Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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3.

Wie ich der Metzgerhund war.

Als der Vater alles wußte, was ich ausgestanden hatte, sagte er tief gerührt: »Es ist nun doch gut, daß wir dich wieder haben!« Und nach diesem Worte ward ich so frisch und froh wie eine Lerche, die sich zum Frühlingshimmel aufschwingt.

Wenn nur nicht unser garstiges Stineliese immer so spöttisch über das bunte Ferkel gestichelt hätte! Das konnte sie nicht lassen, obgleich sie wußte, daß sie mir mein ganzes Herz wund stichelte. Eines Tages beschwatzte sie mich, mit ihr in den »Tropp«Eine Spinnstuben-Gesellschaft. zu gehen, und ich war 255 auch richtig so dumm, auf sie zu hören. Die Freude über das unverhoffte Angebot raubte mir alle Überlegung, und ich war um Stineliese herum wie ein Schoßhündchen um seine Herrin.

Als wir nun am Abend in den Tropp kamen, rief Stineliese mitten zwischen die zahlreich versammelten Knechte und Mädchen hinein: »Mit Verlaub, ihr Leute – ich bringe einmal unser buntes Ferkel mit!«

Ha, gab das ein Gelächter, ein Quieken und Gurgeln, daß mir fast die Sinne vergingen. Schnell wie ein Gedanke war ich wieder draußen, ich preßte mir die Schürze vors Gesicht und weinte. Nichts schmerzt tiefer, als wenn einen das eigne Blut vor fremden Leuten verspottet und verhöhnt.

Ich kehrte in die Lindenhütte zurück, klagte dem Vater mein Leid und schluchzte. »Ach, wenn sie mir nur nicht immer das bunte Ferkel vorwerfen wollte!«

»Du mußt zu Ostern einen neuen Dienst annehmen und mußt dann mindestens ein volles Jahr aushalten; hernach will ich den sehen, der dir noch das bunte Ferkel vorzuwerfen wagt,« sagte der Vater.

O, dann wollte ich lieber heute als morgen fort und wollte alles lassen und alles leiden, 256 was vonnöten wäre, um den Spott und Hohn von mir abzuwenden.

Der Vater sah mich traurig an und ging zur Ruh. Die Jüngsten schliefen auch schon.

Ich blieb beim schwelenden KrüselKleines, an einer Zahnstange hängendes schiffchenartiges Licht. am Spinnrade sitzen, und es war nun so still, so öde und leer um mich her, daß mir mein Elend so recht zum Bewußtsein kommen mußte. Noch niemals hatte ich, wenn ich daheim war, über mich selbst nachgedacht; jetzt kam's auf einmal über mich, daß ich daheim wäre und doch keine bleibende Stätte hätte, daß ich nur zum Elend geboren wäre, daß keiner im ganzen Dorfe so schlimm dran wäre wie ich. An meine Schulkameraden dachte ich, wie die es alle so gut hätten, wie sie immer daheim bleiben könnten bei Vater und Mutter – und wie sie alle Abende in die Spinnstube gehen könnten und singen und spielen. Und ich gedachte der Zeit, da ich klein war, da die Mutter noch unter uns lebte und Hanneliese und Margretchen. Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte mein Gesicht in die Hände legen und laut aufstöhnen. 257

Da schlug der Vater den Butzenvorhang auseinander und fragte, was mir wäre.

Ich stürzte zu ihm hin, und er zog die bebenden Arme fest um mich. So weinte ich mich aus am Herzen des Vaters.

Kurze Zeit darauf, an einem Sonntage, stehen wir mit dem Vater um die Linde herum und begucken die Zweige, ob sie bald ausschlagen werden. Kommt ein Mann mit großen Stulpenstiefeln am Berge herauf, lockt ein schreckliches Ungetüm von einem Hunde mit sich und wendet sich auf einmal an unsern Vater mit der Frage, ob er nicht ein Kalb oder Rind zu verkaufen hätte?

»Ein Kalb nicht, ein Rind auch nicht, aber ein buntes Ferkel hätten wir zu verkaufen!« rief das boshafte Stineliese, ehe der Vater noch ein Wort antworten konnte.

»Ein buntes Ferkel?« Der Metzger lachte, und der große Hund riß das Maul auf, daß die Leute unten an der hilgen Beke stehen blieben und zu uns herauf sahen. Es war Stineliesens Glück, daß sie geschwind ins Haus huschte, denn sowohl der Vater, wie der Bruder waren dunkelrot geworden im Gesicht, ein Zeichen, daß sie ein heftiger Zorn erfaßt hatte.

Als der Metzger hörte, was es mit dem bunten Ferkel für eine Bewandtnis hatte, drehte 258 er sich auf den hohen Absätzen und that einen Pfiff, daß sein alter»Röe« wunder was meinte und sogleich wieder seinen furchtbaren Hals aufriß. Der Metzger sah mich an, wie er wohl die Kälber und Rinder ansehen mochte, die ihm zum Kaufe angeboten wurden. So eine Dirn wie mich könne er im Augenblicke just so gut gebrauchen wie ein gutes fettes Schlachttier, sagte er, denn ihre Magd hätte die Gelbsucht gekriegt. Er wäre der Metzgermeister Dienhardt aus Tannenfeld, hätte das beste Geschäft in der ganzen Stadt und brauche wohl nicht erst zu sagen, daß sich so ein »mageres Spier« in seinem Hause ein Paar ordentliche Hüften zurecht essen könne; denn auf ein Pfund Fleisch mehr oder weniger käm's da nicht an.

Unser Vater hatte nun schon immer seine Sorge gehabt über mein schwindsüchtiges Aussehen und gesagt, daß ich eine Stelle haben müsse, wo ich ordentlich »was in die Knochen kriegte«, und obwohl er schon daran gedacht hatte, mich für Stineliese zu Hause zu behalten, so gönnte er mir doch die nahrhafte Stelle eher als der Schwester. Er sagte in seiner vorsichtigen Art: »Wir wollen's uns überlegen und in ein paar Tagen Bescheid geben.« Was es denn für 'n Lohn gäbe? Der Metzger 259 antwortete: »Acht Thaler und zu Weihnachten 'ne Schürze.«

Aber darauf schien's unserm Vater jetzt gar nicht so sehr anzukommen; er dachte nur an das viele schöne Fleisch, das es da zu essen gäbe, und sah mich schon zu einer runden und roten Dirn auswachsen.

Wir erkundigten uns in den nächsten Tagen bei den Leuten hie und da nach den Metzgersleuten; es konnte uns aber niemand etwas Schlimmes sagen; es stellte sich auch heraus, daß der Metzger sein Geschäft noch nicht lange angefangen hatte.

