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Neuntes Kapitel

1

Auf dem Kopf eine schwarze Wollmütze, die nach baskischer Art zur rechten Schläfe herunterhing; über der Bluse eine mit breitem Ledergürtel zusammengeschnürte Windjacke, die altersgrau und runzlig wie Elefantenhaut war; im kurzen grauen Wildlederrock, von dessen Saum bis zu den Rändern der rindledernen Touristenstiefel zwei Handbreiten der kamelhaarfarbenen Strümpfe sichtbar wurden; in der Hand einen Stock, in der Tasche einen Revolver und über dem Rücken einen Ranzen – so stand Frau Julius von Hanka frühmorgens hinter dem Kruge von Frokehlen, im Angesicht bereifter Herbstwälder, auf einer morastigen, mit vereinzelten Nebelwölkchen bedeckten Wiese, über sich einen tiefen und wogenden Nebelhimmel, der ihr die Mütze mit Schaumperlen besetzte, – stand mit fröstelnd erhobener Schulter, mit gespannter Braue und ratlosem Munde, wie ein sechzehnjähriges Malaienmädchen, das man in ein alpines Kostüm gesteckt und zu dem man gesprochen hat: Wandere!

Und Frau von Hanka wanderte geradeswegs darauf zu, denn sie fühlte sich von den rückwärts gelegenen Fenstern des Wirtshauses aus beobachtet. Dort hatte sie ihren Wagen eingestellt und auf Befragen keck geäußert, sie müsse einer armen Frau im Persitener Weiher Nahrungsmittel und Kleider bringen. Der Begleitung eines Knaben, die ihr angetragen wurde, bedürfe sie keineswegs, denn sie kenne den Weg nach Persiten ›wie ihre eigene Tasche‹.

Aber obgleich sie nun rüstig vorwärtsschritt, so mußte sie sich doch alsbald davon überzeugen, daß dies hier weder der Weg nach Persiten noch der gewünschte zu dem Stelldichein mit dem Mädchen sein könne, da er mit einem Male spurlos im Moraste verlief. Ihr war unbehaglich zumut, und so schielte sie, spähend wie ein Luchs, mit feinstem Gehör horchend wie ein Reh, in der Runde umher, ob irgendwo die geheimnisvolle Botin sich kundtun würde. Es war klar, daß sie sich hier nicht zeigen durfte, aber wo in den unendlichen, morgendlich schwingenden, frostklirrenden Wäldern um sie herum wäre der Kreuzweg, an dem sie sie träfe?

Da wurde ihr bewußt, daß sie schon mehrmals in der Waldesrunde von verschiedenen, stetig näheren Plätzen den breiten, mißtönenden, fetten Schrei des Eichelhähers gehört hatte. Jetzt wiederholte er sich dichter, heftiger, warnender und – menschlicher. War es ein Truglaut?

Frau von Hanka lächelte. Sie hielt sich nun in gehörigem Abstande vom Moor, tauchte mit frischen Atemzügen in den Laubwald unter und marschierte dort wegelos, doch mit der Sicherheit eines Schlafwandlers in die Tiefen hinein.

Bis mit derselben, fast unbegreiflichen Schnelle wie tags zuvor – als habe eine Wurzel oder ein Strauch es entsendet – das Mädchen ihr zur Seite stand. Und lächelnd sah es von der Seite her Frau von Hanka an, die Lippe hochgezogen, die feuchten Zähne entblößt, die grauen Augen wissend in die Winkel gerichtet, das Knie des vorgestellten Beines leicht gebogen, heute aber die Wange nicht fahl, sondern mit Glut bedeckt. Denn die Botin hatte seit Sonnenaufgang von einer nebelumwogten Eichenkrone aus die Landstraße beobachtet, und später, als Frau von Hanka einen falschen Weg eingeschlagen hatte, war sie in einem rasenden Lauf auf der Peripherie eines Wald-Halbbogens, immer den Vogelschrei ausstoßend, endlich an dieser Stelle ihr zuvorgekommen.

Wie Frau von Hanka nun das Mädchen neben sich sah, wurde sie von einer fast tollen Freude ergriffen. Noch immer war ein Zweifel in ihr lebendig gewesen, ob sie nicht selber noch zurückweichen werde, oder ob ein Traum sie verwirrt, ein Mißverständnis sie irregeleitet habe. Nun aber würde die Seelenführerin sie geradeswegs ihrem Ziele zuführen. Sie sah nicht den geheimnisvollen und verderbten Hohn in den Augen des Mädchens, nicht spürte sie wie gestern den furchtbaren Körperdunst dieses Leibes, kein Wahn von Mareiles Seelenübergang in einen neuen Körper verdunkelte ihre Seele, – sie fand das Kind voller Anmut, Sanftmut und höflicher Gesittung, und den fast lippenlosen, feuchten Mund, der ihr gestern noch wie der Mund des Todes selber gewesen war, heute nahm sie ihn mit einem sinnlichen Vergnügen als einen schönen, vielgeküßten Mund wahr, den selber zu küssen sie eine geheimnisvolle Begierde empfand.

»Da bist du!« rief sie, und sie lachte froh.

»Bitte, geben Sie«, lispelte das Mädchen, und es machte sich an Frau von Hankas Ranzen zu schaffen.

»Nein!« rief Frau von Hanka, im Lachen erglühend. »Der ist zu schwer für dich!«

»Bitte!« bat beharrlich das Mädchen.

»Aber du bist nicht stark genug, ihn zu tragen!«

Das Mädchen lächelte, als sei es einer mystischen Kraft seines Leibes gewiß, von welcher Frau von Hanka wie im Vorhofe des Heiligtumes noch entfernt war.

Die geschickten Hände lösten schnell die Riemen von den Haken, und mit einem süßen Schauder spürte Frau von Hanka die Berührung der Finger.

»Wie lange werden wir gehen?« fragte sie, als sie nun weiterschritten.

»Zwei und eine halbe Stunde.«

Zwei und eine halbe Stunde! Besorgt blickte Frau von Hanka dorthin, wo schräg über dunstigen Baumgipfeln die Sonne stand. Sie erinnerte sich dessen, was Keyserling zum Abschied zu ihr gesprochen hatte: ›Wenn Sie bis zum Anbruch der Nacht nicht zurückgekehrt sind, bin ich nicht mehr da!‹

Sie schritten geschwind dahin, ohne miteinander zu sprechen. Das Mädchen setzte die wohlgeformten Füße fest auf den Waldesboden, von keiner Schwäche oder Müdigkeit bedrängt. Es schien es fast noch eiliger zu haben als Frau von Hanka, – einem Boten ähnlich, der keine Kräfte spart, die hocherlauschte Mitteilung zu überbringen.

