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Dreizehntes Kapitel.

Sie sind zu gütig, Madame, sagte der Marquis de Florville, als er Stephanie in den Wagen half, in welchem außerdem der Fürst und Frau von Fischbach Platz genommen hatten.

Die übrige Gesellschaft hatte sich auf die beiden anderen Wagen vertheilt, da der Graf und Baron Neuhof gebeten hatten, noch erst den Marstall des Fürsten besichtigen und dann zu Pferde nachkommen zu dürfen.

Sie sind wahrlich zu gütig, wiederholte der Marquis, ich habe das schöne Wetter nicht mitgebracht, das schöne Wetter hat mich mitgebracht.

Auch dafür müssen wir dem Wetter dankbar sein, sagte Stephanie.

Ich bin es wenigstens und mit Recht, sagte der Marquis. Mein Gott, der erste Sonnenstrahl seit den acht Tagen, die ich in Deutschland reise! Wissen Sie, meine Damen, was das für einen Franzosen, und noch dazu für einen Südfranzosen sagen will, acht Tage ohne Sonnenschein! Sie können es nicht wissen, höchstens ahnen, wenn Sie denken, wie einem Deutschen zu Muthe ist, der acht Tage kein philosophisches Buch gelesen hat.

Ich habe noch nie eins gelesen, sagte Stephanie.

Ah, die Damen, die Damen, sagte der Marquis, ich spreche nicht von den Damen; sie sind überall eine Ausnahme zur Regel, das kosmopolitische Medium, welches die zerstreuten Elemente miteinander verbindet und das sich überall gleich bleibt, in London, Paris, Rom oder –

Rothebühl, sagte der Fürst.

Sie sagten, Monseigneur?

Rothebühl, meine Residenz, in der wir eben angelangt sind, erwiederte der Fürst lächelnd.

Ah, ah, sagte der Marquis, das Monokel in das rechte Auge klemmend und im Herzen die Stöße, die er vom holprigen Pflaster empfing, verwünschend, das ist Rothebühl! Nun, das ist charmant, dieses dunkle, mittelalterliche Thor mit dem hohen viereckigen Thurm, diese schmalen Gassen mit den grasübersponnenen Steinen, diese kleinen weißen Häuser mit den grünen Jalousien – das ist ganz Poesie, ganz deutsch.

Man lachte und fuhr durch Rothebühl, wo das Geräusch der Wagen in den Gäßchen die Unterhaltung nicht eben begünstigte. Der Fürst war in einer Stimmung, welche er nach der furchtbaren Nacht kaum hätte erwarten dürfen. Er empfand den hellen Tag, der die Gespenster verscheuchte, schon als Wohlthat und gab sich gern der Illusion hin, daß er doch am Ende Alles in einem Uebermaß seiner hypochondrischen Laune zu schwarz gesehen habe. War der Graf schuldig, Hedwig brauchte es deshalb nicht zu sein. Der Kuß gestern Abend – der erste, den er je von ihren Lippen empfing – war doch vielleicht mehr gewesen als ein Almosen, war das Pfand eines Glückes gewesen, an dem er schon so gänzlich verzweifelt war und das die Zukunft doch vielleicht in ihrem Schoße barg. Wenn der sanfte, weiche Ausdruck, den das geliebte Antlitz heute gehabt, seine Hoffnung bestätigte, ach, so mochte der Marquis von den furchtbaren Plänen, die er mitgebracht, schweigen, wie er bis jetzt geschwiegen; so mochte er gehen, wie er gekommen war.

Stephanie ihrerseits war in der Verfassung eines Kindes, welches sieht, daß es sich unnöthigerweise geängstigt hat. Sie hatte sich gestern Abend sehr geängstigt. Die Billetangelegenheit in Gegenwart des Fürsten, in Gegenwart Hedwigs zur Sprache zu bringen, das war so ganz in Heinrichs schlimmster Weise gewesen: eine so eclatante Rache für die kleine Scene, die sie ihm deswegen gemacht hatte, eine so verständliche Drohung: Du hoffst vergebens mich einzuschüchtern, ich werde meinen Weg dennoch gehen. Und das hatte er ihr, als er sie auf ihr Zimmer geleitete, mit dürren Worten gesagt und ihr geradezu befohlen, der Mama aufzutragen, den Geheimrath sofort mitzubringen, der Dich kennt, liebes Kind und sich durch Mangel an Selbstbeherrschung nicht aus der Fassung bringen läßt, wie ich fürchte, daß es dem Herrn Doctor vielleicht in einem entscheidenden Momente begegnen könnte. Das war sehr deutlich gewesen und so hatte sie sich denn, sobald er sie verlassen, hingesetzt und der Mama geschrieben und sie beschworen, um Himmelswillen Heinrichs Befehle nicht leicht zu nehmen und nicht ohne den Geheimrath zu kommen, am liebsten sofort und nicht erst, wie zuletzt verabredet, zum Geburtstag des Fürsten am sechszehnten; das sei noch beinahe zehn Tage hin; wenn sie so lange noch von der liebsten Mama getrennt sein solle, werde die liebste Mama ihre Stephanie als ein Opfer der Angst und Aufregung todt finden.

Und nun mußte Stephanie lächeln, wenn sie an diese pathetischen Zeilen dachte, die heute Morgen kaum abgesendet waren, als ein Brief von der Mama einlief, in welchem diese ihre Ankunft auf übermorgen festsetzte. Es handelte sich jetzt nur noch um den Geheimrath, von dem die Mama nichts geschrieben. Aber das würde sich schon arrangiren lassen. Und so blickte denn Stephanie aus ihren blauen Augen heiter in die heitere Landschaft und sah dann wieder ihr reizendes vis-à-vis an, den jungen Marquis mit dem braunen Teint und den braunen Augen, in einem Anzug, wie man demselben so elegant selbst in Berlin nur selten begegnete.

Und da war man auch wieder aus dem abscheulichen Rothebühl heraus auf der Chaussée und die unterbrochene Conversation konnte wieder aufgenommen werden.

Ich glaube jetzt zum erstenmal in Deutschland zu sein, sagte der Marquis aufathmend und sein Monokel bald rechts, bald links wendend. Dieses enge Thal, der braune Fluß, der uns zur Seite durch sein steiniges Bett rauscht, diese steilen Wände und vor Allem diese unendlichen Tannen; ich kann mir Deutschland nicht ohne Tannen denken; wir Alle können es nicht; unsere Dichter haben es uns nie anders geschildert, wenn sie einmal, was allerdings sehr selten geschieht, viel zu selten, ich gebe es zu, die Scene nach Deutschland verlegen. Ob das nun George Sand oder Dumas fils ist – immer ist der Horizont von Tannen begrenzt, die, wie hier, von schroffen Felsenhöhen aufragen, oder in einem weiten Bogen eine braune Haide umschließen, über welche die untergehende Sonne ihre letzten melancholischen Strahlen wirft. Ja, hier ist Deutschland oder nirgends!