Am vierten Fastensonntage hörte ich unsern guten alten Herrn Pastor – er war nun schon recht alt und zitterig geworden – noch einmal predigen über den Text: »Denn so der Ochsen und der Böcke Blut und die Asche von der Kuh gesprenget« . . . Meine aufgeregten Gedanken gingen mit der Ochsen und der Böcke Blut unwillkürlich ins Metzgerhaus nach Tannenfeld voraus, wo ich am andern Morgen dann auch auf meinen Füßen eintraf.

Den Metzgermeister sah ich nicht, aber zwei Frauen sah ich. Eine saß in der Stube, die andre stand in der Küche. Kinder waren nicht da. Der Metzger selbst war auf den Handel 260 aus. Die in der Küche war seine Schwester, die in der Stube seine Frau. Mir fiel das Herz in die Schuhe, denn beide Frauen sahen sehr giftig aus. Sie hatten, wie ich gleich merken konnte, eben erst einen Stubenkrieg miteinander geführt und noch keinen Frieden geschlossen. Ich stand auf der Stubenthürschwelle, horchte mit einem Ohre in die Küche, mit dem andern in die Stube und gab eine Antwort hierhin, die andere Antwort dorthin. Ich geriet so in die größte Verlegenheit und wußte nicht, was ich thun und lassen, wohin ich gehen und wo ich stehen sollte. Antwortete ich nach der Küche, so gab's in der Stube ein Keifeln und Gelächter, daß es mir durch Mark und Bein zog, antwortete ich nach der Stube, so entstand in der Küche ein Rumoren und Poltern, als ob plötzlich alle bösen Geister hereingefahren wären.

Auf einmal sprang die Frau in der Stube auf mich los, riß mich herein und schlug die Thür zu, daß es donnerte und dampfte. Dann fauchte sie mich an: »Ich bin die Frau im Hause – und ich gelte ganz allein! Hörst du, Mädchen?«

Zitternd nickte ich mit dem Kopfe.

Nun hob sie sich auf und gab mir ein kurzes Zeichen mit der Hand. 261

Und zitternd folgte ich ihr – drei steile Treppen und noch eine Leiter hoch. Wir kamen auf den Dachboden. Da war aus langen grauen Brettern ein Kämmerlein hergerichtet, darin stand ein Brettsessel und ein Bettgestelle, die beide einen sehr wackeligen Eindruck machten. »Thu dein Bündel dahin!« befahl die Gestrenge. Dann trat sie mit mir aus dem Verschlage und sagte in herrischem Tone: »Dort liegt Stroh!« Sie zeigte mit der Hand nach dem Eulenloche. Ich mußte nun die Leiter ansetzen, ein Bund Stroh herunterholen, auseinanderbreiten und in die Bettstelle legen.

Als das geschehen war, stiegen wir wieder hinunter. Kaffee würde ich zu Hause wohl schon getrunken haben? fragte sie im Hinabgehen. Das bejahte ich etwas kleinlaut.

»Hast also keinen Hunger?«

»Oh – nein!«

»Das viele Essen und Trinken ist auch nur Angewohnheit,« bemerkte sie; dann könnte ich gleich gehen und 'ne Tracht Kraut einholen.

»Woher?« fragte ich mit weinerlicher Stimme.

»Na, vom Kirchboden nicht!«

Ich zuckte und schluckte.

»Auf der Scheune liegt die Köze!« herrschte sie mich von neuem an. 262

Ich schwankte fort. Sie sah hinter mir her und meinte: »Wenn du so dumm bist, wie du aussiehst, soll ich wohl noch was mit dir erleben. Ich möchte wünschen, daß du besser einpickst, als die vorigen.«

Als die vorigen? Wie viel mochten das wohl gewesen sein? Diese Frage schoß mir durch den Kopf. Noch am selben Tage erfuhr ich, daß es ihrer im laufenden Jahre nicht weniger als sechs gewesen waren. Da durchzog mich ein Schauer. Ich war also die siebente Magd in dem einen Jahre! Du bist geliefert, dachte ich. Es fiel mir nun auch der alte Aberglaube ein, wonach die Sieben das Böse bedeutet. –

Na, erst wollte ich mich doch tapfer halten, denn ich vertraute trotz meines Aberglaubens auf die Führung und Fügung Gottes und vergaß keine Stunde die Strophe meines Lebensgesanges: »Wie Gott mich führt, so will ich geh'n.«

Wie ich mich glücklich auf die Scheune getappt und mit der kläglichsten Miene von der Welt die Köze aufgehuckt hatte, schoß, hast du nicht gesehen, die Schwester des Metzgermeisters auf mich los, fauchte und keifte: »Sieh, warum hast du dich nicht einzig und allein an mich gehalten, brauchtest dann nicht gleich mit der Köze 263 ins Feld hinaus – sieh! du Dummbart. Merke dir: was ich sage, das gilt; die alte Hexe gilt nicht soviel wie unsre Katze – sieh! Sie hat uns nichts gebracht, noch nicht 'mal 'n Federfittich – sieh. Und sie will von wunder wie großem Herkommen sein. Ach, du liebste Zeit! Eine Vornehme will sie sein, aber eine Fuchtel ist sie, eine Fuchtel – sieh, sieh!«

Indem kam die Verschrieene gleich einem Wirbelwind auf die Scheune gestoben – ein pfeifendes Gezisch fuhr aus ihrem verzerrten Munde, darob ich mich so entsetzte, daß ich erst wie angewurzelt dastand, dann blitzartig hinausstob. Es gellte mir ein Gekreisch in die Ohren, wie wenn sich zur Nachtzeit zwei eifersüchtige Katzen umkrallen. – O Gott, wenn die Frauen wüßten, wie Haß und Wut sie entmenscht und entstellt!

Mir schlotterten alle Glieder am Leibe; ich schlich zwischen den Häusern des Städtchens solange aufs Geratewohl hindurch, bis ich das Feld an die Hand kriegte. Wie ich nun über die weite, stille Flur hinsah, kam es mir vor, als hätte der liebe Gott mich ganz verlassen, als sähe auch die Mutter nicht mehr auf mich hernieder – ich mußte lang und tief aufstöhnen. 264

Ich sollte Futter suchen für die Kühe – und die Äcker waren alle fast grau und kahl; nur die grellgelben Blüten des Huflattichs schimmerten mir entgegen, wohin ich mein Auge auch wandte.

Ich jammerte, schlug die Hände zusammen und fragte die leere Luft, womit ich die Köze füllen sollte und – und – – wie ich ein Stück Brot kriegen möchte! Der Jammer konnte den Hunger nicht ersticken.

