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In den ersten Tagen des Oktober, als es wieder sonnig und warm geworden war, begann Frau von Hanka ihre Spaziergänge ein wenig auszudehnen. Stets aber suchte sie die offenen Flächen auf, Feld oder Rasen. Sie hatte bemerkt, daß sie nicht mehr so streng behütet wurde, da sie immer vom Schloß oder Hof aus in angemessener Blickweite verblieb.
Dieser größeren Freiheit ungeachtet, war sie in den letzten Tagen jedesmal mit einer peinigenden Empfindung in das Haus zurückgetreten. Infolgedessen setzte sie einige Tage lang diese Spaziergänge aus. Sie blieb in ihrem Liegestuhl auf der nach Südwest gerichteten Terrasse, die schöne Herbstsonne im Gesicht.
›Ich bin nervös‹, dachte sie am dritten Tage ihrer freiwilligen Gefangenschaft. ›Wenn ein Kind mich ansieht, fühle ich mich unruhig und gequält.‹
Sie begann zu lesen. Vom Musikzimmer her drangen Töne zu ihr herauf. Stephan spielte dort unten mit Zärtlichkeit immer wieder dieselbe Passage aus der »Zauberflöte«. Sie ließ alsbald das Buch niedersinken.
Wenn ein Kind mich ansieht!
Sie stand auf, ohne recht zu wissen, was sie tat, und ging hinunter in den Park. Sie hielt das Buch in der Hand. Vom Park aus ging sie zum Hof hinüber und dort die Front der Rinderstallungen entlang, dann den Seitenflügel abschreitend. An der Hinterwand dieser Stallungen standen, ein Schuttfeld flankierend, rauchgraue Flieder- und Jasminbüsche, sodann eine Wildnis von Brombeer- und Himbeergestrüpp, mit Hagedorn gemengt. Inmitten dieser Wirrnis kauerte ein Kind, ein Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren, das aus allerlei Steinen, Glasscherben, Disteln und Blättern ein Vogelnest im Schutt erbaut hatte und nun aus Weidenzweigen sich ein Körbchen flocht. Wie es Frau von Hanka erblickte, stand es sogleich auf, als sei es bei einer Untat ertappt worden.
Frau von Hanka sah das Kind an und das Kind Frau von Hanka. Es war ein vernachlässigtes, unsauber gehaltenes Geschöpf mit aufgelöstem Haar von unbestimmbarer, blond-grau glitzernder Farbe, fast so silberig wie der Stengel der Distel, den es in der Hand hielt. Es war mager und schlecht, genährt, doch von zierlichem Gliederbau; es hatte hübsche, wohlgeformte Füße und Beine, allenthalben an seinem Körper eine unbeschädigte, gleichmäßige, lichtgraue Haut; aber sein Gesicht war häßlich und fast verdorben, und es hatte einen zweckvollen Blick. Die niedrige Stirn war voller Falten, die Nase erschien eigentümlich hautlos und daher totenhaft knochig, und auch die kurze Oberlippe, die eine Reihe quadratischer Zähne zeigte, erinnerte an das lippenlose Gebiß eines Totenschädels. Dennoch ging eine Atmosphäre sinnlicher Kraft, ja geradezu sinnlicher Heftigkeit von dem Kinde aus.
Nun kehrte Frau von Hanka wieder um, und ziemlich geschwind strebte sie dem Hause zu. Sie war ärgerlich, daß es so vernachlässigte Kinder auf Herbstfelde gab, und sie erinnerte sich jetzt auch, dieses Kind in der letzten Zeit schon einige Male gesehen zu haben, immer an derselben Stelle, im Schutt und Unrat zwischen den Beerensträuchern spielend.
Vor der Auffahrt angelangt, lenkte Frau von Hanka noch einmal das Auge auf den Weg, den sie zurückgelegt hatte. Nun sah sie, daß das Kind ihr gefolgt war, freilich nicht über den grünen Rasen hinweg, sondern scheu am Waldessaum entlang, am Rande jenes Birkenschlages, der zur Wiese führte. Es schlich auf Zehen, es war besorgt, seine Füße zu verletzen. Von ferne blickte es Frau von Hanka bedeutsam und rätselhaft an und schlug sich alsdann seitwärts in den Park.
Nun erinnerte sich Frau von Hanka wiederum, daß dieses Kind ihr bereits mehrmals auf ebendieselbe Art bis zum Schloß gefolgt war, immer mit demselben bedeutsamen Blick zum Abschied, wenn es seitwärts in den Büschen entschwand.
Frau von Hanka war gerade im Begriff, der Erzieherin der Zwillinge, die ihr vor dem Eingang begegnete, ihre Entrüstung zu bekunden, daß es hier auf dem Hofe Kinder von so verwahrlostem körperlichem und seelischem Zustande gab. »Denken Sie, Mademoiselle –«, begann sie zu berichten. Aber sie verstummte plötzlich, wurde blaß und eilte an dem alten Fräulein vorbei, durch die Halle hindurch, die Treppe hinauf.
Oben sah sie aus einem geöffneten Fenster nach jener Richtung des Parkes, in der das Mädchen entschwunden war. Sie glaubte dort unter den Bäumen eine Gestalt entdecken zu können, die regungslos das Gesicht zu ihr hin gerichtet hatte. Lange Zeit richtete auch sie ihr Gesicht dorthin, dann trat sie zurück.
›Das ist sonderbar‹, dachte sie, immer noch blaß vor Schrecken. ›Dieses Kind ähnelt in nichts Mareile. Mareile war unschuldig, und diese ist lasterhaft. Mareile war schön, und diese ist häßlich. Kein Zug in ihrem Gesicht gleicht denen von Mareiles Gesicht, und dennoch ist etwas von Mareile in diesem Geschöpf! Jetzt weiß ich auch, daß dies seit Tagen der Grund meines Mißbehagens ist. Wäre ich ein Ostasiate, ich glaubte, daß Mareiles Seele jetzt in diesem verdorbenen Körper ihre neue Behausung gefunden hat.‹
In den nächsten Tagen wurde die Witterung wieder trübe, es begann zeitweise zu regnen, ja einmal sogar wurde aus dem Regen ein wässeriger Schnee, der in der Nacht auf den Herbstblättern der Wälder gefror. Frau von Hanka blieb im Hause, und am Tag vergaß sie das Kind. Nur nachts stand es vor dem Einschlafen rätselhaft und mahnend und rufend vor ihrer Seele, immer mit jenem bedeutsamen Blicke, mit dem es in den Wäldern zu entschwinden pflegte.