Sie durchquerten Wälder, Wiesen, Bäche und neue, immer neue Wälder. Forsten, die undurchdringlich erschienen, mit geheimnisvollen Pfaden, taten sich auf, Baum, Strauch und Nebel wichen zurück, und fern zwischen den Stämmen blickten Seen, deren Ufer sie mieden. Je tiefer sie in die Forsten eindrangen, desto mehr Tiere begegneten ihnen, aber nie eines Menschen Spur. Rehe setzten mit gestreckten Bäuchen über die herbstlich strömenden Gewässer, im Unterholz brach der Hirsch zu seiner lässigen Flucht auf, und ein Fuchs umkreiste beobachtend die Wanderer wohl eine Stunde lang in großen Bögen. In den Wipfeln gurrten die Tauben, krächzten die Häher und die Krähen, und bald begannen auch die Raubvögel von den Horsten aufzustehen, je mehr von den Nebelmassen die blauen Winde verteilten. Einmal galt es, eine breite Seenfläche zu überschreiten. Ein aus vier Stämmen gefügtes Floß lag bereit. Schnell steuerte es das Mädchen zum jenseitigen Ufer hin, fast mit Wildheit bewegte es das schäumende Ruder im Wasser. Dann ging es wieder lange Zeit die Windungen eines dem See entströmenden Baches entlang. Immer hielt das Mädchen die Augen zur Seite, als müsse es achtgeben, daß die Beute ihm nicht entfahre. Auch kehrte es zuweilen sich um und warf voll die Blicke darauf, mit einem scheu fragenden Hohne Frau von Hanka prüfend, ob Furcht in ihren Mienen sei oder ob Ungeduld und Begier ihr den Fuß beflügelten.

Aber Frau von Hanka ging dahin wie Menschen zu den großen Begebenheiten ihres Schicksals wie der Feldherr zu seiner Schlacht, der Staatsmann zu seiner Rede, der Dichter zu seiner großen Szene. Ihre Vernunft arbeitet mit höchster Anspannung, dennoch ist ihnen die Wirklichkeit traumhaft verschleiert. Gedachte sie ihres Hauses und Mannes, ihrer Kinder und Freunde, so war ihr, als habe sie mit denen dort in einem längst gestorbenen Leben gewohnt; aber in der ungeheuren Wirrnis der Wälder verblieb ihr jede Pfadkrümmung, jede Wurzel, jedes Moos und Gestein im Gedächtnis.

In einer schreckensvollen Wildnis dicht wuchernder Kiefern, deren Aste ihnen das Gesicht zerfetzten, blieb plötzlich Frau von Hanka stehen: »Warum sagtest du denn gestern, daß du Schläge bekommst?«

Das Mädchen trat zurück an Frau von Hankas Seite« »Wir sind gleich da«, lispelte es, und es wollte weitergehen.

Frau von Hanka erbleichte. »Ja, – aber ich will wissen, weshalb du fürchtetest, Schläge zu bekommen, wenn ich, die Beeren nicht nähme?«

Das Mädchen schlug die Augen nieder. »Oft konnte ich den Zettel nicht abgeben. Da bekam ich Schläge.«

Frau von Hanka nahm das Mädchen an der Hand. Sie fragte leise: »Jetzt ist er wohl wie ein wildes Tier geworden?«

»Kommen Sie doch!« rief das Mädchen ungeduldig und rauh, und in diesem Augenblick sah es ganz wie die seelenführende Botin des Todes aus.

Frau von Hanka griff in ihre Tasche, – doch nicht nach ihrer Waffe, sondern nach einem talergroßen Spiegelchen, in dem sie die einzelnen Teile ihres Gesichtes schnell betrachtete.

»Gehen wir!« rief sie.

2

Der Hirte ließ die Schatten der Kiefernnadeln über seine besonnte Gestalt dahinwehen. Mit ausgebreiteten Armen die Umrahmung der Tür durchschneidend, so stand er nackten Fußes unbeweglich auf der Schwelle, das eine der Knie leicht gebogen, die bärtige Wange gegen den Pelz aus Lammfell geschmiegt, der mit blütenweißer Reinheit der Wolle seinen Körper bedeckte. Wie er Frau Julius von Hanka kommen sah, ließ er langsam die Arme sinken. Schwer fand er sich in der Wirklichkeit dieser Begegnung zurecht. Dann breitete sich eine angestrengte, purpurdunkle Freude über sein Gesicht aus, das blutflüssig zu werden schien wie die karminroten Heiligengesichter seiner Heimat.

Währenddessen schlüpfte das Mädchen mit einem kleinen erhitzten Jubelruf an ihm vorüber in die Hütte, wo es den Ranzen niederlegte.

Obwohl der Hirt, dicht vor ihr stehend, Frau von Hanka jetzt mit dem Blicke des babylonischen Dionysos umfing, zu dem die entflohene Bacchantin reuevoll zurückkehrt, mit einem berauschten, schielenden, verrückten und vor Grausamkeit fast verstümmelten Blicke, so streckte die Ankömmlingin ihm doch lächelnd ihre tapfere Hand entgegen:

»Da sind wir! Wie geht es Ihnen denn?«

Der Hirt hörte diese Worte an, dachte über sie nach und ergriff dann Frau von Hankas Hand, die er auf eine eigentümliche Art umschloß, mit einer ganz unzeitgemäßen, fernen und fremden Gebärde, wie sie vielleicht den Hirten auf der thrakischen Hochebene vor Tausenden von Jahren zu eigen gewesen sein mochte, wenn sie am Abhange des Berges Pangäus den bacchischen Pflegerinnen begegneten.

Nicht als die erste Berührung ihrer Körper empfanden diese beiden jetzt schaudernd ihr Hand-in-Hand. Sie hatten zu viel aneinander gedacht, als daß es ihnen ungewohnt gewesen wäre, so voreinander dazustehen.

»Sie wohnen hübsch!« rief Frau von Hanka, und sie fing fast zu lachen an, wie sie sich umblickte und ihm die Hand entzog.

Der Hirt sah dieses Lachen in ihren Augen, das er nicht begriff, wie er niemals das Lächeln eines Menschen begriffen hatte.

Wie sie ihn nun betrachtete, wunderte sich Frau von Hanka über seine Erscheinung und Umgebung. Die Hütte erschien sehr geräumig, nach allen Seiten hin zwiefach mit schweren, durch Draht und Pech verbundenen Eichenbohlen geschützt, das im Sparrwerk ruhende Dach ohne beträchtlichen Schaden noch Makel. Der Hirt trug weder Schuhe noch Strümpfe und an Stelle eines Beinkleides nach Art der schottischen Männer einen kurzen, bis zu den Knien reichenden Weiberrock aus braunem Segeltuch; der mit einem Gurt über den Hüften abgeteilte, knapp anliegende, breit über den Schultern lagernde Pelz aus Lammfell gab ihm das Aussehen eines Mannes und Halbgottes, der den Büffelstier beim Horne und den Löwen beim Barte packt.

»Nun müssen Sie mir Ihre Hütte zeigen und mir einen Sitz geben, denn ich bin müde von der Wanderung.«

Mit dem Funkelblicke des Jaguars und mit einem Satze stand der Hirt wieder in der Umrahmung der Tür, um das Mädchen aus der Hütte fortzuweisen. An ihm und an Frau von Hanka mit einem Brote in der Hand vorübereilend, tat es draußen einen steilrechten Sprung, warf den Kopf über die Schulter zurück und brach in ein wildes Singen und Jauchzen aus, das sich mit dem Schrei des Eichelhähers vermischte, bis alles zwischen den Stämmen der Bäume ferner und ferner verklang.

Frau von Hanka betrat die Hütte.

»Dort ist ein Faß zum Sitzen«, sagte der Hirt, dessen Zunge schwer geworden war, wie es Menschen geschieht, die lange geschwiegen haben.