Es blieb mir nichts anderes übrig, ich mußte die Huflattichblüten mit der Sichelspitze aus dem Boden stechen.

Wie ich so quer über die Äcker krautete, leuchtete mir plötzlich die Landstraße ins Auge, auf der ich vor zwei Stunden hergekommen war. Da erfaßte mich der Jammer in seiner Allgewalt. Ich hastete der Straße zu und stierte auf die nach Hilgenthal laufenden Fahrgeleise. – »Wirf die Köze in den Graben und folge diesen Spuren!« tönte fort und fort die Stimme meines Herzens. Und schon sank ich mit der Köze in den Graben, schon zog ich die Arme bis zu den Ellbogen aus den Strippen, als ich meines Herzens noch wieder Herr wurde. »O Gott, nein – ich darf nicht wieder nach Hilgenthal zurückkommen,« stöhnte ich auf, »o Vater, mein Vater, wohin hast du mich gebracht! O Hanfrieder, mein 265 Bruder – wüßtet ihr, wie es mir ergeht! – Nein, nein, ich darf nicht – und ich darf nicht wieder zurück!« Ich fiel zu Boden, drückte mein Gesicht auf die Erde und blieb so eine Weile liegen, während krampfhafte Zuckungen meinen Körper durchliefen. Lerchen sangen unter dem frühlingsblauen Himmel; es war mir, als kämen ihre Lieder aus weiter, weiter Ferne, die ich nie und nimmer mehr erreichen könne.

Den nächsten Feldweg, der auf die Landstraße zulief, kam ein Jüngling gegangen; er pfiff lustige Melodieen in den Tag hinein, und wenn er nicht pfiff, so sang er. Jetzt stimmte er an:

»Ach Schätzchen, was hab' ich erfahren,
Daß du dich willst scheiden von mir!
Willst in das fremde Land reisen,
Ja, ja, ja, reisen,
Wann kommst du wieder zu mir?«

Der Gesang kam näher und näher. Ich sprang auf und strich mir beschämt das Haar aus dem Gesicht.

Auf einmal blieb der Junge wie erstarrt stehen und rief: »Barmherziger Gott! – Friedesinchen, Friedesinchen, Friedesinchen!«

»Lorenz! Lorenz!« rief ich nur und wischte mir mit der Schürze rasch die Augen trocken; doch sie quollen immer wieder über. 266

Ja, es war Lorenz Holzhöfer aus Goltdorf, der mir seit dem Weihnachtsfeste schon so manchmal im Traume erschienen war. Diese Überraschung, diese Freude!

Ich erzählte ihm, daß ich heute bei Dienhardts, den Tannenfelder Metzgerleuten, Dienstmagd geworden sei.

Mit großen Augen sieht er mich an. »Du mußt behext sein, Friedesinchen, wahrhaft behext! – Meines Meisters Schwestertochter in Ellershausen ist gerade vor einem halben Jahre in der gleichen Stelle gewesen, aber nur vier Tage und drei Nächte, darauf ist sie bei Nacht und Nebel aufgebrochen und wieder zu ihren Eltern gelaufen. Die Eltern haben sich nicht wenig erschrocken, als sie ihr Kind wiederkommen sehen, denn es hat eine Farbe gehabt, als hätte es schon drei Tage und drei Nächte im Grabe gelegen. Die Mutter hat dem Mädchen nur flink ein Stück Brot abschneiden müssen, denn es ist völlig entkräftet gewesen.«

Ich ließ den Kopf sinken und weinte bitterlich. Es war mir, als hätte Lorenz mein Todesurteil ausgesprochen.

»Wie du mich dauerst, Friedesinchen,« sagte er, »das kann ich dir gar nicht sagen; ich wollte, ich könnte für dich dienen.« 267

Dies Wort machte einen seltsamen Eindruck auf mich; es that mir im stillen Grunde meines Herzens wohl, daß Lorenz mich bedauerte, und es war mir auf einmal, als könnte ich die größte Qual ertragen, wenn Lorenz es nur wüßte. –

Indem zupfte er mich am Ärmel und sagte: »Da sieh und schmecke 'mal, was für prächtige Meisterleute ich habe! O, Friedesinchen, bei uns müßtest du sein!« Er knüpfte ein blaugestreiftes Taschentuch auf und brachte ein gutes Stück Brot nebst einer tüchtigen Zulage Schinken zum Vorschein. »Nun wollen wir erst zusammen frühstücken,« sagte er fröhlich, und ich mußte viel über die Hälfte hinnehmen, wie sehr ich mich auch dagegen sträubte.

Natürlich stand ich jetzt nicht mehr im Graben, und Lorenz nicht mehr auf der Landstraße; wir setzten uns nebeneinander auf den nächsten Basaltsteinhaufen, wo es sich so weich und wonnig saß wie im Himmel.

Während ich es mir wohl schmecken ließ, sagte Lorenz in lebhaftem Eifer: »Weißt du was, Friedesinchen? 's kommt eigentlich doch recht wunderbar mit uns, wenn wir's so überdenken. Das fügt gewiß unser Herrgott so, und er hat ohne Zweifel seine besonderen Gedanken dabei, wie mein Meister sagt. Ja, wenn das 268 nichts zu bedeuten hat, so weiß ich's nicht. Da müssen wir am heiligen Weihnachtsabend zum erstenmal unverhofft zusammenkommen – und da warst du gerade in derselben Stelle gewesen, aus der unser Lorchen sich sein erstes buntes Ferkel geholt – und – und – ja, ich will's nur gerade heraussagen – hernach bist du mir immer im Traume vorgekommen – – und jetzt treffe ich dich wieder, daß du wie ein Mäuslein in der Falle sitzest – ich sage, Friedesinchen, ist das nicht seltsam?«

Also geträumt hatte ihm auch von mir! Ei, ei – ich hütete mich indes – ich weiß nicht, warum – ihm zu sagen, daß er auch mir oft im Traume vorgekommen wäre.

