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Zweites Kapitel

1

Von dem Wechsel des Klimas erschöpft, ermattet von den zahlreichen kleinen Erkältungen, die der Winter gebracht hatte, unruhig und fröstelnd nach einer schlafarmen Nacht, so lag Frau Julius von Hanka auf der Terrasse des Schlosses von Herbstfelde, den Blick auf die Rasenflächen und fernen Höhenzüge gerichtet. Neben ihr waren Bücher aufgehäuft, die sie nicht las, Brotstreifen waren hergerichtet, die sie nicht aß, Milch stand bereit, die sie nicht trank.

Noch einmal in diesem Jahre war des Nachts Schnee gefallen, der die Erde zaghaft bedeckte. Der Himmel war hoch verhängt, kein Wind ging, keine Pflanze duftete, nirgends in den Lüften war eine Ahnung vom Frühling, der kommen sollte. Das Wachstum im Aderwerk der Erde war aufgehalten worden. Zeitlos stand ein altersgrauer Tag am Morgen da. Das Gesicht dieser schönen und heiteren Frau hatte einen Ausdruck angenommen, als sei es bedroht von tragischer Belastung, Krankheit oder Tod, und die breiten, blau-schwarzen Brauen, sonst Freudenzeichen einer starken und gesunden Lebenskraft, sie waren jetzt morbid und übellaunisch zusammengezogen.

Das Unergründliche in unserer Seele – Stimmung – sandte von unten her seine Dunkelheit über ihr Gemüt. Kein Kinderlachen erfreute sie jetzt, kein Buch und kein Gedanke; nur einmal horchte sie regsamer auf, als aus der Herde im Stall ein Rinderruf erklang. Doch fröstelnder nur zog sie die Decke bis über das Kinn.

Sie wünschte sich jetzt das Weinen eines Menschen zu hören oder die Hilferufe eines Tieres. Sie erinnerte sich, wie am Tag zuvor von einem Knecht das Mutterschaf ergriffen worden war, das sich dem Lamm zu entziehen suchte. Der Knecht hatte es mit seinen riesigen, roten Händen an der Gurgel gepackt, dann an den Füßen, und so war dieses Tier, das nachts geboren hatte, in den Verschlag zurückgeworfen worden.

Herbstfelde war ein großes, dennoch das geringste Gut unter seinen Nachbarn. Dort im Osten Deutschlands reiht sich Forst an Forst, See an See, Acker an Acker, und die Landstraßen treffen nicht, wie im Westen des Reiches, schon nach wenigen Kilometersteinen auf Dörfer und Städte. Eine fast russische Weite herrscht in diesem Gebiet. Wohin das Auge streift, nirgends findet es eine Enge, denn die Wälder ziehen sich über unermeßliche Flächen dahin, und nicht so bald enden sie vor einem Weideplatz oder vor einer Straße. Wer das Land durchwandert, der erblickt inmitten der Felder einzelne Birken, die ihre eitlen Stämme in den zahlreichen Weihern spiegeln. Geht er durch die Forsten den großen Seen zu, so gewahrt er dort auf der dunkelgrünen Fläche schwimmende Baumstämme, wie Treibholz im sibirischen Meere schwimmt, und des Abends belauscht er die Füchse, wie sie aus dem schilfigen Wasser trinken, wobei sie nach jedem Schluck, den sie genommen haben, witternd die Köpfe zurückwerfen, während die Raubvögel spottend und zürnend über ihnen einherfahren. Dann ertönt wohl von einer Schneise her, auf der sich zwei Feinde der Tierwelt begegnet sind, der mörderische Schrei eines Tierkampfes, bis endlich die großen Seen des Landes genug ihrer blinden Nebel in die Höhe entsendet haben, um Vergessenheit und Schlaf über einer schweigend gewordenen Landschaft auszubreiten.

Schloß Herbstfelde, anderthalb Kilometer Weges von Dorf Herbstfelde entfernt, durch seine großen Forsten im Westen erwärmt und vor den dorther wehenden Winden geschützt, war von Rasenflächen, Gärten, Stallungen, Weideland und Ackern umgeben, im Süden sogar von einigen sanften Höhenzügen, die als eine Besonderheit in den Gütern dieses Distrikts den Stolz der Besitzer bildeten. Kathrin von Hankas Haus lag einsam in einer streng und fast gewalttätig anmutenden Landschaft.

Einstmals, kurz nach ihrer Verheiratung, war das Schloß von Handwerkern und das Gut von Fuhrwerken aller Art überflutet gewesen. Da wurde das Haus nach dem Geschmack der Dame, die es zum Geschenk erhalten hatte, in manchen Teilen neu aufgebaut. Mauern wurden niedergelegt und neue errichtet, eine Halle entstand, zierlich gewundene Treppen und allenthalben Kamine. Endlich kamen peitschenknallend und mit wilden Rufen die Fuhrleute, um die ihnen anvertrauten Möbelstücke vor dem Portal abzuladen, kostbare Geräte, deren manche von den großen Möbelbauern des achtzehnten Jahrhunderts signiert waren.

Nun war in der rauhen Einsamkeit ein Besitz entstanden – fast das Trianon einer Frau. Die Wände, oft hellgelb mit rosa und goldenen Streifen oder mit Panneaus geziert oder mit Stofftapeten bedeckt, deren Muster noch einmal in den Bezügen der Möbel und in den Fenstervorhängen wiederzufinden waren, die schönen Bücher in den Schränken, die Bilder der großen Landschaftsimpressionisten des zwanzigsten Jahrhunderts und die kleinen, amüsanten Sammlungen von Miniaturuhren, Pantöffelchen und Fingerhüten aller Jahrhunderte, die hellen Treppen mit gold- und grüngefärbten Barockgeländern, dann die knisternden Feuer in den Kaminen, die so häufig schnurrenden Telephone in den Gängen, das elektrische Licht, das oft auch am Tage brennen mußte, die Meute der Sky-Terriers und Angora-Katzen – dies alles gab inmitten einer fast schreckensvollen Einsamkeit Leben, Wärme, Fröhlichkeit und Behagen. Draußen aber bevölkerte eine anmutige Mythologie die Rasen- und Waldesflächen des Parks, und frisch duftende Quellen sandten ihre süßen und einschläfernden Melodien bis zu den Fenstern des Hauses.

Auf den Höhenzügen im Süden sah Frau von Hanka einen Pflüger, der sein Ochsengespann hügelauf, hügelab dahertrieb. Es schien ihr, als ginge der Weg bergauf ihm voller Freude, wenngleich nicht übermäßig schnell vonstatten. Oben auf dem Grat rastete er nicht, sondern er schien dort nur kräftiger seinem Werke obzuliegen und sein Gespann nachdrücklicher anzutreiben, während ein stärkeres Licht auf seinem Scheitel und auf dem glatten Rücken seiner Ochsen glänzte. Abwärts aber ging es geschwinder zu dem Schatten der Senkung hinab.

Nun erklangen aus einem nahen Gebüsch vom Sockel des Apollon die Töne einer Okarina. Es war Stephan, der dort unten immer dieselben Tonreihen erprobte. Aufwärts ging es wohlgemut, wie der Weg des Pflügers aufwärts wohlgemut gewesen war, in der Höhe verblieb er mit seinem Munde frohlockend und gleichsam den Mittag des Daseins preisend, abwärts aber fuhr er schwermütig hinab, bis er fragend, klagend, irrend und nur wenig besänftigt in Dunkelheiten endigte.