Und entsprechen unsere Menschen hier ebenso Ihren Vorstellungen, wie es die Landschaft thut? fragte der Fürst.

Menschen? sagte der Marquis, rechts und links in den Bergwald blickend. Verzeihung, Monseigneur, wo sind Menschen? Ich habe auf unserer Fahrt – das hübsche, kleine, verschlafene Städtchen, wie heißt es doch gleich, abgerechnet – keinen Menschen gesehen; aber auch das ist charakteristisch. Wir denken uns die deutsche Landschaft niemals mit Menschen erfüllt, wie die französische oder belgische; höchstens staffirt mit einem blonden Schäfer, der auf der Haide seine Heerde weidet und dazu auf einer Flöte traurige Weisen bläst, oder von einem Jäger mit wildem Bart und struppigem Haar, der, eine verdächtig lange Büchse in den braunen Händen, durch den Wald schweift und eine flüchtige Aehnlichkeit mit Kain hat, als er eben seinen Bruder erschlagen.

Ein reizendes Bild, sagte Stephanie, in welchem wir Frauen, wie es scheint, nicht weiter figuriren.

Ah, Madame, sagte der Marquis, die Frauen, die deutschen Frauen, das ist etwas ganz Anderes! Das sind für uns einfach Engel von Carlo Dolce mit sanften Augen und goldigen Haaren, die auf Wolken von Guido Rem hoch über der niederen Erde in den Himmel schweben.

Was hat er gesagt? fragte, als sie Stephanie und den Fürsten lachen sah, Frau von Fischbach.

Stephanie übersetzte die letzten Worte des Marquis. Frau von Fischbach, eine stattliche Matrone mit bereits ergrauendem Haar konnte den Scherz nicht so ausgesucht finden und lächelte zerstreut. Der Marquis fand das begreiflich; Stephanie's Üebersetzung war nicht besonders correct gewesen.

Tausend Dank, Madame, sagte er, daß Sie die Gnade haben, meine unbedeutenden Worte zu wiederholen, aber Ihr deutschen Frauen seid so gelehrt! Freilich, Ihr müßt es wohl sein, wenn Ihr Eure Männer auf die Dauer fesseln wollt.

Wie, Herr Marquis, rief Stephanie, so hätten wir keine anderen Reize?

Verzeihung, Madame, tausend für einen: aber es darf Euch eben von diesen tausend nicht einer fehlen; Ihr braucht sie alle.

So wären unsere Männer Ungeheuer von Undankbarkeit und Ungenügsamkeit.

Wie es die Jugend immer ist, Madame; man heirathet in Deutschland zu jung; ich meine die Männer – mit den Frauen ist es natürlich anders.

Bitte, erklären Sie mir das, sagte Stephanie.

Bedarf es einer Erklärung, Madame? sagte der Marquis. Die Frau braucht die Liebe nicht zu lernen; sie kommt, ich möchte sagen, liebend auf die Welt; sie liebt, so lange sie lebt, sie stirbt und liebt noch immer, sie ist die Liebe selbst. Sie darf deshalb so jung heirathen, wie sie will, sie wird stets unter allen Umständen auf der Höhe der Situation sein. Wir Männer dagegen, ah, Madame, wir Männer sind geborene Egoisten; der Egoismus ist unsere Stärke, unser Stolz, unsere Wissenschaft; eine schwache Stärke, ich gebe es zu, ein fluchenswerther Stolz, eine armselige Wissenschaft; aber bevor wir zu dieser Einsicht gekommen, ja, ist nicht die Liebe eben diese Einsicht! – vergeht das halbe Leben, und, wenn man jung heirathet, die halbe Ehe in fortwährenden herzbrechenden Kämpfen, in tausend Krisen, bei denen es sich jedesmal um Sein oder Nichtsein handelt. Und die Folge? In Deutschland liebt man sich vor der Ehe am zärtlichsten und läßt sich scheiden, wenn man ein paar Jahre verheirathet ist; in Frankreich liebt man sich vor der Ehe gar nicht, denn man kennt sich nicht, man lernt sich erst in der Ehe kennen und lieben. Monsieur und Madame sind erst seit fünf Jahren verheirathet und lieben sich schon so; wie oft habe ich diese Worte in Frankreich gehört! Fragen Sie sich, Madame, wie oft Sie es in Deutschland hörten! Aber wir Franzosen sind eben so klug, nicht zu heirathen, bevor wir klug sind. Klug sein und jung sein aber, das ist für den Mann, wie ich bewiesen zu haben glaube, unmöglich. Wir heirathen deshalb –

Wenn Ihr alt seid, sagte Stephanie.

Man ist niemals alt, Madame, wenn man liebt, sagte der Marquis.

Stephanie wurde roth: sie hatte in ihrem Eifer nicht bedacht, daß man in Gegenwart des Fürsten dieses Thema entweder gar nicht behandeln durfte, oder dem Marquis unbedingt recht geben mußte.

Zum Glück für sie kam man eben durch ein Dorf, welches sich durch seine Reinlichkeit, durch die Solidität der Baulichkeiten und den sichtbaren Wohlstand der Bewohner vortheilhaft auszeichnete. Es gehörte, wie alle in dem Umkreise des Schlosses, zu dem Gebiete des Fürsten.

Nun, sagte der Fürst, als man sich wieder außerhalb des Dorfes befand, jetzt haben Sie ja auch die Menschen gesehen, die Sie vorhin in unserer Landschaft vermißten; es waren freilich keine blonden Schäfer und halbwilden Nimrodssöhne, sondern einfache deutsche Landleute. Aber welchen Eindruck haben sie auf Ihr Auge gemacht, das freilich durch die glücklichen Bewohner des reichen, schönen Frankreich ein wenig verwöhnt ist.

Ah, Monseigneur, sagte der Franzose, was hilft der Reichthum des schönen Frankreich Denen, welche seinen Boden bebauen! Ich kenne Frankreich, ich kenne den französischen Landmann; ich habe nie bei ihm gefunden, was hier auf den Gesichtern Aller liegt, des Kindes, des Mannes, ja – und das ist das Höchste – auch auf dem Gesichte der Frau.

Und das wäre? fragte der Fürst.