Wie Frau von Hanka sich an der fensterlosen Rückwand des langgestreckten Hüttenraumes auf dem Fasse niederließ, gedachte sie der düsteren Aussage des Gärtners Thomas über die Wohnlichkeit solch eines Pechsiederheimes. Sie hatte sich, als sie den türlosen Schuppen bei den Treibhäusern betrachtete, eine andere Vorstellung davon gemacht. Aber nun trat ein älterer, ihr längst vertrauter Begriff von dieser Hütte in ihren Geist zurück.

Blickte sie in das niedere Sparrwerk des Daches, so sah sie in einem Nebelmeer von Spinngeweben gedörrte Fische, Felle, Tierknochen mit geronnenen Blutflecken, den abgeschnittenen Kopf eines Fuchses, Fledermäuse und Tongefäße hängen. Ein Hirschfell war horizontal, wie ein Sprungtuch in der Arena, zum Trocknen ausgespannt, und die Ratten raschelten darüber hin und versetzten es in Schwingungen. Freilich war diese Hütte, wie Thomas ihre Art geschildert hatte, uralt; doch Hobel, Säge, Hammer und Nägel, jedes nur dienliche Werkzeug hing zwischen wucherndem Efeu an den Wänden bereit, um neben die altersgrauen Planken neue hinzuzimmern, Geräte aller Art verfertigen und die Hütte wohnbar machen zu können. Wenn es an einem rechten Fußboden auch fehlte, ihn bildete die jahrhundertalte, elastische und ganz getrocknete Spreu der Kiefern, und es führten Bretter in der Form eines verlängerten griechischen Kreuzes darüber hin. Man konnte auf ihnen zu dem Herde aus braunem Lehm gelangen, zu dem breiten Lager aus Fellen und trockenem Moos im Winkel hinter dem Herde, zu einer aus altem Holze gefertigten Truhe, zu der klinkenlosen Tür, die mit einer Schnur und einem Haken verschlossen wurde, und zu den beiden kreisrunden, mit Hornscheiben ausgefüllten Fenstern, die Frau von Hanka an die Hüttenfenster chinesischer Tagelöhner erinnerten. Vor einem dieser Fenster, die ein schönes, stumpfes, ockerbraun schwelendes Licht in die Hütte einbrechen ließen, stand ein Tisch und gegen die Wand gelehnt eine Bank. Dieser Tisch schien lediglich dazu bestimmt zu sein, den großen Schmuck der Hütte, ihre Trophäe, zu tragen, einen kürzlich erbeuteten Würgefalken, kunstvoll mit Gras ausgestopft, die Krallen auf einem altersgrauen Brette vernagelt, doch das Gesicht augenlos, mit blinden und noch blutigen Hautgeweben in den Höhlen. Auch den Stock mit dem Weibesleib als Handgriff entdeckte Frau von Hanka jetzt, er hing zusammen mit der Flinte an dem Horn eines Rehbockes.

Der Herr dieser Räuberhütte, in deren braunen Winkeln die Jahrhunderte zu verdämmern schienen, während von oben die Atmosphäre geschichtsloser Jäger- und Fischervölker herniederdrang, stand mit wütend bewegten Nüstern in seinem Weiberrock und seinem Lammpelz an den Herd gelehnt, sah seinem Gaste auf die Stirn und Brust und ließ ihm Muße genug, sich alles dies nach Herzenslust zu betrachten.

Vielmehr nach Herzensbangigkeit! Denn diese Hütte war Frau von Hanka mit geheimnisvollen Schauern längst vertraut. Sie hatte in diesen beizenden Düften aus Rauch und Moder unter dem unbewegten Blicke des Mannes mit der Steinmaske, dem Federkleide und den Krallenfüßen ein ganzes Leben gelebt, hier dienend geschafft, das Feuer im Herde entfacht, die Betten geschüttelt, die Tongefäße geschwenkt und den Talg der Hirsche und Rinder zur Kerze bereitet.

Frau von Hanka riß sich die Mütze vom Haar, sie warf die Windjacke mit der Waffe in der Tasche achtlos auf das Lager. So in Rock und Bluse auf dem hohen Fasse sitzend und ungeduldig mit dem Stiefelabsatz gegen den Reifen klopfend, fragte sie gereizt: »Wer hat Ihnen denn das alles hier besorgt?«

Der Hirt deutete mit einer Kopfbewegung dorthin, wo das Mädchen entschwunden war.

»Das Mädchen? Hat es für Sie gestohlen?«

»– auch bezahlt.«

»So? Wer ist denn das eigentlich?«

Der Hirt antwortete nicht.

»Hat sie Eltern?«

»Danach frag' ich nicht.«

»Woher kennen Sie sie denn?«

Der Hirt starrte Frau von Hanka ins Gesicht. »Woher kennt man die Weiber?«

»Hm. – Wo ist sie denn jetzt?«

»Fort.«

»Ganz fort?«

»Zur Nachtzeit darf sie zurück.«

»Früher nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie stört.«

»Mich und Sie?«

»Ja.«

Frau von Hanka ging auf den Rucksack zu, den sie kniend öffnete.

»Das habe ich Ihnen mitgebracht.«

Sie hielt den Arm nach hinten.

Der Hirt betrachtete, was er jetzt in die Hand bekommen hatte: eine winzige Holzplastik, ein unsäglich gekrümmtes Mädchen, die Stirn im Staub, die Arme anbetend ausgestreckt.

»Was soll das?« fragte er streng.

»So … von der Insel Java … Ein Geschenk …«

Der Hirt hielt das Weib auf den gewaltigen Linien seiner Handfläche, wie der Riese, die Zwergin. Lange betrachtete er es, mit Erstaunen, nicht mehr mit Mißbilligung.

»Ein Weib …« murmelte er verwundert.

»Ja. Es betet Sie an. Sehen Sie es?«

Der Hirt stellte es auf den Herd.

»Und hier sind Eßvorräte und Wollsachen aller Art.«

Der Hirt warf, ohne diese Dinge zu beachten, neues Holz in die Lehmgrube des Herdes. Da ihm nun warm wurde, riß auch er den Pelz ab, den er neben Frau von Hankas Jacke auf das Lager schleuderte.

Nun stand er fast wieder wie im Sommer da: da: Hemd auf der Brust geöffnet, über den herakleischen Armen die Ärmel hoch aufgeschlagen. Nur der erdbraune Rock über seinen Lenden erinnerte an das heidnische Waldesleben dieser Wochen.

Lange sah Frau von Hanka ihn an.

» Ich will jetzt für das Feuer sorgen!«

Sie ging, wie eine Sklavin von Jugend an, zum Herde und machte sich mit dem ungetrockneten Holze zu schaffen, dessen Rauch ihr in die Augen biß.

Der Hirt warf währenddessen einen Blick auf den Ranzen.

»Das brauche ich nicht« sagte er, und er deutete auf die Wollsachen.

Frau von Hanka drehte sich um.

»Werden Sie hier nicht überwintern?«

Der Hirt sah flüchtig über sie hin.

Mit gedehntem Nacken schöpfte sie Wasser aus dem Eimer.