Frau von Hanka stand auf, bedrängt und gepeinigt. Sie besuchte den alten Garten vor der Friedhofmauer. Hier traf sie den Gärtner an, der mit einem Fuß auf den Spaten trat, die Erde umzuwenden. Frau von Hanka kannte sein Schicksal – seines: denn das Schicksal eines alten Mannes ist das Schicksal seiner Kinder und Enkel. Man hatte ihm hier auf dem Gut die blühende Enkeltochter zerstört. Nun fristete sie ein ehrloses Leben auf den nächtlichen Straßen einer Stadt.

»Wie geht es Ihnen?«

Der Gärtner nahm die Kappe von dem weißen, biblisch gestrählten Haar. »Es geht, wie es geht. Die Menschen sollten einander Frieden geben.«

Frau von Hanka lächelte nicht. »Das ist der frühste Traum der Menschheit, Thomas, und er geht niemals in Erfüllung.«

»Man träumt nicht mehr, wenn man alt ist, gnädige Frau. Man sagt, was sein sollte. Die Menschen sollten Frieden geben.« Er sprach die Anrede »gnädige Frau« fast buchstabenweis, mit der Exaktheit eines Kindes, das seine Aufgabe gelernt hat.

Frau von Hanka bog den Kopf besorgt und liebenswürdig zur Seite. »Wer stört Ihren Frieden?«

Der Gärtner lachte jetzt, ein eigensinniges, alt gewordenes Lachen. »Fragen Sie umher, gnä–di–ge Frau, wer hierzuland den Frieden stört.«

Frau von Hanka zögerte, dieses Gespräch fortzusetzen.

»Werden wir hier Georginen haben?« fragte sie.

»Ja, Georginen und Astern. Im September, da wird es eine Pracht geben. Alles für den Tod, gnä–di–ge Frau, der dann kommt.«

Frau von Hanka knöpfte die Pelzjacke am Halse zu. So viel Tod an diesem Vormittag! Sie ging weiter, und sie sagte dieses törichte Wort vor sich hin, das alle Frauen sagen, wenn sie die eigene Seele meinen: es sind meine Nerven. Wie sie in den Gestütshof einbog, begegnete ihr Keyserling. Sie nahm seinen Arm.

»Nikola, ich langweile mich«, sagte sie, und sie sah dem Freund mit ihren scheuen Wilden-Augen verstört und bittend ins Gesicht.

»Dann lassen wir Einladungen ergehen! Sobald der Schnee geschmolzen ist, spielen wir Tennis! Oder wollen wir reiten? Oder wollen wir fischen? Oder wollen wir jagen froh als wie in alter Zeit?«

»Ja, reiten wir, fischen wir, jagen wir! Aber hör' einmal, Nikola, da fällt mir etwas ein. Du wolltest mir doch das Monstrum zeigen: ob wir es wegjagen sollen oder nicht. In welchem Käfig steckt es denn? Ich habe jetzt Lust, Raubtiere zu sehen, denn ich habe mich gelangweilt.«

Keyserling lächelte. Er führte Frau von Hanka in den Rinderstall. Spatzen und die ersten Schwalben fuhren in der tierisch-warmen Atmosphäre des Stalles einher. Einige ließen sich auf den Rücken der dahingekauerten Rinder nieder.

»Die schönen Tiere«, sagte Frau von Hanka, und sie durchschritt die fast zahllosen Reihen der Herde.

»Wo ist er denn?« flüsterte sie, neugierig wie ein Kind. »War er das?« Sie deutete rückwärts auf einen Knecht, der gegrüßt hatte.

Keyserling lächelte. Er antwortete, wie die Menschen im Märchen antworten: »Nein, das war er nicht. Des Richtige ist viel größer.«

Frau von Hanka streckte die Finger in das Heu einer Krippe, wie man die Hand ins Wasser taucht. Als wiederum einer der Unterschweizer vorbeiging, stellte sie abermals flüsternd und mit komischer Angst die Frage:

»Nikola, war er das?«

»Nein, das war er auch nicht. Der Richtige ist viel stärker.«

Frau von Hanka zog Keyserling wie einen Schulbuben fort. »Höre, Nikola, wo ist er denn? Ich will noch vor dem Essen zu den Schafen und in die Trockenanlage. Das interessiert mich nämlich riesig, eure neue Trockenanlage. Brennt ihr viel Schnaps hier, ihr garstigen Äffchen? Halt! Jetzt sehe ich ihn. Dort drüben steht er! Nicht wahr – das ist er, Nikola?«

Keyserling schüttelte den Kopf. »Der Richtige, Kathrin, ist viel bösartiger.«

Da wandte Frau von Hanka sich um. Zwischen den Tieren in der Reihe stand jetzt ein Mann mit nacktem Oberkörper und nackten Beinen, eine Heugabel in der Faust, mit der er das Vieh zur Seite stach. Niemals hatte Frau von Hanka so mächtige, von einer bösen Kraft erfüllte Gliedmaßen gesehen. Er machte sich mit dem Vieh zu schaffen. Er jagte seine Zurufe durch die Glutluft der, Ställe. Er befahl reihenweise dem Rinde, das wiederkäuend am Boden lag, sich zu erheben. Aber er schien weit davon entfernt zu sein, Frau von Hanka auch nur den geringsten Gruß zu geben oder ihr irgendeine Beachtung zu schenken. Frau von Hanka aber sah sein mächtiges, großzügiges, bärtiges Gesicht von gelblicher Hautfarbe, das zerwühlte schwarze Haar und endlich auch den unmutvollen und fast stechenden Blick, den er auf sie richtete, wie sie nun vorüberschritt.

Draußen in der Luft fragte sie leichthin: »Nicht wahr, das ist er jetzt gewesen?« Und ohne eine Antwort auf diese Frage oder auf irgendeine folgende abzuwarten: »Sag mal, Nikola, ist auf den Vorwerken noch einmal so viel Vieh wie hier auf dem Hof? Wieviel haben wir denn eigentlich im ganzen? Was könnte man denn heute nachmittag tun? Ja, richtig, wir wollten ja mit Stephan angeln gehen … Jetzt im Frühjahr knabbern die Forellen nur ganz zartes Gewürm, nicht? Und erst im Herbst dicke Heuschrecken – oder ist es umgekehrt?«

Keyserlings Nasenflügel bewegten sich spöttische »So und nicht anders ist es, liebe Kathrin: im Frühjahr zartes Gewürm!«

Sie waren vor dem Schloß angelangt. Der Gong lud zum Mittagessen.

»Ich will mir nur die Haare machen.« Frau von Hanka lief die Stufen der Auffahrt hinauf. Sie kehrte sich um. Sie hatte ihren betörenden Blick einer flirtenden Dahome.

»Du, höre mal, den Hirten behalten wir! So ein prächtiges Stück Gemeinheit jagt man doch nicht ohne weiteres aus dem Haus! Addio! Auf Wiedersehen! A rivederla!«

Sie bewege die Finger in der Luft, als erwarte sie von irgendwoher einen Handkuß. Ganz wohlgemut entschwand sie.

2

Nun war der Frühling in das Land gekommen. Es dufteten in der sanft überwölkten Nacht die Flüsse, die Steine, die Bühle, die Halden, und die Tage blauten mit großen und lachenden Ahnungen einem immer schöneren Frühling entgegen. Fast erschreckend schien die Lebendigkeit jener Natur zu sein, die eben noch stumm und kalt gewesen war. Ein biblischer Schöpfungsakt allein konnte von einem Tag zum andern soviel Getier erschaffen haben.

Wo alles entsteht und blühen will, entschwindet der Gedanke an Vergänglichkeit. Frau von Hanka war fröhlich.