»Friedesinchen, soll ich dir einen Rat geben?« fing er nun an. »Ich rate dir, wie ich meiner Schwester auch raten würde: Bei den greulichen Schlachtersleuten kannst du nie und nimmer bleiben. Zwei Kühe haben sie und keine Acker dazu; du mußt ihr Kleeacker und ihr Kornfeld sein, das heißt, du mußt alles Futter aus fremdem Felde oder auf der Gemeinheit suchen, und die Streu mußt du in den Hölzern zusammenharken und auf deinem schwachen Rücken nach Tannenfeld tragen. Und dann mußt du Seife machen und den Hundewagen auf die 269 Dörfer ziehen. Herr Dienhardt wäre gewiß der Schlechteste nicht, aber da die beiden Drachen ihm zu Hause keine Ruhe lassen, so treibt er sich gewöhnlich wochenlang umher, handelt und handelt, bringt aber meistens nichts nach Hause, und Fleisch wirst du kaum einmal zu sehen, geschweige denn zu schmecken kriegen. Nun weißt du Bescheid, Friedesinchen, und ich rate dir nochmals als Freund und Bruder: Gieb das Mietgeld zurück und mache, daß du wieder nach Hause kommst.«

So Schlimmes er mir auch verhieß, ach so gerne hörte ich ihn doch reden, konnte ich ihn doch dabei auch so lange ansehen. – Nach der Mahnung aber und da er nun so still war, stieß ich unwillkürlich einen Schreckensruf aus. »Nein, nein, Lorenz – um alles in der Welt nicht! O, was wollte das zu Hilgenthal für ein Gelächter, für ein Spotten geben! Nein, nein, Lorenz! Der Vater hat mir gesagt, ich müsse mindestens ein volles Jahr auf meinem neuen Platze aushalten, anders würde ich das schreckliche bunte Ferkel nicht wieder los.«

»Aber wenn du gleich heute wieder zurückgehst, merken's die Hilgenthaler ja gar nicht 'mal, daß du schon wieder in der Fremde gewesen bist,« wandte Lorenz ein. 270

Doch ich blieb dabei, daß ich mein Jahr aushalten müsse und wenn es mein Leben koste. Ein Jahr sei ja auch an keinen Stock gebunden, sagte ich schließlich mit herzhafterem Tone, machte aber diese Bemerkung mehr dem guten Jungen als mir zum Troste, weil er mich gar so traurig ansah.

Dann möchte ich's versuchen, sagte er endlich; er wisse aber, daß ich es keine vier Tage aushielte; darum wollte er sich eilig umthun und sehen, ob er nicht in Goltdorf oder in Geismar eine gute Stelle für mich fände.

Nachdem der gute Junge mir noch flink geholfen hatte, daß ich etwas Grünes in die Köze kriegte, ging er traurig fort. Er mußte für seinen Meister nach der hinter Tannenfeld gelegenen Glashütte.

Ich hatte das Gefühl, als wäre mir ein Stück von meinem Herzen gerissen. – –

Kalt und modrig wehte es mich an, als ich in das Schlachterhaus zurück kam.

Kaum hatte ich die Tracht abgelegt, als auch schon die Meisterin herbeistob, das Kraut musterte und heftig zu keifen anhob, daß es fast lauter Huflattichblüten wären, daß ich die Zeit vertrödelt und in die Sichel eine Lücke gestoßen hätte. 271

Kam nun Fräulein Dienhardt herbeigeschossen und rief mit schmeichelnder Stimme, indem sie giftig nach der Schwägerin schielte: »Ei sieh, was für hübsches Kraut du gebracht hast, Friedesinchen – und wie schnell du wiedergekommen bist!«

Hagel vom Himmel! Ging jetzt aber Frau Dienhardt ins Geschirr! Man sollte nicht denken, daß eine Menschenbrust soviel Gift enthalten könnte.

Nachdem die Tollwütige uns beiden unsere Ehrentitel ganz gehörig aufgedeckt hatte, wies sie mich fauchend in die Küche und zeigte mir zwei auf der Herdplatte stehende Kümpfe. Der eine, bedeutete sie mir, enthalte mein Mittags-, der andere mein Abendessen; dieses hätte ich, damit es warm bliebe und in der Küche nicht im Wege stände, oben auf meine Kammer zu bringen und ins Bettstroh zu stellen.

Ihre Schwägerin machte mir während dieser befehlshaberischen Anordnungen allerlei Mienen und Gebärden, die mich zweifelsohne stacheln sollten, gegen die Frau aufzuprotzen. Und da ich das nicht that, hatte ich's auch mit ihr wieder verdorben.

Als ich meinen Abendkumpf hinaufgetragen hatte und wieder herunterkam, legte die Meistersfrau einen verbogenen und verkratzten Zinnlöffel 272 in den Kumpf und stellte diesen auf eine Ecke der Eimerbank. Eine entsprechende Handbewegung bedeutete mir, daß das mein Tisch sei. Danach rauschte das Weib in stolzer Haltung hinaus.

Als ich nun vor der Eimerbankecke niederkniete, fühlte ich's tief im Herzen, daß ich – der Metzgerhund geworden war. So oft ich einen Löffel voll von der wässerigen Suppe nahm, in der auch nicht ein Gedanke von Fett oder Fleisch war, so oft rieselte eine Thräne hinein.

Nach etlichen Minuten wogte die Herrin mit zwei Säcken herein, und ich mußte nach dem Laubharken.

Ich ging auf das nächste Bergholz zu, von wo man auf die Hilgenthaler Gegend sehen konnte.

Ich harkte unter den Bäumen hin und her, stopfte die beiden Säcke, wie ich's den Vater und die Mutter ehemals hatte thun sehen, und quälte mir schließlich die prallen Säcke auf den Rücken.

Die Turmuhr verkündete gerade den Anbruch der Vesperstunde, als ich mit meiner Tracht in den Laubschoppen schwankte. Frau Dienhardt zeigte sich zu meiner nicht geringen Freude über 273 meine Leistung sehr befriedigt; um so heftiger aber keifte und zischte nun die Schwägerin oder vielmehr das »Fräulein«, wie ich sie titulieren mußte, obgleich sie schon gar nicht wie ein Fräulein aussah. »Sieh', sieh'! – Sieh', sieh'! – Sieh', sieh!« so ging's immerfort.

Frau Dienhardt beschränkte sich darauf, ab und zu ein höhnisches Lächeln anzuschlagen, und sie hatte dies Lachen in der Gewalt! Es war, als wenn einem jemand 'n Eimer voll geschmolzenes Eis über den Rücken gösse.

Ich war hungrig, ach so hungrig, daß ich hätte Schuhnägel essen können.

Die Frau gab mir ein Stück schimmliges Brot, und sie gab es mir in der Art, wie sie ihrem Hunde eine Rinde oder einen Knochen zuwarf.

Das schimmlige Brot sah ich nicht, aber diese Art!

Ich hätte laut aufschreien können vor Schmerz und Empörung, ich wußte nicht mehr, was größer war, der Hunger nach Brot, oder der Hunger nach Liebe und Freundlichkeit, der Hunger nach guten Menschen.

