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Frau von Hankas Leben wurde ruhelos. Ohne Beharren brachte sie ihre Tage dahin. Ihre Art, sich gewaltsam Bewegung und Zerstreuung zu schaffen, raubte den Menschen im Hause das Behagen an dem hochsommerlichen Lande, das sich vor den Fenstern lockend breitete. Die lässige Sicherheit ihrer Haltung mußte jetzt einem fahrigen Ungestüm weichen, wie es Mädchen zuweilen in der Zeit der Reife zeigen. Wer aus ihrer Umgebung gewohnt war, die menschliche Seele zu belauschen, also vornehmlich Marie Ursel und Keyserling, sah diese Entwicklung mit Besorgnis.
Julius freilich war ohne Kenntnis und Beobachtung. Sprach Marie Ursel an seinen Wochenend-Besuchen andeutungsweise von diesen Veränderungen, so bemerkte sie, daß Julius zwar mit einer gewaltigen Anspannung nachzudenken pflegte, daß er jedoch den wahren Sinn ihrer Worte niemals zu begreifen fähig war. Da alles, was an seine Vernunft nur hintastete, ohne sie zu erfassen, ihm untatsächlich und also ihm ohne Gehalt erschien, so wehrte er schließlich selber diese Gespräche ab. Aber sein Blick suchte dann oft mit einer schmerzlichen und fast düsteren Glut Marie Ursels Stirn oder ihren Mund, der so zart, fast hinterhältig die Warnung für den Gatten formte.
Täglich um fünf Uhr morgens hatte Frau von Hanka, die sich gegen das Licht der auferstehenden Sonne nicht wehren mochte, ihren Schlaf beendigt. Jedermann im Hause war mit allen Anzeichen des Entsetzens davor zurückgewichen, dann mit ihr, wie sie es wünschte, Tennis zu spielen. So hatte sie sich von Nikola Keyserling einen landwirtschaftlichen Volontär zur Beurlaubung ausgebeten. Der Volontär, der die Erde als ein Kräftefeld betrachtete, dazu erschaffen, daß der Mensch auf ihm Karriere mache, schrieb beglückt seinen Eltern, daß er bereits dazu bestellt worden sei, mit der »Frau des Chefs« Tennis zu spielen. Frau von Hanka war für ihn die »Kommandeuse«. Er hätte ebenso feurig die Hacken zusammengeschlagen und seinen scharf gezogenen Scheitel über ihre Hand geneigt, wenn sie fehlgewachsen, sechzig Jahre und voller Fettbuchten gewesen wäre.
Nachdem sie den Volontär gegen sieben Uhr mit einem schnellen Händedruck verabschiedet hatte, kleidete Frau Julius von Hanka sich zum Ritte um. Nun wurde sie von Marie Ursel oder vom Grafen Keyserling, zuweilen auch von Stephan begleitet. Sie nahm jeden Morgen ihren Weg an den Türen der Rinderstallung vorbei, mit schnellen Seitenblicken spähend und suchend. In den Wäldern ließ sie ihr Pferd scharf traben, oft von den Wegen absprengend und eigentlich immer das Schloß in spiralförmigen Windungen umzirkelnd, als zöge eine magische Gewalt sie wieder zum Mittelpunkte. Mit Worten leisen Vorwurfes nahm dann, wenn sie täglich früher zurückkehrte, der Gespannhofmann die feuchten, unausgeglichenen und schlecht gerittenen Pferde entgegen.
Vom Ritt aus zog Frau von Hanka Marie Ursel und Stephan zu einem einsamen Badeteich in den Wiesen, wohin sie zu Fuß gelangten oder im Automobil, dann über Feldwege dahinjagend, die die Insassen des Wagens gegen die Wolken schleuderten. Nur mit List und vielen beschwörenden Zurufen gelang es, Frau von Hanka dem Teich zu entziehen, den sie oft eine Stunde lang durchquerte, nach allen Richtungen schwimmend. Die Folge dieser morgendlichen Tätigkeiten ohne Übergang und Schonung waren trotz des hochsommerlich warmen Wetters kleine Fieberanfälle, Kopfbeschwerden und Erkältungen. Zuweilen wußte sich Marie Ursel nicht mehr zu helfen, ihre Energie erlahmte. Nach solchen Tagen aber drängten sich des Nachts an Stephans Bett stürmischer als je zuvor der Rappe und der Wolf, und mit klagendem Gurren irrte vor seinem Fenster die Taube an der Hauswand einher, als finde sie, erblindet, den Einlaß zu seiner Kammer nicht.
Frau von Hanka war mehrmals zu jenem Brückensteg an der Quelle gewandert, an dem sie mittags dem Hirten begegnet war. Doch niemals mehr traf sie den Hirten dort an. Begegnete sie ihm auf dem Gutshofe, so richtete sie die Augen auf ihn hin. Er aber wandte sich ab und machte sich mit irgendeiner Hantierung zu schaffen. Frau von Hanka sah seine zorneserfüllten Schultern oder die Arme, die mit übertriebener Kraft irgendeine nutzlose Tätigkeit vollbrachten, indem sie einen schweren Gegenstand erhoben, bearbeiteten oder fortschleuderten.
An einem klaren Sommertage stieg Frau von Hanka nach dem Bade mit Marie Ursel und Nikola Keyserling auf jene Anhöhen, die Herbstfelde in halbem Bogen umgaben. Diese Höhen waren an ihrem westlichen und an ihrem östlichen Ende zumeist mit Buchen- und Birkenwaldungen bewachsen; in der Mitte, auf halber Höhe, traf man Getreidefelder an, oben aber weite, freiliegende, unbeschnittene Wiesen, auf denen die bunten Blumen des Frühlings spät erblüht waren, während nun die großen, weißen Doldenpflanzen des Sommers zwischen Perl- und Zittergräsern und Brennesseln im Höhenwinde sich wiegten. Auf der Spitze dieses Gebietes stand ein Brunnen, der von einer verborgenen Quelle gespeist wurde. Vor zwei Jahrhunderten hatte der Herr dieser Landschaft sich hier für seinen Lieblingsruheplatz, der eine große Fernsicht darbot, ein spätrömisches Brunnenbecken verschrieben. Aus ihm sollte das hier im Herbst frei werdende Vieh immer seinen labenden Trunk schöpfen. Mit Verwunderung sah Frau von Hanka, die sich zu Boden geworfen hatte, die Plastik an der Wand des Troges: es war Pan gebildet worden, der Gott, der den Hirtenknaben verführend lehrt, auf der Syrinx zu blasen. Aus kunstvollen Stirnlocken wuchsen dem Gotte Hörner hervor, seine phönikisch gebogene Nase bezeugte Weisheit, Zynismus und Erregung. Die Gebärde des Knaben, der das Rohr hinnahm, war voller Scheu und Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Göttlichen im Gotte. Seine Anmut war ungeschlechtlich, überzart und empfindsam.