Am vierten Tag leuchtete die Sonne in einem wolkenlosen Herbsthimmel. Frau von Hanka ging spazieren, an jeder Hand einen der Zwillinge, in einem ganz andern Teile des Gutes, nämlich nach jener Seite hin, wo die Hügel sich erhoben. Dort in den Wäldern begegnete ihr das Mädchen. So unversehens trat es aus dem Tannendickicht hervor, daß die Zwillinge vor Schreck aufschrien, dann freilich ein übermütiges Gelächter anstimmten, als sie entdeckten, daß es eben nur ein armes, nacktfüßiges Bauernmädchen war, das Beeren gesammelt hatte.
Aber Frau von Hanka war nicht willens, diesen Überfall hinzunehmen.
Sie herrschte das Mädchen an: »Was hast du hier zu suchen? Wer bist du? Wo kommst du her?«
Nicht wie ein gescholtenes Kind schlug das Mädchen die Augen nieder, sondern wie ein gereifter Mensch, der sein Auge verbergen will.
»Mutti, es ist ein armes Mädchen!« flüsterten die Zwillinge, ganz betreten von Frau von Hankas Unmut. »Wir wollen ihr etwas schenken – bitte!«
In einem noch heftigeren Tone redete Frau von Hanka das Mädchen an:
»Willst du antworten? Wie heißt du? Wer sind deine Eltern?«
Das Mädchen trat einen Schritt näher. Frau von Hanka roch den verdorbenen Dunst ihrer Haut, und entsetzt von dem Wahn, der ihre Seele überflügelte, dachte sie wiederum: Mareile! Mareile!
»Bitte, nehmen Sie!« sagte das Mädchen, und es bot ein Körbchen voll Beeren dar.
Die Kinder brachen in Ausrufe fast entrüsteten Mitgefühls aus. »Mutti, sie will uns ihre Beeren geben! Du mußt sie nicht schelten! Schenke ihr doch ein ganz, ganz klein wenig Geld! Bitte! Bitte!«
Frau von Hanka entgegnete, viel milder, doch immer noch mit Strenge: »Du sollst deine Beeren behalten. Du darfst auch so viel pflücken, wie du nur immer magst. Wenn du Hunger hast, so sollst du in die Schloßküche kommen und dir täglich so viel zu essen geben lassen, bis du satt bist. Aber du sollst jetzt ein gehorsames Mädchen sein und mir antworten, wer du bist.«
»Bitte, nehmen Sie!« sagte das Mädchen. »Sonst bekomme ich Schläge.«
Bei diesem letzten Wort ›Schläge‹ hob sie die Lider, und mit ihren dämmergrauen Augen sah sie Frau von Hanka an.
Voller Abscheu und ratlos blickte Frau von Hanka auf das zierlich geflochtene Weidennestchen herab, das halbgefüllt mit Brombeeren war.
»Von wem bekommst du Schläge?«
Das Mädchen zeigte lächelnd sein totenhaftes Gebiß.
»Bitte, nehmen Sie doch«, flüsterte es, und es lächelte stärker.
Nun griffen die Zwillinge nach dem Körbchen hin. Da aber nahm es Frau von Hanka schnell in die Hand, damit die Kinder es nicht berührten.
Wie sie aufblickte, sah sie das Mädchen gegen die nächsten Tannen hin entschwinden.
Voller Widerwillen, ja mit Ekel, hielt sie das Körbchen in der Hand. Sie sah sich um, sie suchte eine Stelle, wo sie es hinwerfen könnte.
Da traf ihr Blick noch einmal auf die Beeren. Etwas Weißes schimmerte dort, ein Papier, mit dem der Boden des Körbchens bedeckt worden war. Vorsichtig schob sie mit ihren Fingern die Beeren zur Seite.
»Ist da etwas?« fragten die Zwillinge, und sie reckten sich.
Frau von Hanka hielt einen schmutzigen, von Beerensaft befeuchteten Fetzen Papiers in der Hand, der mit Bleistift beschrieben war.
Sie las das Geschriebene, sie dachte darüber nach, sie las es noch einmal und immer wieder. Dann nickte sie mit dem Kopfe vor sich hin, fast ebenso, wie der Gärtner neulich genickt hatte: Siehst du, so geht es im Leben der Menschen zu!
»Steht da etwas auf dem Papier?« flüsterten die Zwillinge ganz ehrfurchtsvoll, denn sie dachten an die klugen Sprüche, die man in den Knallbonbons findet, wenn man mit zugekniffenen Augen Mut genug gehabt hat, die Zündschnur knallen zu lassen.
Frau von Hanka warf das Körbchen und die Beeren fort. Den Zettel verbarg sie in der Tasche ihres Mantels.
»Kommt, Kinder, wir gehen wieder nach Haus«, sagte sie, und sie lächelte den Zwillingen zu. Doch sie schwankte ein wenig, wie eine Berauschte.
Frau von Hanka rief an diesem Nachmittag durch das Haustelephon die Köchin an. Sie wolle morgen hier in der Gegend eine arme, kinderreiche Familie besuchen, der sie allerhand Nahrungsmittel mitzubringen wünsche. Sie werde jetzt einen Zettel in die Küche schicken, auf dem sei alles Erforderliche verzeichnet. Man solle ihr den Vorrat in einen Ranzen verpacken und diesen für morgen früh sieben Uhr bereithalten.
Darauf stieg sie mit der Jungfer und den Dienstmädchen in die Schrankkammer unter das Dach, und sie begann nach Leinen und Wollsachen zu »kramen«. Sie scherzte mit den Mädchen, und die Mädchen scherzten mit ihr.
»Sie haben einen Bräutigam wie ein Tambourmajor, Johanne,« sagte sie, »hier sind Handschuhe für seine Raubtiertatzen! – Halt! Nein!« Sie besann sich. »Diese Handschuhe brauche ich selber! … Dafür bekommt der Tambourmajor diese Wollweste!«
Die Mädchen lachten mit heißen Augen.
»Der Tambourmajor taugt keinen Pfifferling, gnädige Frau«, erklärte Johanne, die, wie alle Mädchen aus dem Volk, ihren Liebsten in der Öffentlichkeit gern ein wenig herabsetzte. »An dem ist alles für die Katz'!«
Frau von Hanka legte die Handschuhe für die Raubtiertatzen zur Seite. »Das ist wahr. Oft sind gerade die Tambourmajore die größten Blender«, sagte sie, und alle Mädchen lachten.
Sie beschenkte die Mädchen heute reichlicher als je. »Der Winter kommt, und ihr sollt es hübsch warm haben, ihr Häschen!«
Die Mädchen liefen davon, mit kleinen, glucksenden Lauten in der Kehle. Trafen sie Kameradinnen auf den Treppen, so schickten sie sie zu der gnädigen Frau in das Schrankzimmer.
