff, die niedrigeren, schmalen Bänke für die Dienerschaft, die Arbeits- und Katenleute. An den Pfeilern zwischen den hohen, spitzigen Fenstern die beinahe bis zur Unkenntlichkeit vor Alter eingedunkelten Bilder in ihren schwarzen Rahmen; die spärlichen Zierate von schwebenden Engeln, welche von der Decke herabhingen; an den Wänden die Votivtafeln und Bronzeleuchter. Es war auch alles so weit reinlich gehalten, wofür er Frau Peters seinen besonderen Dank zu sagen nicht vergessen wollte. Aber was bedeutete denn das? Auf dem Hochaltar vor dem Madonnenbilde stand eine Staffelei, vor der Staffelei einer der Rohrsessel aus dem herrschaftlichen Stuhl, neben dem Sessel ein Malkasten mit Malstock und Palette.
Dem Grafen stieg eine Zornröte in die Stirn, als er die leichte Hülle von der Staffelei abgenommen hatte und fand, was zu finden er nicht bezweifelt: eine Kopie des heiligen Bildes, im verkleinerten Maßstab freilich und vorläufig noch bloß untermalt, wie der Ausdruck ja wohl lautete, nur hier und da ein paar lebhaftere Farben aufgesetzt – unverkennbar aber als das, was es werden sollte. Wie hatten Peters oder seine Frau oder beide diese Frechheit dulden können? Wer hatte sie dazu angestiftet? Ein vagierender Künstler vermutlich, der Gott weiß wie das Bild entdeckte! Natürlich nur durch eine Indiskretion der Peters, denen er doch – aus guten Gründen – strenge Ordre gegeben, keinem Menschen den Eintritt in Schloß und Park zu gewähren! Und hier, nach dem Zustand der Kopie zu schließen, war es offenbar auf wiederholte, auf eine Reihe von Besuchen abgesehen. Er wollte dem Burschen das Handwerk legen!
In der Absicht, die Petersleute sofort zur Rede zu stellen, hatte er bereits ein paar Schritte vom Hochaltar weg nach dem Ausgang gemacht, als er zu seinen Füßen in dem schmalen Gange zwischen den Bänken ein Taschentuch liegen sah, das er vorher nicht hatte bemerken können, da er von der anderen Seite unter der Kanzel hin zum Altar gelangt war. Er hob das Tuch auf: es war von feinstem Batist, nur ein ganz wenig zerknüllt und hauchte einen milden Veilchenduft aus; also das Eigentum einer Dame. Deren Namensinitialen B. L. waren, wie die eine Ecke auswies. B. – Bertha, Beata, Bertalda? Ein weites Feld! Und L.? ein noch viel weiteres.
Plötzlich zuckte der Graf ein wenig zusammen und ließ das Tüchelchen fallen. Der jüdische Mann drüben hieß Lombard und hatte eine Tochter, wie ihm irgend jemand einmal gesagt. Sich so ohne Erlaubnis einzudrängen und christliche Bilder zu kopieren, die sie gar nichts angingen – noch dazu dies Bild! – das war ja die Art der Sippe. Nun Fräulein Bertha, oder wie sie sonst hieß, sollte weiter von ihm hören!
Er stand an der Thür zur Turmtreppe, die er hinaufstieg, in seiner Erregung immer zwei der ausgetretenen, hier und da bröckligen steinernen Wendelstufen auf einmal nehmend. Ziemlich atemlos gelangte er zur Galerie, aus der nur noch eine Holzleiter in die oberste Spitze führte. Durch die freien Öffnungen zwischen den Säulchen der Galerie strich ein frischer Wind. Das that ihm wohl. Eigentlich war es doch ein Unsinn und unwürdig dazu, sich über die Sache so aufzuregen. Er hatte nur zu befehlen, daß in Zukunft niemand wieder in den Park gelassen würde. Damit basta! Und aus zwei Anfangsbuchstaben, von denen überdies nur einer stimmte, einen Schluß zu ziehen, war auch recht gewagt. Am Ende kam es doch auf die betreffende Person nicht an, sondern auf die Sache: darauf, daß er hier von niemand belästigt werden wollte.
Diese Reflexionen machte der Graf, während er ein Etwas betrachtete, das in einiger Entfernung wie ein wunderlicher, an die Wand gehefteter großer, aus Holz geschnitzter Kasten ausgesehen hatte. Näher tretend, bemerkte er, daß der große Kasten aus Hunderten und Hunderten winzig kleiner Kästchen bestand, die alle genau von derselben Form aus Holzplättchen, -Stäbchen und -Fasern mit wundersamer Kunst gefertigt waren. Er erinnerte sich, von den ingeniösen Bauten der Wespen gehört oder gelesen zu haben. Dies war jedenfalls ein solcher Bau. Und verlassen. Völlig. Würden die Bewohner wiederkommen? Wenn sie's thaten, sie fanden ihr Schloß in besserer Verfassung, als er das seine gefunden hatte.
Da lag es unmittelbar vor ihm; er konnte durch die gardinenlosen Fenster von seinem erhöhten Standpunkt bequem in die leeren Zimmer sehen. Aus der Geschichte der Familie wußte er, daß der kurz vor dem Schluß des sechzehnten Jahrhunderts unter dem Regime des Grafen Kurt Waldemar fertig gestellte Bau – man hatte dazu den Meister und selbst einen großen Teil der Handwerker aus Italien verschrieben – in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges von den Kaiserlichen unter Wallenstein rein ausgeplündert und auch sonst arg verwüstet war. Sie hatten kaum so schlimm gehaust wie der Vater, der alles, was von der nach der Plünderung sorgsam wiederhergestellten Einrichtung irgend von bedeutenderem Wert war, Stück für Stück oder im Ramsch – je nach der Gelegenheit – verganterte. Dem Kinderauge mochte ja manches kostbarer erschienen sein, als es in Wirklichkeit war; immerhin mußte in den Bildern mit den breiten vergoldeten Rahmen, den Trumeaus, die von dem Fußboden bis zu den Plafonds reichten, den mächtigen Kronleuchtern von Krystall – sie waren, wenn es Gesellschaft gab und sie im Licht der angezündeten Kerzen so herrlich funkelten, des Knaben besondere Freude gewesen – ein großer Wert gesteckt haben. Dazu die mit Mosaik oder schönen Hölzern eingelegten Tische; die geschweiften Kommoden mit den reichen Messingbeschlägen; die seidenen oder gestickten Sofas und Stühle; die Gobelintapeten; die Wandspiegel von venetianischem Glase; die Kannen, Krüge, Fayencen, Nippes auf den Kaminsimsen, Wandgestellen, Möbeln; die Sammlungen von Münzen und geschnittenen Steinen – alles ausgeräumt, ausgefegt, wie mit dem Besen, bis auf Gerümpel und Plunder, das keinen Käufer mehr gefunden hatte.