Zufriedenheit, sagte der Franzose mit einer Verbeugung nach dem Fürsten, Zufriedenheit mit ihrem Lose, das heißt bei dem Landmann, mit seinem Herrn. Der französische Bauer ist nicht zufrieden mit seinem Herrn, und er kann es nicht sein. Er kennt seinen Herrn nicht, der in Paris lebt, um dort in unrühmlicher Trägheit oder in wenig ehrenvollen Zerstreuungen das Mark seiner Aecker und sein eigenes zu vergeuden. Das Schloß seiner Ahnen steht leer; anstatt seiner lebt in dem Nebenhause der Pächter, den der Landmann haßt und alle Ursache zu hassen hat. Diese Leute haben kein anderes Interesse, keine anderen Gedanken, als in möglichst kurzer Zeit möglichst reich zu werden. Es gelingt ihnen selten, denn sie selbst sind meistens schon schlecht genug gestellt; aber, mag es gelingen oder nicht, der Landmann ist unter allen Umständen das Opfer der zwiefachen Habgier des Herrn und des Pächters. Nichts Elenderes als der französische Landmann, so lange er an der Scholle klebt, auf der er geboren; nichts Furchtbareres als der französische Landmann, wenn er sich von der Scholle losreißt und sich in eines der beiden Heere flüchtet, welche ihm offen stehen, ich meine in das Proletariat der großen Städte oder in die Armee. Dort wie hier bedeutet er, will er den Krieg; dort gegen Alles, was besitzt, hier gegen Alles, was nicht Frankreich heißt.

Sehr wahr, nur zu wahr! sagte der Fürst. Aber glauben Sie nur nicht, daß wir hier im Paradiese leben. Ich glaube kein schlechter Herr zu sein und die Pflichten, die mir das Schicksal zugetheilt hat, treu zu erfüllen. Dennoch bin ich nicht, im Stande, daß jeder Bauer, um mit Eurem Heinrich IV. zu reden, des Sonntags sein Huhn im Topfe hat, nicht einmal hier in den reichen Dörfern des Thales, geschweige denn oben in meinen armen Nagelschmiededörfern auf dem Walde.

Der Fluch der Centralisation, Monseigneur, sagte der Marquis, der bei Ihnen freilich noch nicht die furchtbare Höhe erreicht hat, wie bei uns, aber auch schon fühlbar genug ist; der Fluch der Centralisation, welche das Mark, das Blut der ganzen Nation für ein paar Interessen opfert, die niemals die wahren Interessen der Nation sind.

Und wie sollen wir uns von diesem Fluch befreien? fragte der Fürst.

Der Marquis antwortete mit einem leichten Achselzucken und mit einem Blick auf die Damen, als wollte er sagen: darüber und über manches Andere werden wir ja reden, wenn wir erst einmal unter vier Augen sind.

Der Fürst verstand den Wink wohl, aber er fühlte sich außer Stande, sogleich ein anderes Thema anzugeben. Die letzten Worte des Marquis waren ihm wie ein Hammerschlag gewesen, gegen die verschlossene Thür, vor der er stand, und hinter welcher die Entscheidung lag, die sich – des Marquis Briefe hatten es gesagt – für Frankreich vorbereitete und mit Frankreich für Deutschland; die Entscheidung, zu der er selbst beitragen sollte, zu der beizutragen er gestern Abend fest entschlossen gewesen war.

Gestern Abend! Der Fürst blickte düstern Auges in die Landschaft. Ueber die bunten Wiesen zu seiner Rechten, welche noch eben im Sonnenlicht gefunkelt hatten, zog der blaue Schatten einer Wolke. War, was er jetzt dachte, auch nur der Schatten einer Wolke, war es mehr? Der Marquis an seiner Seite schwieg noch immer; für den Fürsten war es ein nur zu beredtes Schweigen.

Aber der Marquis wußte einfach für den Augenblick nichts mehr zu sagen und gab Stephanie dadurch Veranlassung zu der Bemerkung, daß der junge Franzose doch Alles in Allem nicht so unterhaltend sei, wie sie heute Mittag, wo er sich so angelegentlich mit Hedwig unterhielt, gedacht hatte. Auch daß er – offenbar an ihr vorüber – wiederholt nach dem zweiten, unmittelbar folgenden Wagen lorgnettirte, in welchem Hedwig saß, gefiel ihr gar nicht. So schwieg auch sie. Und was die würdige Frau von Fischbach anbetraf, so dankte sie Gott, daß sie nicht fortwährend zu einer Conversation, von welcher sie so wenig verstand, vielleicht an der unrechten Stelle zu lächeln brauchte und daß die peinliche Situation ihrem Ende nahte.

Denn jetzt war man aus dem engen Thal heraus; die Bergwände zu beiden Seiten traten weiter und weiter auseinander und ließen zwischen sich eine fruchtbare Ebene, welche die Roda in vielfach sich schlängelndem Lauf durchströmte, vorüber an Dörfern, die aus Busch und Baum mit ihren weißen Häuschen und dem schlanken Thurm eines bescheidenen Kirchleins freundlich herübergrüßten. Dann bog man rechts von der Hauptstraße ab und gelangte in wenigen Minuten nach Erichsthal, dem Ziele des Ausfluges. Der Oberverwalter empfing ehrfurchtsvoll die ankommende Gesellschaft.

Der Fürst hatte Befehl gegeben, daß die Arbeit des Tages nicht unterbrochen werde. Es kam ihm darauf an, seinen Gästen die Wirtschaft in vollem Betrieb zu zeigen.

Ich will den Herrschaften keine Sonntagscomödie vorspielen, die leicht arrangirt ist, sagte er; was Sie sehen werden, ist Alltagsleben, aber ich hoffe, Sie werden dieser ungeschminkten Darstellung der Wirklichkeit Ihren Beifall nicht versagen.

Man hatte gehofft, daß der Graf und der Baron Neuhof auf den schnelleren Pferden mit den Wagen zusammen in Erichsthal eintreffen würden, aber noch war nichts von ihnen zu sehen. Man wartete eine Viertelstunde, bis der Fürst, der diese Verzögerung übel zu vermerken schien, den Vorschlag machte, mit der Besichtigung zu beginnen. Er bat die Herrschaften, ihm zu folgen, und den Marquis im Besonderen, möglichst in seiner Nähe zu bleiben. Der Marquis verwünschte im voraus die Langeweile, die ihm auf der unendlichen Promenade an der Seite des Fürsten durch die weitläufigen Räume der Wirtschaft drohte. So wußte er es denn durch einige geschickte Manöver bald so einzurichten, daß der würdige Herr von Fischbach an seine Stelle trat.