Klar stand das Land vor den Augen der drei darüber Hinschauenden.
»Sehen Sie dort die Grabsteine in dem ummauerten Friedhöfe blitzen?« fragte Keyserling.
»Ja, – das ist der Dorffriedhof von Herbstfelde«, entgegnete Marie Ursel.
»Und dort, ganz in der Ferne, das blitzende Kreuz auf dem Kirchhof?«
»Ich sehe es.«
»Das ist Pestdorf. Dort unter der Erde findet man noch die Gebeine von Menschen, die sich in der letzten Pest in diese Gegenden geflüchtet hatten, die damals von fast undurchdringlichen Wäldern bedeckt waren. Aber das Schicksal erreichte diese Flüchtlinge noch heftiger als ihre Gemeindegenossen, die gottergeben in ihren alten Sitzen in Blado und Berkehlen zurückgeblieben waren.«
»Zog die Pest bis in die tiefsten Wälder?«
»Ja, Marie Ursel. Allenthalben in Europa sind Menschen vor der Pest in die Berge oder in die Einsamkeit der Wälder entflohen, und die meisten von ihnen sind dort zugrundegegangen.«
»Und wem gehören die großen Forsten dort drüben?«
»Die bis zu den großen Seen gehören noch Kathrin. Aber in das letzte Gewässer, das größte, worüber dieses Fünfgespann der Raubvögel jetzt hinstreift, den Karpfensee, in den teilen wir uns mit dem Freiherrn von Rennenkampf.«
»Und dort liegt Hochzeit!« rief Marie Ursel, und sie stand ganz froh auf. »Das Dorf mit dem freundlichen Namen!«
»Ja! Dort haben nach der großen Pest die jungen und auch die alten Leute aus der ganzen Landschaft, die zurückgeblieben waren, Hochzeit gefeiert. Man sagt, es seien zwölf Paare auf einmal gewesen.«
Frau von Hanka sagte: »Das ist ein recht kokettes Spiel, das die Gottheit mit den Menschen treibt!«
Keyserling lächelte spöttisch. »Ja, nach der Sintflut spannt er immer gern seine doppelt-bunten Bögen! Um seine Scham über seinen unbeherrschten Zorn zu verbergen, malt er uns immer gern hübschere Bilder als je zuvor.«
Man schwieg eine Weile. Dann aber wies Keyserling auf den fernen Rauch der Eisenbahn, die jetzt vom Horizonte her die Waldungen durcheilte.
»Sie fährt nach Berlin. Es ist der Mittagsschnellzug«, sagte Keyserling.
»Berlin!« wiederholte Marie Ursel.
In diesem Augenblick dachte sie nicht an ihren Mann, der dort in der Stadt sein Leben der Qual lebte, sie dachte an Julius, der des Abends in sein einsames Haus zurückkehrte, mit der Ermüdung eines Ratlosen.
Der Wind trug jetzt die Töne einer Musik zu ihnen hin. Frau von Hanka suchte den Quell dieser ihr wohlbekannten Melodien vor dem Schlosse, das sich schräg unten zu ihren Füßen breitete. Gerade jetzt zog eine Sommerwolke über die Sonne, und die verursachte Beschattung verblendete den sommerlichen Glanz, machte jeden Umriß sichtbarlicher und erhob jede Gestalt zur Klarheit. Mit Verwunderung gewahrte Frau von Hanka, wie sich dort unten zu ihren Füßen eine Begebenheit zutrug, die hier oben auf dem Römersteine abgebildet worden war, nur hatte die Natur die Vorzeichen der Kunst vertauscht.
Stephan lag mit gekrümmter Hüfte seitwärts auf der Wiese, den Kopf in die flache Hand gestützt, während die andere Hand dem Hirten, der vor ihm stand, die Okarina reichte. Unwillig, so schien es, und mißtönend, so hörten es die am Brunnen Ruhenden, versuchte sich der Hirt auf dem Instrument, das er denn auch bald danach dem Knaben eher vor die Füße hinzuwerfen als hinzureichen schien. Noch einmal ließ Stephan jetzt den Luftstrom durch die Flöte gleiten, aber der gewaltige Mann lauschte nur kurz und verachtungsvoll dieser Vox Humana. Dann kehrte er sich ab.
Wer aber mochte die weibliche Gestalt sein, die sich jetzt zu ihm hinwendete und die er aus seinem Wege fortzuweisen schien, wie er Stephans Verführung von sich gewiesen hatte?
»Das ist Mareile«, sagte Keyserling.
Während die Gestalt zögernd weiterschritt, sich umkehrte, ob jemand ihr folge, und dann wieder sinnend, mit geneigter Stirn Stephans Musik belauschte, um endlich in jenem Waldesstreifen unterzutauchen, der den Fuß des Hügels umsäumte, erzählte Keyserling seinen Damen, die der weiblichen Gestalt mit den Blicken folgten, so oft sie ihrer ansichtig wurden:
»Ich kenne in dem Leben dieses Mädchens drei Abschnitte, deren jeder mir sonderbar erscheint. Als ich hierherkam, war Mareile ein zehnjähriges Kind. Daheim mit ihren Brüdern und Schwestern hatte sie Wolf und Schaf gespielt. Mareile war der Wolf, sie mußte die Lämmer ängstigen, überfallen, jagen und beißen. Sie spielten ihr Spiel mit Wildheit. Jeden Tag wiederholten es die Kinder im Jagdschloß, und Mareile konnte nicht aufhören, der Wolf zu sein. Wenn sie ehrbar bei Tische sitzen sollte, so begann sie wie ein Tier aus der Schüssel zu fressen. ›Ich bin der Wolf!‹ sagte sie. Sie wurde verwarnt, sie wurde gescholten, sie wurde streng gezüchtigt. ›Ich bin der Wolf!‹ rief sie und beim Abendgebet biß sie in ihre betenden Fäustchen und in die Linnen ihres Bettes. Nachts schlich sie an die Gitterbetten der Brüder und der Schwestern, die sie mit ihren glühenden Augen ängstigte. ›Ich bin der Wolf!‹ – Eines Tages, als die Erwachsenen sie und die jüngste ihrer Schwestern allein im Hause zurückgelassen hatten, brach Mareile, der Wolf, in den Geflügelstall ein. Sie erwürgte mit ihren Kinderhänden die Kücken, sie drückte ihnen die Gurgel und die zarte Schale des Gehirnes durch. Die Feder eines jungen Hahnes hatte sie sich wie eine Indianertrophäe in ihr Haar gespießt, zwischen ihren Wimpern klebte gelber Flaum des Federkleides, – und so, mit Blut bemalt und mit Skalp behängt, tanzend wie ein Aschanti, dann auf allen vieren kriechend, näherte sie sich dem Schwesterchen, das sie mit Wolfsgeheul anfiel: ›Ich bin der Wolf!‹ Und sie ließ nicht eher von ihr ab, bis sie die Füßchen und Händchen des Kindes blutiggebissen hatte, worauf sie das wimmernde und halb ohnmächtige Mädchen unter ihren Opfern zurückließ, während sie selber wie ein Hühnerhund, der seiner Schandtat eingedenk wurde, unter den Küchentisch kroch.«
Die beiden Damen sahen fast ängstlich zu der schönen Gestalt ins Tal hinab, die gerade jetzt sich aus einem feinen Birkenstande hervorlöste und, immer gedankenvoll wandelnd, durch die Getreidefelder hindurch den Weg aufwärts zum Brunnen zu nehmen schien. Dann aber brachen die Freundinnen, ganz wie in jener Nacht nach ihrem Abenteuer im Stall, in ein Schulmädchengelächter aus.