Und der Käufer? wer anders, als der alles kaufte; die ganze Welt kaufte oder noch einmal kaufen würde: der Jude!
Da war er wieder an dem toten Punkt, über den seine grollenden Gedanken nicht weg konnten!
Er lachte kurz und bitter.
Von ihm gab es nichts mehr zu kaufen.
Wenn es zum Äußersten kam, sprengte er die baufällige Ruine da vollends in die Luft und begrub sich unter den Trümmern.
Einen Blick warf er noch auf das Wespenest, das schließlich doch auch nur eine Ruine auf Abbruch war, und stieg die Wendeltreppe wieder hinab.
Unten in der Kapelle kam ihm Peters entgegen, außer Atem.
»Suchen Sie mich?«
»Zu Befehl, Herr Graf. Habe den Herrn Grafen schon überall gesucht –«
»Wem gehört das da?«
Er hatte nach der Staffelei auf dem Altar gedeutet; Peters' borstiger Schnurrbart geriet ins Zucken. Daß dich der! Da hatte die Alte das Zeug doch stehen lassen! und er hatte ihr ausdrücklich befohlen, es wegzuräumen, bevor der Herr Graf in den Park und dann auch gewiß zu der Kapelle kämen!
»Nun?«
»Dem gnädigen Fräulein in Polchow!« murmelte Peters.
»So! Also erstens merken Sie sich, daß das kein gnädiges Fräulein ist! Zweitens: wenn Sie noch einmal hier einen Menschen hereinlassen, sind wir geschiedene Leute. Verstanden?«
»Zu Befehl!«
»Und nun packen Sie die Geschichte da zusammen; man wird es sich schon abholen. Da, zwischen den Bänken, liegt noch ein Taschentuch. Das soll Ihre Frau in ein sauberes Papier wickeln und zu dem übrigen Kram legen.«
»Zu Befehl, Herr Graf.«
»Was wollten Sie sonst von mir?«
Der Schnurrbart kam wieder ins Zucken, jetzt sogar stärker als vorhin. Die Kommission war ihm schon fatal genug gewesen trotz des Zehnmarkstückes in der rechten Westentasche, das sie ihm bereits eingetragen. Und nun, nachdem ihm eben der Kopf so gewaschen! Aber hier gab's weiter kein Fisematentenmachen. Also: rin in die Kartoffeln!
»Ich soll den – Herrn dem Herrn Grafen melden,« stotterte er, eine Visitenkarte produzierend, die er bis zu dem Augenblick in der großen roten Faust zu verbergen gewußt hatte.
Kurt nahm die Karte, sehr verwundert, daß ihn jemand aufsuchte am ersten Morgen nach seiner Rückkehr, von der kein Mensch etwas wissen konnte: Professor Dr. J. Lombard. Geheimer Sanitätsrat.
»Das wird immer netter,« murmelte der Graf.
Die Sache fing an, ihn zu amüsieren: Eben die Tochter! jetzt der Vater! Erst die Invasion des auserwählten Volkes in das Vorwerk der Kapelle; nun in die Hauptfestung des Schlosses! Er wollte mit dem Vater nicht mehr Federlesens machen als mit der Tochter.
»Er war schon da, als ich vorhin zurückkam,« fuhr Peters fort, durch die freundlichere Miene des Herrn Grafen wesentlich ermutigt. »Ich wollte ihn anfangs nicht melden. Da gab er gute Worte. Sagte, er müsse morgen zurückreisen nach –- habe den Namen nicht recht verstanden – Bonne oder so was – müsse notwendig mit dem Herrn Grafen sprechen.«
»Gut. Wo haben Sie ihn hingeführt?«
»In die Bibliothek, Herr Graf.«
Die Bibliothek war ein saalartiges Zimmer des oberen Stockes, in welchem sich in Schränken und auf Gestellen noch einige Rudera der einstigen stattlichen Bücherei fanden. Kurt hatte sie gestern abend nach einer flüchtigen Besichtigung eines Teiles der übrigen Räume vorläufig zu seinem Wohnzimmer gewählt, weil er aus den Fenstern in seinen Park sah und nicht, wie aus den Vorderzimmern, auf den Gutshof, der ihm nicht mehr gehörte. Dann auch aus pietätvoller Reminiscenz an den lieben alten Kandidaten, der ihm hier seine ersten Schulstunden gegeben und ihm – weiß Gott! – die Sache leicht genug gemacht hatte. Die Peters hatten schließlich noch ein paar Möbel – Tisch, Sofa, ein halbes Dutzend Stühle, alles merkwürdigerweise ungefähr zusammenpassend – aus verlorenen Bodenräumen aufgestöbert und eine Art von Ordnung hergestellt.
»Dann muß der Herr schon eine halbe Stunde gewartet haben?« sagte Kurt.
»Es wird wohl beinahe eine Stunde sein, Herr Graf.«
»Gehen Sie voran, Peters! Sagen Sie dem Herrn, daß Sie mich jetzt erst gefunden und ich um Entschuldigung – nein! das ist nicht nötig. Sagen Sie nur, daß ich ihn empfangen wolle. Trab!«
Peters lief voraus; der Graf folgte langsam. Solches Besuchs wegen brauchte man sich nicht zu beeilen.
*
Er war durch eine Hinterpforte in das Schloß getreten. Über das Vestibül nach der Treppe zugehend, sah er durch die halb offen stehende Portalthür den vorderen Teil der eleganten Halbchaise mit dem Kutscher auf dem Bock, neben dem, ihm selbst den Rücken zukehrend, ein Diener stand – beide in einer Livree, die dem Geschmack ihrer Herrschaft keine Unehre machte. Mehr als Wagen und Dienerschaft interessierten ihn die Pferde, deren vollen Anblick er hatte: zwei prachtvolle Rappen – Trakehner – Vollblut. Der alte Kavallerist regte sich in ihm. Er wäre gern herangetreten und hätte sich die Tiere genauer besehen.
Das hätte noch gerade gefehlt!
»Was sich diese Menschen leisten können!« murmelte er durch die Zähne, während er die Treppe hinaufstieg.
Eine Treppe, die unten in zwei schmäleren Fluchten begann, um in dem ersten Drittel der ganzen Höhe auf ein Podest zu münden, von dem sie in einer doppelt so breiten Flucht in einem Zuge bis nach oben führte – alles aus massivem, an den wuchtigen Geländern reich geschnitztem, vor Alter fast schwarz gewordenen Eichenholz.