Herr von Fischbach war ein Landmann aus der alten Schule. Er hatte natürlich, wie alle Nachbarn, sehr viel von des Fürsten Musterwirthschaft gehört und auch wohl selbst gesprochen, obgleich er nie dort gewesen war. Er hatte immer behauptet, daß die Sache Schwindel sei, gar nichts Anderes als ein Schwindel sein könne. Jetzt sah er eine Einrichtung, deren Vortrefflichkeit seinem geübten Blick nicht entgehen konnte, sah Bekanntes, das er in dieser Form kaum wiedererkannte, sah Neues, das er kennen zu lernen wünschte. Seine Bewunderung stieg von Minute zu Minute und er gab dieser Bewunderung einen so naiven Ausdruck, daß der Fürst, dem seine Musterwirthschaft und die Verbreitung seiner Principien sehr am Herzen lag, sich fast nur noch mit dem alten Herrn unterhielt und ganz gegen seine Gewohnheit die übrige Gesellschaft sich selbst überließ.

Laß uns hier ein wenig sitzen, sagte Stephanie zu ihrer Freundin Neuhof, auf deren Arm sie sich stützte.

Die Damen waren auf einen kleinen Nebenhof gerathen, der von der Milchwirtschaft umschlossen wurde.

Wo nur unsere Männer bleiben, fuhr Stephanie fort, sie müßten schon längst hier sein.

Sehnst Du Dich so nach dem Deinen? sagte die Baronin lachend. Ich für mein Theil habe nichts dagegen, wenn Curt auch einmal eine Stunde ohne mich fertig wird; diese Männer sind so anspruchsvoll.

Ihr seid erst so kurze Zeit verheirathet, sagte Stephanie.

Eben so lange wie Ihr.

Mag sein, aber Ihr lebt auf dem Lande, da gehört man sich ganz, vielleicht ein wenig mehr, als Einem manchmal lieb ist. In der Stadt, weißt Du, ist das anders: der Dienst, Spazierenreiten, Herren-Diners, Soupers, Zerstreuungen aller Art; ich sehe Heinrich manchmal den ganzen Tag nicht.

Nun, an Zerstreuungen scheint es Deinem Manne hier auch nicht zu fehlen, sagte die Baronin.

Ich dächte, Du hättest Dich nicht zu beklagen gehabt, erwiederte Stephanie. Er hat Dir, meine ich, heute ganz ernstlich den Hof gemacht; er hat sich ja fast nur mit Dir unterhalten.

Meinst Du, sagte die Baronin. Nun ich kann Dich versichern, Liebe, sein Herz war nicht dabei und seine Augen auch nicht.

Die waren natürlich bei mir, sagte Stephanie mit einem Lachen, das etwas gezwungen herauskam.

Vermuthlich, sagte die Neuhof, sich vornüberbeugend und mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren in den feinen Sand des Hofes zeichnend.

Es ist abscheulich! sagte Stephanie, mit ihren Thränen kämpfend.

Arme Stephanie! sagte die Neuhof.

Stephanie brach in Thränen aus.

Und in solcher Zeit, schluchzte sie, wo ich jeden Augenblick –

Ich denke, erst Ende nächsten Monats, sagte die Neuhof; aber Du mußt die Sache auch nicht schwerer nehmen, als sie ist. Man stirbt von dergleichen nicht so leicht; ich habe auch – gleichviel – ich meine, man sollte in solchen Fällen dem Manne den Willen lassen. Wir machen es durch unsere Thränen nur schlimmer, und Frauen, wie ich und Du, sollte ich denken –

Er sieht mich ja gar nicht mehr an, er hat ja nur noch Augen für sie, schluchzte Stephanie.

Nun, da Du es selbst sagst, erwiederte die Neuhof, will ich Dir nicht widersprechen. Diese Männer sind unbegreiflich.

Und wie abscheulich von ihr, die uns so viel Dank schuldet, sagte Stephanie.

Was wissen dergleichen Personen von Dank, sagte die Baronin. Sie sind von Jugend auf daran gewöhnt, mitzunehmen, was sich ihnen bietet; und die Geliebten der Männer ihrer Damen zu sein, scheinen sie gar für eine Art Pflicht zu halten. Schließlich heirathen sie dann den Kammerdiener.

Stephanie lachte, schüttelte aber gleich wieder den Kopf und sagte:

Hedwig ist –

Dem Fürsten zur linken Hand angetraut, sagte die Neuhof, ich weiß es; aber, unter uns, das heißt denn doch kaum etwas Anderes, als Maitresse sein – eines alten Herrn noch dazu, wodurch die Sache nicht erbaulicher wird. Man kennt das ja.

Mama und ich haben immer gefürchtet, er werde sie noch einmal in aller Form heirathen.

Liebes Kind, erwiederte die Baronin, so etwas fürchtet man immer, aber es geschieht nie; hier am wenigsten. Der Fürst, trotz aller seiner zur Schau getragenen Freisinnigkeit, ist im Herzen ein vielleicht strengerer Aristokrat, als selbst Dein Mann; er wird, so oft er etwas gegen Euch hat, immer zuerst auf den Gedanken kommen, Euch durch eine Heirath zu ärgern, aber er wird eines Tages über diesen Gedanken wegsterben; sie hat natürlich mittlerweile ihr Schäflein in's Trockene gebracht –

Und heirathet den Kammerdiener, sagte Stephanie lachend.

Nein, sagte die Neuhof, den Doctor.

Horst? rief Stephanie erschrocken.

Ich glaube, so heißt er.

Aber wie kommst Du darauf? fragte Stephanie mit einem ungläubigen Lächeln.

Ich bin nicht darauf gekommen, erwiederte die Baronin, was geht die Sache mich an? Aber die Leute sprechen so Mancherlei, und ich muß es Dir nur sagen, auch von Deinem Mann und von ihr ist in diesen Tagen viel gesprochen worden; besonders scheint sich ein Mensch, ein Reitknecht glaube ich, ein großes Verdienst um die Verbreitung dieser Klatscherei erworben zu haben. Dieser Mensch, jetzt fällt es mir ein, Dietrich heißt er, hat einen Bruder, der bei meinem Manne dient, von dem es natürlich wieder mein Mann hat, und der sagte mir: in den letzten Tagen habe jener Mensch seinem Bruder erzählt: das mit dem Grafen sei Alles nicht wahr und von ihm erlogen, um seine Braut – eine Kammerjungfer der Hedwig, wenn ich mich recht erinnere – zu ärgern. Der eigentliche Geliebte von ihr sei der Doctor, und wenn es darauf ankomme, so könne er es beweisen. Ich weiß nicht, ob diese Dinge für Dich von Interesse sind, ich glaube aber doch, sie Dir mittheilen zu müssen; von so etwas läßt sich immer einmal gelegentlich Gebrauch machen. Aber ich denke, wir müssen uns wieder nach den Anderen umsehen.

Die Baronin erhob sich.