»Was also dann?«

»Dann?« Der Hirt grollte wie ein Raubtier im Winkel seiner Höhle. »Dann? Der Tod!«

»Tod?«

Frau von Hanka schwenkte die Tongefäße mit Wasser aus. Sie schien dort am Herde eher die symbolische Handlung einer Priestergehilfin als eine nutzbringende Tätigkeit auszuführen.

»Wer soll sterben? Sie? Oder ich?«

»Wir beide.«

Frau Julius von Hanka errötete wie ein Mädchen, dem man eine Artigkeit gesagt hat.

»Wir beide.«

Sie rüttelte an dem Rauchabzug. »Gibt es denn hier keinen Schürhaken?«

Der Hirt antwortete nicht.

Sie drehte sich um. »Ist man aufmerksam geworden? Fühlen Sie sich hier nicht mehr sicher?«

Der Hirt stand an der Rückwand der Hütte, mit mächtig ausgebreiteten Armen. Fast tauchte sein bärtiges Haupt in das Meer der Spinngewebe hinein.

»Noch nicht«, sprach er nach oben zu den im ersten Winterschlaf ruhenden Fledermäusen, die mit gefalteten Flughäuten, dicht zueinander gesellt, sich am Nagel ihres Hinterfußes an die Balken gehängt hatten.

Frau von Hanka saß mit einem Satz auf dem Tisch. Sie sprachen zueinander, quer über die Hütte hinweg.

»Jetzt wollen wir reden!« sagte sie ganz weich und schmeichelnd.

»Es gibt nichts zu reden.«

»Doch! Du hast mir geschrieben, du Mann, daß ich kommen und dir helfen soll. Da bin ich! Wir müssen beraten, wie du über die Grenze gelangen kannst. Denn das ganze Land ist hinter dir her!«

Der Hirt verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Seine Hüfte war machtvoll nach außen gebogen.

»Fliehen! – Das kann ich längst.«

»Um des Himmels willen – warum tust du es nicht?«

Der Hirt fand es müßig, sogleich eine Antwort zu erteilen.

»Da!« Er deutete auf den Ranzen. »Nehmen Sie den da auf Ihre Schultern – schleppen Sie ihn – über die Grenze! – Dann wollen wir – fliehen!«

Frau von Hanka senkte das Gesicht. »Bist du meinetwegen geblieben?«

Der Hirt ging grollend zum Herde hin. »Verhaßt sind mir die Worte!«

Tobend begann er Holz über seinem Knie zu brechen.

Frau von Hanka schielte zu ihm hin. Seine zerstörende Gebärde, die mystische Biegung seines gewölbten Knies, die Kuppel seiner Achselhöhle, seine bösen Hände und Augen berauschten sie.

Der Hirt ging zur Tür, die er unmutsvoll aufstieß. Herbstduft und die mittäglichen Schatten der Zweige drangen von den Wäldern herein.

Frau von Hanka griff von ihrem Tisch aus in die Luft. Sie wagte nicht, seinen Arm zu berühren.

»Schließe doch die Tür!« bat sie demütig. »So schön ist es hier drinnen!«

Er warf die Tür zu. Er trat vor sie hin.

Sie sah ihm in die Augen, so nahe, so bemüht um ein Wissen, so drangvoll-fürchterlich, als seien hinter diesen noch tausend andere Augen, deren Urgrund es zu enträtseln galt. Dann, da er ohne Regung verblieb, führte sie ihren küssenden Mund zu seiner Brust.

Sogleich sprang sie auf, noch ehe er sie zu ergreifen vermochte. Planlos wanderte sie in der Hütte umher. Ihre Augen hatten die schräge Glut eines Raubtieres, das, entschlossen, jetzt gegen die Gitter anzuspringen, den Käfig durchmißt. Auf ihren Lippen war ein Geschmack, als habe sie die Ackerkrume der Welt geküßt.

Der Hirt folgte ihr mit aufflammendem Raubtierblick, Er suchte niemals ihr Gesicht, denn er vermochte in keinem Menschengesichte zu lesen, nur das Gesicht der toten Dinge war ihm vertraut und deutbar. Was er jetzt von ihr sah, waren Teile ihres Leibes: ihre Hüfte, ihre Brust, ihre Fußgelenke. Noch hielt er sich von ihr zurück, wie er sich stets zurückgehalten hatte, denn er handelte, ohne es recht zu wissen, planvoll: die Macht seines Wesens und seines Leibes ließ er sie nur ahnen! Um so gewisser mußte sie ihm erliegen!

Sie stand im braunen Winkel hinter dem Herde. Grüblerisch betrachtete sie den Hügel aus Fell und Moos, der ihm zum Bette diente. Efeu bedeckte die Wand, der dort zerblättert war, wo der Hirt im Schlafe seinen Leib gegen die Pflanzen geworfen hatte. Hier auch hatte er aus jungem Holz vier gekerbte Pflöcke in die Wand gefügt. An den Grenzen ihres Bewußtseins schweifte die Frage einher, welchem Zweck diese Pflöcke dienen mochten. Heftig kehrte sie sich zu ihm um. Das Unterirdische seines Blickes flößte ihr Schrecken ein.

»Jetzt möchte ich etwas fragen!« sagte sie, ohne zu ihm hinzusehen. »Viele Wochen lebst du in dieser Räuberhöhle. Nun also kommt die Dämmerung und die Nacht. Die Kerze verlöscht. Das Mädchen hat dir doch Kerzen gestohlen?«

Der Hirt nickte.

»Nun gut. Du löschst die Kerze, denn sie brennt dir ja nicht die ganze Nacht hindurch. Du liegst hier auf dem Fell. Du siehst die Fledermäuse und den Fuchskopf undeutlich im Dämmerlicht, die Ratten rascheln im Efeu, und der Vogel da am Fenster mit der augenlosen Bluthöhle wird von einem blinden Mondstrahl getroffen. – Nun?«

»Nun?« fragte der Hirt.

»Nun?« wiederholte Frau von Hanka, und sie faltete scheu die Hände vor ihrem Schoß. »Was jetzt?«

Der Hirt verwunderte sich. »Jetzt? – Jetzt ist es denn also Nacht –«

Fassungslos sah Frau von Hanka ihn an. »Aber!« rief sie. »Hast du es denn vergessen?«

»Was denn vergessen?« rief ungeduldig der Hirt.

Frau von Hanka flüsterte zu ihm hin: »Steht Mareile denn nicht plötzlich dort neben dem Vogel am Fensters Sieht sie dich denn nicht an mit ihren seltsamen Augen? Zeigt sie dir denn nicht ihren Hals und ihre Hände?«

Enttäuscht ließ der Hirt das Kinn auf die Brust herniedersinken.

»Ach die! Was soll denn die in meiner Hütte?«

»Aber du hast sie doch getötet! … Hier – mit diesen Händen! Ich selber habe es gehört, wie lange – lange sie im Nebel geröchelt und gestöhnt hat.«

»Wer denkt denn noch an die!« entgegnete verweisend, mit einer löwenhaften Würde der Hirt. »Was wollte denn die? Sterben!« Der Hirt lachte. »Nun wohl! Sie ist gestorben! In ihrem Grabe modert sie jetzt!«

Frau von Hanka horchte mit einer leidenschaftlichen Aufmerksamkeit, ob er noch etwas hinzufügen werde. Dann, da er schweigend verblieb, nickte sie mehrmals mit dem Kopfe vor sich hin, fast befriedigt. »Ich habe es mir gedacht …« flüsterte sie.