»So! Jetzt Schluß!« rief Frau von Hanka, und sie schüttelte ihren Rock und lachte den Nachzüglern ins Gesicht, die sich in der Tür hereindrängten. »Ihr kommt zu spät! – Ihr kommt zu spät, ihr armen Pechhäschen!«
Einen Haufen Sachen, den sie für sich gesondert hatte, gab sie der Jungfer. »Das kommt in meinen Ranzen für morgen früh!«
Und den Nachzüglern rief sie zu: »Teilt euch in den Rest!«
Dann ging sie in das Kinderzimmer, wo sie mit den Zwillingen Würfelspiele spielte. Sie war so heiter wie seit vielen Wochen nicht. Sie stritt sich schrecklich mit den Kindern herum. »Ihr betrügt mich ja! Ihr betrügt mich ja!« rief sie ganz entrüstet, und die Kinder warfen sich auf die Bäuche, so mußten sie über ihre Mutter lachen, und es wurde ihnen ganz heiß davon. Auch Stephan kam herzu, den der Lärm angelockt hatte. »Was gibt es denn hier Schönes?« fragte er neugierig, und er war schon im voraus ganz bereit, mitzulachen.
»Gut, daß du kommst!« rief Frau von Hanka. Während sie den Würfelbecher schüttelte, zog sie den Knaben am Arm zu sich herab auf die Erde: »Du weißt doch immer, wo alles liegt. Vati hat doch so einen kleinen Revolver aus Belgien mitgebracht, mit sechs Schüssen. Weißt du, in welchem Schranke der liegt?«
»Jawohl, das weiß ich!« antwortete Stephan eifrig. »Ich kenne den Schrank, und ich kenne auch das Kästchen, in dem die Patronen aufbewahrt sind. Aber der Schrank ist fest verschlossen.«
» Oh Madame, ne parlez pas des choses pareilles!« rief die Schweizer Erzieherin entsetzt, die auf dem Stuhl am Fenster saß und, eine Brille über den alten Augen, Wäsche für die Kinder ausbesserte.
»Den Schlüssel habe ich. Du mußt mir nachher den Schrank und das Kästchen zeigen. – Es ist jetzt gut, Mademoiselle, irgendeine Waffe bei sich zu haben, wenn man über Land fährt.«
Nachdem die Kinder Kakao getrunken hatten, ließ sich Frau von Hanka den Schrank zeigen, den sie aufschloß. Sie nahm den Revolver und die Patronen aus dem Kästchen, und sie ging in ihr Boudoir, wo sie Briefe zu schreiben begann. Einer dieser Briefe war sehr ausführlich, die Feder bedeckte Seite um Seite, die andern aber waren kurz gehalten. Der lange trug die Aufschrift »Für Julius«, die kürzeren »Für die Eltern«, »Für Marie Ursel«, »Für Nikola«. All diese Briefe verschloß sie in dem mittleren Schubfach ihres Schreibtisches.
Nach dem Abendessen ließ sie sich den Chauffeur kommen. Für morgen früh benötige sie den kleinen Tourenwagen. Ob er in Ordnung sei? – Ja, das sei er. – Sie werde allein fahren. – Das sei recht. – Nun bäte sie noch um die Karten von Frohkehlen und Umgebung und um das Kontinentalbuch. Sie müsse sich etwas ansehen. – Die werde er sogleich heraufbringen. – Danke schön. »Und,« fügte Frau Julius von Hanka mit schmeichelnder Stimme hinzu, »wollen Sie mir einen großen Gefallen tun, lieber Brauwitsch?«
Brauwitsch warf seinen guten Berliner Blick auf Frau von Hanka.
»Sagen Sie, bitte, niemand heute abend, daß ich allein fahre.«
Brauwitsch antwortete nicht, aber seine stumme Gebärde bezeugte: das wird erledigt.
Eine Viertelstunde später hatte Frau Julius von Hanka all ihren scharmanten Krimskrams vom Tisch gefegt und darüberhin geographische Karten ausgebreitet, die sie längere Zeit mit Eifer und Sorgfalt studierte. Dann faltete sie sie wieder zusammen, klingelte nach der Jungfer und ließ sich zum Abendessen umkleiden.
Frau Julius von Hanka hatte zu diesem Abendessen Nikola Keyserling bei sich zu Gast. Ihre Unterhaltung war freundschaftlich und heiter. Nachdem sie den Mokka am Kamin getrunken hatten, gingen sie durch die Halle, durch die anliegenden Zimmer und Korridore – nur das Rauchzimmer vermieden sie – und sie betrachteten Bilder, Stiche, ostasiatisches Gerümpel und französische Seidenbrokate aller Art; sie besprachen sich, ob man die farbigen Berliner Stiche in den Gängen umhängen solle, damit sie besser zur Geltung gelangten. Wie sie in die Halle zurückgekehrt waren, hob Keyserling sein Monokel an das Auge. Er betrachtete den van Gogh, den Sisley und den Henri Rousseau.
»Jetzt sind sie wieder schön geworden«, murmelte er befriedigt.
»Was brummst du, Nikola?«
»Nichts, liebe Kathrin!« Keyserling sah Frau von Hanka zärtlich, gerührt und begeistert an.
Sie hatte in der Tat alles an diesem Abend daraufhin angelegt, so angesehen zu werden. Ihr Kleid aus Silberbrokat, gewichtslos fast wie ein Nebelwölkchen, zart wie ein Hemd – die Einheit ihres Leibes mit seiner Hülle, die mystische Eleganz dieses Körpers, der nicht bekleidet und nicht entblößt, sondern ein Drittes geworden war; diese Transsubstantiation, in der Leib und Kleid einen neuen chemischen Stoff gebildet haben: es betörte Nikola Keyserlings schönheitsgewohntes Auge. Er war erstaunt, sie heute in einem bedeutungsvollen Schmucke zu sehen, den sie niemals zuvor auf Herbstfelde angelegt hatte, auch dann nicht, wenn sie Gäste hatte. Dieses Sautoir korallenblasser Rose-Perlen, die ihr den Nacken und Busen, und diese Perlenschnur, die ihr den Hals schmückten, sie waren Hochzeitsgaben ihres Mannes und ihrer Eltern gewesen, Geschenke, die zu jedem Erinnerungstage dieses Festes ständig erweitert wurden. Zwei von den Ohren an Platinkettchen herabhängende Perlentropfen, zart wie die Haut eines schlummernden Kindes, verliehen ihren Wangen und Ohren den Glanz eines ganz jungen Weibes, als sei erst gestern diese Dankesgabe für das Geschenk des erstgeborenen Sohnes ihr zuteil geworden. Das Schwarz ihres Haares und ihrer Augen wiederholte sich am Ringfinger in einer schwarzen Perle, während die helle Perle desselben Ringes noch einmal allen Korallenglanz ihrer Frauenhaut in sich umschloß: dies waren Symbole für Wolfgang und Katharina, Brüderchen und Schwesterchen, die hier als Zwillinge am selben Stamme blühten und leuchteten. Und endlich diese vielfach um das Handgelenk geschlungenen Schnüre kleinerer Perlen und bunter Halbedelsteine, sie waren die Gabe der Eltern gewesen, wie Kathrin als Mädchen vor den Augen der Eltern ihrem Hunde, der zu ertrinken drohte, in der Sturmesbrandung der Nordsee nachgeschwommen war und mit zerfetzter Haut, Brust gegen seine Brust gepreßt, an den Strand zurückgespült wurde.