Es wäre zu schändlich! sagte Stephanie, der Baronin folgend.

Weshalb das? sagte die Baronin.

Stephanie antwortete nicht.

Unterdessen hatte der Marquis durch allerlei klüglich ausgeführte Verzögerungen es dahin zu bringen gewußt, daß er mit Hedwig hinter den Anderen, die unter der Leitung des Fürsten eifrig weiterschritten, zurückblieb und sich zuletzt mit ihr allein befand. Ein wohlgepflegter Küchengarten stieß an eine Ecke des Hofes; der Marquis öffnete die Gitterthür und sagte:

Um Himmelswillen, Madame, lassen Sie uns hier einen Augenblick eintreten und wieder zu uns kommen. Diese Allgäuer Kühe, diese Merinoschafe und Yorkshirer Schweine – c'est plus fort que moi.

Man wird, sobald man mit dem Maschinenraum fertig ist, in diesen Garten kommen, sagte Hedwig.

So wollen wir die Gesellschaft hier erwarten.

Aber, mir däucht, für Jemanden, der eine weite Reise macht, um die deutsche Landwirthschaft kennen zu lernen, ist Ihr Eifer nicht eben groß.

Die deutsche Landwirthschaft? sagte der Marquis. Ah, Madame, Sie können doch unmöglich an dieses Märchen glauben!

Und was hätte Sie sonst zu uns geführt? fragte Hedwig.

Der Marquis wollte mit einem Blicke antworten, aber seine dunklen Augen suchten vergebens Hedwigs Augen zu begegnen, die mit einer gewissen Zerstreutheit über den Garten schweiften.

Ah, Madame, sagte er, was führt den Unglücklichen, als das Gefühl seines Unglücks? Und wohin führt es ihn, als wieder in Unglück.

Hedwig blickte jetzt ihren Begleiter an.

Sehr wahr, sagte sie, aber diese Bemerkung können Sie doch unmöglich an sich selbst gemacht haben?

Weil ich die Maske eines Menschen trage, der entschlossen ist, von dem Leben nur die heitere Seite zu sehen? Aber, Madame, wer von uns geht denn ohne Maske? Sie selbst am wenigsten.

Dann müßten Sie mein wahres Gesicht gesehen haben, sagte Hedwig, welche die sonderbare Wendung des Gesprächs, das bis jetzt immer nur über die leichtesten Dinge hingeflattert war, fast gegen ihren Willen zu interessiren begann.

Ich habe es gesehen, sagte der Franzose, es ist vier Jahre her, aber einen solchen Anblick vergißt man in vier Jahren nicht, vergißt man nie: den Anblick eines Mädchengesichts von sechszehn Jahren, dessen große Augen sich zum erstenmal über der Herrlichkeit der Welt öffnen und nun diese ganze Herrlichkeit widerstrahlen, einer Welt, die untergegangen ist, die vielleicht nie gelebt hat und die, wenn sie lebte, gewiß nicht so herrlich war, als die Poesie des Herzens, die holden Illusionen, die hohen Aspirationen einer keuschen unberührten Seele. Ah, Madame, so habe ich Sie gesehen vor den Schöpfungen eines Raphael, eines Michel Angelo, unter den ehrwürdigen Trümmern des Colosseums, in der romantischen Einsamkeit der Campagna. Das war Ihr wahres Antlitz, das Antlitz der Corinna, an die Sie mich immer mahnten, nur daß Sie so viel jünger waren, so viel liebenswürdiger, so viel unschuldsvoller als jene Schöpfung meiner genialen Landsmännin. Jetzt –

Jetzt?

Jetzt, da ich Sie wiedersehe nach vier Jahren, muß ich an ein anderes Buch denken, an den Titel wenigstens eines Buches – von Balzac.

Und der Titel dieses Buches?

illusions perdues.

So wäre die Maske, die ich trage, herzlich schlecht, sagte Hedwig, oder es wäre vielmehr gar keine Maske, wenn meine verlorenen Illusionen auf meinem Gesicht geschrieben stünden und dort für Jeden zu finden wären.

Verzeihung, Madame, erwiederte der Marquis, ich sagte nicht: für Jeden. Für jeden Andern mag die Maske eines Stolzes ausreichen, der sich selbst genug ist, der keine Trauer um die Vergangenheit, keine Hoffnung auf die Zukunft kennt. Aber für den, welcher das Glück gehabt hat, Sie zu sehen, wie ich Sie sah, für den –

Der Marquis hob beide Hände und ließ Sie dann wieder sinken mit einer anmuthig traurigen Bewegung.

Hedwig fühlte sich ergriffen, umsomehr, als der Marquis nur die Wahrheit gesagt und sie von diesem Manne am wenigsten die Wahrheit zu hören erwartet hatte. Ihre Augen ruhten mit einem wehmüthig freundschaftlichen Ausdruck auf dem Gesichte des jungen Mannes, der ihr in diesem Moment wie ein alter lieber Freund erschien.

Der Marquis, der den Blick der schönen Augen ganz anders verstand, fuhr mit leiserer und leidenschaftlicherer Stimme fort:

Muß ich noch sagen, was Sie wissen, daß dieses Glück mein Unglück war, jenes Unglück, das von Ihren himmlischen Augen ausstrahlte, und das fortan mein Führer geworden ist durch dieses öde Leben, dem ich immer folgen muß und das mich wieder dahin geführt hat, von wo es ausging, in das tödtliche Licht Ihrer himmlischen Augen.

Ja so, sagte Hedwig, ich hatte es wirklich für einen Moment vergessen.

Der Marquis wußte nicht recht, wie er diese Worte deuten sollte; aber das spöttische Lächeln, das um Hedwigs Lippen schwebte, verkündete nichts Gutes.

Madame, sagte er, Sie sehen mich in einer Verwirrung, die besser als Alles für die tiefe Empfindung meines Herzens spricht.

Keine Entschuldigung, Herr Marquis, sagte Hedwig, es bedarf deren in meinen Augen ganz und gar nicht, im Gegentheil, ich bin Ihnen dankbar, aufrichtig dankbar.

Der Marquis wußte noch viel weniger, als vorher, was er aus diesen räthselhaften Worten machen sollte, und stand mit verlegener Miene da, als zum Glück für ihn der Fürst mit seiner ganzen Gesellschaft herbeikam. Er wendete sich mit Lebhaftigkeit zum Fürsten. Er hätte der Versuchung, einen Blick in den Garten zu werfen, nicht widerstehen können, Madame war so gütig gewesen, ihn ein wenig herumzuführen.

Sie konnten sich keiner besseren Führung anvertrauen, sagte der Fürst; meine Frau kennt den Namen jeder Pflanze und die Eigenschaft einer jeden.