Na, das können sie sich nun nicht leisten! dachte mit einem wohligen Gefühl innerer Genugthuung der Graf.
Auf dem oberen Flur kam ihm Peters entgegen, der ihm die Thür zur Bibliothek öffnete und hinter ihm wieder schloß.
Von einem der Stühle, die um den nicht eben großen, runden Tisch – ursprünglich ein Gartentisch – in der Mitte gestellt waren, erhob sich in rascher Bewegung der Geheimrat. Der Graf erblickte einen kleinen Herrn – fünf Fuß zwei Zoll nach seiner Taxe – gut, man konnte sagen: zierlich proportioniert; in einem schwarzen Anzuge aus dem Atelier offenbar eines ersten Schneiders; mit einem vielleicht ein wenig zu großem Kopfe, den ein dichter, nach oben strebender, völlig ergrauter, schicklich kurz geschorener Schopf, wie eine Perücke, bedeckte. Aus dem scharfen, nicht unschönen, glatt rasierten Gesicht blickten unter dichten, geradlinigen, noch ganz dunklen Brauen zwei große schwarze Augen ihm entgegen mit einem Glanz und einer durchdringenden Klarheit und Stetigkeit, wie er sie in anderen Menschenaugen gesehen zu haben sich nicht erinnern konnte, und die ihm, sehr wider seinen Willen, einen deutlich empfundenen Respekt vor dem kleinen Herrn einflößten.
Um so gemessener war seine Verbeugung und sein kurzes: »Graf Bassedow.«
Er hatte mit einer Handbewegung den Geheimrat eingeladen, wieder Platz zu nehmen, indem er zugleich für sich in gemessenem Abstand einen Stuhl zurechtrückte.
»Darf ich fragen, was mir – « Er hatte auf der Zunge: die Ehre Ihres Besuches, sagte aber statt dessen: – »Ihren Besuch verschafft?«
»Lassen sie mich Ihnen zuvörderst danken, Herr Graf, für die Güte, mich angenommen zu haben,« erwiderte der Geheimrat. »Ich kann mir denken, daß gleich in den ersten Stunden nach der Heimkehr von einem Besuch überfallen zu werden, nicht gerade zu den Annehmlichkeiten gehört. Auch hätte ich eine schicklichere Zeit gewählt, nur daß ich bereits morgen abreisen muß und die Sache, um die es sich handelt, lieber mit Ihnen persönlich erledigt sähe.«
Es wurde das sehr ruhig und ebenso höflich gesagt, worüber sich der Graf ärgerte, während doch sonst ein Mensch, der seine Ruhe nicht zu bewahren verstand und unhöflich wurde, sofort in seiner Achtung sank.
»Möchten wir dann ohne Umschweif zu der betreffenden Sache kommen,« sagte er mit einem leisen Accent auf dem Worte »Umschweif«.
»Die Sache ist die,« erwiderte der Geheimrat. »Sie haben, als Sie mir Selchow überließen, sich das Rückkaufsrecht kontraktlich gesichert. Unter denselben Zahlungsbedingungen hinüber und herüber. Die Respektsfrist läuft allerdings erst in zwei Wochen, genauer in siebzehn Tagen ab, und Sie sind in keiner Weise verpflichtet, Ihre Entscheidung vorher zu treffen. Vielleicht haben Sie sich aber bereits entschieden. Das würde mich insofern interessieren, als ich daraufhin eventuell das Nötige noch heute anordnen könnte – ich darf wohl sagen: zu unserer beiderseitigen größeren Bequemlichkeit.«
»Sie sind sehr gütig,« antwortete der Graf mit dem leisesten Anflug von Ironie im Tone seiner Stimme. »Unsere Angelegenheit ist, so viel ich sehe, in drei Worten erledigt: ich denke nicht daran und kann nicht daran denken, Selchow zurückzukaufen.«
Der Geheimrat blickte ein paar Momente starr vor sich hin, und der Graf glaubte ein Hm! zuhören. Dann sah er wieder die großen glänzenden schwarzen Augen voll auf sich gerichtet.
»Das thut mir aufrichtig leid, Herr Graf.«
Der Teufel soll mich holen, wenn das wahr ist, sagte der Graf bei sich mit einer Verneigung, die andeuten sollte, daß nach seinem Dafürhalten der Zweck des Besuches erreicht sei. Der Geheimrat schien das nicht zu bemerken oder bemerken zu wollen.
»Ich möchte um alles nicht indiskret sein,« sagte er; »aber da die Zeitungen seiner Zeit davon gesprochen haben, darf ich es ja wohl berühren: Sie haben bei dem schmachvollen Bankerott der Sternbergschen Bank große Verluste erlitten?«
Wieder verneigte der Graf sich stumm; der Geheimrat fuhr fort: »Man sprach von zweihunderttausend Mark. Da kann Ihnen allerdings von der Summe, die bei dem Verkauf von Selchow auf Ihr Teil kam, nur ein – in Anbetracht der Ansprüche, die Sie an das Leben zu machen berechtigt sind – bedauerlich kleiner Rest geblieben sein.«
Der Graf fand diese Bemerkung unverschämt; doch hielt er an sich und erwiderte, jetzt freilich mit unverhüllter Ironie: »Sie haben auffallend recht. Aber ich sollte meinen, Herr Geheimrat, bei Ihrer so – so eindringlichen Untersuchung meiner Angelegenheiten kann Ihnen nicht entgangen sein, daß Sie es hier mit einem hoffnungslosen Fall zu thun haben, über den weiter zu reden sich wirklich nicht der Mühe verlohnt.«
Er wollte sich jetzt alles Ernstes erheben und blieb dann doch sitzen wie gebannt von dem Blick der großen schwarzen Augen.