Mit gesammelter Haltung sahen auf ihrem Fell die Sky-Terriers in das Feuer, und aufmerksam, mit halb geöffneten Mäulern, verfolgten sie aus ihren von Seidensträhnen überhangenen Augen jede Veränderung des brennenden Holzes: die Vorgänge dieser Flammenbühne schienen ihnen bedeutungsvoll zu sein wie dem Menschen die Begebenheiten seines Dramas. Die Katze aber beschnupperte die glitzernde Spange auf Frau von Hankas Schuh mit geblendeten Augen.
Frau von Hanka und Keyserling sprachen an diesem Abend nur von leichten Dingen: von Büchern, die sie gelesen hatten, von Bildern, die Keyserling einst in Kurland besessen hatte, von den Kindern und ihrer Entwicklung und von allerlei Getier, zumal von Hunden auf dem Gut. Im Verlauf der Unterhaltung fragte Frau von Hanka:
»Was ist eigentlich aus Mareiles Hündin geworden?«
»Ich habe sie an mich genommen. Sie war am Schrillensee nicht beliebt.«
Sie schwiegen nun eine Zeitlang. Sie sahen in das Feuer wie die Tiere zu ihren Füßen.
»Wie angenehm ist es in Herbstfelde!« sagte Frau von Hanka. »Ich möchte einmal einen ganzen Winter mit den Kindern hier sein.«
Sie fühlte den ehrerbietigen und leidenschaftlich beglückten Blick, den Keyserling auf sie gerichtet hatte. Sie fühlte sich schuldig, diesen Blick zu empfangen, sie neigte ihr gescheiteltes, duftendes Haupt zur Seite, und sie begann mit der Katze zu spielen, die sich auf den Rücken geworfen hatte.
»Wissen Sie, was ich glaube, Niko? Ich glaube etwas sehr Merkwürdiges. Und das Merkwürdige, das ich glaube, ist folgendes: Marie Ursel und Julius lieben sich.«
Keyserling entgegnete kaltblütig und geschwind, denn er hatte längst über diese Sache nachgedacht: »So merkwürdig ist diese Annahme nicht, denn einiges war in diesem Sommer deutlich geworden. Aber ich glaube doch, daß in Wahrheit Julius nur Sie zu lieben vermag, Kathrin. Vor Marie Ursel hat er eine solche Achtung, daß er, wie alle Männer seiner vornehmen Art, den Respekt mit der Liebe verwechselt.«
»Ja, aber denken Sie sich, als wir verlobt waren – so wie auf dem Bilde im Jagdschloß! – da hat er auch einmal vor mir solchen Respekt gehabt und hat ihn mit der Liebe verwechselt.«
Keyserling lächelte. »Ich glaube nicht, daß er je einen Augenblick in seiner Ehe diesen Respekt verloren hat.«
Frau von Hanka sann hierüber nach. »Doch! Neulich nachts! Da begannen die Schatten jener Dinge, von deren Dasein er nichts ahnt, vor seinen Augen zu flimmern. Haben Sie nicht bemerkt, wie er in den letzten Tagen seine ganze ›Logik‹ verzweifelt heraufbeschwor, um nachzudenken? Ach, Niko,« klagte Frau von Hanka, »er begreift es nicht, der kluge Mann! Man kann ja nicht, ›nachdenken‹ über das, was so geheimnisvoll durch den Irrgarten unsrer Brust dahinwandelt.«
Keyserling schwieg betreten.
Frau von Hanka lächelte zart. »Für den Fall, daß ich sterben sollte, Niko, müssen Sie den beiden sagen, daß sie sich heiraten sollen. Ja? Dann haben meine Kinder, eine bessere Mutter als jetzt.«
Keyserling nahm Kathrins Hand in seine Hände. Er sah ihr spöttisch, mit zarter Ehrerbietung in die Augen.
»Todesgedanken? Hat man Ihnen den nahen Tod prophezeit?«
Frau von Hanka nickte mit komischer Betrübnis:
»Ja, den Tod!«
»Natürlich! In den besseren Ständen ist das Sitte: in jeder guten europäischen Gesellschaft findet man irgendeine hübsche, junge, der Wahrsagekunst mächtige Baronesse, die einer anderen, noch jüngeren und noch hübscheren Baronesse prophezeit, sie werde nicht weit über das dreißigste Lebensjahr hinausgelangen.«
Frau von Hanka zeigte lachend ihre Zähne.
»Genau dasselbe hat mir vor zwei Jahren die Gräfin Esterhazy in Villa d'Este prophezeit!«
Keyserling nickte befriedigt. »Luli Esterhazy! Natürlich!«
Er streichelte noch einmal diese Hand, gab sie behutsam zurück und sagte: »Es wird Ihnen gewiß Freude machen, zu hören, daß ich Ihren Tod nicht eine Stunde zu überleben gedenke.«
»Das würde mich gräßlich kompromittieren, Niko! Und alle Leute, die von uns behaupten, daß wir ein Verhältnis haben, würden Triumphposaunen blasen.«
Verwirrt sah Keyserling ins Feuer. Der Anblick dieser Verwirrung ergriff Frau von Hanka. Sie faßte mit jenem Enthusiasmus, dessen eine junge Frau fähig ist, einen kühnen, ihr selber unerwarteten Entschluß.
»Niko!« rief sie stürmisch. »Du hast mich lieb! Deshalb sollst du auch nicht belogen sein! Ich habe dich nämlich neulich im Boudoir schauderhaft angelogen und ein dummes Spiel mit dir gespielt! Das hat man so an sich als Frau … Überhaupt, schrecklich viel gelogen habe ich in diesem Sommer! Jetzt aber sollst du erfahren, warum du heute abend Irroy zu schlucken bekommen hast und Marianne ein Diner machen mußte, daß Brillat-Savarin vor Rührung geweint hätte. Du sollst etwas zu sehen bekommen, und die Augen werden dir übergehen!«
Ehe Keyserling ein Wort zu erwidern vermochte, war sie fortgegangen, ja sogar fortgelaufen.