Sie überlegte. Sie unterbrach sich heftig.

»Halt. Ich habe etwas vergessen! Vielleicht liegt es daran! Du bist ja nicht allein hier in der Hütte! Wo schläft denn das Gerippe, das Mädchen aus Zahn und Knochen?«

Der Hirt deutete mit der Hand auf seine Brust, die wie ein Gebirge geschichtet war.

»Sie schläft bei dir?« wiederholte Frau von Hanka mit einem irren und etwas schamlos-verrückten Lächeln. »Liebst du sie denn?«

Der Hirt ließ die funkelnden Mordblicke schnell über ihre Gestalt dahinschweifen.

Frau von Hanka erbleichte. Sie hatte jetzt ganz verstellte Züge im Gesicht. Sie ging zu ihm hin, und sie nahm seine Hand in ihre Hände wie ein Heiligtum, von dem eine Übermacht ausgeht.

»Warum hast du das getan? War es nicht schön im Sommer? Wir sprachen nicht miteinander, – dennoch waren wir enger verbunden als manches Liebes- oder Ehepaar. Du wußtest, daß meine Augen dich immer suchten und meine Gedanken bei dir waren. Ich wäre noch den Winter dort geblieben, um so mit dir zu leben. Warum hast du sie getötet?«

Blitze zuckten auf der Stirn des Hirten, als entflamme sich ein Gewitter über dem Gebirge der Barbaren. »Beide haben wir sie hingemacht!«

Frau von Hanka schwieg.

Der Hirt schlug mit der Faust an ferne Stirn.

»Wie ist denn das im Leben?« fragte er mit schwerer Zunge. »Kälte gibt es – und Glut! Tiere und Menschen – möchte man niederschlagen – das Fell sollen sie geben – so friert man! Aber es nutzt nichts. In der Brust friert das Eis –«

Frau von Hanka sah ihn an. Sie hatte jetzt ganz den aufmerksam besorgten Ausdruck, mit dem sie vor dem Bette ihrer Kinder stand, wenn sie krank waren.

»Dann kommt die Hitze – wenn die Tiere im Maule nach Blut riechen – und man die Stiere und Böcke – zerreißen möchte – dann – dann ist es da! –«

Frau von Hanka errötete.

»Ja, – im Sommer habe ich es beobachtet. Wann tritt es ein?«

»In der Nacht war es! – Da bin ich gefallen …«

»Lagst du lange?«

»Das weiß ich nicht.«

»Dann bist du erwacht und hast deine Sachen geholt?«

»Ja.«

»So sicher warst du, daß ich dich nicht verraten würde!«

Sie lagen nun auf den Fellen, beide ein wenig trunken von der Vertraulichkeit dieses ersten, wahrhaftigen Gespräches zwischen ihnen, beide ein wenig berauscht, daß auch Worte eine Verständigung zwischen ihnen herbeizuführen vermochten. Wie einer, der die ersten Träumender Sage träumt, so ruhte er im Moose, die Hüfte, die Achsel und den Arm in den Fellen gebuchtet. Sie lag nahe an seiner Hüfte, sie atmete mit spielenden Nüstern den Honig- und Grasduft seines Leibes ein. So schien sie denn für die Lebenszeit an diesen Mann gekettet zu sein! Welch ein schmerzvoller Gedanke, sich auch nur um die Breite einer Hand je von ihm entfernen zu müssen!

»Was willst du bei denen da?« Der Hirt deutete mit dem Haupte nach Westen, nach Herbstfelde. »Das ist nichts für dich!«

Er sprach mit der unerbittlichen Strenge des Schicksals:

»Du mußt mit mir gehen.«

»Mit dir gehen –«

Sie blickte träumend zu dem verworren schönen Lichte der Fenster hin; in ihnen gewahrte sie die Gestalt ihres Schicksals in wirrnishaft ineinanderspielenden Lichtungen.

»Wie lange haben wir noch Zeit? Einen Tag Wenn das Glück gewaltig ist: zwei, drei Tage. – Dann kommen sie in hellen Haufen. – Mit Hunden und Gewehren. – Denn du bist eine Königin. – Du mußt mit mir gehen – heute nacht! Zu denen da gehörst du nicht! Städte gibt es genug. Warschau in Polen. Belgrad. Neapel. Da gibt es Quartiere, – in denen sollen sie uns suchen. Essen und Trinken – das besorg' ich. Stehlen und morden will ich. Ich habe Kraft. Du bist immer bei mir. Du gehorchst und bist gut daran. Denn zu denen gehörst du nicht.«

Frau von Hanka lauschte mit einer bis zum Wahn gesteigerten Aufmerksamkeit.

»Erzähle weiter von unserm Leben.«

»Wie kann man erzählen, was noch nicht war? Da drüben bei denen – jeder Tag ist gleich. Wir greifen Nach dem Messer, schlagen uns durch die Wälder – durch die Städte. Wenn wir eine Kammer haben – gut. Du hast gearbeitet, wie Weiber zu arbeiten haben. Brot will ich herbeischaffen, so oder so. Auch du sollst Brot schaffen. Faulenzen will ich nicht. Das ist nichts für mich: Herumlungern, Kartenspielen, Trinken und Rauchen – wie die andern.«

Frau von Hanka schielte zu ihm hin.

»Soll ich eine Straßendirne werden und du mein Beschützer?«

Hierauf antwortete der Hirt nicht.

Frau von Hanka sagte:

»Und wenn ich nicht mit dir gehe?«

»Dann mußt du sterben.«

Eine Stille.

»Hast du das schon gedacht, als du mich kommen ließest?«

»Ja.«

»Als ich hier eintrat in deine Hütte?«

»Ja.«

»Während wir hier lagen und sprachen und ich Feuer machte, – immer hast du an meinen Tod gedacht?«

»Ja.«

»Und im Sommer, – als du mich im Stall trafst – das erstemal, – immer hast du an meinen Tod gedacht?«

»Ja.«

»An der Quelle? Im Walde? Des Morgens am Brunnen immer an meinen Tod?«

»Ja.«

Eine Stille.

»Wenn du nicht mit mir gehst, so sollst du hier in der Hütte liegen. – Ich will dich ansehen, – wie du tot bist! – Denn du gehörst mir!«

Er riß ihr Gesicht an seine Brust. Er hielt sie mit einer schmerzerzeugenden Gewalt, als halte er etwas Ewiges für die Ewigkeit.

Frau von Hankas Augen waren geschlossen. Jetzt spürte sie den Griff des Ondros! Sein Vogelfuß krallte sich in ihre Hüfte!

Die Züge ihres Gesichtes zeigten die geistvolle Strenge des Todes.

Nach einem Schweigen sagte sie: »Ich will nachdenken. Laß mich ins Freie.«

Sie trat vor die Tür.

Unendliche Stille eines Herbstnachmittages in den Wäldern! Ein wolkenloser Himmel gießt sein goldbleiches Licht über die Gipfel der Forsten hin. Auf dem höchsten Tannenzweige ein Vogel, wie mit Diamant in den Himmel geritzt, starrt, die Beere im Schnabel, dem Licht nach. Im Dickicht knarrt ein Ast, und dumpf fällt eine Frucht.