»Lassen Sie uns trotzdem noch ein wenig darüber reden! Vielleicht ist der Fall nicht so hoffnungslos, wie er scheint. Wir Ärzte sprechen überhaupt das Wort ungern aus. Machen wir doch zu oft die Erfahrung, daß die Natur noch Hilfsquellen hat, wo wir mit unserer Weisheit zu Ende sind. Es ist im socialen Leben nicht anders. Aber hier wie dort kommt viel darauf an, daß der Patient genesen will. In dem Maße, in welchem er besitzt, was Schopenhauer den Willen zum Leben nennt, erleichtert er dem Arzte sein Metier, das ja in nichts anderem besteht, als der Selbsthilfe der Natur seinerseits zu Hilfe zu kommen.«
Abermals machte der Graf eine ungeduldige Bewegung: »Sie verzeihen mir wohl das Geständnis, daß mir der Sinn Ihrer Rede völlig dunkel geblieben ist.«
»Ich will versuchen, mich ganz deutlich auszudrücken. Es ist mein aufrichtiger Wunsch, Sie möchten sich in Ihrer Lage so gern helfen lassen wollen, als ich bereit bin, Ihnen zu helfen.«
»Vermutlich in der Weise, wie Sie meinem Vater geholfen haben?«
In den schwarzen Augen zuckte ein Blitz auf; über die greisenhaft bleichen Wangen huschte eine jähe Röte und die Lippen bewegten sich ein paarmal tonlos. Dann hatte der Mann seinen Gleichmut zurück und ruhig sagte er: »Ich habe Sie vorhin gebeten, mich weiter anzuhören. Nach dem, was Sie eben gesagt, sind Sie dazu verpflichtet.«
Der Graf hatte sein Wort bereut, sobald er es gesprochen. Er durfte einen alten Mann nicht beleidigen, der seine Genugthuung nicht mit der Waffe in der Hand fordern konnte. Die er jetzt forderte, mußte er ihm gewähren.
»Bitte, sprechen Sie,« sagte er dumpf, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und die Augen schließend, wie jemand, der eine unvermeidliche Operation über sich ergehen läßt.
Noch eine kleine Pause. Dann hörte er wieder die ruhige Stimme: »Sie haben sich jetzt freilich selber zuzuschreiben, wenn ich weiter ausholen muß, als es vorher irgend in meiner Absicht lag; Dinge zur Sprache bringen muß, die ich um meinet- und Ihretwillen viel lieber nicht berührte; Ihnen sogar nicht ersparen kann, anhören zu müssen, wie ich zu meinem Vermögen gekommen bin, von welchem die Güter, die Ihre Familie so lange besessen hat, ein Teil sind.
Ich bin das einzige Kind sehr armer Eltern. Mein Vater, Rabbiner einer kleinen rheinischen Gemeinde, hatte kein Geld, mich auf der Schule und der Universität zu unterhalten: ich mußte mir mein tägliches Brot durch Stundengeben selbst verdienen. Dennoch hatte ich mit eben zwanzig Jahren meine Examina hinter mir und habe dann eine selten schnelle, vom Glück, wie ich dankbar anerkenne, stets begleitete Universitätscarriere gemacht. Mein Ruf verbreitete sich in sehr weite und, muß ich hinzufügen, sehr hohe Kreise, weil es erklärt, daß aus dem armen Mann bald ein wohlhabender wurde. Brachte mir doch eine einzige Konsultation am russischen Hofe hunderttausend Mark, eine andere in Konstantinopel das Doppelte! Ich, der ich ans Leben keinerlei Ansprüche stellte und keine Zeit zum Heiraten hatte – ich habe dazu das dreiundvierzigste Jahr herankommen lassen – wußte mit dem Gelde nicht, wohin. Ein geologischer College riet mir, es in den Aktien eines westfälischen Bergwerks anzulegen, als dessen Entdecker er sich rühmte. Sein Rat schien für mich sehr übel ausschlagen zu sollen. Die Aktien fielen und fielen; jeder suchte sie loszuwerden. Ich hatte sie zuletzt beinahe sämtlich auf dem Halse – nicht aus Spekulation, sondern meinem Ratgeber zu liebe, der hartnäckig bei seiner vorgefaßten Meinung blieb, während ich mein Geld bereits als verloren ansah, ohne darüber – ich darf es in Wahrheit versichern – den geringsten Kummer zu empfinden. Dann kam der von meinem Freunde prognostizierte Umschlag. Mächtige, wie es schien, unerschöpfliche Gänge wurden angeschlagen. Meine Aktien, die noch eben wertloses Papier waren, repräsentierten mit einemmal ein großes, sehr großes Vermögen. Das war vor dreiundzwanzig Jahren, zu eben der Zeit, in der ich die Bekanntschaft Ihres Herrn Vaters machte.«
Der Graf öffnete weit die Augen; er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß der Geheimrat seinen Vater persönlich gekannt. In den spärlichen väterlichen Briefen war dessen nie Erwähnung geschehen. Sein Interesse war nun doch erweckt. Aber weshalb sich das merken lassen?
»Bitte, fortzufahren!« sagte er in gleichgültigem Ton, die Augen wieder halb schließend.
»Ihre Frau Mutter,« begann der Geheimrat nach einer kleinen Pause von neuem, »war wenige Wochen vorher gestorben; Sie selbst hatte Ihr Herr Vater in eine Kadettenanstalt gethan, Ihr Fräulein Schwester in Pension; seinen Hausstand aufgelöst, um vorläufig auf Reisen zu leben. Er teilte mir das mit, während er mich – er war zu dem Zwecke eigens nach Bonn gekommen – wegen eines Herzleidens konsultierte, von dem er sich heimgesucht glaubte. Ich konnte ihn so weit darüber beruhigen: ein organisches Leiden lag nicht vor; aber etwas anderes, nicht weniger Schlimmes: das Nervensystem war in einer Weise angegriffen, daß man es wohl zerrüttet nennen durfte. Wie er in diesem Zustande, der sich kaum jemals wesentlich besserte, noch beinahe zwanzig Jahre hat leben können, ist der Beweis einer ganz ungewöhnlich kräftigen Konstitution, für die er der Natur so schlimmen Dank gewußt hatte, wie für die herrlichen Geistesgaben, mit denen sie ihn ausgestattet. Mir thut es weh, Herr Graf, das sagen zu müssen. Es gehört aber zur Geschichte; auch insofern, als es Ihnen vielleicht zu einer anderen und dann wohl milderen Beurteilung des Charakters und Wesens Ihres Vaters verhilft. Ich gehöre nicht zu denen, welche jede moralische Inferiorität durch eine obligate physische erklären und – entschuldigen zu können glauben. Bei Ihrem Vater aber lag die Sache in der That so, daß man sich fragen mußte, ob man ihn noch moralisch zurechnungsfähig nennen dürfe. Es wäre auch vielleicht für ihn und ganz gewiß für seine Kinder besser gewesen, man hätte ihn gerichtlich unter Kuratel gestellt. Aber das zu beantragen war nicht meines Amtes. Eine Denunciation an die Verwandten – deren übrigens Ihr Herr Vater wenig zu besitzen schien – ist immer mehr als mißlich. Und dann: wer ihn in diesem Augenblicke glaubte aufgeben zu müssen, den bestrickten im nächsten wieder die Anmut seines Betragens, seine geistreiche Sicherstelligkeit, sein Witz, seine muntere Laune. Diesem Zauber nicht zu unterliegen, hielt schwer. Wir Universitätsmänner lassen uns für gewöhnlich nicht leicht kaptivieren. Meine sämtlichen Kollegen, in deren Kreise er durch mich eingeführt wurde, waren seines Lobes voll. Ich hatte in den drei Jahren, seitdem ich meine Frau verloren, nicht gelacht; in seiner Gesellschaft lernte ich es wieder. Wir waren viel beisammen während der längeren Zeit, die er sich damals in Bonn aufhielt. Ich darf sagen, daß wir Freunde wurden. Die Insinuation einiger Übelwollenden, mit der Uneigennützigkeit dieser Freundschaft stehe es seinerseits nicht zum besten, wies ich voller Entrüstung zurück. Ich würde es noch heute thun, trotzdem –«
»Bitte sehr,« sagte der Graf, als der Geheimrat schwieg und nachdenklich den großen goldenen Knopf seines Stockes betrachtete; »bitte dringend, sich meinethalben keinerlei Zwang aufzuerlegen, Ich bin auf alles gefaßt. Der Anfang wird gewesen sein, daß er Sie um Geld gebeten und Sie es ihm geliehen haben?«
Der Geheimrat nickte.