»Was für ein Goldengelchen!« rief Kathrin von Hanka. Und die kluge Marie Ursel, ein wenig ernster, doch immer noch mit lachenden Augen, erinnerte sich ihrer medizinischen Wissenschaft, die sie in den Kriegskursen gesammelt hatte. »Also Dementia praecox!«
»Hören Sie mir weiter zu«, erwiderte Keyserling, der die Knie bis an das Kinn gezogen hatte in dem Vergnügen, eine Sache ohne Umschweife und mit der lebendigen Szenerie der vor ihren Augen dahinwandernden Figur erzählen zu können. »Ich übergehe die Züchtigungen des jähzornigen Jägersmannes, die Familienberatungen, ärztlichen Konsultationen und Mareiles Verbannung in ein Kindersanatorium. Ich schildere sie Ihnen beiden jetzt nach ihrer Rückkehr aus einem Mädchenpensionat in der Mark, als Vierzehnjährige. Stellen Sie sich ein junges Mädchen vor, an dem zuerst einmal nichts Auffallendes zu bemerken ist, sie erscheint hübsch, ihre Formen in einem trägen Erblühen begriffen, ein wenig zu hoch die Beine, ein wenig zu schmal und allzu lang die Finger, die man eher an einer weiblichen Dachskulptur der Kathedrale von Amiens als bei einer Jagdmeisterstochter dieser Wälder vermuten durfte, das Gesicht von jener Frische und Gesundheit des Teints, die Ihr Lieblingsschriftsteller, Kathrin, Stendhal seinen französischen Damen als Vorzug der deutschen Frau rühmt: kurzum, dieses blonde Mädchen aus dem Zeitalter der Gotik scheint keine perverse Leichenfresserin zu sein noch eine Menschenfresserin. Betrachtet man sie jedoch genauer, so findet man sie durchaus eigentümlich. Zuerst einmal sind es die Augen, die Sie betroffen machen: in ihnen ist kaum irgendein Farbstoff, es sind die blau-bleichsten Augen, die man zu sehen bekommt. Dergleichen Augen hinterlassen leicht einen faden oder gar keinen Eindruck. Diese da nicht! Eingebettet in vereinzelt stehende, aber langwachsende Wimpern, zumeist von sanftrot durchzogenen Lidern halb bedeckt, sind sie voll eines unerklärlich tiefen oder, wenn dieser Ausdruck falsch ist, eines tierisch-geheimnisvollen Lebens. Es ist, als sei die Farbe dieser Augen im Erschrecken vor einem Geheimnisse zurückgewichen, das nur das Tier von der menschlichen Seele kennt. Dann aber, ich spreche von der Mareile von vierzehn Jahren, nicht von jener da unten: ihre Bewegungen, ihr Gang! Sie geht wie Kaspar Hauser, der aus der Höhle tritt: mit milchweißen Kindersohlen, behutsam und etwas verrückt. Jeder Schritt ist beherrscht von der Furcht, sich selber oder irgendeinem Ding der Umwelt wehezutun. Dies ist Mareile in ihrer zweiten Periode: jeder Druck, den ihre Hand ausübt, bedeutet Schmerz im Weltall, Schmerz für diese Hand, die sie schont wie eine Tänzerin, und Schmerz für den Gegenstand, der den Druck erdulden muß. Ihre schönen Finger haben die seltsamsten Gebärden der Scheu, der Scham und des Leidens, ehe sie mutig genug geworden sind, irgendeinen Gegenstand zu berühren. Vor einem Spaziergang fürchtet sie sich. Nicht allein, daß sie wie Werther die tausend Würmchen beklagt, denen er das Leben kosten würde, sie bemitleidet die Furche, den Stein, das Naß und ihren eigenen Fuß. Sie spricht niemals laut, sie lispelt; denn die Schwingungen erschüttern die gequälte Luft und das Gehör leidet, wenn sie an seiner zarten Pforte rütteln. Unter den Menschen und Tieren gilt ihre Fürsorge zuallermeist denen des weiblichen Geschlechtes. Diese zuvörderst erscheinen ihr gefährdet, verwundbar und der Sorgfalt bedürftig. Sie legt die Hand unter den Fuß der Schwestern, die zum Danke sie tyrannisieren und quälen. Sie erduldet es mit Entzücken, sie küßt ihnen oft die Hände oder die Stirn. Sie küßt die Hündinnen und die Kätzinnen, besorgt ihnen Futter und ein lichtgeschütztes Lager, wenn sie ihre Jungen gebären, damit die zarten Augen der Brut kein Schaden treffe. Mit Sorge betrachtet und verfolgt sie das Tun und Treiben der Männer und der Knaben und der männlichen Tiere, ob sie den Frauen und den Mädchen und den weiblichen Tieren kein Unrecht zufügen werden. Jedes Ungemach, das ein Weibliches ertragen muß, erfüllt sie mit doppeltem Leide. Am liebsten kniete sie immer vor den Männern und bäte um Nachsicht für die Genossinnen ihres Geschlechtes.
So sehr fürchtet sie das Weh, daß sie die Welt erstarrt wünscht, ohne bewegende Kraft. Sobald sie ihr wie in einem lauen Vorherbste ruhend geworden erscheint, aus den Wäldern jenseits des Sees kein Axtschlag erklingt, kein Flintenschuß und dem Reh kein verwildertes Bellen, – weint sie vor Entzücken.«
Frau von Hanka suchte mit den Augen die geschilderte Person, aber der Schatten eines Hanges hatte sie unsichtbar gemacht.
Marie Ursel lächelte. Ihre Mundwinkel bezeugten Freude, daß es auf der Erde Getier allerlei Art gäb. Seit der Erzählung von Mareiles Körperbau, Augen und Händen hatte Frau von Hanka eine ähnliche Haltung wie die Keyserlings eingenommen. Gegen den Leib des schönen Hirten aus Stein zurückgelehnt, die Knie hochgezogen bis an das Kinn, so ließ sie die feinen Füße in den braunen Lederschuhen taktmäßig auf und nieder klappen.