Unten im Schatten lehnt Frau von Hanka die Schläfe an die Wand der Hütte.

»O Trunkenheit dieses Herbstnachmittages! … Ahnt er denn, wie groß die Verführung dieses Lebens und dieses Todes ist, die er schildert? O Pantherfuß im Dickicht meines Schicksals! … Sinkendes Lichtgesicht dort droben!«

Der Vogel hatte die Beere geschluckt, er begann zu flöten, eine dunkel betörende Totenklage. Er war vom Zuge der Vögel zurückgeblieben, nun sang er sich dem Winter und dem Untergang entgegen.

›Horch! Er singt wie Stephans Okarina! … Ich bin gefangen. Ich bin verloren. Ich habe keine Wahl mehr. Wie kalt ist die Welt geworden! …‹

Angst preßte ihr Herz. Ihr fröstelte. Sie trat in die Hütte zurück, sich wärmer zu bekleiden.

Der Mann dort drinnen war nicht mehr ruhig. Er warf seinen Leib über die Felle. Ein schwarzblauer Nimbus umgab wie eine Gewitterwolke sein barbarisches Haupt.

Frau von Hanka sah ihn an, sie senkte die Stirn. Hier drinnen rannen unter dem Opfersteine, der schon für sie gerichtet war, die unterirdischen Quellen ihres Seins. Draußen aber flötete Musik, und die Götter winkten mit ihrem gesitteten Lichte.

Abermals trat sie hinaus, jetzt mit der Windjacke bekleidet. Sie ging auf und nieder, die Wimpern gesenkt, die Hände in den Taschen, mit dem schleifenden, schleichenden Schritt, der ihr eigen war.

›Das Orakel in meiner Brust, das ich befragen wollte, – es gibt keine Antwort. Sie redet nicht dem, die Sibylle, der sie mit Ketten an ihren Stuhl fesselt! … Ist alles vergeblich gewesen?‹

Plötzlich stutzte sie. Sie hatte in ihrer Tasche die Waffe berührt.

Sie schlich zur Tür zurück. Mit dem Rücken hielt sie sich gegen die Wand, dicht neben jenem Platze, wo am Geweih des Rehes die Flinte und der Stock hingen.

»Gib acht!« rief sie. »Jetzt schieße ich!«

Zorn entflammte sich auf der Stirn des Hirten, wie er die Waffe in ihrer Hand erblickte. Aber er lehnte sogleich das Haupt gegen die Wand zurück. Frau von Hanka sah sein im Efeu schimmerndes Gesicht, seine Brust und die lose über den Fellen hingelagerten Beine.

»Gib acht auf deinen Kopf!« rief Frau von Hanka.

Der Fuchskopf im Sparrwerk fiel polternd auf die Erde, in eine Wolke von Staub und Rauch gehüllt.

Der Hirt hatte nicht das Lid seines Auges geregt.

Da ging Kathrin von Hanka zu ihm hin, sicherte die Waffe und legte sie mit der Demut einer Tributpflichtigen zu seinen Füßen nieder.

»Nun siehst du es, was ich für eine Frau bin!« sagte sie, auf ihren Knien sich wiegend. »Glaubst du, wenn ich jetzt mit dir gehe, daß ich dir nicht entfliehen kann, wann immer ich wollte?«

Mit Wut griff seine Faust jetzt in ihr Haar, wie die Faust des Dämons in die Schar der Verdammten greift. In einer Kreiselbewegung auf ihren Knien entwand sie sich ihm. Dann stürzte sie mit unsäglicher Gewandtheit davon. Sie jagte, zuerst noch spielend, mit Lust an ihrer eigenen Bewegung, dann sehr gequält und gehetzt quer durch die Hütte hindurch. Wieder erlitt sie die Verfolgung wie in jener Nacht im Walde.

Sie rissen die Schlinggewächse mit ihren Fäusten von der Wand, sie zertraten den Fuchskopf, der über den Boden dahinrollte, oder sie warfen ihn sich wie einen Ball zum Hindernis vor die Füße. Die altersgrauen Staubgewebe der Spinnen verfingen sich zwischen ihren Wimpern und schlugen ihre Augen mit Blindheit. Mäuse und Ratten wirbelten mit erschreckten Pfiffen die Spreu des Bodens auf, Fledermäuse schwankten unsicher flatternd durch die dunkle Luft wie tödlich getroffene Schiffe in der Dämmerung, und der Rock des Hirten bauschte sich wie ein geschwelltes Segel.

Endlich stürzte sie vor den Fellen im Winkel, keuchend wie eine Sterbende, ihm in den Arm. Ihr Körper bildete eine in den Knien gebrochene, sehnsüchtig strebende Diagonale zu seiner Brust hin, gegen welche die Schläfe ihres zurückgesunkenen Hauptes lehnte, während der linke Arm, ihre Brust überquerend, wie der abgehauene Ast eines Baumes stumpf zur Tiefe herniederhing. Würgend umfaßte die Hand des Hirten ihren Hals. Dicht über ihrem Munde war sein Gesicht gelagert wie das Gesicht eines bösen Tieres, das beißen wird.

Jetzt, wie sie zwischen halbgeöffneten Lidern dieses Götzen- und Tiergesicht gewahrte, das gierig sich anschickte, sein heidnisches Mahl zu verzehren, jetzt wurde ihr Leib von einer spasmodischen Lust ergriffen. Sie fühlte den höchsten Augenblick ihres Lebens, zu dem ihr Schicksal dahingeflogen war wie ein Pfeil, seitdem sie als Kind die Glieder geregt und die Augen zum Lichte erhoben hatte.

Niemals hatte ihr Körper solch einen in Wonne getauchten Schmerz empfunden, nicht bei der Empfängnis, nicht bei den Geburten ihrer Kinder. Sie schrie, als zerschnitten Hunderte von Messern die Muskeln, Sehnen und Nerven ihres Leibes.

Aber noch war nicht so viel Zeit vergangen, um die Wimper auf- und niederzuschlagen, als ihr Leben von seinem höchsten Gipfel lotrecht wie ein tödlich getroffener Raubvogel herniedersank, sausend durch die Lüfte, an Felsschroffen, Matten, Bergseen, erhobenen Tiergesichtern und menschlichen Heimstätten vorbei – hinab und hinunter in einen lichtlosen Höllenring voll Verzweiflung, Entsetzen, Niedergeschlagenheit und Reue.

Und mit diesen beiden: dem Aufstieg und dem Niedergang, war ihr ganzes Leben beschlossen, denn in allem, was noch folgte, war nichts mehr, war kein Gran mehr, das je dem Mythos ihrer Seele Salz und Kraft verliehen hätte.

Noch aber schwebte die Drohung dieses Gesichtes wie ein blutender Stern über ihrem Munde, und triumphierend, keuchend, unfähig, das Wort zu finden, fragte der Hirt: »Jetzt … jetzt … gehörst du mir jetzt?«

Sie antwortete mit einem sekundenschnellen Schluchzen: »Ja … immer gehörte ich dir.«

»Du wirst mit mir gehen?«

Sie antwortete:

»Nein.«

Er glaubte sie unmächtig ihrer Sinne. Er wiederholte: »Gehörst du mir?«

Sie antwortete:

»Ja.«

»Wirst du mit mir gehen?«

Sie antwortete:

»Nein.«

Er stieß ihren Kopf gegen die Wand, als habe er einen Türschläger in der Faust, mit dem es eine Pforte zu erschüttern galt.