»Er gestand mir, sich in großer Verlegenheit zu befinden. Die Güter habe er seiner Zeit sehr verschuldet übernommen, die Schuldenmasse dann allerdings durch schlechte Wirtschaft und einen übertriebenen Aufwand beträchtlich vermehrt. Das erstere, erfuhr ich nachträglich, stimmte nicht mit der Wahrheit; das zweite leider nur zu sehr. Vielmehr: er hatte die Schulden erst geschaffen und war in jeder Beziehung seines Unglückes Schmied gewesen: der Sklave seiner Leidenschaften. Seltsamerweise hatte ich, weil sie mir selbst so völlig fern lag, die schlimmste nicht in Rechnung gezogen, der er schon damals rettungslos verfallen war. Auch hatte er sie mit der Schlauheit der Kranken auf das sorgfältigste vor mir verheimlicht. Er mochte fürchten, ich würde ihm entgegnen, daß einem Spieler nicht zu helfen sei.
So denn half ich ihm. Es war eine sehr beträchtliche Summe; er erklärte, sich völlig damit arrangieren zu können. Ich hatte niemals einen Pfennig Schulden, niemals mit Schuldenmachern zu thun gehabt: ich wußte nicht, daß sie immer nur die halbe Wahrheit berichten. Eine Sicherheit hätte ich nicht verlangt; er drang sie mir auf; bestand darauf: die Summe wurde hypothekarisch auf die Güter eingetragen. Ich will die traurige Geschichte nicht unnötig verlängern. Seine unglückselige Leidenschaft machte jede Hilfe illusorisch. Die Verlegenheiten häuften sich von Jahr zu Jahr. Sie hatten vor jetzt zwölf Jahren wieder einmal einen so hohen Grad erreicht, daß er seine wohl erklärliche Scheu überwand und – was er seit langer Zeit nicht gethan – mich wieder in Bonn besuchte.
Ein trauriges Wiedersehen. Er war in heller Verzweiflung; bat, beschwor mich, ihm noch einmal beizuspringen. Ich sei seine einzige, seine letzte Zuflucht. Zöge ich meine Hand von ihm, bliebe ihm kein anderer Ausweg, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Ein härterer Mann als ich, hätte ihn beim Wort genommen. Einem Hilfeschrei mein Ohr zu verschließen, geht mir gegen die Natur. Daß hier eine Schwäche zu konstatieren ist, die, wie die Welt geht und steht, einmal der Lächerlichkeit verfällt, ein andermal sich gerechten Vorwürfen aussetzt – niemand weiß das besser, als ich selbst. Aber: naturam expellas furca – werden Sie nicht ungeduldig! Auch das gehört zu der Geschichte, die zu erzählen Sie mich gezwungen haben: es erklärt zum Teil mein Verhalten in dieser kritischen Lage der Dinge. Ich sage: zum Teil; denn andererseits wurden meine Entschließungen durch sehr reelle Motive beeinflußt. Vielleicht hätte ich einen wichtigen Umstand schon früher erwähnen sollen. Meine Hypotheken auf den Gütern Ihres Vaters hatte ich als unkündbar erklärt; andere Gläubiger waren weniger rücksichtsvoll. Drei der Güter: Brandshagen, Voigthagen und Faschwitz kamen in Subhastation. Wollte ich nicht mein sämtliches Geld verlieren, mußte ich sie übernehmen. Jetzt handelte es sich, konnte es sich nur noch um Polchow und Selchow handeln. Polchow war wenig, Selchow ziemlich schlimm belastet. Haben Sie sich nie gewundert, Herr Graf, daß auf Selchow keine Schulden standen, als es vor drei Jahren, der Erbteilung wegen zwischen Ihnen und Ihrer Frau Schwester, zum Verkauf kam? Ich muß es erklären, wie ungern ich es thue, aus Gründen, die aufzufinden ich Ihnen überlasse. Ich machte mich anheischig, Polchow zu übernehmen und Selchow von seinen Schulden zu befreien unter einer Bedingung. Der Bedingung, daß Ihr Herr Vater sein Ehrenwort darauf hin verpfändete, an Selchow nicht zu rühren, keine Schulden darauf zu machen, nicht einen Pfennig. Er hat sein Ehrenwort gehalten. Als die Versuchung, es zu brechen, ihm in fürchterliche Nähe trat – ich weiß es von einem Bekannten, der zugegen war: er hatte die Tage vorher der Bank ungeheure Summen abgewonnen, die er dann an dem Unglücksabend bis auf den letzten Frank verlor – da ist denn geschehen, was, wie die Umstände lagen, unvermeidlich war.«
Jetzt war es der Geheimrat, der sich erheben wollte, und der Graf, welcher ihn durch eine dringliche Bewegung zum Sitzenbleiben aufforderte: »Ich müßte mich sehr irren, Herr Geheimrat, oder diese Ihnen wie mir peinliche Geschichte – Sie wurden allerdings durch ein unbedachtes Wort dazu provoziert, für das ich nachträglich um Verzeihung bitte – mit einem Worte: ich glaube, ich habe noch immer den eigentlichen Grund, der Sie heute zu mir geführt – Sie deuteten vorhin etwas von einer Hilfe an, die ich – die Sie mir –«
Der unverkennbare Ausdruck von Verlegenheit auf dem Gesicht des stolzen Grafen hatte den Unmut des Geheimrats sofort beschwichtigt. Er fiel ihm in die gestotterte Rede: »Sie haben ganz recht. Ich hätte nach Ihrer Erklärung, Selchow nicht zurücknehmen zu wollen, gehen können; vielleicht gehen sollen. Dann hätten Sie allerdings den wirklichen Grund, warum ich gekommen bin, nicht erfahren. Er war, Ihnen im Fall einer – ich wiederhole es, und jetzt werden Sie es wohl kaum noch für eine Phrase halten – mir bedauerlichen Ablehnung, gewisse Propositionen zu machen, die Sie möglicherweise zu einer Änderung Ihres Entschlusses bewegen könnten.«
