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Schuld und Sühne

Was sich nach dem vergeblichen Attentat und der unbeabsichtigten Ermordung der Lucy in dem Verbrecherkreise an wilden Szenen abspielte, spottet jeder Beschreibung.

Willem war wie von einer Tarantel gestochen aufgesprungen und hatte sich auf seine Geliebte gestürzt, deren Leib er schüttelte und mit aller Kraft hin und her warf, um sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Als er aber sah, daß der Kopf des Mädchens leblos pendelte und die verglasten Augen ihn stumm und vorwurfsvoll anstarrten, warf er den Körper wie eine Puppe auf den Fußboden, brach ächzend zusammen und brüllte wie ein todwunder Stier. Seinem ohnmächtigen Stöhnen entrangen sich nur die Worte: »Mörder, Mörder! Arme Lucy!«

Dann tastete er sich zitternd und bebend zu seinem Bett in der kleineren Kammer des Wagens und legte sich nieder, wie ein siecher Löwe zum Sterben bereit. Sein leises Wimmern und Ächzen klang wie fernes Röcheln. – Als Karl mit maßlosem Schrecken sah, was er angerichtet hatte, brach auch er zusammen. Seine Finger suchten krampfhaft und zitternd in der Westentasche nach einem zweiten Pulver, aber vergebens. Ohne eines Wortes mächtig zu sein, starrte er ins Leere, und man merkte es ihm an, daß er Furcht hatte, seine Blicke umherschweifen zu lassen, denn – sein Opfer lag neben ihm am Boden.

Irma ging stumm und händeringend in dem kleinen Raum auf und ab. Vereinzelte Tränen kullerten ihre Wangen hinunter, und jedesmal, wenn sie an Lucys Leiche auf den Zehenspitzen vorüberschritt, schluchzte sie laut auf. – Aus einem benachbarten Wagen des Rummelplatzes klangen die langgezogenen und kreischenden Töne einer Harmonika herüber, die lustige Weisen zu einem Geburtstagsfeste aufspielte. Und in die Töne der Musik mischte sich das fröhliche Lachen armer aber glücklicher Menschen. – Irma ballte die Faust und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.

Die Buttermamsell hatte in der Nacht einen wichtigen Entschluß gefaßt; sie konnte, schlaflos im Bette liegend, die Zeit des Sonnenaufgangs kaum erwarten.

Kurz nach acht Uhr war sie schon auf dem Berliner Polizeipräsidium und fragte nach der Kriminalabteilung, die den Fall ihrer Freundin bearbeite. Nach mehrfachem Hin und Her hatten die Beamten endlich herausbekommen, daß es sich um eine kleine Diebin handle, die gestern früh verhaftet wurde. Der Kriminalkommissar, der die Untersuchung leitete, wurde verständigt und ließ die Besucherin zu sich bitten.

»Was wünschen Sie? «fragte er wohlwollend.

»Entschuldigen Sie man, Herr Kriminalrat, wenn ick störe«, antwortete die Buttermamsell schüchtern und stotternd, »ick wollte Sie nur bitten, meine Freundin, die Jule, freizulassen. Det arme Meechen hat nischt verbrochen, un ick fühle mir so vereinsamt, det ick ohne ihr nich leben kann!«

Der Beamte lächelte und sagte mit einem leisen Anflug von Ironie:

»Sie sind sehr naiv, Fräulein, und scheinen noch nicht lange in Berlin zu sein. Wenn die Polizei ein Individuum verhaftet, dann geschieht dies nicht ohne Grund. Und wir können einen Haftbefehl unmöglich deshalb aufheben, weil Sie sich vereinsamt fühlen. Ich gebe Ihnen den guten Rat, schaffen Sie sich eine andere Freundin an, die Ihnen genügende Gewähr dafür bietet, mit dem Strafgesetzbuch nicht in Konflikt zu geraten!«

Die Buttermamsell schwieg.

»Kann ich sonst mit etwas dienen? Ich habe wenig Zeit!« fuhr der Kriminalkommissar fort und schickte sich an, die auf seinem Tisch liegenden Akten zu prüfen.