Sie schrie.

»Gehörst du mir?«

»Ja.«

»Du wirst mit mir leben?«

»Nein.«

Noch einmal kam ein Schrei aus ihrem Munde, und es war ihr, als risse die Wand der Hütte mitten entzwei und die Luft der Hütte verdunkelte sich vor ihren Augen.

Flehend griff sie nach seiner Hand.

»Ach! Wo wir hingehören, dort können wir nicht leben!«

Er stieß sie zurück. Ihr Gesicht fiel über ihre Schulter nieder.

Der Hirt preßte die Handflächen gegen die Schläfen.

»Jetzt mußt du sterben!«

3

Dort, wo im Efeu die Pflöcke mit den Kerben eingelassen waren, dort stand sie gefesselt an der Wand, die Hände auf dem Rücken, die Füße dicht geschlossen. Wortlos, ohne Widerstreben, mit einem sanften Lächeln hatte sie sich zu jener Richtstätte schleifen lassen, die der Ort ihrer Marterung und ihres Todes wäre. Über die Waffe, die ungeachtet am Boden lag, war sie auf Zehenspitzen mit leichtestem Schritte hinweggeschritten.

Der Hirt hatte sie mit dem Judaskuß des Mörders auf die Lippen geküßt, und sie hatte seinen Kuß mit einem geheimnisvollen Lächeln lange Zeit inbrünstig erwidert. Nun kauerte er auf dem hingeworfenen, noch blutigen Hirschfell. Um ihn anzusehen, mußte sie das Haupt schräg zu der Schulter neigen.

Quer über den Raum der Hütte hin suchten sich ihre Blicke. Zuweilen wandte sie den Stern ihrer Augen von ihm fort, um ihn dann abermals aufs neue zu ihm hinzuwenden.

Vor den blinden Fenstern sank das Licht des Abends mutlos zusammen. Der Fuchskopf, gegen den Fuß des Hirten gelehnt, schielte mit schiefgeschnittenem Auge ebendiesen Fuß an. Leicht war sein Maul geöffnet, als sei er im Begriff, den Fuß seines Mörders zu beißen. Die gedörrten Fische im Sparrwerk strömten den leimartigen Geruch der Verwesung aus, der sich mit dem fauligen Hauche der Spinngewebe vereinigte. Die Ratten pfiffen in den Winkeln.

In jeder zunehmenden Stunde dieses Abends aber kehrte Kathrin von Hanka sich häufiger von dem Hirten ab.

Endlich sah sie ihn nicht mehr an.

Von nun an trug sie die Fesseln so, als habe ein großer Fürst der Natur sie erzeugt und eine untadelige Mutter aus tausendjährigem Häuptlingsgeschlechte sie geboren. Sie empfand nichts von Furcht. Sie spürte keinen Schmerz. Zum letzten Male entfaltete sie hier vor dem Stein des barbarischen Götzen, dem sie geopfert werden sollte, jene gelassene Anmut, mit der sie die Gesellschaft zweier Erdteile entzückt hatte.

Schweigend begann sie nun von dem Hirten Abschied zu nehmen. Ohne die Lippen zu regen, dankte sie ihm, daß er immer gewesen war, wie ihr großer Wunsch bildend ihn geschaffen hatte. Sie küßte ihm im Geiste die Hände, daß er sie niemals, zu keiner Zeitspanne dieses und aller vergangener Tage der Enttäuschung des Alltags überliefert Hatte. Kein Knecht und kein Schwätzer war der Ondros gewesen, sondern ein hoher Geist aus Leib und Stein, mit dem zermalmenden Fuße des Menschen-Vogels.

Dann aber, in der Spätdämmerung, umschattete Todesfurcht Kathrin von Hankas Gemüt. Ihr flackernder Blick suchte sehnsuchtsvoll die kleine javanische Figur, die einst in ihrem Zimmer auf dem Tische gestanden hatte.

»Zimmer! Zimmer!« flüsterte sie. Sehnsüchtig formte ihr Mund diesen Laut, als verlange es sie nach einem Schwamme für ihre Lippen.

In einer leichten Umschleierung der Sinne fiel das Haupt ihr gegen die Schulter nieder. Ein mütterlich holder Schmerz breitete sich über die Züge ihres verdämmernden Antlitzes aus. Sie trug ein unsägliches Verlangen nach jedem hohen menschlichen Werte, sie sehnte sich nach dem Höchsten, nach ihren Kindern.

Und, wie die Nacht sich erhob, sank vor diesem Bilde großer Menschengesittung der Mann auf dem Fell zusammen. Ihm fiel das Kinn auf die Brust zurück, sein zerbrochenes Auge richtete sich allmählich in die Leere hinüber. Seine Stirn zeigte die beinerne Farbe gebleichter Knochen, und die Haut seines Leibes begann wie ein Gletscher zu schimmern. Es war, als umklammere jetzt die Eiszeit mit ihrem tödlichen Arme die Umrisse eines Gebirges.

Aus ihrer Ohnmacht sah die Gefesselte noch einmal zu dem Hirten hin. Wie er unmächtig und ohne Bewußtsein dort in der Hütte lag, lächelte sie mit dem Lächeln eines Kindes, das aus dem Schlaf erweckt ist und wieder in den Schlaf zurückfallen will. Die Augen gingen ihr über …

Wie sie erwachte, fuhr sie entsetzt zusammen.

Im trüben Mondlichte, vor dem Vogel mit den blutigen Augenhöhlen, die Füße neben dem Fuchskopf, an dem die Ratten nagten, stand mit einem blödsinnigen Lächeln ein Gerippe, und mit brauenlosen Augen blickte es zu ihr hin.

Mareile?

»Mareile?« fragte Kathrin von Hanka laut.

Sie sah, wie die Erscheinung auf gebogenen Zehen behutsam die Gestalt des Mannes umging und dann triumphierend vor ihr daniederhockte.

»Nun?«

»Du bist es!« Kathrin von Hanka fühlte die lebendige Kraft des Lebens aufs neue in ihrem Blutstrom kreisen, wie sie das Mädchen erkannte. »Schnell! Hole ein Messer und schneide mich los!«

»Sind Sie angebunden?« flüsterte das Mädchen neugierig.

»Geschwind! Geschwind! Nimm ein Messer und schneide mich los!«

Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf.

»Höre! Höre! Komm näher!« Kathrin von Hanka flüsterte leidenschaftlich, in ihren Fesseln sich windend, wie Niobe in ihrem Schmerze. »Du bist sehr elend und arm. Ich will dir Gutes tun, dir warme Kleider und Schuhe geben, und du sollst Unterricht haben wie mein eigenes Kind. Wie eine Prinzessin sollst du gehalten sein und nie in deinem ganzen Leben mehr eine Not erleiden … Ich schwöre es dir, – bei was willst du, daß ich es dir schwören soll? An was glaubst du? Liebes Mädchen, ich schwöre es dir bei dem Leben meiner Kinder. – – Schnell! Geschwind! Nimm ein Messer und schneide mich los!«

»Tut es sehr weh?« flüsterte das Mädchen.