»Nun? Die dritte Periode, Nikola?«
»Hier erinnert sie mich an das Leben der Einsiedler in der Thebaischen Wüste, wie sie ein Nachfolger Giottos so wunderbar im ›Triumph des Todes‹ auf dem Pisaner Campo Santo gebildet hat. Ich reite eines Tages im Herbst auf einer engen Schneise in der Gegend des Schrillensees durch das Tannendickicht. Kurz vor der Lichtung, die durch eine ovale, rings von Wäldern aller Art umgebene Wiese gebildet wird, höre ich die freundlich-sanfte, dennoch energische Stimme eines jungen Weibes:
›Du bist nicht aufmerksam gewesen, deshalb muß ich noch einmal beginnen! Warum siehst du so in den Wald und schlägst mit den Flügeln? Niemand wird uns hier belauschen! So höre: Du bist dem Evangelisten Johannes untrennbar beigegeben. Denn, sobald du deine Flügel erhebst und die Wolkensäume durchbrichst, erscheint uns Menschen deine Fahrt so, als sei sie getragen von göttlicher Begeisterung. Und göttliche Begeisterung ist das Sinnbild desjenigen der Jünger, der am längsten ausharrte. Begreifst du das? Ich denke, gerade du solltest es am leichtesten begreifen!‹
Überrascht schlug ich den Zügel meines Pferdes um einen Ast und schlich mich bis zur Lichtung hin. Ganz in meiner Nähe hatte ich ein bedeutendes Schauspiel vor Augen. Am Waldesrand, auf einem niedrigen Blumenhügel, saß die blonde, schmal und hoch gewachsene Prädikantin – Mareile von sechzehn Jahren! –, und auf den Knien hielt sie eine so gewichtige Bibel, daß es eine schwere Last für sie gewesen sein mußte, dieses Buch der Bücher bis hierher in die Einsamkeit zu schleppen.
In einiger Entfernung, respektvoll vor ihren Füßen, ging ein Teufelskerl von einem Steinadler auf und nieder, ohne an Mareile durch etwas anderes als durch das Wort und die Zuneigung gekettet zu sein. Meine Nähe hatte ihn unruhig gemacht, aber Mareiles Ermahnungen bewirkten es, daß er, wie ein Puma im Käfig, seine halbkreisförmige gedankenvolle Wanderung zu Mareiles Füßen wiederaufnahm, wobei er sich zuweilen seine mit grauen Spiegeln gefleckten rostbraunen Flügel um den Leib schlug. Die bis zu den Krallenwurzeln befiederten Füße stampften kräftig durch das Gras, bis er sie, abermals mißtrauisch geworden, mit einer wahrhaft heraldischen Starrheit unbeweglich ruhen ließ und den Blick der überhangenen strengen Greisenaugen in jene Gegend des Dickichts richtete, in der ich lauschend stand. Es mochte der letzte aller Steinadler gewesen sein, der in unsern Wäldern horstete, irgendein Raub-Urvater, der die Generationen seines Geschlechtes überlebt und den von Jahr zu Jahr der Tod zurückgewiesen hatte. Zähmbar, wie seine Rasse nun einmal ist, und in seinem urgroßväterlichen Gemüte dem Liebreiz dieses jungen Mädchens erlegen, fand er sich hier in den Wäldern alltäglich zum Stelldichein vor, um die Grundsätze des Urchristentums aus Mareiles Munde zu empfangen.
An jenem Tage schlich ich mich alsbald in Scham über meine Rolle als Lauschender davon. Es gelang mir jedoch, Mareiles Freundschaft zu erringen, und nach längerem Zögern entschloß sie sich auf meine Bitten hin, mich eines Tages zu ihrem Waldplatz mitzunehmen. Jedoch kaum war der Adler meiner ansichtig geworden, als er einen Schrei ausstieß, dergleichen ich nie zuvor von irgendeiner Kreatur vernommen hatte, sich in die Lüfte erhob und in immer engeren Kreisen im Ätherblau entschwand. Er ist niemals mehr zu Mareile zurückgekehrt. Ich bin gewiß, daß er noch am selben Tage eifersüchtig und verbittert in der Geisterheimat seines Volkes den letzten Atemzug seiner heidnisch-unbekehrten Seele dahingab.«
»Und in dieser Periode ihrer Entwicklung befindet sich die schöne Mairele auch jetzt noch?« fragte Frau von Hanka spöttisch nach einer Pause. »Auch heute noch wünscht sie das Böse zu bessern?«
»Ja, Kathrin, und es ist der Hirt, der die Stelle des Adlers eingenommen hat!«
Sie verfielen in Schweigen. Ihre Augen suchten Mareiles hinwandelnde Erscheinung. Aber das Mädchen war in den Wäldern entschwunden.
An einem Sonntagnachmittag im Juli begleitete Marie Ursel den Grafen Keyserling auf die Jagd. Frau von Hanka hatte versprochen, ihnen später mit Stephan zu folgen.
Die jungen Setter schüttelten die weichen Ohren, wie sie in den Bereich des Rohrs kamen, sie zeigten Erregung, Disziplinlosigkeit und eine etwas närrische Zerstreutheit. Nachdem sie vergebens durch Zerren an der Leine, Winseln und Scharren versucht hatten, die Menschen von ihrem Gespräch abzulenken, begannen sie mitten im Rohr, nur wenige Schritte entfernt von einem Strich wilder Enten, ihr Stallspiel: sich an den Beinen zu reißen, schnarrend, mit dunklen Rrrr-Lauten einander an die Gurgeln zu fahren und sich gegenseitig das Schwarz-Weiß-Fell mit tobsüchtigem Speichel zu durchnässen. Die beiden Menschen hatten längst vergessen, daß es die Jagd war, die sie hierhergeführt hatte. Ihre Gedanken und ihre Reden waren bei Kathrin. Laut sprechend wanderten sie an den Rändern des kleinen Sees einher, zuweilen auf dem Moos im Walde, dann wieder auf den Bänken eines verlassenen, mit grauen Algen bewachsenen Bootes ausruhend. Zerstreut blickten sie hin, wenn das Geflügel mit Angstschreien aus dem Rohr sich erhob oder wenn eine Wildtaube mit knarrendem Flügelschlag über den Baumwipfeln entwich. Alles Lebendige hier war des Menschen ungewohnt, dennoch fürchtete es ihn. Auf dem Waldesboden nahe am See überraschten sie einen Habicht, der aus einem der fernen Dörfer eine Henne erbeutet hatte, um sie hier ungestört zu verzehren. Berauscht von dem Glücke dieser Nahrung, verlor der Vogel jede Achtsamkeit. Wie er die Menschen und Hunde dicht vor sich sah, ließ er entsetzt, mit einem fast blödsinnigen Ausdruck in den Augen die Beute aus den Fängen fahren, und er entschwand unbegreiflich schnell zwischen Tannenwipfeln. Marie Ursel und Keyserling folgten sinnend seinem Fluge, dann kehrten ihre Blicke zu dem zerfleischten, seines Kopfes beraubten, mit Tannennadeln verunreinigten Geflügel zurück. Keyserling nahm es auf und warf es ins Wasser, das sich von einem dünnen Streifen Blutes rosig färbte. Unbeweglich lag das Gefieder auf der schilfgrünen Fläche des Sees. Alsbald aber benagten es die Fische. Sich gegen die altersgrauen Bretter des Bootes lehnend, das die Farbe des Pfahlbauholzes angenommen hatte, sahen Marie Ursel und Keyserling schweigend über den See dahin.