Das Mädchen zögerte noch etwas, dann brachte sie zaudernd und leise hervor: »Auch nicht, wenn ich Ihnen ein großes Geheimnis sage, Herr Kommissar?«

»Ein Geheimnis wollen Sie mir sagen?« forschte der Beamte, sichtlich stutzig gemacht, »ein Geheimnis, und im Tausch dafür soll ich Ihre Freundin entlassen?!«

Die Buttermamsell nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Um was handelt es sich denn?« fragte der Beamte weiter, »vielleicht können Sie mir die Sache andeuten?!«

»'ne janz jroße Sache«, platzte das Mädchen ermutigt heraus, »alle Zeitungen haben wochenlang davon jeschrieben, so wat jroßet, wie et nie wieder vorkommt, aber ick sage nischt eher, bis Sie mir versprechen …!«

»Na, dann warten Sie mal einen Augenblick«, brach der Kommissar kurz ab, »ich werde den Dezernenten herbeiholen!«

Nach einigen Minuten kam der Beamte mit seinem Vorgesetzten zurück, und es wiederholte sich dasselbe Frage- und Antwortspiel.

Der Dezernent erkundigte sich jetzt nach den näheren Umständen des Diebstahls, und als er erfuhr, daß die gestohlene Uhr bei der Verhafteten gefunden und dem Besitzer wieder zugestellt worden war, sah er den Fall nicht sehr tragisch an und sagte zu dem Mädchen: »Wenn Sie die Bürgschaft dafür übernehmen, daß Ihre Freundin sich dem Richter nicht entzieht, und wenn das Geheimnis, das Sie uns hier verraten wollen, kein Geflunker ist, dann wollen wir Ihre Freundin vorläufig auf freien Fuß setzen.« Und zu dem Beamten gewendet, fügte er hinzu: »Lassen Sie doch die Inkulpatin vorführen, Herr Kommissar!«

Die Buttermamsell war freudig erregt über den günstigen Ausgang ihrer Bitte und versprach gern alles, was die Herren von ihr verlangten, ohne sich der Tragweite ihres Versprechens bewußt zu sein. Und als die Trippeljule erschien, stürzten sich die beiden Mädchen in die Arme und die Buttermamsell schluchzte: »Denk der doch bloß, verjiften wollten se mir jestern, un dabei hab'n se de arme Lucy umjebracht!«

»Wat?!« schrie die Trippeljule laut auf, »Willems Braut, de Lucy is tot?! Nee, sowat, det kann ick jarnich bejreifen, wo se jestern noch so verjnügt war! Ick bin trostlos und falle in Ohnmacht!«

»Ehe Sie das tun«, unterbrach der Kriminalkommissar, »sagen Sie uns lieber vorher, wer den Mord ausgeführt hat, da die Verbrecher sonst entkommen könnten. Und Sie, Fräulein, wollten uns doch Ihr großes Geheimnis verraten? Oder handelt es sich um denselben Mord und Mordversuch?«

»Det is noch jarnischt!« platzte die Buttermamsell wieder heraus, »nu hören Sie und staunen Se!« Und in einem Atemzuge erzählte sie die ganze Geschichte von dem Millionenraub und der Flucht im Flugzeug, von der Unterredung mit Lucy und Irma und von der plötzlichen Begegnung auf dem Rummelplatz und wie die Verbrecher gestern die Absicht gehabt hätten, sie umzubringen und sie in einer Vorahnung die Gläser vertauscht und Lucy plötzlich tot umgefallen sei. Sie wollte noch mehr erzählen, aber der Kriminalkommissar wurde unruhig und entfernte sich sofort, nachdem er einen Schutzmann zur vorläufigen Bewachung der Mädchen hereingerufen hatte.

Eine halbe Stunde später, kurz nach neun Uhr vormittags, umstellte ein großes Aufgebot an Schutzleuten den friedlich in strahlende Morgensonne getauchten Rummelplatz. Nur einige Frauen beschäftigten sich bei ihren Wagen mit Hausarbeiten, sonst war keine Menschenseele sichtbar.

Sechs Beamte versuchten jetzt in den Wanderwagen einzudringen. Sie klopften und riefen vergebens: »Hier Polizei! Öffnen, sonst schlagen wir die Türe ein!« Kein Antwortzeichen klang aus dem Innern der »Artistenwohnung« . Da kam der die Verhaftung leitende Kriminalkommissar auf den glücklichen Einfall, die ganze Gesellschaft in ihrer eigenen Falle zum Polizeipräsidium schaffen zu lassen. Mit Hilfe der durch den Lärm herbeigerufenen Budenbesitzer wurden die Pferde der Firma Delitzsch aus dem Stall, der sich ebenfalls auf dem Rummelplatz befand, geholt und vorgespannt Und wenige Minuten später rollte der Wanderwagen, von einer starken Schutzmanneskorte begleitet, über das Pflaster.

Eine zahlreiche Menschenmenge, vor allem halbwüchsige Burschen und Mädchen, die der sonderbare Aufzug herangelockt hatte, gaben der Arche, wie sie den Wagen nannten, johlend und pfeifend das Geleit.