Er wartete, mit einer unbehaglichen Empfindung. Aber er drehte den Kopf doch so, daß er sich das Schauspiel zu geben vermochte, sie bei ihrer Rückkehr durch die Halle auf sich zukommen zu sehen. Denn das war seine Leidenschaft: die Art ihres Ganges zu beobachten, wenn sie einen Raum durchschritt.
Jetzt sah er sie im Halbdunkel der Halle mit dem lässigen Gang ihrer hohen Beine daherkommen, zögernd, wie ein verdrossenes oder etwas verlegenes Raubtier. Van Goghs herbstgelber Blumenstrauß leuchtete einen Augenblick über ihrem gedehnten Nacken, dann baute sich neben ihrer Schläfe wie eine Bühnenperspektive Sisleys Seinelandschaft auf, endlich aber bildete Henri Rousseaus auf der Palme hingekauerter Tiger eine Tigergloriole um ihr Haar.
»Da!«
Mit abgewandtem Gesicht und mit weit ausgestrecktem Arme reichte sie Keyserling jenen beschriebenen und von Beerensaft befeuchteten Papierfetzen hin, den sie heute vormittag im Weidenkörbchen gefunden hatte.
Keyserling hielt das Blatt in der Hand. Er legte sein Monokel an das Auge, das Papier drehte er dem Feuerstrahle zu. Er las:
» Lei deve venire in soocorso! La ragazza l'attende ogni mattina al Litauer Krug presso Frokehlen.«
»Was … was bedeutet das hier?« fragte Keyserling, und in demselben Augenblick stand er von seinem Stuhle auf.
Frau von Hanka nahm ihm den Zettel aus der Hand. »Das bedeutet: ›Sie müssen kommen und helfen! Das Mädchen erwartet Sie jeden Morgen am Litauer Krug hinter Frokehlen.‹«
Sie warf den Zettel ins Feuer.
»Und was es noch bedeutet? Daß ich morgen dort hingehen werde, wo das Mädchen mich erwartet.«
Sie nahm ihren früheren Sitz am Feuer wieder ein.
Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie aufmerksam und forschend das Gesicht des Freundes.
Es war zwei Uhr nachts geworden. Längst war das Feuer im Kamin erloschen, und es fehlte an Holz, es zu entfachen. Trübe Glut lag auf dem kupfernen Rost, und hinter dem Roste dämmerte die verqualmte Eisenplatte, auf welcher die Darstellung der Höllenfahrt Christi zu ahnen war. Die Hunde schliefen, zuweilen mit Traumlauten bellend. Im Hintergrund der Halle, wo ein Kandelaber brannte, sprang die Katze in Stakkato-Angriffen die Wände, die Gardinenschnüre, die über Tischen hängenden Stoffe an, ihr spukhaftes Lärmen erfüllte dumpf die Halle bis zum Kamin hin.
Frau von Hanka und Keyserling saßen wie zuvor in denselben Stühlen einander gegenüber.
Keyserling sah übermüdet und gealtert aus, wie ein Mann seines Lebensjahres nach einem fürchterlichen Zechgelage. Seine Hände zumal waren verwittert, gelb und verbraucht, mit Riefen auf den Fingernägeln. Die Hemdbrust war zerknittert und mit Asche verunreinigt. Da ihn fror, so hatte er den Kragen seines Abendjacketts im Nacken hochgeschlagen. Aber er hatte nun einen neuen strengen, fast finsteren Blick, mit dem er Frau von Hanka betrachtete.
Frau von Hanka ihrerseits hatte nichts von der köstlichen Frische ihrer Erscheinung und von dem Glanz ihres Teints eingebüßt. Aber bedeutungsvoller als zuvor wölbten sich über den dunkelstrahlenden Augen die blauschwarzen, breiten, geistreich hochgespannten Brauen. Die grau-weißen Arme auf den Schenkeln ruhend, die leicht spielenden Hände zwischen den Knien, das Gesicht über diese Hände geneigt, so sprach sie mehr zu der Erde hin als zu Keyserling:
»Sie sagten vorhin, daß Sie mich nun, bis Julius käme, wie eine Gefangene in diesem Hause halten würden –«
»Ja, das ist meine Pflicht.«
»Ich will sie ehren und will ihr nicht entgegenstellen, daß ich in meinem Hause bin und also doch ganz frei wäre. Doch von etwas anderem will ich sprechen. Ich bin eine Frau meiner Zeit, und ich war ein Mädchen und ein Kind meiner Zeit. Ich erinnere mich aber nicht, daß man je einen wesentlichen Zwang auf mich ausgeübt hätte – nein, in allem Bedeutenden meines Lebens durfte ich, ganz wie Marie Ursel, ganz wie alle Mädchen und Frauen meines bürgerlichen Kreises und meiner Bekanntschaft, mit vollkommener Freiheit handeln. So fehlt mir nun in meiner Erziehung und in meiner Gewöhnung jede Voraussetzung zu einem Zwange.«
Mit Bitterkeit entgegnete Keyserling: »Ich aber erinnere mich am heutigen Abend zum erstenmal der Erziehung und Gewöhnung meiner mütterlichen Vorfahren, der Bojaren, denen die Braut am Hochzeitstage auf einem Kissen das Zeichen ihrer ehelichen Unterwerfung überreicht. Da die Vernunft in euch Frauen zu manchen Stunden verdunkelt ist, so muß der Mann in seiner alten, schreckensvollen Gestalt als Barbar vor euch hintreten, und dann erst kann er im richtigen Sinn euer Kamerad werden. Um dieser Kameradschaft willen verbiete ich Ihnen, Kathrin, dieses Haus zu verlassen, bis Julius, den ich benachrichtigen werde, hier eingetroffen ist.«
»Nun, ich will annehmen, Julius ist hier eingetroffen, und er führt mich mit sich fort und bringt mich zur ›Heilung meiner Nerven‹ in ein psychoanalytisches Sanatorium oder er ›zerstreut‹ mich mit irgendwelchen Reisen in die Ferne – kurzum, er unternimmt alle jene Narrheiten, mit denen in dieser Zeit die Seele ›geheilt‹ wird – was wird dann aus meinem Leben werden?«
Streng musterte Keyserling die Sprechende. »Ein Leben der Pflicht, Kathrin! Kein schweres Leben für Sie, deren Pflicht darin besteht, so beschwingt, so heiter und so gut zu sein, wie wir alle Sie bisher gesehen haben!«
Frau von Hanka lächelte über ihren spielenden Händen ein schneidendes Lächeln.