Währenddessen fuhr Frau von Hanka mit Stephan in ihrem kleinen Tourenwagen ihnen nach, in das Waldes- und Seengebiet hinein. Keyserling hatte ihr auf einer Karte mit Rotstift den Weg bezeichnet, den sie einschlagen sollte. Dennoch verirrte sie sich, geriet in ein unwegsames, sich immer mehr verengendes Gelände von Waldschneisen und mußte rückwärts fahren, um die freundlichere Straße wiederzuerreichen, von der sie abgekommen war.
»Du mußt lernen, Karten zu lesen«, sagte Frau von Hanka zu Stephan.
Stephan sah mit Abscheu auf die Landkarte über seinen Knien. Das war auch eines jener höllischen Geräte, aus dem Leben der Erwachsenen in das Leben der Kinder entsandt, sie damit zu demütigen. »Ich will es lernen, Mutti«, sagte er höflich.
Frau von Hanka deutete mit dem Kopf auf eine der Linien. »Dies ist die Straße, auf der wir vorhin gefahren sind und auf der wir jetzt weiter verbleiben werden. Du mußt nun den siebenten Waldweg von rechts abzählen, in den biegen wir dann ein. Du hast mich schon in den vierten einbiegen lassen.«
»Ja, Mutti«, sagte der Knabe. »Ich habe dir gesagt, wir wollen in den vierten Weg einbiegen, um von hier fortzukommen.«
»Warum wolltest du von diesem Wege fortkommen? Ich fahre ja auf der gut geebneten Straße viel leichter als dort über die Baumwurzeln.«
Der Knabe schwieg einen Augenblick, mit schräger Haltung des Gesichts, den schimmernden Glanz der Augen ganz in den Winkeln, nachdenklich und fast ein wenig lauernd.
»Mutti, in meinem afrikanischen Buche kommt ein Mann vor, der heißt ›der Vater der Verdammnis‹.«
»Ja?« fragte Frau von Hanka geradeaus sehend, die Hände am Steuerrad.
»Und diese Straße hier ist die Straße der Verdammnis!«
»Weshalb nennst du sie die Straße der Verdammnis?« fragte Frau von Hanka, und sie bemühte sich, zu Stephan so zu sprechen, als spräche nicht sie, sondern ihr Mann zu ihm. »Es ist der große Waldweg, der quer durch Herbstfelde auf die Landstraße Berkehlen – Hochzeit führt. Sie ist in jeder Jahreszeit freundlich und schön, ihr Fundament ist sehr fest, und da sie nach Westen hin geschützt ist, so ist sie auch während der Herbst- und Winterstürme windesstill und warm.«
In diesem Augenblick jedoch begriff Frau von Hanka, weshalb Stephan diese Straße hatte meiden wollen. Denn vor ihnen ging in derselben Richtung ein Mann einher, den sie bereits gesehen hatte, bevor sie nach Stephans Geheiß das erstemal abgebogen war. In ihm erkannte sie jetzt den Hirten. Sie spürte eine Schwäche in den Handgelenken und einen stichartigen Schmerz in den Pulsen. Es wurde ihr schwer, das Steuerrad zu halten. Unwillkürlich aber verringerte sie die Geschwindigkeit des Wagens, um Zeit zu gewinnen, in der sie seine Gestalt und seinen Schritt vor Augen hätte. Sie liebte es, ihn so dahingehen zu sehen. Sie fürchtete, er könne sich umwenden und seitwärts im Gehölz entschwinden. So fuhr sie ein wenig schneller. Dann, nahe bei ihm angelangt, verlangsamte sie abermals die Gangart.
»Ist etwas kaputtgegangen, Mutti?« fragte Stephan mit List.
Aber Frau von Hanka antwortete ihm nicht. Sie erhob ihr Gesicht, als fange sie, wie ein Jagdhund auf der Fährte, einen noch fernen, aber schon berauschenden Duft ein.
Frau von Hanka sprach den Hirten an. »Sie gehen spazieren?«
Sie hatte wiederum ihre besondere Art zu lächeln, als halte sie es nun für ihre Pflicht, nicht an diesem Manne aus ihrem Gutshof vorüberzufahren, ohne ein paar ermunternde und freundliche Worte mit ihm gewechselt zu haben. Inmitten dieses lächelnden Gesichtes aber ließ sie mit der zarten Unterwürfigkeit eines Naturgeschöpfes die schwarzen ernsten Augen in den Augen des Mannes ruhen.
Sein Anzug war nicht sonntäglich. Zwar trug er heute an den machtvoll ausschreitenden Füßen Sandalen, sonst hing ihm wie stets das rotgestreifte Flanellhemd locker und halb offen über den Schultern, und der Saum seiner kurzen Hosen schlug an die nackten Knie. In der Hand hielt er einen abgeschälten, aber unbemalten Eichenstock, aus dessen Griff er sich ein nacktes Weib zurechtgeschnitzt hatte. Seine Hand fest darüberpressend, so schritt er schnell dahin wie wanderndes Volk am Sonntag, das nicht gelernt hat, langsam zu marschieren.
Er drehte den Kopf zur Seite. Während er einige unverständliche Laute zur Antwort gab, lächelte er mit seinem üblichen Hohne. Er musterte Frau von Hankas Hals und ihre am Steuer ruhenden Hände. Frau von Hanka sah dies und sah seine Hand. Ihre Nase, das Gesicht übertürmend, dehnte sich mit witternder Erwartung, und sie schielte darüber hin wie ein kleines, ängstliches Mädchen der Vorschulklasse. Sie lächelte, als habe sie verstanden, was er gesagt hatte, und als sei es etwas Ziemliches und Höfliches gewesen. Sie sagte: »Auf Wiedersehen!« und: »Viel Vergnügen!« Und sie fuhr davon.
An einer Stelle, die Keyserling auf der Karte bezeichnet hatte, am Rande einer Lichtung, tief in der Einsamkeit der Wälder, ließ sie den Wagen stehen.