»Sie verpflichten mich zu einer Dankbarkeit –«
»Auf die ich keinerlei Anspruch erhebe. Die Sache ist einfach folgende. Sie haben Selchow für achthunderttausend Mark verkauft. Ich konnte – notabene: ich verstehe von der Sache ganz und gar nichts und mußte mich hier, wie früher, auf das Gutachten der Experten verlassen – ich konnte nicht mehr geben, weil Sie Schloß und Park von dem Verkauf ausgeschlossen wissen wollten. Das war – nach der Taxe meiner Gewährsmänner – gleichbedeutend mit einem Minderwert von zweihunderttausend, im Falle mir oder meinen Rechtsnachfolgern ein Weiterverkauf wünschenswert oder notwendig wurde. Nehmen Sie nun für den stipulierten Preis das Gut mit den beiden Vorwerken zurück, so ist das, wie Sie mir zugeben werden, da für Sie der Vollwert wieder eintritt, eine so weit vorteilhafte Acquisition. Ich würde sie Ihnen dadurch zu erleichtern suchen, daß ich die Rückzahlung in Form einer ersten unkündbaren Hypothek zu dem mäßigsten Zinsfuß acceptierte. Sie brauchten dann nur ein paar günstige Jahre, um sich in eine ganz leidliche Assiette zu bringen, mindestens in keine schlimmere, als in der sich heute zwei Drittel sämtlicher Landwirte befinden.«
Der Geheimrat schwieg, seinem Gegenüber Zeit zum Bedeuten eines so wichtigen, folgereichen Vorschlages zu lassen. Der Graf bedurfte dessen nicht. Noch während der Geheimrat sprach, war sein Entschluß gefaßt. Dem Manne sich zu Dank verpflichtet wissen, das Leben lang sein Schuldner sein – zehnmal lieber, wie sein Vater – eine Kugel vor den Kopf!
»Sehr obligiert,« sagte er, diesmal das deutsche Wort absichtlich vermeidend. »Leider beruht Ihre außerordentlich« – er konnte in der Eile nicht gleich den ihm genehmen Ausdruck finden – »coulante Proposition auf Voraussetzungen – mindestens einer Voraussetzung, die nicht zutrifft – ganz und gar nicht zutrifft. Ein Landmann würde vielleicht zugreifen – obgleich ein Gut mit einer solchen Schuldenlast zu übernehmen – selbst unter den günstigsten Bedingungen – nach meinen schwachen Begriffen wenigstens – eine ver – eine sehr riskante Sache ist. Aber ich bin kein Landmann; verstehe nicht die Bohne davon. Würde mich in aller Kürze in des Teufels Küche reiten. Bin Soldat. Jede Faser an mir. Wäre es heute noch, wenn – enfin: geht nicht. Schlechterdings nicht.«
»Damit ist denn freilich die Angelegenheit erledigt«, sagte der Geheimrat, sich erhebend und nach dem Hut greifend, den er im Anfang der Unterredung neben sich auf den Tisch gestellt hatte. »Nur noch dies. Ein Mann in Ihren Jahren, der mit Leib und Seele Offizier war, es heute und immer sein würde, wenn – ich vervollständige mir so Ihren abgebrochenen Satz – nicht mißliche Umstände ihn aus seiner Carriere gedrängt hätten, dürfte das Landleben auf die Dauer wenig erfreulich, vielleicht unerträglich finden. Wollten Sie dann Ihren Besitz hier veräußern – ich habe vorhin angedeutet, was mir das Gut mit Schloß und Park wert gewesen wäre. Sie werden mich jeden Augenblick bereit finden, die volle Differenz zu zahlen. Ich habe mich verständlich ausgedrückt?«
»Durchaus,« erwiderte der Graf. »Indessen halte ich es für mehr als unwahrscheinlich, daß ich Sie beim Wort nehme. Je weniger sorgsam mein Vater mit dem Erbe seiner Ahnen gewirtschaftet hat, um so mehr ist es meine Pflicht, den geringen Rest nicht auch noch in fremde Hände kommen zu lassen.«
»Ich kann Ihnen das durchaus nachfühlen,« sagte der Geheimrat.
Die Herren verbeugten sich gegenseitig, ohne sich die Hand zu reichen. Der Graf begleitete seinen Besuch bis an den Treppenansatz, wo er sich mit einer nochmaligen Verbeugung von ihm verabschiedete.
Der Geheimrat stieg die Treppe hinab.
*
Als der Graf in die Bibliothek zurückgekehrt war, trat er an eines der Fenster und starrte in den Park, ohne etwas zu sehen. Eine verdammte Geschichte! Gerade, wie bei seinem ersten Herrenreiten, wo der einzige Gegner, trotzdem er das notorisch schlechtere Pferd ritt, ihn so weit überholte, daß er schon willens gewesen war, aus der Bahn zu brechen, um nicht die Größe der Distance offenbar werden zu lassen. Der niederträchtige kleine Kerl mit den unheimlich großen schwarzen Semitenaugen und der lispelnden Zunge, die so geläufig sprach, die Worte so gut zu setzen wußte! Hatte ihn übers Ohr hauen wollen! Selbstverständlich! Ihm zuzumuten, das Gut mit einer solchen Schuldenlast zu übernehmen! Lächerlich! Damit er von vornherein in den Händen des Manichäers war, der ihm dann bald genug die Kehle vollends zuschnüren würde! Aber das hatte ihn nur kirre machen, auf eine falsche Fährte bringen sollen! Hernach war der Fuchs ja doch zum rechten Loch herausgekommen! Verdammt wollte er sein, wenn hinter dem einen Juden nicht schon wieder ein anderer stand, der für Selchow so viel geboten hatte, daß die zweimalhunderttausend, die er ihm für Schloß und Park bot, doppelt heraussprangen!