»›So beschwingt! So gut!‹ Sie vergessen hinzuzufügen: ›und so spielerisch amüsant!‹ Wie prickelnd war das für Sie, als ich zum Andenken an jenen Überfall im Walde ein Kästchen kaufte! Wie fühlten Sie sich im Grunde doch amüsiert, wenn ich ›mit der Tenue, mit der ich zu flirten pflege‹ – so lautete doch der Ausdruck, nicht wahr? – hier im Sommer die Augen nach jenem Manne drehte! Nun aber, wo ich mich aus meinen feigen Träumen aufraffe und meine Tapferkeit beweisen will – die höchste und wertvollste im Leben des Menschen, die zu sich selber! – nun sollte ich mit der Gewalt gebändigt werden?«
»Ehre Ihrer Tapferkeit!« entgegnete Keyserling finster. »Ich will das meinige dazu tun, liebe Kathrin, daß nicht Sie und alle, die an Ihnen hängen, je diese Tapferkeit zu bereuen hätten.«
»Nun – macht Sie das nicht stutzig, Keyserling? Ich bin seit heute vormittag so glücklich wie nie zuvor in meinem Leben! Ich sah meine Kinder, ich spielte mit ihnen, ich beredete allerlei mit Stephan, und ich sah ihn lange an und ich legte die Gesichter meiner Kinder vertrauensvoll in den Schoß des Schicksals zurück, aus dem ich sie dereinst in meinen Schoß empfangen hatte. Und mit einer Freude ohnegleichen kleidete ich mich zum Abend um, um ganz allein die Stunden mit Ihnen zu verbringen. Niemals während dieses ganzen Tages war ein Zweifel, war eine Reue oder auch nur eine Unruhe in mir lebendig! Ganz im Gegenteil! Ich fühlte mich leicht und erhoben und so schön dahingetrieben wie in unsern Träumen vom Schweben und Fliegen. Da ich so ohne Gewissen bin, wie sollte ich da nicht in mir selber ganz frei sein? Und sollte ich dann nicht auch frei von der Gewalt der Menschen werden?«
Keyserlings schmales Gesicht lag im violetten Dunkelschein der letzten Glut. In diesen Stunden der Nacht hatte eine geschwinde Hand über sein Gesicht Schrift an Schrift des Leides gereiht.
»Frei werden – zu welcher Tat?« entgegnete er scharf. »Erinnern Sie sich denn überhaupt noch, was Sie zu tun beabsichtigen? In die Wälder laufen zu dem letzten und schlechtesten der Knechte!«
Keyserling stampfte mit dem Fuß. Er sprang auf. Er ging vor dem Kamin auf und nieder, die Fäuste geballt, mit den Zähnen knirschend, fast schielend vor Empörung.
»Das ist unmöglich zu ertragen! Ich, der ich meinen Gedanken verboten habe, Sie auch nur in dem Arme Ihres Mannes zu sehen, ich sollte jetzt meine Phantasie mit dem niedrigsten Bilde beflecken –«
Auch Frau von Hanka war aufgesprungen. Sie errötete und erbleichte wie ein Mädchen. Schnell legte sie die Hände auf die Schultern des Freundes, die sie streichelte. Sie flüsterte, beschwörend, vor Scham und Erregung hauchend:
»Vernichte mir nicht das Schönste, was ich habe, durch ein Bild des Grauens! … So darfst du nicht denken! So darfst du nicht sprechen! – Denn sieh,« sie streichelte ungestüm seine Schulter, »so denke ja auch ich nicht! Kein Gedanke streift so weit – streift so nahe zu diesem Mann hin! Vor seinem Nimbus angelangt, stehen die Gedanken unbeweglich still! Immer nur, immer will ich es denken und mich daran freuen, daß ich morgen zu ihm hingelangen muß – aber welch ein Sinn mich dorthin leitet, das, gerade das erkenne ich erst, wenn ich bei ihm bin! Dann erst, in seiner Gegenwart, kann ich mich selber wie ein Orakel befragen: wer bist du von jeher gewesen?«
Ihre schmeichelnde Hand und ihre Nähe besänftigten ihn wunderbar. Doch kehrte er sich ab. Planlos irrte er im Hintergründe der Halle umher. Die Katze dort ließ ihre schleichenden Spiele fahren. Sie heftete sich an seine Fersen. Träge und im Abstande folgte sie ihm auf seinen Wanderungen, mit steifen Gliedern schreitend, was ihr das Aussehen von Alter und Urweisheit gab. Die Hunde am Kamin waren aufgefahren. Bedrückt lauschten sie nun auf die Schritte des Menschen dort hinten im Lichte und auf die große Stille der Nacht. Sie standen mit ihren zottigen, schwermütig gesenkten Köpfen einander gegenüber vor der Eisenplatte mit dem schwarzen Evangelisten, auf dessen Angesicht die zerfallende Glut ihren letzten Strahl warf. Der strenge Duft, den die Firnisse der Bilder in den Raum entsandten, vereinigte sich mit dem Geruch des Rauches, den die Nachtwinde in den Kamin zurückgetrieben hatten. Irgendwo im Hause öffnete und schloß sich eine Tür mit Seufzern.
Frau von Hanka war in ihren Stuhl zurückgekehrt. Alles Licht in ihren Augen, das Weiße und das Schwarze, war dem Grafen zugewendet, den sie beobachtend aus ihrem Schatten her betrachtete. Auch Keyserling kehrte nach einiger Zeit zu seinem Sitz zurück. Das Haupt fröstelnd zur Schulter hingeneigt, so begann er zu sprechen:
»Ich muß entschuldigend zu Ihnen sprechen, wie der römische Hauptmann in der Legende: Ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und sage ich zu einem, tue das, so tut er es. Ich bin ein enger Mensch. Ich bin ein baltischer Landedelmann. Es ist nicht meine Sache, ein Mann mit einer großen Seele zu sein. Ich sah alle Einrichtungen vernichtet, die mir ehrwürdig gewesen waren: Monarchie, Armee und Ämter, die Gesellschaft, mein Volk, mein Haus, meine Frau, meine Kinder. Vernichtet auch ich, so kam ich zu Ihnen. Da fand ich noch einmal in Ihnen, in Ihrer Ehe, in Ihren Kindern und Eltern, in Ihren Lebensumständen und in Ihrer ganzen Art zu sein: ein vollkommenes Gebilde, mir Ehrfurcht erweckend und wert, wie es mein Souverän, meine Freunde und mein Volk mir gewesen waren. Sie waren nicht meiner Heimat, Rasse und Kaste. Sie waren bürgerlich in wunderbarstem Sinne. Sie waren für mich: über alle Begriffe adelig. Ich liebte Sie, – aber so heilig war mir die großartige Bürgerlichkeit Ihres Daseins, daß ich noch nicht einmal mit einem Blicke je versucht hätte, Sie zu meiner Liebe zu verführen. Denn jeder Gewinn dieser Liebe hätte meine letzte Ehrfurcht zerstört, die noch geblieben war. So ehrte ich Sie und Ihren Mann und Ihre Kinder mit Opfer und Schmerz. Jetzt aber sollte ich die Tür öffnen, damit dies alles dem letzten und dem schlechtesten der Knechte anheimfalle? Noch einmal eben jene viehische Zerstörungswut triumphieren lassen, die jedes blühende Gesicht in Europa in den Staub tritt? Nein!«
Frau von Hanka nahm Keyserlings Hände. Sie streichelte sie, und dann küßte sie diese verwitterten Hände mit ihren schönen, breiten, demütigen Lippen.