Bald ungestüm, bald langsam gehend, so strebte sie dem Seengebiets zu, ohne auf Stephan zu achten, der zurückgeblieben war.
Sie erschrak fast, als ihr in dieser Verlassenheit ein Mädchen begegnete, mit einem Schäferhund an der Leine. Es war, als leite der Hund das Mädchen, das wie eine Blinde vor sich hinsah. Doch die Augen gewannen Ausdruck und Farbe, wie sie Frau von Hanka erkannten. Sogleich sank das Mädchen zu einer geziemenden Verneigung in die Knie, dennoch waren Erschrecken und Abwehr spürbar: das gekrümmte Knie schien auf Flucht bedacht zu sein, es stützte einen leicht hinweggebogenen Körper.
Frau Julius von Hanka reichte diesem Mädchen die Hand hin. »Sie sind Mareile«, sagte sie, und sie lächelte mit jener grandiosen Etikette der Freundlichkeit, mit welcher der Moslem seinen erbittertsten Feind noch im Zelte empfängt.
In einer neuen Verbeugung küßte Mareile Frau von Hankas Hand. Frau von Hanka sah den gedehnten Nacken, und mit dem untrüglichen Instinkt des Weibes empfing sie von dieser Haut den Eindruck einer großen Keuschheit. Sie nahm sogleich, in dieser einzigen Sekunde, Mareiles Kleidung wahr: Mareiles Sommerkleid, die Schulterbänder an ihrem Hemd, dann Mareiles Körperbau und Körperduft, die Form ihrer Brust, ihres Halses und ihrer Hand.
»Warum besuchen Sie uns nicht? Wir sind schon lange hier, und Sie haben sich nicht blicken lassen.«
Mareiles bleich-blaue Augen blickten Frau von Hanka mit einem Ausdruck von Besorgtheit an. »Ich wußte nicht, ob ich durfte, gnädige Frau«, stammelte sie.
Da der Hund sie fortziehen wollte, so mußte sie den Arm wagerecht ausstrecken. Frau von Hanka sah diese Linie von dem durchschimmernden hellen Haar ihrer Achselhöhle bis zu den Hüften. »Sie wird niemals ein Kind haben«, dachte Frau von Hanka.
»Sie wissen, daß Sie uns willkommen sind. Wie groß und wie schön Sie geworden sind! Als ich Sie das letztemal sah, waren Sie ein Kind.«
Stephan trat herzu. Er verneigte sich vor Mareile, und er lispelte beglückt sein »Guten Tag!«
Mareile stand stumm, mit gesenkten Augen. Es war, als schäme sie sich ihrer wie einer Krankheit.
»Sie haben viel daheim zu tun, nicht wahr? Sie kommen nur selten in die Nähe des Schlosses?«
Mareile warf Frau von Hanka einen bitterlichen und beschwörenden Blick zu.
»Manchmal komme ich nach Herbstfelde«, sagte sie leise, fast flüsternd, aber ihre Augen waren nicht mehr gesenkt.
»Sieh, Stephan, was das für eine schöne Schäferhündin ist! Ich sehe es Ihnen an, Sie lieben die Tiere auch, wie wir. Man erkennt die Menschen daran, wie sie zu den Tieren stehen. Ich liebe die südlichen Völker in Europa, aber es macht mir immer Kummer zu sehen, wie schlecht sie ihre Tiere behandeln.«
Aus Mareiles Augen entwich im Erschrecken jede Farbe. Sie sah Frau von Hanka mit dieser bitterlichen Besorgtheit an. »Ich beschwöre dich«, sprach die Blässe ihrer Augen, »verletze deine Seele nicht, indem du mich kränkst!«
»Ja, man darf die Tiere nicht quälen, gnädige Frau«, sagte sie. Und zu Stephan gewandt: »Diese Hündin heißt Tschewo, das ist eine Abkürzung von dem russischen Worte Nitschewo, und es heißt soviel wie: Nichts! Ich habe, als ich ihr diesen Namen gab, daran gedacht, daß der Mann aus der Sage sich vor dem Riesen in der Höhle ›Niemand‹ nannte. Ich dachte mir, wenn ich meine Hündin ›Nichts‹ nenne, daß sie dann auch kein Ungemach auf der Welt erfahren wird.« Sie lächelte Stephan zu. »Wer wird einem Nichts etwas Böses zufügen wollen?«
»Ist Nichts denn folgsam?« fragte Stephan, und er streichelte die Hündin.
»Ja, sie ist folgsam. Aber sie ist gar nicht wachsam, und deshalb mag mein Vater sie auch nicht leiden, und ich muß oft achtgeben, daß sie von den Männern in unserm Forsthause keine Schläge erhält oder lieblose Worte. Am Tag bellt sie viel und besonders um die Zeit der Abenddämmerung. Aber sobald der letzte Lichtstrahl vergangen ist, da mag Nichts lieber schlafen. Und so läßt sie denn nachts ungestört in unser Haus eintreten, wer immer mag.«
Stephan lachte heftig, mit einem kleinen Jubellaut in der Kehle, und Frau von Hanka lächelte.
»Wir müssen gehen«, sagte sie.
Sie gab Mareile die Hand. Sie erlaubte ihr mit einem kameradschaftlichen Druck den Knicks und den Handkuß nicht. Ihre Augen trafen sich, aber Frau von Hankas disziplinierter Blick verbot jede Sprache der Augen.
»Lassen Sie sich bald sehen und erzählen Sie uns mehr von Nitschewo!«
»Adieu, Fräulein Tschewo!« rief Stephan, und er umarmte die Hündin. Da er verwirrt war, zog er vor der Hündin mehr als vor Mareile die Mütze vom Kopf.
Mit Heftigkeit fast nahm Frau von Hanka ihren Sohn mit sich fort. Während sie den Arm um seine Schultern legte und hastig geradeaus schritt, zählte sie insgeheim die Minuten, wann Mareile und der Hirt sich begegnen würden.
»Wenn wir morgen fortreisten?« fragte sie, und sie hatte umschleierte Augen. »Noch ist es Sommer, und das Wetter ist warm in Europa. Wir können an die Nordsee, nach Scheveningen oder an eine der deutschen Inseln.«
»Wie ist es an der Nordsee, Mutti?«
Frau von Hanka begann von der Nordsee zu erzählen, geduldig hörte Stephan ihr zu. Sie berichtete von den gewaltigen Sandburgen der Kinder, von den bunten, immer im Winde flatternden Fähnchen, von den Wogen, die beim Bade die Schultern peitschen, vom bitterlichen Geschmack des unendlichen Meeres. Sie erzählte von Kriegsschiffen, die mit graugestrichenen Panzerplatten das Wasser durchschneiden, und von Segelschiffen am Horizont, deren Mastspitzen zuerst sichtbar werden, was ein Beweis für die Kugelgestalt der Erde sei. Dann begann sie von den Inseln an der holsteinischen Küste zu sprechen, über deren trostlos feierliche Sandböden nachts die Schafe ihren traurigen Ruf erschallen lassen, während am Wattenmeere die Krickenten und Strandläufer mit eingezogenen Köpfen schlafen.