Und während der Graf in abgerissenen Sätzen so vor sich hin murmelte, hatte er durchaus die fatale Empfindung: er redete sich das alles nur so ein. In Wirklichkeit war der kleine alte Herr trotz alledem ein Gentleman, der sich von Anfang bis zu Ende sehr taktvoll benommen, sehr würdig. Ein verdammt Teil würdiger als er selbst. Der ganz offenbar in jeder Beziehung den kürzeren gezogen. Und sich fürchterlich blamiert hatte. In seinen eigenen Augen zweifellos. Und hundert gegen eins auch in den großen schwarzen Augen, die so niederträchtig scharf blickten! Hatte er doch bei Gott ein paarmal die Empfindung gehabt, er sei von Glas! Und nun noch die dumme Geschichte mit dem Bilde!
Das laute Gekrächz einer Krähe auf dem Wetterhahn der Kapelle hatte ihm die Bildangelegenheit in plötzliche unliebsame Erinnerung gebracht. Wieder eine Blamage! Na ja! Die Mama in ihren Mädchenjahren solle der Jungfrau auf dem Gemälde merkwürdig geglichen haben. Und das – ein kümmerlicher Rest von Pietät und Schamgefühl – war es auch wohl gewesen, was den Vater die gewiß wertvolle Reliquie nicht hatte verkaufen lassen, wie alles andere. So konnte es ihm keiner verdenken, wenn er nicht wollte, daß man an dem teuren Bilde herumgaffte, als hinge es in einer öffentlichen Galerie, und schließlich noch eine schlechte Kopie von ihm machte. Wer das Attentat verübt – das Judenfräulein oder ein anderer – war ja ursprünglich gleichgültig gewesen. Nach der Scene mit dem alten Herrn bekam die Sache einen häßlichen Anstrich. Jetzt sah es wie eine absichtliche Beleidigung aus. Eine Malice. Eine recht mesquine. Das mußte er redressieren.
Eine Klingel gab es in der Bibliothek nicht; und wäre eine dagewesen, niemand im ganzen Hause, der auf sie gehört hätte. Man mußte Peters zu finden suchen. Er hatte vorhin Holz hacken wollen. Möglicherweise war er noch dabei.
Der Graf setzte sich den Hut auf und ging hastig die Treppe hinab über den großen Flurraum durch einen langen engen Korridor zu einer Thür, die auf den Hof führte. Noch bevor er die Thür öffnete, vernahm er bereits das knarrende Rauschen von Peters' Säge. Peters, als er den Herrn Grafen erblickte, wollte in seinen Rock fahren, den er neben dem Sägebock auf eine Schicht Fichtenkloben gelegt hatte. Der Graf winkte ab.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, Peters, Sie können die Sachen in der Kapelle – die Malgeschichten, meine ich – da lassen. Und wenn die Dame wiederkommt, soll Ihre Frau ihr die Kapelle aufschließen. Sie kann sie auch fragen, ob sie vielleicht sonst etwas wünsche. Verstanden?«
»Zu Befehl! Es ist man von wegen –«
Peters mußte etwas in die Kehle gekommen sein: er räusperte sich umständlich.
»Von wegen was?« rief der Graf ungeduldig.
In diesem Augenblicke erschien auf der Schwelle der offen stehenden Thür des Leutehauses Frau Peters, das dicke Gesicht vom Küchenfeuer gerötet, einen Kochlöffel in der rechten Hand. Sie wollte, des Grafen ansichtig werdend, der ein so unbequemes Gewicht auf properen Anzug legte, sofort wieder verschwinden, konnte das aber nicht ausführen, da ihr Mann zu ihr hinüberrief, ob sie die Sachen von dem Fräulein in Polchow schon weggeschickt habe? Als ob er das nicht so gut wüßte wie sie! Aber wenn da eine Dummheit gemacht war, es sollte ihr einfallen, sie auf sich zu nehmen!
»Na, wie werden sie denn nicht weggeschickt sein!« rief sie und tauchte, nachdem sie den vergessenen Knix vor dem Herrn Grafen nachgeholt, in das Dunkel des Flurs zurück.
»Was heißt das?« fragte der Graf streng.
Peters, den seine Mieze so schmählich im Stich gelassen, mußte nun mit der Sprache heraus, trotzdem es augenscheinlich ein Donnerwetter geben würde.
Nachdem er dem Herrn Grafen die Thür zur Bibliothek geöffnet, habe er sich sogleich wieder an seine Arbeit gemacht und seine Frau nach der Kapelle geschickt, die Sachen zu holen. Eben, als sie damit zurückgekommen, sei ein Tagelöhner dagewesen, der mit irgend einer Bestellung von dem Inspektor nach Polchow mußte. In der Meinung, dem Herrn Grafen liege daran, die Sachen so bald als möglich los zu werden, habe er sie dem Manne, der ihm übrigens als ein ordentlicher Mensch bekannt sei, mitgegeben. Er solle sie nur in Polchow abliefern und dazu sagen, wenn er gefragt würde: der Herr Graf wünschten die Malerei in der Kapelle nicht.
Jetzt legt er los, dachte Peters, der wohl bemerkt hatte, daß während seines Berichtes das Gesicht des Grafen immer finsterer geworden war.
Aber es kam nichts. Der Herr Graf blickte nur noch ein bißchen starr so vor sich hin, sagte ganz ruhig: »Es ist gut!« drehte sich um und ging in das Schloß zurück.
Peters atmete erleichtert auf; spuckte sich in die Hände, zog die Säge, die in dem Kloben steckte, wieder an und sagte bei sich: »I, wo wird sich denn der Herr Graf mit der Bagage da drüben einlassen! Aber der Mieze werde ich das besorgen.«
*
Während der Geheimrat, in die Ecke des Sitzes gelehnt, das seidene Deckchen über den Knien, zwischen grünenden Feldern und Wiesen durch den leuchtenden Frühlingsvormittag nach Polchow zurückfuhr, ging ihm die lange Unterredung, von der er kam, sehr durch den Kopf.