Der Fürst schien in vortrefflicher Laune. In der That hatte das Führeramt, dem er mit Eifer obgelegen, ihn auf eine Stunde die trüben Gedanken, welche seine Seele umnachteten, vergessen machen. Die aufrichtige Bewunderung des alten Edelmannes war ihm höchst erfreulich und schmeichelhaft gewesen. Herr von Fischbach galt in landwirthschaftlichen Dingen für die höchste Autorität in der ganzen Gegend und er hatte diese Autorität stets gegen die Bestrebungen des Fürsten in die Wagschale gelegt. War er einmal gewonnen, ließ sich nicht absehen, wer nicht Alles seinem Beispiel folgen würde; der Fürst sah Hoffnungen, die er fast schon aufgegeben hatte, endlich sich erfüllen; er empfand eine Zufriedenheit, wie er sie seit manchen Jahren nicht empfunden. Der kleine Erfolg, den er soeben gehabt, machte den unbefriedigten Mann beinahe wieder an das Leben glauben, das denn doch nicht ganz unnütz gewesen war und das er mit keinem anderen vertauschen wollte, wenn er auf Hedwigs Lippen immer das Lächeln sah, mit welchem sie ihn vorhin, als er in den Garten trat, begrüßt hatte; wenn die Freundlichkeit, mit welcher sie jetzt ihren Arm in den seinen legte, ihr von Herzen kam. Und Hedwig fühlte wirklich diese Freundlichkeit und ihr Lächeln sagte: Du bist im Grunde doch besser als sie Alle; ich kann mich schließlich auf Dich noch besser verlassen, als auf die Anderen alle.

Ich vermisse die gnädige Frau und die Baronin, sagte der Fürst zu Herrn von Zeisel gewendet.

Ich sah die Damen vor wenigen Minuten nach dem Verwalterhause gehen, erwiederte der Cavalier.

Und dahin wollen auch wir, sagte der Fürst. Die Damen werden einer Erfrischung bedürfen. Wir kommen doch nicht zu früh, lieber Zeisel?

Auf keinen Fall, Durchlaucht.

Herr von Zeisel hatte auf dem von Bäumen umgebenen Platz vor der Verwalterwohnung inzwischen ein Zelt errichten lassen, unter welchem auf zierlich gedeckten Tischen eine Collation bereit war. Die Damen hatten auf Feldstühlen Platz genommen, die Herren standen umher, in den Händen die Gläser, welche die Diener immer wieder mit Champagner füllten. In dem dichten Laub der hohen Bäume, durch welches die rothen Sonnenlichter spielten, zwitscherten die Sperlinge; Schwalben schossen durch die klare Abendluft; girrende Tauben, welche aus den Dächern der Gebäude saßen, kamen mit hochgestellten Flügeln herabgeschwebt, um ein paar Brocken wegzupicken und flatterten wieder davon; aus den Ställen her klang das gelegentliche Brüllen einer Kuh; ein Wagen mit Grünfutter kam eben über den Hof gefahren – es war ein friedlich ländliches Bild, dessen Zauber sich das empfängliche Herz des Fürsten willig hingab. Er war voller Aufmerksamkeit gegen die Damen, voller Freundlichkeit gegen die Herren. Wie schade, daß der Graf und der Baron nun doch nicht gekommen seien, aber es sollte sie keine Strafe treffen; sie hätten sich durch ihr Fortbleiben schon selbst hinreichend gestraft. Dann erhob er sein Glas und sagte mit einer Stimme, die vor freudiger Rührung zitterte und mit einem Blick, welcher Allen gelten sollte, aber auf Hedwig haften blieb: die Gesellschaft werde es nicht als Widerspruch empfinden und ihm nicht als Egoismus auslegen, wenn er das Wohl seiner Gäste in dem Wunsche ausbringe, es möge ihm vergönnt sein, noch manchen Tag so zu verleben wie heute.

Die Damen neigten sich, die Gläser der Herren klangen an einander; der Marquis, welchem Herr Rosel in aller Eile die Worte des Fürsten übersetzt hatte, trat einen Schritt vor und sagte, sich anmuthig verneigend: er habe kein Recht, im Namen der Gesellschaft zu sprechen, er spreche nur in seinem und seines Freundes Namen; dennoch sei er gewiß, daß er nur der Empfindung Aller einen Ausdruck gebe, wenn er wünsche und sein Glas darauf leere: es möchten alle Fürsten der Welt dem gleichen, dessen Gäste sie in diesem Augenblick wären, und die Welt würde so friedlich sein, wie das ländliche Bild um sie her, dessen süßen Frieden auch nicht der Schatten einer Wolke trübe.

Wieder klangen die Gläser aneinander, aber in das Klingen der Gläser hinein tönte diesmal der Hufschlag von Pferden so plötzlich und so nahe, daß einige von den Damen einen Schrei nicht unterdrücken konnten. Das dazwischen liegende Gebäude hatte bis dahin den Schall der Hufe verschlungen und so hielten der Graf und der Baron Neuhof in dem Augenblicke, in welchem man ihr Kommen hörte, auch schon vor der Gesellschaft. Die Herren sprangen aus den Sätteln, warfen den Reitknechten die Zügel zu und grüßten die Gesellschaft.

Ich bitte um Verzeihung, sagte der Graf, aber als wir im Begriff waren, zu Pferde zu steigen, kamen die Zeitungen, die ich seit heute Morgen mit Ungeduld erwartet hatte. Sie enthielten eine Nachricht, welche den Baron und mich in einige Aufregung versetzte und mich vor Allem nöthigte, sofort noch einige Briefe nach Berlin zu schreiben.

Was ist es? fragte der Fürst, dessen noch eben lächelndes Antlitz auf einmal sehr finster geworden war, obgleich er sich augenscheinlich Mühe gab, seine Aufregung zu verbergen.

Darf ich die Aufmerksamkeit Eurer Durchlaucht auf diese Zeilen lenken? sagte der Graf, indem er dem Fürsten mit einer Verbeugung ein Zeitungsblatt überreichte.

Der Fürst begann zu lesen. Die Gesellschaft blickte einander betroffen an. Der Marquis war der Einzige, dessen Gesicht vollkommen ruhig geblieben war. Er hatte, da deutsch gesprochen wurde, nicht verstanden, um was es sich handelte, und er sah sich jetzt nach Herrn Rosel um, der mit den Lippen ein oder zwei Worte bildete und dann mit großer Aufmerksamkeit einem Flug Tauben, welcher den Platz umkreiste, zu folgen schien.

Nun, sagte der Fürst, das Blatt zusammenlegend und dem Grafen zurückreichend, das ist doch am Ende nichts Besonderes.