»Ich danke dir für deine Liebe, Graf Nikola, und ich danke dir für die Ehre, die du meinem Manne und meinen Söhnen und mir damit erwiesen hast, daß du mich nie auch nur mit einem Worte oder mit einer Miene zu verführen trachtetest. Nun aber« – sie ließ seine Hände fahren – »muß ich in Nichtachtung deines Gefühles mit dir sprechen und muß es mich ganz vergessen lassen, daß du mich liebst. Zweimal schon hast du an diesem Abend von dem Manne, zu dem ich gehen will, als von dem letzten und schlechtesten aller Knechte gesprochen. Nun muß ich dir widersprechen! … Aber warte ein wenig, es ist kalt geworden, und ich will für Wärme sorgen, dann wird es uns besser ergehen.«
Sie schritt eilends davon, und nach einiger Zeit kehrte sie zurück, in jeder Hand einen schweren Eimer voll Fichtenholzes schleppend.
Vor dem Kamin atmete sie lächelnd. »Das war eine Last!« Und sie stieß mit ihrem Atem eine Haarsträhne aus der Stirn. Wäre Keyserling nicht so in sich selber versunken gewesen, so hätte auch er wohl gelächelt oder ihr bei ihrem Werke geholfen. So beobachtete er mit geteiltem Bewußtsein, wie sie auf ihrem schönen Kleide niederkniete, Stroh über die Roste breitete, darüber ein gotisches Werk von kleinen und immer stärkeren Hölzern errichtete und diesen architektonischen Bau mit einem Zündholz entfachte. Mit Rauchwolken schlug das Feuer in die Höhe, und sogleich schien auch der dunkele Jesus mit ausgebreiteten Handflächen zur Unterwelt herniederzufahren. Keyserling aber sah, wie die Perlen an Frau von Hankas Ohrgehängen erröteten im Glücke dieser zur Hölle abwärts strebenden Bewegung.
Nun, da aufs neue Licht und Wärme eingedrungen waren, schmiegten sich froher die Hunde in den Kreis, und aus den nächtlichen Bezirken ihrer Raublust schlich die Katze in die gute Nähe der Menschen zurück. Im Hintergrunde aber, auf dem Urwaldbilde, starrten die Tigeraugen von der Palme aus begehrlich zur Feuerstätte hinüber.
»Ich habe dir noch nicht genug gesagt, wie dieser Mann mich während der Sommermonate berauscht hat! Ich war unfähig, an etwas anderes zu denken als an ihn und etwas anderes zu sehen. Was er sprach, war mir nicht wesentlich und wichtig, doch jede seiner Bewegungen und Mienen war es. Ich gewöhnte mich daran, ihn auszuspähen oder zu belauschen. Da der Gutshof so nahe vor dem Schloß liegt, konnte ich ihn von vielen Fenstern her vor Augen haben, ich wurde mit den meisten seiner Lebensgewohnheiten vertraut. So bemerkte ich unter anderm an ihm eine fast geheimnisvolle und eigentlich unitalienische Hinneigung zum Wasser. Mehrmals am Tage wusch er seinen schönen Leib, sein Gesicht und seine Hände am Brunnen, und ich glaube, es verging kaum ein Tag, an dem er nicht in einer Quelle gebadet hätte. Es schien aber kein Reinlichkeitsbedürfnis in unserm heutigen Sinne dabei zu walten, sondern eher eine hochzeitliche Begierde nach einer Vermählung mit einem lauteren Stoffe. Nachdem ich ihm dann eine Zeitlang Tag für Tag mit den Blicken gefolgt war, wurde ich über seine ganze Person stutzig. Er schien mir ein durchaus von allen andern Menschen abgesonderter Mann und Mensch zu sein. Wenn man, wie mir Marie Ursel erzählt hat, die Götter daran erkennt, daß sie nicht blinzeln, so schien auch er ein ähnliches Erkennungszeichen aufzuweisen: er stand nämlich zu manchen Zeiten völlig ruhend, fast lebensruhend in der Landschaft. Sein Leib wurde regungslos, er wurde wie ein gefrorener See im Winter starr und blind. Die Haut seines Leibes schimmerte gletscherhaft, und der Blick seiner Augen blickte in sich selber zurück. Ich hatte zuerst den Teufel in ihm gesehen, und dies hatte mich gewaltig zu ihm hingezogen, denn ich liebe das Böse. Nun aber erkannte ich noch etwas anderes und Höheres in ihm – etwas, das weder Gott noch Teufel, sondern dieses beides wie in einer Kugel umschlossen war. Und wenn mich das erste verlockt hatte, so berauschte mich nun das andere und Höhere. Soll ich weitersprechen?«
»Sprechen Sie weiter.«
»Ich bin nicht klug genug, um ausdrücken zu können, was ich empfinde. Ich kann es leichter, wenn ich nicht von einem Fremden, sondern von mir selbst spreche. Seit meinem zwölften Lebensjahr träume ich von Mario –«
»Mario?«
»Ja, so nenne ich diesen Mann, zu dem ich hingehen will, denn so ist sein Rufname. Seit meinen Kinderjahren begegnet mir im Traum ein Mann – immer in den Wäldern, niemals in einer Behausung oder auf einer Straße, zuweilen vor einer Art verfallener Holzhütte oder am Rand eines Gewässers, in einer exotischen Landschaft, die von Papageien und Affenhorden bevölkert ist. Ein Mann, von Gesicht aus vulkanischem Gestein, wie die Götterbilder der in den mexikanischen Wäldern hausenden Indianer oder wie die Götterbilder mancher Negerstämme des Äquators – ein Mann, dessen Rumpf, Arme und Hände einen Hauch von kühlem Glase oder von Eis ausströmen, dessen Hüften und Schenkel mit bunten, stechend hervorstehenden Federn befiedert sind und dessen Füße von übergewaltiger menschlicher Form, doch fast an der Grenze von Vogelkrallen gebildet sind. Er hat niemals zu mir gesprochen, und nur ein einziges Mal habe ich ihn berührt, wie auch er mich nur ein einziges Mal berührt hat. Obwohl er schreitet und wandelt, so weiß ich doch nicht, ob er ein Leben ist oder ein Tod oder ein bewegt gewordenes Gebilde – Geist oder Gebirge. Doch dies erscheint mir ganz unwesentlich. Denn das Wesentliche von ihm kenne ich, als sei er seit meinen Kinderjahren ein mir vermählter Mann. Und dieses Wesentliche ist seine übermenschliche Grausamkeit, die aber sich selbst nicht erkennt und also nur im Leidenden grausam ist, nicht aber im Wirkenden. Soll ich weitersprechen?«