Die Sonne rutschte schon auf die Weserberge, als ich wieder vor dem dunklen Tannenhügel ankam, durch den ich mich winden mußte, um 274 in den Buchenhochwald zu kommen, wo das Laub lag. Eine Amsel sah mich wiederkehren und erschrak darüber so sehr, daß sie laut aufschreiend in den Wald hinein flog. Das betrübte mich fast, denn ich hatte ihr ja nichts Böses anthun wollen. Ach, die Amsel konnte ja nicht wissen, wie ich mich sehnte nach einer innigen Gemeinschaft und wie froh bereit ich gewesen wäre, mit den Tieren des Waldes ein freundschaftliches Verhältnis einzugehen. »Könntest du doch auch eine Amsel sein!« wünschte ich unwillkürlich und besah mich im Spiegel der Quelle, die ich in den Tannen entdeckt hatte. So träumte ich ein Weilchen, dann that ich einen herzhaften Zug aus dem klaren, kühlen Waldwasser und tunkte mein schimmliges Stück Brot, das ich bis dahin trotz meines Hungers nicht hatte essen mögen, tief hinein. Und wie ich so friedsam dasaß, in das tropfende Brot biß und mich wieder tief über die Quelle neigte und Erquickung schlürfte – kam jene scheue anmutige Amsel zurück und setzte sich auf den Wipfel derselben Tanne, die sie vorhin im Schrecken über mein Kommen verlassen hatte, und flötete in so wunderholden Weisen, daß mir fast Essen und Atem verging. Und wie ich dann in die nahen Buchen ging und mit dem Laubharken begann, 275 flog sie wohl auf einen andern Wipfel, sang von da aus aber in einem fort: »Eiia, Friedesinchen! vor dir fürcht' ich mich nit! Eiia! Eiia!«

Nach dem vorzeitigen starken Frühlingssonnenschein kam der April und warf noch einmal einen weißen Schleier über Feld und Wald. Frau Dienhardt sah wütend zum Fenster hinaus; der April schüttelte ihr eine ganze Wanne voll Flocken und Schloßen ins Gesicht, warf ihr den Fensterflügel an den Kopf und pfiff ihr zum Hohne auf den Löchern des Hauses tolle Melodien.

Ich dachte: das ist ihr recht. Ich fühlte, ich hatte einen Freund in dem brausenden Wetter. Heute noch – so wurzeln Jugendeindrücke fort – liebe ich einen schlimmen April mit sausenden Schloßen oder Schneestürmen entschieden mehr als einen milden, mit weicher Luft und Sonnenschein, mit jungem Grün und trockenem Laube.

Denkt aber nicht, daß ich nun gemütlich wie eine Maus in der Hede hätte sitzen können. Ach, du lieber Gott! Ihr hättet mich sehen sollen – aschebestaubt von oben bis unten – ich war noch viel, viel schlimmer daran als das Aschenbuttel im Märchen: denn ich mußte nun 276 unzählige stäubende Aschenpucken, wie sie die kleinen Leute von Tannenfeld herbrachten und für wenige Pfennige oder Groschen verkauften, auf den »Äscherboden« schleppen, oder wenn es keine Asche zu tragen gab, Körbe voll gebrannter Kalksteine die Treppe hinaufquälen; ich mußte den Äscher machen, d. h. den zusammengetragenen großen Aschenhaufen über die genäßten Kalksteine schaufeln; ich mußte nächtelang in Staub und Qualm bei dem Haufen stehen, ihn wie ein Köhler mit der Schaufel beklopfen und fort und fort die Augen offen haben, daß das innerliche Feuer nicht ausbrach; ich mußte den durchgebrannten und abgekühlten Äscher fein harken wie Topferde, ihn dann in den großen Bodenkessel hinunterschaufeln, in den vorher schon allerlei schreckliches Fett und Fleisch gekommen war; ich mußte den Kessel heizen und schüren, die Lauge abzapfen und wieder nächtelang die Lauge rühren – – kurzum, liebe Kinder, ich mußte Seife machen. Die schlimmste Arbeit, die ich mir für ein so zartes, junges Ding, wie ich war, denken kann. Ein Gotteswunder, habe ich mir später gesagt, daß ich, ohne die Schwindsucht zu kriegen, davongekommen bin.

Und der Metzgermeister? Ja, wo war der Metzgermeister? Frau Dienhardt sah 277 immer wieder zu dem klappernden Fenster hinaus und stampfte wütend den Boden. Daß sie gar nicht mehr nach dem Wetter, sondern nach ihrem Manne aussah, der schon seit beinahe zwei Wochen von Hause fort war, merkte ich bald an den Sticheleien des Fräuleins.

Endlich hatte sie ihn aber doch herbeigeguckt. Er kam mit einer alten und einer jungen Kuh.

Die Frau rannte ihm wie eine Furie entgegen, die Schwester lachte und nickte ihm ermunternd zu. Er that, als sähe und hörte er gar nichts.

Es wurde geschlachtet, und ich mußte allerlei Handreichung dabei thun. Der Anblick und Geruch des Blutes war mir schrecklich; aber der Metzgermeister machte mir's erträglicher durch seine Freundlichkeit und Nachsicht. Er hatte bei seinem blutigen Handwerk kein so grausames Herz wie die Weiber und wäre gewiß ein trefflicher Familienvater gewesen, hätte er's zu Hause aushalten können.

Die Juden, deren es gar viele in Tannenfeld gab, kamen und holten den koschern Teil; was übrig blieb, das mußte ich in Tannenfeld herumtragen, oder am Sonnabend auf einem kleinen Handwagen auf die Dörfer fahren.

Als ich das erste Mal vor dem Hundewagen stand, der halb mit Fleisch, halb mit Seife 278 beladen war, meinte ich, es hätten sich alle Engel im Himmel darüber empören müssen, – ich habe aber damals wohl nicht so scharf nach dem Himmel hingehorcht.

Der Metzgermeister sagte, er ginge mit, da ich ja die Dörfer und Kunden noch nicht kenne und den Wagen auch schwerlich allein über das Groner Holz ziehen könne. Darüber geriet er mit seiner Frau in einen hitzigen Wortwechsel. Ich könne, rief sie fauchend, die Kundschaft ganz allein finden; hätte das Feld und den Wald auch ohne Lockhammel gefunden. Er suche nur einen Vorwand, um aus dem Hause und ins Wirtshaus zu kommen.

»Sieh, sieh,« mengte sich Fräulein Dienhardt sogleich ein und stellte sich funkelnden Auges neben den Bruder, »wirst dir doch von der keine Vorschriften machen lassen? Was hat sie dir denn gebracht, daß sie sich so was gegen dich herauszunehmen wagt? Sieh, sieh!«

Herr Dienhardt machte schließlich eine kurze Wendung und schlug die Thür hinter sich zu, daß es durchs ganze Haus krachte.