Aber was ist es denn nur? riefen Einige von den Damen.

Man scheint in Frankreich die Throncandidatur des Prinzen von Hohenzollern nicht eben gern zu sehen, erwiederte der Fürst, indem er sich zu den Damen wendete und, wie es schien, um des Marquis willen französisch sprach; wenigstens meldet diese Zeitung, die allerdings gut unterrichtet zu sein pflegt, daß der französische Geschäftsträger vorgestern in dem Auswärtigen Amt in Berlin erschienen ist, um den peinlichen Empfindungen Ausdruck zu geben, welche diese Angelegenheit in Paris erregt hat; aber ich sehe in der That nicht, lieber Graf, weshalb Sie diese Nachricht so alteriren kann.

Auch ich nicht, sagte der Marquis,

Dann fassen Sie jedenfalls die Sache anders auf als Ihre Landsleute, sagte der Graf, indem er sich plötzlich zu dem Marquis wendete, den er bisher gar nicht beachtet zu haben schien, und das ist mir lieb. Ich möchte um Vieles nicht, daß ein Gast Seiner Durchlaucht die Anschauungen theilt, die hier niedergelegt sind, von den Ausdrücken, deren man sich bei dieser Gelegenheit gegen Preußen bedienen zu dürfen geglaubt hat, ganz zu schweigen.

Er hatte, während er sprach, dem Marquis ein französisches Zeitungsblatt überreicht, das mit den deutschen Zeitungen zugleich gekommen war. Der Marquis blickte hinein und zuckte die Achseln.

Ein Zeitungsblatt, sagte er, ist nicht die Pariser Presse, die Pariser Presse ist nicht Paris und Paris ist nicht Frankreich.

Ich freue mich, das zu hören, sagte der Graf; wäre es anders, so würden wir ganz sicher die längste Zeit Frieden gehabt haben.

O mein Gott, rief Stephanie.

Dann müßtest Du ja auch wieder mit, Curt, sagte die Baronin.

Aber ich möchte die Herren wirklich ersuchen, sagte der Fürst, ein Thema fallen zu lassen, welches unter allen Umständen unerquicklich und mir jetzt doppelt peinlich ist.

Wie Durchlaucht wünschen, sagte der Graf. Ich fürchte nur, es wird nicht in unserem Willen liegen, ob wir darauf zurückkommen oder nicht.

Dann aber nicht mehr für heute, wenn ich bitten darf, sagte der Fürst, der durch die Hartnäckigkeit des Grafen sichtlich gereizt war.

Die Gesellschaft gab sich Mühe, dem Beispiele des Fürsten zu folgen und zu thun, als ob nichts vorgefallen sei. Aber die schöne, friedliche Stimmung, in welcher man die letzte halbe Stunde verbracht hatte, war gestört und wollte sich nicht wieder einstellen. Dazu kam, daß der Fürst selbst innerlich der am wenigsten Gefaßte, ja im Grunde vollkommen fassungslos war. Der Sonnenstrahl war verschwunden, der ihm für den Augenblick die Welt erhellt hatte. Die Wolke, die er selbst heraufbeschworen, war da, dunkler, drohender als je zuvor. Hatte er sie wirklich selbst heraufbeschworen? hatten feindliche Dämonen es gethan? Sein unruhiger Blick streifte den Grafen. Ja, das war sein böser Dämon; er glaubte den Mann immer gehaßt zu haben – er wußte jetzt erst, wie sehr er ihn haßte. Und der Marquis – weshalb hatte er ihn nicht gewarnt, weshalb ihn unvorbereitet in diese Situation kommen lassen, ihm nicht gesagt, daß die Entscheidung vor der Thüre sei? Er hätte dann vielleicht doch noch gezögert, jetzt war es zu spät. Was war zu spät? Es hing ja Alles noch von ihm ab – nicht von ihm – von ihr, in deren Hand Alles lag, sein Herz, sein Glück, sein Leben, sein Schicksal.

Und während er, von solchen Gedanken gefoltert, auf den Lippen ein verbindliches Lächeln, mit der Gesellschaft scherzte, suchten seine Augen immer den Augen Hedwigs zu begegnen. Warum mußte sie gerade jetzt mit dem Grafen sprechen, und so eifrig, daß sie auch nicht einen Blick für ihn hatte?

Da trat der Graf mit einer Verbeugung zurück. Hedwig wendete sich zu ihm; er ging ihr hastig ein paar Schritte entgegen und bot ihr den Arm, sie von der Gesellschaft ein wenig abseits führend.

Nun, Hedwig, sagte er, ich hoffe, Du hast Dir durch unsere so äußerst politischen Herren nicht ebenfalls die gute Laune verderben lassen. Eine solche Bagatelle! Es ist wirklich unverantwortlich.

Ich sprach noch eben mit dem Grafen darüber, erwiederte Hedwig; er hält die Sache für keine Bagatelle, und nach dem, was er mir mitgetheilt, kann ich ihm nicht Unrecht geben.

Und darf man wissen, was er Dir mitgetheilt hat? fragte der Fürst mit zitternden Lippen.

Er sagte es mir eigens zu diesem Zweck.

Und weshalb nicht mir selbst?

Du hast ihm ja das Wort abgeschnitten.

That ich das? Nun, und was sagt das politische Orakel?

Wider seinen Willen trat die Bitterkeit, die er im tiefsten Innern empfand, auf seine Lippen. Er war mit seinem vollen Herzen zu Hedwig gekommen, er hatte ein gutes tröstliches Wort von ihr hören wollen – sie sprach Politik. Hedwig sah wohl, was in ihm vorging; sie fühlte sich auch nicht beleidigt, sie empfand eher Mitleid, vor Allem aber, daß sie die Wahrheit sprechen müsse. So sagte sie denn in mildem Ton:

Man schreibt ihm aus Berlin, daß in den betreffenden Kreisen eine große Aufregung herrsche und daß die Situation in der That sehr ernst sei.

Weil man sie so haben will, sagte der Fürst; man kennt das.

Mir däucht, erwiederte Hedwig, in der Sache kommt es auf dasselbe hinaus und deshalb –

Deshalb?

Und deshalb wollte ich Dich recht freundlich bitten, die Augen nur auf die Sache gerichtet zu halten und Deinen klaren Blick nicht durch persönliche Empfindungen trüben zu lassen.

Und bist Du ganz sicher, daß Du Dich nicht durch persönliche Empfindungen influiren läßt?

Aber es handelt sich doch nicht um mich!

Freilich, ich hatte das ganz vergessen.

Ich verstehe Dich nicht, sagte Hedwig.