Sie hatte keineswegs leichte Tage hinter sich. Es war nötig gewesen, die nahe und entfernte Nachbarschaft zu besuchen. Sie verblüffte durch die Hast, mit der sie sich diesen Pflichten unterzog. Sie jagte im Automobil, das Steuerrad in den Händen, ihr zur Seite den Chauffeur, durch das weithin sprießende, atmende, beseligend duftende Land. Sie war immer eine halbe Stunde nachdem sie eingetreten war, wieder zur Tür heraus, aber in dieser halben Stunde war sie bezaubernd gewesen. Sie sagte dann daheim: »Ich war bezaubernd, Nikola!« Sie nützte auf das grausamste ihren Ruf aus, einen Spleen zu haben, aber doch eben bezaubernd zu sein – bezaubernd sowohl für Männer wie für Frauen. Sie erschreckte die Konvention. Mußte sie einen Augenblick warten, so pfiff sie mit ihren schönen, breiten Lippen einen Boston, hinreißend, einem unbekannten Gotte huldigend. Und sie pfiff sogar noch einige Töne fort, wenn der Hausherr und seine Gattin, dickbäuchige Sprößlinge östlichen Uradels, erstarrt vor Verwunderung, im Türrahmen standen, bis sie ihnen lächelnd, mit den steifbeinigen Schritten eines Zinnsoldaten entgegenging, auf ihre besondere Art die braune Hand vorstreckte und: »Guten Tag!« sagte, wobei das »Gute« in diesem Gruß zum erstenmal in der Welt seinen rechten Klang bekam. Sie erklärte dann im Verlauf der Unterhaltung, unbedingt bis zum Bett eines kranken Kindes vordringen zu müssen, auf den Treppen schüttelte sie den Dienstboten die Hände, die sie alle wiederzuerkennen behauptete, auch solche, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte, und sie verließ die Schlösser und Häuser des Landes wie Pallas Athene, in einem Rauche unbegreiflich schnell entschwindend, vor dem erhobenen Angesicht des verdutzten oder anbetenden Erdbewohners.

Einige Tage später war Marie Ursel von Jaeger in Herbstfelde eingetroffen, Kathrins Freundin, die hier den Sommer bei ihr verleben sollte.

Nach einem kleinen Diner, das Frau von Hanka ihren Nachbarn gegeben hatte, sagte sie: »Die Angelegenheit ist überstanden«, und sie hüllte die schöne Freundin in ein Cape.

Währenddessen wurde in allen davonrollenden Wagen sogleich von den Hankas gesprochen. – Was das eigentlich für eine Familie sei, die Hankas, fragten einige jüngere Herren ihre Väter. – Eine bürgerliche Familie, war die Antwort. – Der Adel? – Eine Lächerlichkeit! Mitte des neunzehnten Jahrhunderts! – Die Herkunft? – Wohl früher einmal Polen! Seit 1800 in Berlin ansässig. – Der Wohlstand? – Vom Großvater! Röhren- und Walzwerke, im Rheinland, in Holland, in Berlin, ständig sich erweiternde Betriebe! – Julius von Hanka? – Augenscheinlich Republikaner! Sein Rat werde von der herrschenden Klasse gern gehört. – Und Kathrin? So sähe man doch bei uns zu Lande nicht aus! Da sei wohl einmal ein Vorfahr nach Afrika oder Sumatra hinübergesegelt und habe sich ein Negerliebchen geholt? – Man lachte. Man zollte dieser Theorie einigen Beifall. Eine alte Dame, die den Krückstock neben sich hatte, unterbrach das Gelächter: »Sagt mir nichts gegen Kathrin! Das ist ein Prachtmensch!« Und ihr Mann, der Präsident von Brockdüsing: »Wer Kathrins Gastfreundschaft in Anspruch genommen hat, der soll gefälligst auch anständig von ihr reden! Wir wissen ja alle, daß die Hankas hier nicht ins Land gehören, aber niemand ist gezwungen, mit ihnen zu verkehren!« Darauf trat ein Schweigen ein, bis ein junges Mädchen vor sich hinmurrte: »Immerhin hat sie ein Verhältnis mit Nikola Keyserling!« und ein anderes, schwermütig, fast mit Tränen in den Augen, flüsterte: »Ich liebe Kathrin wie meine Schwester!« Dann unterhielt man sich anderthalb Stunden lang über Kathrin von Hanka. –

Die beiden Damen hatten am Wagen noch einmal mit den Besuchern Abschiedsgrüße getauscht. Nun wanderten sie ziellos in den Wegen. Der Himmel über ihnen, kaum noch bewölkt, regte die Frühlingskräfte. Von dorther glitten die fördernden Ströme der Erde zu. In mattem Lichte, ohne Hast und Laut, wurden die Formen der Knospe, der Blüte und der Frucht planvoll gebildet. Die geahnte Gegenwart so hoher Mächte hielt die Menschen von ihrer Kammer fern. Wen die Arbeit des Tages nicht vollends ermüdet hatte, der wanderte auf den Straßen und Wegen, oder er ruhte betrachtend in seinen Fenstern. Von fernher klangen die rollenden Räder der Wagen und die Gespräche der Heimwärtsziehenden. In den Büschen leuchteten Laternen auf und verloschen kraftlos in der Ferne.

Die Damen standen schweigend und anschauend vor dem Standbild der Aphrodite, hohe Gestalten.

»Ich mache mir Vorwürfe, daß ich dir damals zuredete, ihn zu heiraten«, sagte Frau Julius von Hanka.

Marie Ursel sah hochmütig und abweisend in das Gesicht der Aphrodite. Es war, als antwortete sie jetzt der knidischen Gottheit: »Du hast mir niemals zugeredet.«

»Doch. Ich tat es. Erinnere dich.« Frau von Hanka legte den Arm um Marie Ursels Hüfte. »Mein Liebes.«

Marie Ursel schüttelte unwillig die braunen Locken. Es war, als klänge aus ihrem Haar ein leises Weinen. Doch das bleiche, mächtig gebildete Antlitz dieses jungen Weibes hatte über strengen, grauen Augen seine freie und fast freudige Stirn und darunter den sinnlich frohen Mund, und es bekrönte eine heroische, dennoch leichte, anmutig bewegte und mädchenhafte Gestalt.

»Ich habe ja nicht gesagt« – und wieder sprach sie in das Gesicht der Gottheit –, »daß ich meinen Mann nicht liebte.«

»Du mußt dich scheiden lassen«, antwortete Frau von Hanka.

Marie Ursel krümmte den Mund. »Scheiden lassen – das findet sich nicht im Wörterbuch meines Schicksals. Zudem habe ich kein Geld.«

»Was soll das heißen?« rief Frau von Hanka unwillig. »Du hast meinen Mann und mich!«

»Ich muß nach meinen Maßstäben leben, nicht nach euren.«

»Du würdest in der Zwischenzeit bei uns wohnen, bis du dich wieder verheiratest.«

Sie begannen wegelos über die Rasen dahinzuschreiten, in kleinem Abstande voneinander, vereinzelt und getrennt. Ein Wind, der sich erhoben hatte, bildete Falten in ihren leichten Capes, bewegte ihr Haar und kühlte die von der Abendkleidung nur zart umhüllten Körper.