Im Hofe des Polizeipräsidiums wurde das unfreiwillige Gefängnis gewaltsam geöffnet.

Irma stand aufrecht, hart und kalt, ohne äußere Kennzeichen einer inneren Erregung, in Erwartung ihrer Henker.

Karl saß stumm und starr an einem Tisch und mußte mit Gewalt hinausgetragen werden. Ihm folgte sein Opfer, das noch immer auf dem Fußboden lag … Im Hintergrunde des Wagens fand man Willem delirierend im Bett und ließ ihn als Polizeigefangenen nach der Charité überführen.

Die Akten des Millionenraubes wurden nun herbeigeholt, und der Dezernent leitete selbst die Vernehmung.

Karl schwieg und stellte sich stumm und taub, nichts war anfänglich aus ihm herauszuholen. Erst nach wiederholter Vorführung und durch das lange Hungern und noch mehr durch den quälenden Durst mürbe gemacht, löste sich seine Zunge, als ihm eine Flasche Wein vorgesetzt wurde.

Was den Dezernenten am meisten interessierte, war die Lösung der Frage, wie das Wasser aus dem Bassin zum Abfließen gebracht wurde. Und dieselben Beamten, die sich damals über das seltsame Problem den Kopf zerbrachen und heute der Vernehmung beiwohnten, konnten sich eines Lächelns nicht erwehren, als Karl gestand, daß das Wasser auf die einfachste Weise abgeleitet wurde, nämlich durch ein Bleirohr und als Fortsetzung desselben durch einen Wasserschlauch in das Becken des Klosetts, das sich in der Nähe des Kellers befand und von diesem nur durch eine Rabitzwand getrennt war. Karl erfuhr auch bei dieser Gelegenheit, daß man den Soldatenrat und den Major auf österreichischem Gebiet bei der Landung festgenommen und den geraubten Rucksack beschlagnahmt hatte, und daß die beiden Ausreißer, der Mittäterschaft verdächtig, bereits in Moabit hinter Schloß und Riegel saßen. Was den weiteren Verbleib des Geldes anbetrifft, gestand Karl, daß der Fußboden des Wagens noch eine erhebliche Summe berge, daß aber der größere Teil von Lucy versteckt worden sei. Nur sie selbst hätte hierüber Auskunft geben können, denn niemand wisse, wo sie das Geld hingeschafft habe.

Irma erklärte auf Befragen, daß sie an der ganzen Sache schuldlos sei, man könne es ihr nicht verübeln, daß sie ihren Geliebten begünstigt habe. Im übrigen gab sie ohne Umschweife zu, daß sich das ihr in Verwahrung gegebene Geld noch im Keller befände.

Nach kurzer Untersuchungshaft wurde Karl zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Der wieder genesene und seelisch völlig gebrochene Käse-Willem kam mit acht Jahren davon. Irma ging straflos aus, denn sie hatte sich im Untersuchungsgefängnis mit Karl verheiratet und konnte als dessen Ehefrau nicht mehr wegen Begünstigung verurteilt werden.

Schlosser-Franz war am glücklichsten. Zwar hatte er den größten Teil seines Raubes durch Lucys Tod verloren, denn nur sie allein wußte von dem Versteck in der Laubenkolonie, aber der ihm verbliebene Rest genügte zum Erwerb eines größeren Bauerngutes und für eine sorgenlose Zukunft. Seine unglückselige Manie verlor sich bei der Landarbeit so allmählich, und nach einigen Jahren ahnte niemand, daß der fleißige und bescheidene Bauer einst ein gefährlicher Geldschrankknacker gewesen war.

Der Soldatenrat und der Herr Major büßten ihre Schuld mit zwei Jahren Gefängnis. Die Trippeljule, die kleine Diebin, kam mit einer bedingten Begnadigung davon, weil sie versprach, zukünftig ein lasterfreies, redliches Leben zu führen. Und sie hatte alle Veranlassung, ihr Versprechen zu halten, denn die Buttermamsell, der der größte Teil der Belohnung zufiel, kaufte sich ein prächtiges Margarine- und Käsegeschäft und nahm ihre Freundin bei sich auf. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß just ein »Käse-Willem« der »Buttermamsell« zu ihrem früheren Beruf verhalf. Der Schatz in der Laubenkolonie ist aber bis auf den heutigen Tag nicht gehoben, denn Lucys fröhliche Augen und ihr kecker Mund sind für immer geschlossen.

 

Ende!

 


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