Das schroffe, ja einfach abstoßende Benehmen des Grafen hatte in seiner Seele so wenig eine Kränkung zu erregen vermocht, wie die Unhöflichkeit eines Patienten. Dieser junge Mann war kein Kranker im gewöhnlichen Sinne; aber unglücklich, tief unglücklich. Mußte es auch wohl sein als der Sohn eines Vaters, der ihm sein reiches Erbe vergeudet, ihn um das Glück seines Lebens so grausam betrogen hatte! Und dann der Stolz! der leidige Stolz! Eine Hand, die sich hilfreich ihm entgegenstreckte, so zurückzuweisen! Zwar, wenn er Selchow nicht übernehmen wollte, das ließ sich begreifen, da er erklärte, kein Landmann zu sein, keine Lust, kein Talent zur Landwirtschaft zu haben. Also Soldat. Gut. Warum war er es nicht mehr? Doch aus keinem anderen Grunde, als weil er nach dem Verlust von zwei Dritteln seines kleinen Vermögens den nötigen Aufwand in dem vornehmen Regiment nicht weiter bestreiten konnte und es unter seiner Würde hielt, sich zu einem versetzen zu lassen, bei dem man bescheidenere Ansprüche an den Geldbeutel machte. Schön. Aber jetzt wurden ihm ja die Mittel, die ihm fehlten, geboten. Er brauchte nur zuzugreifen und konnte wieder an der Spitze seiner Schwadron reiten! Nein! er wollte lieber in dem Schlosse seiner Ahnen versauern! Mit dem Reisen schien es ja auch aus zu sein. Jedenfalls hatte das Geld nicht gereicht. Wie unähnlich der junge Mann seinem Vater war! Auch körperlich. Dieselbe hohe Gestalt freilich. Aber der Vater hatte mehr zum Embonpoint geneigt, und der Sohn war dürr und hager wie Don Quixote. Hatte auch im Ausdruck, besonders der strengen Augen und in den aufeinander gepreßten Lippen, etwas von einem Fanatiker, der die Welt aus den Fugen glaubt, weil ihm selbst der Stolz den Kopf verdreht hat.
Was Rebekka sagen würde!
Sonderbar! Er hatte ihr niemals von den freundlichen Absichten, mit denen er sich seit dem Kauf von Selchow für den jungen Grafen trug, je ein Wort gesagt; wie er sich auch nicht erinnern konnte, über sein Verhältnis zu dessen Vater irgend mit ihr ausführlicher gesprochen zu haben. Wie erstaunt, ja erschrocken war er deshalb gewesen, als sie ihn gestern abend zum Vertrauten ihrer Pläne machte, die auf nichts Geringeres als auf eine Heirat mit dem Sohne seines alten Freundes hinausliefen! Daran hatte freilich seine Seele nicht gedacht. Und – ganz abgesehen davon, daß ihm hier für die Erfüllung seines Lieblingswunsches eine schlimme Gefahr drohte – der Gedanke war so abenteuerlich, wie die Phantasien eines Fieberkranken. Dann während der Nacht, die ihm den gewohnten traumlosen Siebenstundenschlaf zur Hälfte schuldig geblieben war, hatte die seltsame Sache ein anderes Gesicht bekommen. Wenn dies nun ein Schluß des Schicksals war? Wenn es dem Enterbten wieder zu dem Besitz seiner Väter verhelfen wollte? Wollte, daß die Enkel des Mannes, der die Güter verschleudert, auch die Enkel dessen waren, dem sie nun gehörten? Von Rechts wegen. Er konnte seine Hände zu Gott erheben: es haftete kein Makel daran. Aber warum war es ihm wie ein Schwert durch die Seele gefahren, als der junge Mann vorhin gesagt hatte: ob er ihm helfen wolle, wie er dem Vater geholfen? Der Schein war gegen ihn. Wäre es doch, leider Gottes, nicht der erste Fall gewesen, daß der Jude einen leichtsinnigen Edelmann auswucherte! Daran hatte er heute nacht nicht gedacht. Wie sollte er auch? In seinen Büchern stand es zahlenmäßig, wieviel er bei dem Kauf der Güter eingebüßt! Aber alles andere, was die geniale Tochter sich da zusammengeträumt – nein! sie träumte so etwas nicht; sie durchdachte es von Anfang bis zu Ende. Und ihm war es so klar erschienen, wie das Bild einer Krankheit nach einer sorgfältigen Diagnose. Und bei der Sektion zeigte es sich, wie sehr man sich geirrt hat. Das eben war eine richtige Sektion. Für einen alten Praktikus war der Befund beschämend genug.
Und doch wieder, wenn man es recht überlegte – jetzt im hellen Licht des Tages – mit Zuhilfenahme der Erfahrung dieser letzten peinlichen Stunde – mußte man nicht von Glück sagen, daß es so gekommen? Seine Rebekka und dieser Mann! Zwei größere Extreme gab es nicht. les extrèmes se touchent. Auch wieder so eine Phrase. du sublime au ridicule – nun ja! Aber diese beiden Menschen wollten ernsthaft genommen sein. Wehe dem, der sie anders nahm! Und Extreme im gewöhnlichen Sinne konnte man sie nicht einmal nennen. In beiden dieselbe ruling passion, nur in verschiedener Färbung: bei dem jungen Grafen Ahnenstolz; bei Rebekka individueller. Keiner würde den Stolz des anderen respektieren, weil er kein Verständnis für ihn hatte, ihn nicht nachfühlen konnte. Rebekka war nicht eitel auf ihre Schönheit – er hatte tausend Beweise dafür. Das einzige, was ihr an Emil Rehfeld gefiel, war: er hatte einmal zu Bekannten geäußert: ich würde sie heiraten und wenn sie mordsmäßig häßlich wäre. So würde die etwaige Bewunderung des Gatten für ihre Schönheit ihr gar nichts gelten. Und der junge Graf? Er war nicht dumm – entschieden nicht. Dumme Menschen sehen nicht aus solchen Augen; können dem Gang einer so komplizierten Unterredung nicht mit solcher Sicherheit folgen; sich nicht mit solcher Präcision ausdrücken. Aber man kann so weit ganz gescheit sein und doch mit Kunst und Wissenschaft auf einem recht gespannten Fuß stehen. Der Vater, freilich! Der hatte an allen möglichen Künsten und Wissenschaften wenigstens herumgenascht. Der Sohn sah nicht wie ein Näscher aus. Der ging sicher in allen Dingen auf das Ganze. Und dies Ganze? – Alter Adel – drei Mohrenköpfe im Wappen – mit zehn Jahren in die Kadettenanstalt – Rittmeister – Gardekürassierregiment – Offizierkasino – Hofbälle – Und Rebekka mit ihrem philosophischen und politischen Radikalismus! Wie war sie nur auf diese Idee gekommen? Eine so völlig unrealisierbare, ganz absurde Idee! Nun, wenn er ehrlich sein wollte: ihr Gehirn hatte von jeher sonderbare Blasen getrieben. Die allerdings bei sechsundzwanzig Jahren so leicht nicht mehr platzen, als bei sechzehn. Wenn sie es sich nun doch zu Herzen nähme! Sein geliebtes Kind, das er so gern glücklich gesehen hätte und doch so gar nicht glücklich machen konnte! Der alte Mann hob die Augen zum Himmel, aus dessen leuchtendem Blau unsichtbare Lerchen jubilierten; er blickte über die weiten Felder, deren junge, lustig sprossende Saaten ein sanfter Wind bewegte, und seufzte tief.
* * *