»Wir haben nicht so viel Zeit, wie du denkst, Marie Ursel! Sind wir siebenundzwanzig Jahre nicht glücklich gewesen, wie du, dann ist die Stunde gekommen, es zu werden!«

»Du wirst ja in diesem Sommer dreißig, Kathrin. Ist deine Stunde denn jemals gekommen?«

Frau Julius von Hanka blieb stehen. »Aber, Liebling! Ich bin namenlos glücklich mit meinem Mann und mit meinen Kindern, und ich habe gute Freunde und dich. Und meine Eltern sind entzückend zu mir.«

»Ich suche immer bei dir etwas im Hintergrunde! Es ist sonderbar, aber ich komme von diesem Gedanken nie los!«

»Aber, Marie Ursel, was suchst du denn in mir?« fragte Frau von Hanka ganz verwundert. »Vor meinem Mann, vor Nikola und vor dir habe ich keine Geheimnisse auf der Welt!«

»Ich nehme es an, Kathrin.« Marie Ursel sprach gerade vor sich hin, ohne Frau von Hanka den Blick zu geben. »Ich weiß das – mit meinem Verstand, aber wie mein Gefühl in dieser Hinsicht spricht –?«

»Nun?«

»Daß du manchmal wie eine Brigantin aussiehst! Wie etwas Ur-Wildes, von dem wir gar nichts begreifen können! Und daß all diese kultivierten, gescheiten und womöglich noch zarten Männer dir unmöglich alles bedeuten können! Weißt du, was ich glaube? Nein, was ich nicht glaube, aber immer ahne? Du trägst ein Geheimnis mit dir herum! Und wer von denen, die dich lieben, das einmal zu hören bekommt, dem wird es die Haare grau machen und das Herz zerreißen.«

Sie lachten ein wenig.

Sie waren auf dem Kiesweg angelangt, der das Haus umgab. Frau von Hanka antwortete nicht sogleich. Sie lauschte unwillig einer Musik, die aus dem oberen Stockwerk des Hauses ertönte. Dann sagte sie: »Wir alle tragen ein Geheimnis mit uns herum, das denen, Marie Ursel, die es zu hören bekämen, das Herz zerreißen würde. Dafür sind wir Frauen. Man hat uns dazu erzogen, Betrügerinnen zu sein. Denn wir müssen das Kind in unserm Leibe so lange wie ein Geheimnis einhertragen, bis der Mann uns Macht genug und Würde gibt, es vor den Augen der Menschen kundzutun. So ist es auch mit den Geheimnissen unsrer Seele. Sie sind so lange da, bis uns ein Mann erlaubt, sie auszusprechen oder – auszuleben.«

Marie Ursel knirschte mit den Zähnen. »Ja!« rief sie plötzlich, mit dem Trotz eines ganz jungen Mädchens. »Manchmal könnte man rasen wie eine Brigantin!« Und sie schüttelte, wie es ihre Art war, die Locken, die ihr um die Stirne wuchsen.

Frau von Hanka rief zum Haus hinauf: »Stephan! Du solltest längst schlafen!«

Der Knabe lehnte sich oben aus dem Fenster, er schwenkte verlangend die Arme: »Da unten steht Mutti und – wer ist die andere?«

Die Frauen lachten.

»Die andere ist Marie Ursel. Guten Abend, Stephan! Bist du es, der so schön auf der Okarina flötet?«

»Ja – aber habt ihr nicht Schokolade bei euch? Der Himmel leuchtet so schön, da möchte ich gern ein wenig Schokolade essen!«

»Jungchen, es ist eine Schande, daß du um halb zwölf noch nicht schläfst!«

»Ich will gleich schlafen, Mutter, wenn du mir Schokolade zu essen gibst! Oder nein! Ich weiß etwas Feineres! Werft mir ein Taschentuch herauf! Ich will auf eurem Taschentuch schlafen.«

Marie Ursel füllte lachend ihr Taschentuch mit einigen Kieseln und warf es dem Knaben zu. »Jetzt schläfst du aber, ja?«

»Ja!« jubelte es von oben mit dem hellsten Vokal. »Über dem feinen Marie-Ursel-Tuch!«

»Gute Nacht, Stephan!«

Sie setzten nun lächelnd und froher als zuvor ihren Spaziergang bis zu den Höfen fort.

»Wir wollen die Tiere besuchen«, bat Marie Ursel.

Frau von Hanka zögerte. Dann öffnete sie eine angelehnte Tür, die zu den Stallungen führte. Das Licht lag dumpf und braun über den unbewegten Rücken der Rinder. Zuweilen glänzte über wühlenden Schatten ein Horn auf, wenn ein Haupt sich schläfrig und schwermutsvoll nach den Eintretenden umkehrte. Eine Hündin in der Ecke, die sich über ihre Jungen dahingebettet hatte, sprang in ihrem Verschlag auf die Hinterpfoten, bellte mit Wut und zeigte einen flammenden Rachen. Marie Ursel legte die Hand auf ihren Kopf, und die Hündin verstummte murrend, grollend und winselnd.

Sie schritten weiter in den nächsten Raum, zuweilen auf den Spitzen ihrer zarten Schuhe; lächelnd, wenn sie ihre Kleider verunreinigt hatten. Frau von Hankas Nüstern witterten wie die Nüstern eines spähenden Tieres. Ihr aufmerksamer Blick flog umher, ihre Haltung wurde gespannt und übermäßig wach. Plötzlich riß sie die Freundin zurück. »Komm!« flüsterte sie heftig. Aber sie verblieb, unfähig zu entfliehen, an ihrem Platz.

Im Schattenwinkel der Stallung erblickte sie einen Mann, dessen Hüfte in der Höhe des Rinderbugs zu ragen schien. Seine Faust umklammerte den Hals eines Weibes, dessen Haupt mit einem Ausdruck süßer und verzweifelter Qual gegen den Rücken des geduldig harrenden Tieres zurückgebogen war. Die weitgeöffneten Augen, halb erblindet, so schien es, von dem Andrang des Blutes, starrten verzückt in das drohende und gewalttätige Angesicht, das sich dicht über sie hinneigte.

Jetzt aber sah der Hirt Frau von Hanka und Frau von Jaeger. Er war nicht fassungslos, nicht einmal verwundert. Er ließ von dem Weibe ab, drehte sich vollends um und musterte mit Unmut und mit Hohn Frau von Hanka, die Marie Ursels Arm ergriff und sich abkehrte. Im Davoneilen warfen sich die Freundinnen den besorgten Blick der kleinen Mädchen zu, die auf der Flucht sind.

Draußen im Hofe aber begann Marie Ursel wie ein Schulmädchen zu lachen. Sie lachte, wie sie in der Oberprima ihres Gymnasiums mit den Jungens gelacht hatte. Sie krümmte sich in den Hüften, während sie an der Wand des Hauses einen Halt suchte.

Frau von Hanka lächelte bekümmert, herb und verwirrt. Ihre Augen zeigten das Weiße, wie die Augen der Tiere, wenn sie das Grauen oder die Gefahr zu spüren bekommen.

3

Im Wohnzimmer trafen die Freundinnen noch den Grafen Keyserling an, der dort vor der geöffneten Terrassentür seinen Whisky trank, während er flüchtig und mit Unterbrechungen in einem russischen Buche las. Er bemerkte sogleich Frau von Hankas Irritiertheit. Aber seinen fragenden Blick ließ sie mit einem beschwichtigenden Lächeln abgleiten: Nichts!