»Bist du denn so unmenschlich? Hörtest du nicht, was ich dir sagte? Er will mich töten! Ich will dich glücklich und gesittet machen, und du sollst später einen guten Mann bekommen, und was du dir Schönes wünschst, sollst du erhalten! Jetzt aber schnell! Geschwind! Nimm ein Messer und schneide mich los!«

»Hat er Sie geschlagen?«

»Geh!« rief Kathrin von Hanka laut, und sie erhob ihr dunkelbraunes Gesicht – wie ein Indianer, der am Marterpfahle von seinem Feinde verhöhnt wurde.

Der Hirt aber röchelte, als bedränge ein Alp seine Brust. Das Mädchen schlich zu ihm hin. Aufmerksam betrachtete es ihn. Wie er danach strebte, sich aufzurichten, stützte es ihn mit dem Arme.

Nun stand er, und Kathrin spürte einen Frosthauch, der sie getroffen hatte.

Lange Zeit stierte er ins Leere. Dann schritt er taumelnd zum Herde. Jetzt blinkte ein Stahl ihm in der Faust.

Es ist der Tod, dachte Kathrin von Hanka. Die Lider wurden ihr schwer, und ein innerliches Schluchzen erschütterte ihre Seele.

Da spürte sie einen Schnitt an den Handgelenken und noch einen an den Füßen.

Sie reckte und sie dehnte sich.

Sie war frei!

Der Hirt stieß die Tür auf. Er ging hinaus. Dort lehnte er sich wie ein Schlaftrunkener gegen den Pfosten und starrte in den mondlichtschillernden Wald. Die flachen Hände mit eng an der Brust liegenden Armen gegen die Schlafen gepreßt, so begann er zu singen, setzte ab und begann aufs neue und abermals und immer, immer wieder: den dunklen, betörend-wirren, uralten Einsamkeitsgesang der sabellischen Hirten, wenn sie berauscht vom heißen Dufte der Minze in der Mittagsschwüle zu dem ewigen Staube der Gräberstraße hinunterblicken.

Im Angesichte der geöffneten Tür wurde Kathrin von Hanka von einer fast wahnwitzigen Freude ergriffen. Sie legte die zitternden Hände auf den Mund.

»Du zeigst mir den Weg?« fragte sie flüsternd das Mädchen.

Ganz demutsvolle Bereitschaft war es jetzt. Unterwürfig schielend hauchte es: »Ja … aber 's ist kalt, und schwer ist der Weg zu finden …«

»Du sollst dafür so viel Geld bekommen, wie ich bei mir habe … Zieh die Wolljacke an! Jetzt vorwärts!«.

Sie eilte zur Tür hinaus. Geschwind drehte sie sich um.

Wie eine Frau, die im Davonstürmen aus einer Kirche den ehrerbietigen Gruß nicht vergessen darf, so sank sie schnell danieder. Doch sie verharrte in ihrer Beugung.

Sie lehnte ihre Stirn gegen das Knie des Hirten. »Lebe wohl!«

Der Hirt war stumm und ohne Regung.

»Lebe wohl! Lebe wohl!« rief Frau von Hanka, und sie erhob sich ungestüm.

Nach zwanzig Schritten blieb sie stehen. Sie horchte. Noch einmal erklang verwehend in den Wäldern sein irres Singen.

Sie liefen.

»Vorwärts! Was mag die Zeit sein?«

Das Mädchen blinzelte zu der Scheibe des Mondes hin. »Neun Uhr.«

»Höre! Wir müssen laufen wie nie in unserm Leben! Wirst du finden?«

»Ja«

»Dich nicht verirren?«

»Kommen Sie!« rief das Mädchen. –

Kurz vor dem Krug von Frokehlen, wo sie gegen Mitternacht eintrafen, nahm Frau von Hanka das Mädchen an der Hand: »Du sollst zu mir kommen nach Herbstfelde. Du bist ein erbärmliches Geschöpf, aber ich will für dich sorgen. Reich – reich sollst du belohnt werden, wenn du ihn über die Grenze geleitest. Hörst du? Er ist ein Blinder! Du mußt ihn an der Hand nehmen und führen! Dann komme zu mir und hole dir deinen Lohn.«

Sie gab Geld hin, soviel sie hatte. Das Mädchen eilte zurück, seine Füße schimmerten auf dem weißen Wiesenplane weiß im Mondlicht.

Zwei Minuten später jagte Frau Kathrin von Hanka mit der Höchstgeschwindigkeit ihres Wagens die Landstraße entlang. Sie geriet alsbald in Nebel, unaufhörlich ließ sie die Sirene erschallen, die mit ihrem geisterhaften Heulen die Wälder erbeben machte.

In der Nähe von Rüstrow begegnete ihr im Nebel ein Fuhrwerk, mit dem sie fast zusammengeriet. In den Dörfern und in der Stadt selber verringerte sie die Geschwindigkeit nur um ein weniges. Trunkene aus einer Schenke schrien ihr Schimpfworte nach.

Gegen zwei Uhr bog sie, keinen Augenblick den Gesang der Sirene aussetzend, von der Landstraße aus in die Platanenallee von Herbstfelde ein. Die große Lampe vor dem Portal breitete wie ein Leuchtturm in der Nacht ihr gewaltiges Licht aus, andere Lampen brannten in verschiedenen Zimmern ihr entgegen. Sie fuhr in den Hof hinein, mit rasenden Signalen die Menschen alarmierend.

»Wo ist Keyserling?« rief sie zu einem geöffneten Fenster.

»Der Graf kommt sogleich«, ertönte die Antwort.

Frau von Hanka schwenkte die Hand winkend in der Luft.

Menschen kamen ihr entgegen.

»O Gott im Himmel, was für Angst haben wir um die gnädige Frau ausgestanden!«

»Ja, ich habe mich verspätet! Sind die Kinder gesund?«

»Die Zwillinge sind wohlauf, aber der junge Herr fiebert.«

Frau von Hanka sprang aus dem Wagen.

Keyserling trat aus seinem Haus.

»Deinen Arm, Keyserling! … Ich komme nicht mehr bis zur Treppe … Sprich kein Wort! Du lebst.«

Keyserlings Gesicht erzitterte. Er sprach kein Wort, wie ihm geheißen war, aber er ließ nicht davon ab, ihre wiedergewonnene Erscheinung mit den Augen in sich aufzunehmen.

Vor Stephans Tür begann Frau von Hanka an Keyserlings Arm zu schluchzen.

Die Schweizerin saß bei gedämpfter Lampe am Bett des Knaben. Sie war eingeschlummert.

Sie fuhr empor. » C'est Madame!« sagte sie.

Stephan schrie, wie er sie eintreten sah. Er sprang aus dem Bett, umfaßte nicht wie ein Sohn, sondern wie ein Liebender die Hüften seiner Mutter, die ihre überströmenden Augen in seinem Haar verbarg.

Aus all ihren Tränen richtete sie ihr Gesicht mit einem Ausdruck lächelnder Verzweiflung zu Keyserling hinauf.

»Niko, ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, ich will nie – nie – nie wieder – –«

Aber sie sprach nicht aus, was sie nie wieder wollte.


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