Und ich zog den Wagen eiligst hinter ihm her und atmete auf, als wir Tannenfeld hinter uns hatten.

Das erste Haus diesseits des Groner Holzes, bei dem wir anhielten, trug die Inschrift: ›Zum 279 frischen Kruge!‹ Das erste Haus jenseits des Groner Holzes, in dem wir einkehrten, nannte sich einfach: ›Gastwirtschaft‹. Das dritte Haus zeigte über der Thür statt einer Inschrift nur einen überschäumenden Krug. Und diese Inschriften und Merkmale wiederholten sich auffallenderweise noch dreimal. Als wir den fünften Krug verließen, sagte der Meister mit schwer lallender Stimme: »Du glaubst nicht, Mä–Mädchen, wa–was fü–für ein Sor–Sorgenbre–brecher der Branntwein ist. Zu Hau–Hause, bei den Tru–Tru–Trumpfschnauzen ha–ha–halt's der Teu–Teufel aus! Wirst auch wieder auskneifen, Mä–Mädchen, wa–was? Habe ich recht? He, ha–habe ich recht?« Er lallte immer schwerer und sah mich mit so verglasten dicken Augen an, daß mich ein Schauder durchrieselte. Im sechsten Wirtshause blieb er wie tot liegen, und ich mußte mir nun allein zu helfen suchen.

Die Nacht war schon weit vorgerückt, als ich mit meinem leeren Wagen durchs Groner Holz nach Tannenfeld zurück zog. Ein scharfer, kalter Wind wehte, Eulen schrieen und Füchse bellten. Das Groner Holz war auch sonst gerade keines Menschen Freund. Vor wenigen Jahren war dicht an der Straße, die ich zog, 280 ein Reisender ermordet worden, und noch allerlei andere unheimliche Erzählungen gingen um. Alle Haare richteten sich mir zu Berge, wenn ich daran dachte. Ich sah den Reisenden in seinem Blute liegen, ich hörte ihn ächzen, ich hörte den Räuber kommen, und in der wahnsinnigen Angst sah ich bald jeden Baum für einen Räuber oder Mörder an. Ich betete voller Inbrunst einmal über das andere: »Wie Gott mich führt, so will ich geh'n« . . . »Wie Gott mich führt, so will ich geh'n« . . . weiter kam ich nicht, denn in der Todesangst wußte ich weiter nichts von dem Gesange als den Anfang.

Und der liebe Gott ließ mich nicht im Stich; er lehrte mich das Sprüchlein: »Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.«

Dicht hinter mir hörte ich auf einmal ein Pferd pfustern und trappeln. Ich hielt den Atem an, und – da war es auch schon dicht bei mir, das – Postpferd mit dem zweiräderigen gelben Postkarren. Und vom Wagen herunter rief eine freundliche Stimme: »Lieber Gott, Kind, wohin willst du denn noch bei dieser Nacht?«

Ein krampfhaftes Schluchzen hielt mich gepackt, und es dauerte lange, bis ich dem 281 menschenfreundlichen Manne, den ich ja schon vom Ansehen kannte, das nötige gesagt hatte.

Hurtig sprang er auf die Straße. »Deinen Wagen wollen wir hinten anbinden,« sagte er, als ob sich das ganz von selbst verstände. Ich mußte mich mit auf seinen Platz setzen, und da er gerade dabei gewesen war, ein schönes Schinkenstück zu verzehren, so mußte ich nun auch mitessen, und da er wohl merkte, wie todhungrig ich war, gab er mir auf einmal alles hin – und es hörte sich an, als wenn seine Stimme ordentlich bebte vor herzlichem Mitleid. Ach, er ist nun lange tot, der gute Postbote von Tannenfeld, nein, er ist nun lange im Himmel, und ich weiß gewiß, daß ihm auch im Himmel die Ohren klingen, da ich das erzähle.

In der Schule und Pfarre hatte ich einen Vers gelernt, der so lautet:

»Rührt dich ein starker Spruch,
So ruf' ihn dir zum Glücke
Des Tages in dein Herz
Im stillen oft zurücke.
Empfinde seine Kraft
Und stärke dich durch ihn
Zum Vorsatz, zum Entschluß,
Das Gute zu vollzieh'n.«

In der Schule und Pfarre hatte ich den Vers trotz vielmaliger Erklärung nicht verstanden; 282 erst in der Fremde, im Elende ist mir das Verständnis aufgegangen. Der starke Spruch war mein Lebensgesang. »Wie Gott mich führt, so will ich geh'n«, betete ich immer und immer wieder und eroberte mir so einen Tag nach dem andern. Auch nicht ein Tag ist hingegangen, daß nicht Hunger und Heimweh, diese beiden grimmig nagenden Feinde meines jungen Lebens, im Verein mit Niedertracht und Bosheit, mich aufs grausamste zugerichtet hätten.

Der einzige Glücksstrahl in jenen Tagen war ein Brief – von dem guten Jungen aus Goltdorf. Sieh – da liegt er noch in der Truhe. Wenn ich ihn verlöre, hätte ich ihn doch tausendmal in meinem Kopfe. Jede Zeile hat eine tiefe Furche gezogen im Herzen. Lorenz schrieb:

»Liebes Friedesinchen!

Mit Freuden ergreife ich die Feder, an Dich zu schreiben. Ich bin, Gott sei Dank, noch ganz gesund und munter und hoffe, daß auch Dich mein Schreiben gesund und munter antreffen wird. Liebes Friedesinchen, ich habe keine Ruhe nicht, weder Tag noch Nacht. Immer muß ich an Dich denken, immer stehst Du mir vor Augen, weil ich weiß, daß Du soviel Schlimmes 283 aushalten mußt. Ich habe nicht zu bleiben gewußt und wäre schon längst einmal wieder zu Dir gekommen. Es ist aber jetzt soviel zu thun, daß wir Tag und Nacht nicht aus der Werkstatt herauskommen. Liebes Friedesinchen, nun habe ich's meinen Eltern geschrieben, daß sie Dir in Goltdorf eine gute Stelle ausmachen möchten, denn ich denke immer, wenn Du da wärest, wo meine Eltern und Geschwister sind, die Dich auch alle so gern mögen, dann wärest Du geborgen und hättest nichts auszustehen. Liebes Friedesinchen, meine Meisterleute, meine Eltern und Geschwister wundern sich gar sehr, daß Du noch auf Deinem Platze ständest; müßtest doch ein ganz barbarsches Mädchen sein. Ach, Du gutes, armes Friedesinchen, hast ja nicht gewußt, wohin? Und dann hast Du ja auch an den argen Spott denken müssen! Die Leute haben gut spotten. Aber nun ist das alles nicht: Lauf nur getrost weg und komme zu meinen Eltern. Sie wollen Dich behalten, bis sie eine gute Stelle für Dich wissen. Bist Du da, komme ich alle Sonnabende nach Goltdorf herübergelaufen – und nicht wahr, Mädchen, Du freust Dich auch, wenn wir uns dann so oft sehen können? O, ich habe Dir soviel zu erzählen! 284