»Also!« sagte Keyserling, der sich zurückziehen wollte, und er reichte Marie Ursel zum Gutenachtgruß die Hand. » Et je m'en vais – Au vent mauvais – Qui m'emporte –«

Frau von Hanka, die geistesabwesend die weiße Katze mit der Gardinenschnur im Kreise bewegte, fügte hinzu: » Deçà, delà – Pareil à la – Feuille morte.«

Nun begannen sie alle drei zu lachen, wie sie ihre verstörten und betrübten Gesichter sahen, und sie beschlossen, noch ein wenig aufzubleiben und zu plaudern. Frau von Hanka holte Konfitüren herbei, sie aßen plötzlich mit Heißhunger, auch Nikola Keyserling, der wie alle Balten die Süßigkeiten liebte.

»Das Leben ohne Gäste – ein Traum!« sagte er, und er dehnte die Glieder.

Lächelnd fingen sie an, sich über die Gäste zu mokieren, mit jenem andeutungsvollen Hohn, mit dem die großen Städte das Land zu bedenken pflegen. Sie alle drei liebten die Großstädte, Frau von Hanka und Marie Ursel ihren Geburtsort Berlin, Keyserling das Petersburg von ehedem.

»Erzähle von Petersburg, Nikola«, bat Frau von Hanka.

»Wir wollen Marie Ursel nicht verderben.«

Marie Ursel hatte noch die Spuren ihres Gelächters in den Augen. »Oh, dann müßt ihr mich nicht nach Herbstfelde einladen!«

»Hat man Sie denn heute hier verdorben?« fragte Keyserling erstaunt, der in Marie Ursels Worten eine Beziehung zu Frau von Hankas vorheriger Irritiertheit ahnte.

Frau von Hanka lächelte jetzt. »Ja, denke, Nikola, man hat Marie Ursel auf das bestimmteste versichert, daß Kathrin Hanka und Nikola Keyserling ein Verhältnis haben.«

Keyserling, der fassungslos allen Scherzen gegenüberstand, die seine Freundschaft zu Frau von Hanka berührten, errötete wie ein Schuljunge. Er verlor einen Augenblick die Haltung. »Ach, Kathrin,« begann er verwirrt und heftig zu klagen, »Sie wissen nicht, was für ein alter Mann ich geworden bin!«

Hiergegen erhoben die Damen Widerspruch, und Frau von Hanka stand auf, um eine neue Flasche Selterswasser und Zigaretten für Keyserling zu holen.

»Da sehen Sie es, wie alt ich bin! Die hochmütigste Frau in Europa steht auf, um dem Großväterchen seinen Tabaksbeutel zu holen.«

»Ich glaube, wenn Kathrin einen Mann gern hat, so kann sie die unhochmütigste Frau von Europa sein.«

Frau von Hanka lachte ihr tiefes, gurrendes und triumphierendes Lachen.

Keyserling aber starrte zu Boden. »Wie unglücklich sind wir Menschen dieser Zeit«, seufzte er.

»Ich bin nicht eine Spur unglücklich«, erklärte Frau von Hanka vergnügt, und sie ließ sich von Marie Ursel das Strickzeug reichen, aus dem eine Weste für Katharina die Kleine entstehen sollte.

Keyserling erschrak. »Ja, das ist undankbar von mir gegen Sie und Julius! … Aber sehen Sie, wie es uns Männern dieser Zeit ergeht: wir stehen plötzlich irgendwo auf einem Wege und sehen uns in der Runde um und fragen uns – wie bist du denn hierhergekommen? Warst du denn nicht eben noch an einem andern Platze? Wer hat dich Schlafwandelnden oder Blinden geführt? Sehen Sie, Kathrin und Marie Ursel, nachts im Halbschlaf streicht die Hand durch das Haar: Warum ist es denn so unbegreiflich schnell so dünn geworden? … Ich hatte sechs Jahre lang, von 1914 bis 1920, keine Zeit und keine Neigung, mich im Spiegel zu betrachten. Wie ich Sie kennengelernt hatte, Kathrin, blieb ich einmal vor dem Spiegel stehen. Wie kam denn das? fragte ich mich. Gibt es denn irgendeine Katastrophe der Völker, die größer wäre als diese: daß ich einmal ein Mann gewesen bin und nun mitten im Mannesalter zu diesem Gesicht ein Greis werden mußte?«

Frau von Hanka regte gemessen die Stäbe ihres Strickzeuges. »Glauben Sie wirklich, Nikola, daß das Gefühl von dieser plötzlichen Vergänglichkeit erst seit 1914 in die Welt gekommen ist? Neulich bei einem Diner in Berlin hatte ich einen sehr gescheiten Professor der Geschichte zum Tischnachbar, der hat mir versichert, daß die Menschen fast in jeder Epoche so unglücklich waren, wie ihr es in eurer seid.«

Marie Ursel, die ihr schönes Haupt nachdenklich in die Hand gestützt hatte, stimmte zu: »Das denke ich auch.«

»Sie haben unrecht!« rief Keyserling lebhaft.

»Und weshalb?«

»Weil wir nicht vorbereitet waren auf das Unglück! Wie habe ich denn gelebt? Als ich um das Jahr 1875 herum im Pagenkorps in Petersburg erzogen wurde – hat man mir damals gesagt, ja hat man es auch nur jemals mit einem Wort in den Bereich der Möglichkeit gezogen, daß dereinst Horden in mein, Nikola Keyserlings Haus einbrechen würden, um alles Lebendige darin zu vernichten? Daß man meinem Sohn in der Krim, wo wir einst die Korbstühle unter die Palmen gezogen hatten – daß man dort meinem Sohn einen Stein um den Hals binden und ihn wie eine Katze ersäufen würde? Daß meine Frau an den Folgen zu langen Hungerns sterben müßte? Daß meine Vettern und Freunde sich mit Lanzen aufspießen lassen oder reihenweis im Winde an den Landstraßen hängen würden? … Was hat man uns denn von der Welt erzählt? Es werde gewiß einmal wieder Kriege geben, die man je nach Neigung und Veranlagung mitmachen könne! Soziale Umwandlungen seien zu erwarten! Gut, so werde man sich also an die linksgerichteten Zeitungen zu gewöhnen haben, womöglich gar sie abonnieren müssen! Wurden wir aber auf das Schicksal eines Präriewolfes vorbereitet, der sich aus Steppenkadavern ein Stück Verwesung herausreißt? Wer einst aus seiner Stadt trat, der hatte von Kindesbeinen an gelernt, daß jenseits von Wall und Graben der Tod lauerte. Dies war das Gesetz seines Lebens! Dies war der Untergrund für Religion und Politik, Sittlichkeit und Recht! Wir aber lernten in Schnellzügen aus den Wölbungen unserer Hauptbahnhöfe herauszugleiten und zu einer bestimmten Zeit in den Metropolen der Zivilisation einzutreffen! Sind wir nicht unglücklicher als die Menschen jeder anderen Epoche, die wir aus Bewohnern westlicher Faubourgs zu Präriewölfen wurden?«

»Aber ihr hattet ja,« rief Marie Ursel, »in eurem Pagenkorps Livius und Prokop, Sewastopol und Krieg und Frieden!«

»Ach, Marie Ursel, wir sind zu literarisch geworden, um das zu glauben, was wir lesen!«

»Ja,« erwiderte Marie Ursel mit Bitterkeit, »und wenn es euch trifft, was ihr gelesen habt, verliert ihr den Verstand.«

Keyserling blickte sie verwundert an. Dann glitt sein fragender Blick zu Frau von Hanka hin.

»Darf ich ihm von deinem Mann erzählen?« fragte Frau von Hanka.

Marie Ursel nickte zustimmend.