»Sprechen Sie.«
»Da ich nun aber eine Frau bin und die Wirklichkeit und Lebendigkeit liebe und suche, so konnte ich nicht, wie dies vielleicht ein Mann und ein Heiliger vermocht hätte, mich mit meinem Traumbilde zufriedengeben, sondern ich suchte meine Traumgestalt im Dasein der Welt. Denn mein Gehirn wurde allmählich müde, und es zerstörte meinen Körper, ihr in so viel Nächten träumend zu begegnen, zumal da ich doch am Morgen nach solchen Begegnungen die Empfindung hatte, der Ondros – so nannte ich ihn – habe von meinem Blute getrunken. So begann ich aufmerksam zu werden, und so fand ich den Ondros auch zuweilen in meinem Leben, einmal in einer Hafenstadt, wo er ein Tier tötete, einmal im Walde nicht weit von unserm Haus. Aber da ich ein sehr feiger Mensch war und eingesponnen in das, was ihr mein ›Wesen‹ nennt, so lief oder ritt ich stets eilends davon, wenn ich ihm begegnet war. Hier aber, auf diesem Boden, verließen mich langsam meine Feigheit und mein ›Wesen‹. Nun blieb auch des Nachts der Ondros von mir fern. Hier habe ich nur in den ersten Tagen des Frühlings von ihm geträumt, dann nicht mehr. An meinem Geburtstage aber wurde ich dreißig Jahre alt, und. in einer tiefen Ohnmacht oder in einem tiefen Schlafe trat der Ondros zu mir heran, und er bedeckte mich ganz mit seinem kühlen Leibe und Flügelkleide: da berührte er mich zum erstenmal mit seinem Steingesicht, Leib und Flügelkleid. Und als er sich von mir erhob, deutete alles in seinem Wesen und seinen Gebärden darauf hin, daß er zum letztenmal in meinen Traum getreten war und daß ich ihn nun niemals wiedersehen würde. Und als ich dann aufgewacht war, begriff ich im Verlaufe dieser Nacht, in der Mareile in unser Haus getragen wurde, daß ich die höchste Tapferkeit finden würde – die zu mir selber – und daß mir diese Nacht den Anfang der Erfüllung und das Ende meines Traumes gebracht hatte. Denn in dieser Nacht hatte der Ondros einen Menschen gemordet, um über die Wiese hinaus zu mir in den Wald gelangen zu können. Und meine Flucht in diesem Walde war meine letzte Feigheit vor mir selber gewesen. Und aus allen diesen Gründen muß ich nun hingehen und mich befragen, wer ich von jeher war, bin und sein werde, und gewiß werde ich dies nicht allein für mich wissen und erfahren, sondern für viele meines Geschlechtes mit mir.«
Keyserling hatte die Augen geschlossen. In seine Stirn hatten sich drei wie die Flügel eines Vogels geschwungene Falten gepreßt. Es schien, als sei dieses Gesicht vor sich selber zurückgetreten und habe mit einem zweiten, dahinterliegenden Gesichte sich vereinigt, das in den Gefilden entsetzensvollen Schweigens geformt worden war.
Nach geraumer Zeit erhob er die Lider. Seine Augen waren mit Schlaf oder mit Tod überzogen, und hinter diesem Schlaf oder Tod dämmerten sie in Leichenblässe. Er stand auf.
»Ich vertraue Ihrem Genius, Kathrin.«
Bei diesen Worten schauderte es Frau von Hanka, als sei hiermit ein Urteil über sie ausgesprochen worden. In ihren Mienen und Blicken malten sich Angst und Grauen.
Keyserling streckte ihr die Hand hin.
»Leben Sie wohl. Es ist spät geworden … Nur eines: Sie wollen früh aufbrechen?«
»Um sieben.«
»Denken Sie daran und vergessen Sie es nicht: – wenn Sie bis zum Anbruch der Nacht nicht zurückgekehrt sind, so bin ich nicht mehr da.«
Verstört sah Frau von Hanka ihn an.
Dann stand sie lächelnd auf. Ihre Angst war überwunden. Ganz froh und stark reichte sie Keyserling auf ihre besondere Art die Hand hin.
»Leb' wohl, Nikola!« sagte sie tief atmend. »Und danke schön, daß du mir zugehört hast.«
Keyserling ging davon. Doch kehrte er noch einmal zurück.
»Erinnern Sie sich an Mareile? … Es war doch ein sehr kostbares und holdes Geschöpf, nicht wahr?«
Frau von Hanka schien sich auf etwas ganz Bestimmtes mit Anstrengung zu besinnen.
»Ja, Nikola, ich denke wohl zuweilen an sie … Aber ich hatte niemals eine besondere Empfindung für ihren Tod. Ich stand an ihrem Grab, ich sah mir die armen Blumen im Regen an … ich dachte: – Was drängte denn die da unten sich in mein Schicksal hinein?«
Eilends ging Keyserling davon, mit hochgezogenen Schultern.
Frau von Hanka stellte die Möbel zurecht, verteilte die Glut im Kamin und rief den Hunden.
Sie trat einen Augenblick vor die Tür. Sie hörte noch Keyserlings hastige Schritte über den Hof, dann die knarrende Pforte zu seinem Haus. Ein feuchter Wind blies, und geisterhaft raschelten die Blätter über den Rasen. Die Uhr schlug halb vier.
Frau von Hanka erinnerte sich, daß sie nur wenige Stunden schlafen könnte und daß ihr Gesicht dann am Tage die Spuren der Erschöpfung tragen würde. Schnell kehrte sie in das Haus zurück, schnell entkleidete sie sich in ihrem Zimmer, und sie schlief traumlos und wunderbar, bis man sie erweckte.