Liebes Friedesinchen, ich muß schließen. Und es grüßt Dich auch vieltausendmal und soviel Sterne am Himmel stehen

Dein Dich liebender          
Lorenz Holzhöfer.«

Ich mußte lange daran studieren, denn die Augen füllten sich fort und fort mit Freudenthränen. Ich steckte den Brief unters Brusttuch, und wenn ich nach dem Krauten oder nach dem Laube ging und ganz allein für mich war, zog ich ihn hervor und las ihn immer wieder. Ganz besonders behagte mir die Stelle, wo Lorenz schrieb: »Liebes Friedesinchen, meine Meisterleute, meine Eltern und Geschwister wundern sich gar sehr, daß Du noch auf Deinem Platze ständest; müßtest doch ein ganz barbarsches Mädchen sein.«

Von einer Art Märtyrermut beseelt, dachte ich: »Warte nur, Lorenz, sie sollen sich noch mehr wundern.«

Da ich kein Schreibwerk hatte, so ließ ich dem guten Lorenz bei der nächsten Gelegenheit, die sich nach einigen Wochen fand, hinsagen, er solle auch tausendmal bedankt sein für seinen erquicklichen Brief, ich hielte indes mein Jahr 285 aus und müßte ich daran zu Grunde gehen. Doch würde es eine große Freude für mich sein, wenn seine Eltern mir zu Ostern eine bessere Stelle ausmachen wollten; ich wüßte nicht, was ich ihnen dafür zu gute thun sollte.

Lorenz ermüdete nicht, schickte mir noch öfter einen Brief her – und das waren die einzigen Freuden, die mir zu Tannenfeld widerfuhren. Und gewiß haben seine Briefe viel dazu beigetragen, daß ich ein volles Jahr der Metzgerhund geblieben bin. In Lorenz' Augen ans Marterholz genagelt zu sein, das deuchte mich eine süße Qual. Das Schlimmste sollte aber noch kommen.

Zu meiner nicht geringen Verwunderung brachte ich eines Tages in Erfahrung, daß meine martervolle Ausdauer in ganz Tannenfeld Aufsehen erregte und daß ich der Gegenstand allgemeinen Mitleids geworden sei.

Diesem allseitigen Mitleid habe ich es ganz allein zuzuschreiben gehabt, daß ich ungestört auf allen Äckern krauten und in allen Wäldern harken durfte.

Indessen einmal hatte mich der Tannenfelder Pfänder doch eingeschrieben, um, wie er sich ausdrückte, meiner Herrschaft 'mal wieder einen kleinen Denkzettel anzuhängen. Aber 286 meine Herrschaft sagte, wer sich hätte ›kriegen‹ lassen, der solle auch für die Strafe aufkommen.

Darin stimmten die Frau Dienhardt und das Fräulein merkwürdigerweise zum erstenmal vollständig überein. Wenn es über ein armes Menschenkind hergeht, werden alle Teufel eines Sinnes.

Schon nach etlichen Tagen brachte mir der Gerichtsvogt ein amtliches Schreiben, worin ich des Flurvergehens angeklagt und zu einer Geldbuße von einem Gulden oder einem Tage Haft verurteilt wurde.

Da ich nur acht Gulden fürs ganze Jahr einnehmen konnte, den fälligen Lohn bereits für Schuhe und Röcke ausgegeben hatte, die Herrschaft sich aber aufs entschiedenste weigerte, den Gulden für mich zu zahlen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich einen Tag ins Gefängnis einsperren zu lassen. Ich muß schweigen, Kinder, denn es wird mir ganz elend von dieser Erinnerung.

Fast wahnsinnig geworden, wankte ich aus den Kerkermauern wieder ins Freie. – Mit höhnischem Gelächter – o, es schreit zum Himmel! – empfingen mich die beiden Teufelinnen – und statt besänftigendes Öl in meine brennende Herzwunde zu gießen, streuten sie noch Salz 287 und Pfeffer hinein. Damals habe ich gewünscht, – frei gesteh' ich's – daß ein Donnerschlag das Metzgerhaus hundert Klafter tief in den Erdboden schmettern möchte!

Vor den Tannen auf dem Klusberge hatten wir ein Kartoffelfeld, das ich größtenteils allein hacken mußte. So sauer mir das wurde, so ging ich doch tausendmal lieber nach dem Kartoffelhacken als nach dem Laubharken. Zumal unmittelbar nach dem Gefängnis. Das Hacken auf dem Felde war eine ehrliche Arbeit, der ich mich nicht zu schämen brauchte; das ewige Krauten und Harken auf fremdem Boden empfand ich dagegen wie einen Schimpf und eine Schande.

Wie froh war ich darum, als ich nach der Gefängnishaft mit der Hacke nach dem Klusberge gehen konnte. Und doch, wie brannte mir auch jetzt noch die Scham auf der Stirn! Als ich auf die Straße kam, war mir's, als schüttelten sich alle Büsche und Bäume, alle Blumen und Gräser vor meinem Anblick; als wüßten alle Tiere auf dem Felde und im Walde von der Schmach, die mir angethan war. Im Klee saßen zwei Hasen, aus dem Weizen hüpften Rebhühner und Wachteln, und auf einer berasten Bülte, die aus der jungen Esparsette ragte, ließen sich zwei Lerchen nieder. Alle hielten ihre 288 glänzenden Augen auf mich gerichtet, als wollten sie sagen und klagen: »O du armes, armes Friedesinchen!«

Ich setzte mich am Walde nieder, lehnte den Kopf an eine Tanne und weinte wie ein verlorenes Kind. Da fiel mir der Handweiser ins Auge, der an der Stelle stand, wo die Tannenfelder Straße sich mit der Hilgenthaler kreuzt. Und der Handweiser winkte und wies nach dem Berge, über den die Straße nach Hilgenthal führt. Wie ein Blitzstrahl zuckte es durch meinen Körper; ich sprang auf und lief durch Saat und Klee, bis ich an den Handweiser kam.

Der eine Arm wies nach Tannenfeld, der andere nach Hilgenthal, und an diesem las ich die Worte: »Nach Hilgenthal eine Stunde«. Ich stand davor und betrachtete die Inschrift mit einer wahren Inbrunst; die toten Buchstaben belebten sich, erstrahlten im Feuer, hüpften und tanzten – und fingen an zu tönen: »Nach Hilgenthal, nach Hilgenthal!« Und fort hastete ich, als säße hinter mir der Tod.