»Du kennst Herrn von Jaeger, Nikola?«

Keyserling sah Marie Ursel höflich an. »Flüchtig.«

»Sagen Sie mir doch, bitte, ganz offen, Graf Keyserling, was für einen Eindruck er auf Sie machte. Wir wollen mit Freimut darüber sprechen.«

»Ich hatte den Eindruck von etwas Bedeutendem, das zerstört worden ist.«

Marie Ursel nickte ihm ermunternd zu.

»Exzellenz Jaeger hielt im Märkischen Klub einen Vortrag über die Marneschlacht. Ich interessiere mich im allgemeinen nicht für die Militärwissenschaften, sie langweilen mich tödlich. Ich glaube mit Tolstoi an das Genie des Soldaten, nicht an das des Imperators. Aber diese Stunde dort im Klub war unvergeßlich. Denn Herr von Jaeger sprach als ein großer Mensch über ein großes Ereignis. Gesichtslos, auf riesigen Kothurnen, wie die tragischen Figuren der Antike, traten die einzelnen Heeresgruppen hervor, handelten unter dem Zwange starrer und böser Gesetze verblendet, wahnerfüllt und sinnlos und gingen unter. In jenem Augenblick, als der General die Niederlage sichtbar werden ließ, war mir, der ich doch auf russischer Seite gekämpft habe, zumut, als säße ich in der Halle der Phäaken und müsse wie Odysseus mein Gesicht verbergen. Denn mir schien es, als berichte Demodokos dort oben von meinem eigenen Ungemache.«

»Weshalb aber fandest du Herrn von Jaeger zerstört, Nikola?« fragte Frau von Hanka, die ihre Nadeln aneinanderklingen ließ.

»Eben dann,« rief Keyserling lebhaft, »als er die Niederlage sichtbar werden ließ! Da bemerkte ich fast mit Entsetzen, daß wir in diesen vergangenen Stunden unter der Gewalt eines Wahnsinnigen gestanden hatten.« Er unterbrach sich. »Verzeihen Sie mir, Marie Ursel – aber das war der Eindruck, den ich damals hatte.«

»Sie haben sich nicht getäuscht«, entgegnete Marie Ursel. »Er ist ein Wahnsinniger. Und Sie haben auch den Zusammenhang der Ereignisse mit seinem Leiden begriffen. Er ist über der Niederlage wahnsinnig geworden.«

Frau von Hanka ließ ihre Arbeit ruhen.

»Nikola, du wirst erschüttert sein, wenn du einmal Marie Ursel und Herrn von Jaeger besuchst. Sie haben in Berlin drei Zimmer – Marie Ursel kocht natürlich, denn sie haben tagsüber kein Mädchen! – und das dritte Zimmer ist Herrn von Jaegers Stabsquartier. Zuweilen schleicht er sich davon und bleibt vor den verlassenen Kasernen der Garderegimenter stehen. Dort, vor diesen öden Gebäuden, ringt er fassungslos die Hände, wenn er die Zivilämter in den Korridoren sieht und die Wohnungen der kleinen Beamten. In seinem Stabsquartier aber sind die Wände und Tische mit Landkarten bedeckt, die Karten mit Fähnchen besteckt, mit Miniatur-Automobilen und -Eisenbahnen und -Flugzeugen.«

Marie Ursel sah in das Feuer des Kamins.

»Dort spielt er Nacht für Nacht das große Wenn-Spiel!«

»Das große Wenn-Spiel, Marie Ursel?«

»Ja – wenn damals die xte Reservedivision rechtzeitig eingesetzt worden wäre – wenn die Armee des Herzogs von Württemberg – wenn die Reserven im Argonnerwald nicht aufgerieben – wenn die Briten bei Ypern – wenn die Italiener – wenn, nichts als das große Wenn.«

»Dort geht er Nacht für Nacht einher«, fügte Frau von Hanka hinzu, »und schreibt und telephoniert und schlägt mit der Reitpeitsche gegen die Karten. Und er gibt eintretenden Offizieren seines Stabes, die er im Lichte seiner Lampe zu sehen glaubt, allerart Befehle, kommandiert den Angriff und die Schlacht, spricht Strafen und Belobigungen aus und – gegen Ende der Nacht gewinnt er den Krieg! Dann bricht er in der Gegend von Amiens durch die Front der Alliierten hindurch, und mit stürmender Hand nimmt er Stellungen, Festungen und große Städte.«

»Ich habe erst neulich noch einen ›Funkspruch‹ auf seinem Schreibtisch gefunden«, sagte Marie Ursel mit erzwungener Gelassenheit, als bespräche sie irgendeinen klinischen Fall. »Er lautete: Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät lege ich untertänigst die Stadt Amiens zu Füßen.«

»Das schlimmste ist, daß er wahrhaftig den Telephonapparat in Bewegung setzt«, sagte Frau von Hanka. »Marie Ursels ganzes Wirtschaftsgeld geht dahin für Ferngespräche in der Nacht. Er ruft nämlich des Nachts die verschiedenen Offiziere in den verschiedenen Städten an, in denen sie jetzt leben. In den ersten Zeiten gaben sie bereitwilligst über alles Auskünfte, denn sie glaubten, er arbeite an einem kriegswissenschaftlichen Werke. Jetzt aber ist er das Entsetzen des ehemaligen Generalstabs und der Armeeführer geworden.«

»Und doch versichern mir alle, daß in seinen ruhigen Tagen ein Gespräch mit ihm über Strategie für einen Militär zu den großen Stunden der Belehrung gehört.«

Keyserling sah sinnend vor sich hin. »Ich glaube, jeder Europäer hat in den vergangenen Jahren dieses Wenn-Spiel gespielt und die Raserei dieses schlangenglatten Konditionals an sich erfahren – aber man muß dem Ungetüm den Kopf zerspalten!« Er suchte sich Mut für seine Worte bei Frau von Hanka, dann, durch ihren Blick ermuntert, sagte er höflich, ernst und belehrend: »Sie müssen sich scheiden lassen, Marie Ursel. Sie sind zu stark und zu prachtvoll geraten, um im Kampf mit der Schlange unterzugehen.«

Er betrachtete das hochstirnige Profil dieses mädchenhaften Weibes, das jetzt unverhüllt sein schmerzvolles Gesicht in die Hand gestützt hatte. Der große, in den Hüften leidend gebogene Körper erschien ihm wie eine machtvolle Werkstätte der Natur. Welch ein Gedanke, daß diesem Leib ein Wahnsinniger dereinst Kinder erwecken könne!

Eine Stille trat ein. Tief stand der Mond im Westen im Rahmen der Terrassentür. An den Rändern frühlingshaft umwölkt, neigte er sich zu den Wipfeln der Wälder, die in seinem nahen Lichte schauerten. Entzückt über seinen eigenen Untergang, entschwebte das Gestirn beflügelt und schnell im Geflechte der Tannen.