»Warum sind diese Schafe so traurig?« fragte Stephan.
»Man hat um ihren Nacken ein Doppeldreieck aus Holz gespannt, das sie an der Weide behindert. Nun rufen sie sich in der Nacht mit traurigen Rufen zu.«
Frau von Hanka suchte in Stephans Rocktasche nach einem Tuch, das sie schnell zum Mund führte.
»Wir wollen doch hierbleiben«, sagte Stephan, und er zog aufatmend die Mütze vom Kopf, als grüße er etwas Unsichtbares, das zwischen den Bäumen stände.
Frau von Hanka hörte nicht hin. In ihrem Schritt war Flucht und Furcht.
Mit einem Seufzer der Erleichterung erreichte sie den See. Drüben am Ufer sah sie im Wasser die Spiegelbilder der Menschen und der Hunde, ehe sie diese selber gewahrte. Frohe Rufe und weisende Winke begrüßten sie.
Mareile traf den Hirten vor dem Automobil am Rande einer Waldeslichtung, die einer Urlandschaft glich. Die Hand auf dem Stockgriff, so betrachtete der Hirt düster, fast tiefsinnig das geisterhafte Schauspiel dieser verlassenen Maschine.
Die Waldeslichtung war einstmal durch einen Zyklon entstanden. Holzfäller hatten die geknickten Bäume niedergelegt, doch von den andern ragten zersplitterte Stämme oder erdbehangenes Wurzelwerk in die Lüfte. Die Giganten waren dahingesunken, unsterblich aber erschien das Volk der Kletterpflanzen, das fortgedeihend die heroischen Leiber bedeckte, wie Efeublätter die Sarkophage. Insekten schwirrten in den Waldesblüten, Eidechsen glitten zwischen Himbeeren und Ebereschen dahin. Betäubend roch das Holz, betäubend summten die Bienen. Aber kein Vogel sang, nur fern, sehr fern streute der Kuckuck dem Menschen, seinem Freunde, schluchzend die geringe Zahl seiner Lebensjahre dahin.
Der Hirt fuhr mit dem Stockgriff über den Führersitz einher, die spitzen Füße des geschnitzten Weibes hinterließen im Leder feine Vertiefungen. Dann ergriff er das Steuerrad, auf dem er die Hand ruhen ließ. Zwischen seinen Augen bildeten sich Falten, sein weicher Mund war leicht geöffnet. Wie er jetzt einen Hauch jenes Parfüms verspürte, der in diesem Wagen geblieben war, begann er mit den Zähnen zu knirschen.
Mareile hob ihre Hand zu seiner Schulter, und mit schwachem Lächeln flüsterte sie: »Guten Tag, Mario!« Der Hirt, der sie längst gesehen hatte, gab ihr keinen Blick. Sein Stockgriff drückte sich tiefer in das Leder ein, er malte Umrisse von Menschenleibern, wie er es zuweilen an den Wänden seines Hauses oder der Ställe tat.
Mit Zärtlichkeit erhob Mareile noch einmal die Hand, sanft streichelte sie die Schulter des Hirten. Ihre spitz hervorstehende Schulter drückte Scham, Leiden und Scheu aus.
»Komm«, bat sie. »Laß uns fortgehen. Sonst kehren die andern zurück.«
Der Hirt umfaßte den ganzen Wagen mit seinem Blick. »Wieviel Kleider die hat! Tausend?«
Mareile lächelte schwach.
»Und Stiefel! Halstücher! Und Wollwesten!«
Mareile antwortete nicht. Sie sah mit ihren schönen blassen Augen zur Seite. Wie die Landschaft und Einsamkeit sie ergriff! Wie dieser Mann, der die Wälder zu überragen schien!
»Gehst du nicht fort von hier?« fragte sie traurig.
Der Mann folgte ihr. Wie er die Hündin sah, fragte er streng: »Was soll die? Mach' sie los!«
Mareile zögerte. »Sie jagt, Lieber –«
Der Hirt zog die Hündin am Nackenfell herzu. Das Tier murrte mit Angst und Trotz. Der Hirt hob es hoch und ließ es mitten in die Dornen fallen. Die Hündin schüttelte sich, schrie mit kleinen Schimpflauten und entwich in Wolfssprüngen. Ihr graues Fell glänzte raubtierhaft über Wurzelbehängen zweimal in der Sonne auf, bis der Waldessaum ihre fliehende Gestalt verzehrte.
Sie lagen nun zwischen Ginsterbüschen und Brombeersträuchern. Der Hirt dehnte seine Glieder wie eine große schläfrige Katze. Er sah in den Himmel, zu den unbewegten Sommerwolken.
»Was willst du hier?«
Mareile erwiderte hilflos und zärtlich:
»Nichts …«
Sie nahm seine Hand, sie betrachtete sie lange mit einem bestürzten und leidenschaftlichen Blick. Es war eine tätige Hand mit kräftigen, großen Fingern und kuppelförmig gebogenen Fingernägeln. Am Handgelenk pochten unter den Haarsträhnen die starken Pulse. Mareile hielt diese Hand, streichelte sie, lehnte zuweilen ihre Wange daran, als horche sie auf eine innere Stimme, die ihr von dort entgegentönte, berührte sie auch behutsam mit ihren blassen Lippen.
Sie redete ihm niemals zum Guten zu, sie predigte ihm nicht wie dem Raubvogel, sie war unterwürfig und sanft zu ihm. Sie ging auf seine Art ein, soviel sie nur vermochte; sie scherzte sogar mit ihm. Sie wußte es, daß er unwandelbar war. Meistens hörte der Hirt ihr schweigend zu, oder er antwortete mit Halblauten. Wenn er sie an sich ziehen wollte, so entzog sie sich ihm, eine entsetzensvolle Starrheit in den Gliedern. An ihrem Grauen hatte er seine Lust, doch immer ließ er von ihr ab. Er liebte sie nicht. Seine Begierde ging seit Monaten auf anderen Wegen. Ein einziges Mal nur hatte er ihr nicht erlaubt, seinem Arme zu entweichen. Mareile fühlte seinen Kuß auf ihrem Mund, seinen tierhaft feurigen Atem, sie hörte sein dröhnendes Lachen. Ohnmächtig brach sie zusammen. Fast behutsam ließ der Hirt sie in die Blumen zurückgleiten. Bei diesem einzigen Kuß von Lippe zu Lippe war alles zwischen ihnen verblieben. Fast schien es, als seien sie befreundet. Aber zuweilen hatte sie seinen Haß zu fürchten, diese elementaren Ausbrüche eines Mannes, der die Nähe einer ungeliebten Frau nicht zu ertragen vermag, während die andere immer entfernt und doch immer sichtbar vor ihm einherwandelt.