Oder willst mich nicht verstehen, sagte der Fürst, indem er ihren Arm losließ und sich wieder zu der Gesellschaft wendete:

Wie wäre es, meine Herrschaften, wenn wir jetzt an den Heimweg dächten? Die Sonne ist im Untergehen; ich fürchte, die kühle Abendluft möchte den Damen unbequem werden. Wollen Sie Befehl geben, lieber Zeisel?

Die Wagen waren vorgefahren. Die Herren von Fischbach und Baron Neuhof empfahlen sich mit ihren Damen; sie hatten ihre Equipagen nachkommen lassen, da der Weg nach ihren Gütern über Erichsthal ging. Hedwig und Stephanie hatten bereits in einem der Wagen Platz genommen und man erwartete, daß der Fürst sich zu ihnen setzen werde, als derselbe Herrn von Zeisel heranwinkte.

Ich möchte doch hören, was der Marquis von meinen Einrichtungen denkt. Wollen Sie die Güte haben, die Damen zu begleiten?

Man langte ziemlich spät, und wie es schien, ermüdet auf dem Schlosse an; wenigstens blieb man nur noch kurze Zeit im Theezimmer und zog sich dann zurück.

Herr von Zeisel hatte dem Marquis die Zimmer im Rothen Thurm angewiesen, die durch ihre Lage nach den Terrassengärten auf der einen, nach dem Englischen Garten auf der anderen Seite und durch ihre prachtvolle Ausstattung zu den schönsten des Schlosses und jetzt zu den Gastzimmern gehörten, da die gnädige Frau mit Bestimmtheit den Wunsch geäußert, daß dieselben von nun an zu diesem Zwecke benutzt würden.

Herr Rosel war dem Marquis gefolgt; der Kammerdiener, Monsieur Baptiste, hatte die Lichter angezündet und sich entfernt. Der Marquis warf sich in einen Fauteuil und sagte verdrießlich:

Ah, was das ermüdend ist, mein Lieber, und dabei die angenehme Gewißheit, daß wir schließlich denn doch pour le roi de prusse gearbeitet haben!

Hat der alte Herr wider alles Erwarten zu guterletzt refusirt? fragte Herr Rosel erstaunt.

Das nicht, erwiederte der Marquis, sich eine Cigarette anzündend; im Gegentheil, er schien meine Argumente im Ganzen zu goutiren und die Gründe, weshalb ich ihm brieflich nicht wohl mittheilen konnte, wie weit die Sache schon gediehen, begreiflich zu finden; aber was ist es denn nun, wenn wir wirklich diesen kleinen mediatisirten Fürsten gewinnen, der mir heute selbst gesagt hat, daß sein Gebiet keine zehn Quadratmeilen groß ist und der über die formidable Macht von einigen tausend Ackerbürgern eine sehr fragliche Gewalt hat? Warum haben Sie mich über diese Verhältnisse nicht vorher gründlich unterrichtet? Ich dachte, das Fürstenthum sei wenigstens fünfmal so groß.

Verzeihung, erwiederte Herr Rosel, ich habe von diesen Dingen nicht gesprochen, weil ich annahm, daß der Herr Marquis von früher her darüber vollkommen unterrichtet sei und weil in der That gar nichts darauf ankommt. Der Herr Marquis glaubte, das Territorium sei fünfmal so groß; ich würde mich nicht wundern, wenn Herr Ollivier selbst es für zehnmal so groß hält; und auf alle Fälle wird man es in den Augen des Publikums fünfzigmal vergrößern und den Fürsten zum souveränsten aller Monarchen Europas machen können. Und das ist denn doch schließlich die Hauptsache.

Weshalb die Hauptsache, fragte der Marquis.

Der Herr Marquis würde mich auslachen, wenn ich die Frage ernsthaft nehmen wollte.

Nun gut, sagte der Marquis, ich gebe zu, es würde eine vortreffliche Wirkung in Paris machen, wenn wir im rechten Augenblick ankündigen könnten, daß der Nestor der europäischen Regenten, das Haupt der deutschen Legitimsten, der regierende Großherzog von Roda – wie heißt das Nest doch, durch welches wir heute kamen?

Gerolstein, sagte Herr Rosel, seine Augenbrauen zu einer undurchdringlichen Wolke zusammenziehend.

Der Marquis lachte hell auf.

Sie könnten mit Ihrem spaßhaften Ernst den Tod zum Lachen bringen; nun gut, ich will annehmen, daß unsere Mission so erfolgreich ist, wie sie wichtig ist, und daß ich mich vor Allem nicht alle Tage so ennuyiren werde wie heute.

Nach meinen Beobachtungen, sagte Herr Rosel, stehen dem Herrn Marquis die heiteren und schönen Tage in Aussicht, welche sich der Herr Marquis von dem hiesigen Aufenthalte versprach und welche ihm diese kleine Mission, die ja allerdings unter den Ansprüchen des Herrn Marquis wäre, so acceptabel machten.

Meinen Sie? Meinen Sie? sagte der Marquis eifrig. Nun ja, ich habe die Hoffnung keineswegs aufgegeben, wenn gleich die Gegenwart dieses preußischen Grafen ein unerwartetes Hinderniß ist. Er scheint sehr scharfe Augen zu haben, dieser Herr Graf.

Was wäre ein Sieg in der Diplomatie oder in der Liebe ohne Hindernisse, sagte Herr Rosel, und wo ist ein Hinderniß, das für den Herrn Marquis nicht überwindlich wäre!

Herr Rosel hatte seinen Hut ergriffen und empfahl sich mit einer tiefen Verbeugung.

Elender Schmeichler! sagte der Marquis, ihm nachblickend. Diesmal freilich hat er Recht.

Er berührte die Glocke.

Sie haben Ihre Zeit nicht verloren? fragte er den Kammerdiener, der eilfertig hereintrat.

Gott bewahre, sagte Monsieur Baptiste, wie sollte ich! Ich weiß Alles, was der Herr Marquis in Erfahrung gebracht wünschten: die Localität, die Gewohnheiten des hiesigen Lebens und über das Verhältniß des Fürsten zu Madame – ich habe dem Herrn Marquis eine Welt mitzutheilen.

Während ich zu Bette gehe, sagte der Marquis; ich bin gerädert.

Was Monsieur Baptiste nun von den Erkundigungen, die er im Laufe des Tages eingezogen, seinem Herrn zum Besten gab, klang so befriedigend, war zum Theil so amusant, daß Letzterer mehr als einmal laut lachen mußte; und als der Kammerdiener sich nach einer halben Stunde entfernte, war in dem Kopfe des Marquis ein Roman fertig, in welchem er eine so fascinirende, so dankbare, so glänzende Rolle spielte, wie sie nach seiner Meinung dem Marquis Anatole Victor de Florville hier und überall nothwendig zukam.


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