Marie Ursel begann zu sprechen:

»Ich hatte zu Hause als Mädchen meinen Lehrer, der mich unentgeltlich weit über das gebotene Schulmaß hinaus Latein und Griechisch lehrte. Ich kannte die Antike, kannte die Tragödien ihrer Geschichte und ihres Theaters. In Kathrins Haus lernte ich meinen Mann kennen, der seinen Urlaub in Berlin verbrachte. In dieser Zeit eroberte er noch in der Wirklichkeit: Stromgebiet, Festungen und Hauptstädte, alles das, was deutsche Offiziere in diesen Jahren zu erobern pflegten. Seine leichtgebeugte Gestalt trug die höchsten Orden, wie ein Märtyrer die Schuld der Nation trägt. In seinen Augen aber war etwas, das einen weinen machen konnte. Wenn ich des Morgens zum Gymnasium ging, sah ich in einem Papiergeschäft an der Ecke seine Photographie, denn die Postkartenindustrie hatte sich seines Gesichtes bemächtigt.«

In Marie Ursels Stimme war jene leichte Heiserkeit, mit welcher die Menschen oft nach Mitternacht zu reden pflegen: »Sprach ich mit ihm über das Land, so glaubte ich, einen Bürger der antiken Polis vor mir zu haben, der mit seinen Stadtmauern untergehen wird. Der Wahnsinn meines Mannes ist nicht der Wahnsinn eines von der Katastrophe Überraschten, sondern der des Teiresias. Er war heroisch, solange er das Unabwendbare abzuwenden sich bemühte. Wie es hereingebrochen war, begann er zu toben. Dies alles lernte ich allmählich voraussehen: seine Krankheit und seine Raserei. In den Briefen, die wir späterhin austauschten, unterwies er mich, das kommende Schicksal des Landes zu erkennen. Was er mich darüber hinaus lehrte, war ihm selber unbekannt: sein eigenes Schicksal. Dennoch – eben deshalb heiratete ich meinen Mann! Man muß es mir glauben oder nicht, aber du, Kathrin, weißt es: mich verlangte nicht danach, die Frau eines Nationalheros zu werden, um in die Gesellschaft eines siegreichen Kaiserhofes eingeführt zu sein. Ich hatte ganz andere Gesichte, andere Ahnungen, ja andere Gewißheiten! Hätte ich sie nicht gehabt, so hätte ich meinen Mann nicht geheiratet. Jetzt, wo all das eingetroffen ist, was mich veranlaßte, zu ihm zu gehen – soll ich ihn jetzt verlassen? Soll ich mich scheiden lassen, um einen glücklicheren Mann zu heiraten? Nein. Das hat keine Rasse!«

Frau Julius von Hanka zog ihre Stirn mit komischer Betrübnis in Falten. »Nun hör' dir das an, Nikola! Andere Frauen ihres Alters tanzen oder fahren Ski. Sie geht heldenhaft unter wie der Mond. – Das alles ist ja wunderschön, was du sagst, Urselchen, und es sollte in jedem Lehrbuch der Heldenkunde stehen. Aber wenn man dich zufälligerweise lieb hat, möchte man dich doch an deinen schönen Haaren zausen.«

Keyserling betrachtete lächelnd, doch mit einer kaum verborgenen Rührung Marie Ursel. »Lassen Sie sie, Kathrin. Sie ist die ewige Jugend: heroisch und – unsinnig dumm!«

Nun begannen alle drei zu lachen. Sie erhoben sich von ihren Stühlen, und sie wünschten sich eine gute Nacht.

4

Gern besuchten sich die Frauen des Nachts an ihren Betten, um geheime Gespräche miteinander zu führen. Erinnerung an die Mädchenzeit wurde lebendig, wo sich im Schlafzimmer nach dem Verlöschen der Lampe von Bett zu Bett eine behutsam hingeflüsterte Vertraulichkeit entspann. Es ist der Schicksalsraum der Frau, denn er enthält eine unmittelbare Beziehung zu ihrem Geschlechte. Hat sie hier in den Armen des Mannes ihre große Stunde gefunden – und sei es auch zuweilen die große Stunde der Enttäuschung –, so wird sie in diesem Raum das Kind gebären, und jede Verstimmung ihrer Seele und ihres Körpers hält sie für Stunden oder Tage in diesem Zimmer fest.

Marie Ursel hatte noch spät in der Nacht Frau von Hanka in ihrem Schlafzimmer aufgesucht. Auf dem Bettrand sitzend, streichelte sie spielerisch und zerstreut die schönen Finger der Freundin.

Die weiße Katze, groß wie ein Jaguar, immer die mädchenhaften blauen Augen auf Frau von Hanka hingerichtet, schleifte ihr Pelzgehänge über das Fußende des Bettes, wobei sie ihre Flanken gegen das Rohrgeflecht drängte.

Die Frauen sprachen von den Kindern, von Nikola Keyserling und von Julius, dann berichtete Kathrin von einigen Toiletten, die sie im Ausland gesehen hatte, bis das Gespräch aufs neue Herbstfelde berührte.

»Diese Szene vorhin im Stall gibt mir zu denken«, sagte Marie Ursel ganz unvermittelt, ernsthaft und ohne Erinnerung an ihre Schulmädchenheiterkeit.

Frau von Hanka hatte sich mit jener Diplomatie des Gespräches, in der sie Meisterin war, während der letzten Minuten bemüht, die Rede zu dem Vorfall des Abends zurückzuführen.

»Was kann dergleichen zu denken geben?« fragte sie kaltblütig. »Es war ganz einfach disgusting.«

» Disgusting?« wiederholte Marie Ursel zweifelnd. »Es ist so drollig, Kathrin: wenn wir Frauen etwas sehen, was zu sehen uns gegen das Gewissen geht, fangen wir unwillkürlich an, unsern Abscheu in englischen Interjektionen auszudrücken. Je schneller das Blut uns geht, desto englischer redet unser Mund!«

Sie lachten sich beide in die Augen, ehrenwert entlarvte Betrüger.

»Mein Kleines, ging dein Blut denn schneller, als du den Mann und das Frauenzimmer im Stall entdecktest?«

»Ja, und jetzt macht es mir zu schaffen!«

»Weshalb denn?«

»Weil wir uns mit so schwierigen Dingen wie Eheproblemen und dergleichen plagen müssen und weil das dort im Stall alles so einfältig und bukolisch war.«

»Bukolisch? Was ist das?« Frau von Hanka mußte sich oft von ihrer gelehrten Freundin die Fremdwörter erläutern lassen, die diese gebrauchte.

»So hirtenhaft, Kathrin, so idyllisch!«

Frau von Hanka glich einem Rennpferde, das über den Rasen hinweg zum Start geführt wird. »Du bist sehr im Irrtum! Das ist durchaus kein idyllischer Hirt, der dort im Stall! Er kommt auch nicht aus Arkadien, sondern aus irgendwelchen verdächtigen Tiefen der Großstadt. Und hier bringt er alles durcheinander. Die Frauen lieben ihn, aber er zerstört sie.«

»Warum duldet ihr denn solch einen Menschen auf eurem Gut?« fragte Marie Ursel erstaunt.

»Julius und Nikola wollten ihn ja auch fortschicken. Aber ich habe es nicht erlaubt!«

Marie Ursel sah die Freundin verwundert an.

»Ich … weißt du …« – Frau von Hanka suchte nach einem Gedanken – »ich fürchte mich vor seiner Rache, wenn wir ihn entlassen …«

Marie Ursel schüttelte unwillig die Locken. »Ach, Unsinn, Kathrin! Du hast ganz andere Gedanken dabei.«

»Gut, ja!« gestand Frau von Hanka. »Es ist wahr … Ich interessiere mich ein wenig für das Bösartige auf dieser Erde.«

Marie Ursel nickte zustimmend. Sie dachte an ihren Shakespeare, den sie im Gymnasium studiert hatte. »Natürlich! Das kann ein großes Problem sein!«

Frau von Hanka schwieg. Dann erzählte sie: »Wie ich zehn Jahre alt war, nahm mein Vater, mich auf die Jagd mit. Ich durfte auf dem Kutscherbock sitzen. Vater hatte mir vorher erzählt, daß der Kutscher, damals ein sechzigjähriger Mann, in seiner Jugend wegen irgendeiner Straftat im Zuchthause gesessen hatte. Als wir beim Stand angelangt waren, mußte ich mich an einem Baum festhalten, ich taumelte – denn so hatte das Böse mich berauscht, das dieser längst ehrbar gewordene Mann vor vierzig Jahren begangen hatte.«

Marie Ursels Stirn zuckte nervös: »Soll das jetzt heißen, daß du – du, Kathrin von Hanka, Verständnis hättest für diese niedrige Stallkraft da draußen?«

Frau von Hanka dachte darüber nach. »Seine körperliche Kraft interessiert mich nicht sonderlich. Er könnte schwach und buckelig und sogar feige sein. Aber das Böse in ihm, das ganz Abscheuliche, das ist es, was mich lockt.« Sie fügte hinzu: »Zuweilen.«

Sie hatte die Hände unter dem aufgelösten Haar im Nacken gefaltet. Mit einem geistvollen, lasziven Ausdruck im Gesicht blickte sie zur Decke hinauf. Ihre schwarzen, stark zusammengezogenen Augenbrauen bildeten Falten. Auf ihren Wimpern blitzten Lichter.