»Wo ist sie hin?«
Mareile lächelte mit List.
»Die Hündin? Sie wird jetzt das Wild im Revier vergrämen und dann nach Haus laufen.«
Der Hirt murrte. »Ich spreche nicht von der Hündin. Von der da spreche ich.«
»Von Frau von Hanka? Ich denke, sie wird zur Jagd gegangen sein, Lieber, – Enten zu schießen.«
Der Hirt sah grübelnd über die Waldeslichtung dahin.
»Ja, die versteht es.«
Mareile lehnte die Wange an seine Hand. Sie horchte auf die Schläge seines Blutes, die Kraft eines Gottes war dahin. Verwirrt glaubte sie, es sei ihr eigenes Herz, das ihr so machtvoll in den Pulsen poche.
Sie fragte: »Warum denkst du so viel an sie?«
Das Auge des Hirten bekam einen Glanz, wie ihn das Menschenauge in der Stunde des Todes hat. Dann verlosch es. Mareile erschrak. Wie sich Lust und Tod in seiner Seele mischten! Sie war bestürzt, wie ein Mensch, dem am Kreuzweg das Unbegreifliche entgegentrat, das sich am glanzerfüllten Auge als Gottheit bekundete.
Sie hielt die Hand des Hirten fest zwischen ihren feinen Händen, als wolle sie sie davor bewahren, Böses zu tun.
»Weißt du, was ich möchte? Solch ein Erzengel aus der Bibel sein und mit Feuerfüßen durch das Land ziehen und allen Frauen predigen: Schließet eure Seelen, wie ihr des Nachts eure Häuser schließet, denn der große Mann geht durch die Gassen!«
Kein Zug von Selbstgefälligkeit war im Gesicht des Hirten erkennbar. Er sah finsterer und strenger aus als zuvor. Bienen umsummten sein schönes bärtiges Haupt. Sein Nacken ruhte auf rauher Rinde. Seine Glieder waren in Efeu getaucht, wie in die Schatten eines Grabes.
»Ja, wahr sprichst du«, murmelte er nachdenklich. »An die Männer – kann man nicht gelangen. Ein Stich in die Schulter – Madonna! – nichts hat man ihnen getan! Aber ihre Weiber – die trifft man! Ohne Dolch: mitten ins Herz! (Sie bei der Hand fassend): ins Herz!«
Er fügte hinzu: »Geh du! Predige den Weibern! Predige der da! Du sollst sehen, wo du hingelangst.«
Mareile horchte auf den Vogelruf, der ferner und ferner erklang. Sie preßte die Hände.
»Ich weiß es so: – wie die da alle um sie zittern!«
Der Hirt verbarg sein üppig lächelndes Gesicht im Arme. »Wie die da alle um sie zittern –«
Mareile wurde unruhig und blaß, wie ein kleines Mädchen, das an einem kühlen Sonntagnachmittage zu lange fortgeblieben ist. Sie begann zu frieren und zu beben, als habe ein Frost sie getroffen. Sie beugte sich und küßte die Hüfte des Mannes mit der Demut ihrer mittelalterlichen Schwestern, die die Wunde Gottes küßten.
»Du hast mich gefragt, weshalb ich zu dir komme. Weißt du das nicht? Ich will es dir sagen: Du wirst von Tag zu Tag reifer zu einer Missetat, wie die Früchte auf dem Felde zu ihrer Vollkommenheit. Da bin ich des Nachts sitzend in meinem Bette und habe solche Angst! Dann komm' ich am Tage zu dir und möchte dich reizen zu deinem Verbrechen, damit es endlich geschehe!«
Sie streichelte leidenschaftlich seine Schulter.
»Du sollst mich töten, hörst du, Lieber? Dann, wenn ich zu deinen geliebten Füßen liege, wirst du erschrocken sein und fliehen, und diese dort wird leben und ein reines Herz bewahren können und glücklich sein.«
Langsam richtete der Hirt sich auf. Er sah Mareile nah ins Gesicht und Mareile ihm. Seine Blicke wurden flackernd und irr, seine Gedanken arbeiteten, seine Lippen standen zu einer Frage offen, zu einem Ausruf des Erstaunens!
Dann lachte er, verlor sich abermals in Grübeleien, sah Mareile unsicher von der Seite an und lachte aufs neue.
Er griff nach ihrem Arme. Mit stummer Beschwörung wehrte sie ihn ab. Lachend zog er sie zu sich heran.
»Andere kratzen den Weibern die Augen aus. Du tust ihnen schön, willst dich opfern. Du liebst die Weiber! Selbst unter dem Vieh suchst du dir die Färse aus! Was willst du von mir, du Schmale, Dürre du?«
Mareile flüsterte fassungslos: »Herr – o mein Herr …«
Der Hirt hielt sie nahe an seine Brust, als sei dort die Natur selber, von der ein schwaches Menschenkind sich sättigen darf.
»Ja? Bin ich dein Herr? Aber ich bin ein Mann – weißt du das nicht? Komm, gib mir einen Kuß! Sieh da, dein Fußgelenk! Soll ich zudrücken? Dann mußt du nach Hause hinken … Ach, nun wirst du wieder ohnmächtig!«
Der Abend war angebrochen. Keinen Ruf gab der Kuckuck mehr hin.
Der Hirt stand auf. Er schüttelte den Efeu von den Gliedern wie einen kalten Tod. So stieg er über die Stämme dahin. Vor dem Wagen blieb er noch einmal stehen. Er berührte mit seiner Fingerspitze den Lack und das Wappen der Tür. Dann verlor er sich heimwärts, kreuz und quer dahinschreitend.
Einige Zeit später erreichte die Jagdgesellschaft mit bellenden Hunden die Waldesmündung. Sie sprachen nur Geringes zueinander, sie waren müde und fast ein wenig traurig, wie es die Menschen im dahinscheidenden Sonntagabendlichte sind. Frau von Hanka und Marie Ursel wollten nun den Wagen besteigen, da bemerkten sie, daß Stephan fehlte. Keyserling deutete mit der Hand nach den Brombeerbüschen. Man rief Stephan zu, sich zu beeilen, aber der Knabe gab keine Antwort. Nur die Hunde in seiner Nähe bellten heftiger als zuvor. Frau von Hanka und Keyserling traten näher.
Wie Mareile ihre Stimmen hörte, löste sich ihre Starrheit. Sie fuhr zusammen, strich ordnend über ihr Haar, starrte in die Abendröte und flüchtete wie ihre Hündin.