»Das also war das Geheimnis, das du mir erst heute abend abgeleugnet hast?«

Frau von Hanka sah jetzt Marie Ursel mit einem sonderbaren Lächeln ins Gesicht. »Vielleicht, mein Kleines!« erwiderte sie, und sie ließ die Zunge mit einem dumpf triumphierenden Laut vom Gaumen schnellen.

Die Katze trat ihre drei schleichenden Schritte und kehrte bogenhaft auf ihrem Wege um.

»Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr suche ich das große Böse in einem Mann. Nur zuweilen! Nur zu manchen Abschnitten meines Lebens! Dann quält es mich sehr. Ich finde es immer wieder. Ich habe einen vollkommen untrüglichen Flair für das Gesicht des Bösen. Ich sah einmal einen Mann in Madeira, im Hafenviertel. Er trat aus seinem Hause, er hielt an den Hinterläufen eine Katze – groß wie diese da –, die er zweimal mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Darauf warf er sie fort wie ein Stück Papier und ohne noch irgendeinen Blick auf die Fortgeworfene zu verschwenden, die er in einer Sekunde von einem reichgegliederten Lebewesen zu etwas so Häßlichem gemacht hatte wie Unrat und Abfall. Vor der Tür seines Hauses blieb er stehen, und nun sah er mit Interesse und mit Hohn dem Schauspiel zu, wie ich an ihm vorbeikommen würde. Ich sah sein Gesicht, während die Knie unter meinen Röcken zitterten. Er hatte nicht etwa den berühmten ›auskleidenden‹ Blick des Mannes – über den hätte ich gelacht! Nein, dieser Blick zerschnitt meine Sehnen, Muskeln und Gelenke.«

Frau von Hanka blinzelte zur Ampel über dem Fußende des Bettes. Die Katze blieb auf ihrer Wanderung stehen. Sie sah Frau von Hanka mit dem bleichen Blick ihrer blauen Augen übellaunisch, streng und starr ins Gesicht. Doch diese spracherfüllte Haltung versank blitzschnell ins Tierische, nicht mehr Deutbare, wie sie nun die gekrümmte Pfote erhob, um mit der Zunge dort das Fell zu nässen.

»Ich vermag mich von dem da im Stall noch nicht zu trennen. Ich bin neugierig auf etwas, was sich ereignen wird. Denn etwas ist zwischen ihm und mir. Er hat es gespürt. Niemals sieht er mich an. Er grüßt mich nicht. Er wendet sich ab, mit einem zornigen, haßerfüllten und höhnisch-überklugen Gesicht. Aber ich fühle es: in diesem Gesicht ist etwas aus der Sage der Menschheit. Ich muß wissen, was es bedeutet. Ich muß ihn und mich kennenlernen.«

Marie Ursel, halb liegend auf dem Bette, die Stirn in die flache Hand gestützt, in einer Haltung grüblerischer Versunkenheit, die sie zuweilen als Mädchen angenommen hatte, wenn sie in der Mathematikstunde etwas Schwieriges verstehen sollte, was sie mit aller Anstrengung ihres Geistes nicht zu verstehen vermochte – sie suchte jetzt Schleichwege und gewundene Gänge in ihrem Innern zu dem, was Frau von Hanka ihr gesagt hatte, um der Freundin gerecht werden zu können. Sie prüfte ihre eigene Empfindung. War es möglich, etwas Ähnliches zu fühlen? Hatte dergleichen auch einmal ihre Seele berührt? Sie schauderte in ihrem leichten Nachtgewande. Sie dachte an ihren Mann, der zu dieser Stunde mit der Reitpeitsche an die Landkarten schlug und geisterhafte Befehle zum Angriff erteilte.

Mit der schönen Willenskraft eines jungen, unverdorbenen Weibes richtete sie sich auf. Mag immer alles, was fühlbar ist, hineinströmen in die Seele des Menschen, die wie Theben die hundert Tore geöffnet hält! Wir aber sind geboren, die Fremdlinge zu sondern und, die darinnen das Gastrecht verletzten, von der Mauer hinabzustürzen!

Sie beugte sich über die Freundin hin. »Du bist ein Kind, Kathrin, mit deiner Phantasie! Vieles kann eine Frau ersinnen, träumen, denken, manches wohl auch tun! Aber du weißt so gut wie ich, daß dies da, was zuweilen in dir ist, getötet werden muß, wie dein Verbrecher in Madeira die Katze tötete: ohne noch einen Blick daran zu verschwenden! Denn diese Neigung ist so von Grund aus auf dein und deines Mannes und deiner Kinder Verderben gerichtet, ist so zerstörend, daß eine Frau deiner Rasse und Kaste mit ihr weder sinnen noch träumen und wahrhaftig schon gar nicht mit ihr handeln darf! Wir werden morgen diesem virgilischen Hirten das Dienstbuch vor die Füße werfen, und dieser Traum ist ausgeträumt!«

Lächelnd strich Frau von Hanka mit dem Finger über Marie Ursels eifernde Stirn. »Du mußt meinen Traum nicht so ernst nehmen. Natürlich werden wir ihn fortschicken … Im übrigen ist das keine sehr heldenhafte Art, Versuchungen zu widerstehen!«

»Es ist die einzig vernunftgemäße Art! Nimm ein Beispiel, Kathrin! Auch ich will jetzt offen reden! Nein, ich liebe meinen Mann nicht mehr! Aber weil ich bei ihm bleiben will, hüte ich mich davor, andere Männer kennenzulernen, viel in Gesellschaften zu gehen, zu tanzen, Sport zu treiben. Denn ich weiß, daß ich jetzt in einen Zustand geraten bin, in dem ich mich leicht in einen andern Mann verlieben könnte! Siehst du, das ist die einzige Art, einer Versuchung zu entgehen! Denn, haben wir uns erst einmal verliebt, dann gibt es für uns – für uns Frauen dieser Zeit – keinen Halt und kein Zurück mehr.«

Frau von Hanka zog die Freundin an ihre Brust. »Kein Zurück mehr!«

Marie Ursel lehnte schwermütig ihre Stirn an Kathrins Schulter.

Doch bald richtete sie sich mit der Bewegung ihrer glühenden Jugend auf. Sie küßte die Freundin. »Gute Nacht, Kathrinchen! Alles wird gut werden! Schlaf recht schön.« Und sie küßte auch die Katze.

Sie ging davon, leise vor sich hinlächelnd, als kenne sie jetzt ein Geheimnis, dessen enträtselter Sinn ihr über die Maßen Hoffnung gab.


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