Ein süßer Wonneschauer durchrieselte mich, als ich wieder auf Hilgenthaler Boden kam; – die Steine hätte ich küssen mögen.

Um nicht von den Leuten im Felde gesehen zu werden, lief ich, wo ich konnte, hinter Hecken und in Hohlwegen. 289

Als ich dann aber mein geliebtes Hilgenthal mit seinem kopfartigen Kirchturme aus dem walddunklen Grunde auftauchen sah, fiel mir plötzlich aller Mut in die Asche. Ich blieb hinter einem dicken Busche stehen und zerbiß mir die Lippe. Doch zu der Macht des Heimwehs gesellte sich noch die Gewalt des Hungers. Die elende Mittagssuppe war zur Sättigung zu wenig und zum Verhungern zu viel gewesen. Was der Jammer nicht that, das that die Hungersgewalt; ich fühlte mich wieder gefaßt und mit Gewalt vorwärts getrieben.

Das Dorf war wie ausgestorben, und ich kam ganz unbeachtet auf dem Lindenberge an. Ein Augenblick voll unbeschreiblicher Empfindungen. Die gerade in wundervollster Blüten- und Blätterpracht dastehende Linde erzitterte ein wenig und goß leise, leise, daß die in ihren Blüten schwelgenden Bienen es nicht merkten und böse auf mich würden, seine Blütenteilchen auf mein Haupt, als sollt's ihr Willkomm sein. – Das traute Vaterhäuschen stand da wie in stillem Traume. Vor der Thür hing das Schloß. Außer dem summenden Getümmel, das die Bienen im Lindenbaume unterhielten, vernahm ich nichts als das trauliche Kakeln der Hühner. Von meinen Geschwistern keine Spur. 290

Ich weinte und legte meine Arme um die Linde und flüsterte zu dem heißen Druck meiner Hände: »Lieber guter Lindenbaum, wenn sie nun nach Hause kommen, der Vater, die Brüder, die Schwestern, dann streue auch Blüten auf ihre Häupter – und sage ihnen: das wäre der Gruß von ihrem Friedesinchen – meine Hände müßten sie fühlen, wenn sie ihre Hände auf deine Rinde legten.«

Dann lief ich unter die grünlich funkelnden beiden Schiebfenster und versuchte eins aufzuschieben, was auch mit einiger Mühe gelang. Da stand zwischen den Fuchsien und Balsaminen noch der Myrtenbaum und der Rosmarin, wie sie zu der Mutter Zeit dagestanden; etwas dürftiger nur schienen sie geworden zu sein; auch die Fuchsien und Balsaminen ließen die Köpfe hängen. Ach, hundert Hände sind nicht so viel wie eine einzige Mutterhand!

In dem kleinen Hühnerloche neben der Hausthür fand ich den Schlüssel, genau an der Stelle, wo die Mutter ihn hinzulegen pflegte.

Ein Schauer durchzog meine Seele, wie ich mich nun wieder an dem Orte fand, der mir der teuerste und heiligste war auf der Welt. Ich wagte kaum zu atmen vor der traumhaften Stille, die hier herrschte und den düstern 291 Kachelofen und den alten wurmstichigen Eckschrank so geheimnisvoll erscheinen ließ. – Es war noch alles so, wie es zu den Zeiten der seligen Mutter gewesen war; nur daß die geweißten Wände sich ein wenig schwärzer gefärbt und der lehmerne Fußboden schon stark weggebröckelt, der dickbeinige Eichentisch lange nicht so peinlich gescheuert war wie damals und das geblümte Zeug, welches von der Wandbutze herunterhing, einige Risse und Flecken zeigte.

Gänzlich unverändert erschien noch der behäbige Spannstuhl neben dem Kachelofen. Bei seinem Anblick erheiterte sich unwillkürlich mein Sinn, also daß ich rasch auf ihn zutrat, ihn kindlich betastete und mich hineinsetzte, nicht gerade, um zu ruhen, sondern um einmal wieder den trautesten Sitz der Lindenhütte inne zu haben. Da war mir auf einmal, als ginge die Mutter durch die Stube; mir stockte der Atem. –

Die anfänglich in der Stube lastende Schwüle war allmählich dem Lindenblütendufte gewichen, der durch das offene Fenster hereinflutete. Es ward mir unbeschreiblich weh und wohl. Gar zu gern wäre ich noch ein Weilchen in dem Spannstuhle sitzen geblieben; allein es kam eine Angst über mich, daß ich emporschnellte und rasch den Schrank öffnete. Einen ganzen Laib 292 Brot fand ich darin, das war mir ein Trost, denn wäre es nur noch ein weniges gewesen, ich hätte es bei all meinem Hunger nicht über mich gebracht, mir etwas abzuschneiden. Ich schnitt, ein wenig zögernd, den Knust davon und ließ ihn in die Rocktasche gleiten. Mit zugedrückten Augen schnitt ich dann noch ein Scheibchen, das ich sogleich verzehrte. Mehr abzuschneiden, das konnte ich nicht über mich gewinnen, so gern ich auch noch etwas gegessen hätte.

Auf der Diele fand ich trotz der dort herrschenden dumpfen Dunkelheit ein Häuschen frischer Ackerwinde, das unser Lorchen und Christinchen wohl am Morgen vor der Schule im Felde gekrautet haben mochten. Ich hob eine Handvoll auf, und es war mir, als berührte ich die Hände der beiden Schwestern.

Als ich wieder zur Hausthür hinaussah, standen alle unsere Hühner davor, erhoben zutraulich die Köpfe und kakelten: »Friedesinchen, gieb uns was!« In der Küche fand ich etwas Gerste, davon streute ich eine Handvoll der kleinen Schar. Danach aber ging's mit dem Lindenhüttenknust in der Tasche und den Lindenblüten im Haar in fliegender Eile von dannen, ob auch Lindenbaum und Lindenhütte mit Gewalt zurückhielten. 293

An der Grenze der Hilgenthaler Gemarkung, vor dem dunkeln Wall des Tannenfelder Hopfenberges, schlang ich die Hände ineinander und rief voll kindlicher Inbrunst zu dem tiefblauen Himmel hinauf: »Ach lieber Vater da droben, erbarme dich meiner – und wenn es dir nicht anders möglich ist, so gieb doch, daß ich – – krank werde!«

Und wunderbar – ich schöpfte Trost aus diesem einfältigen Gebete.

In der nächsten Nacht stieß ich die meiner Kammer als Fenster dienende Giebelklappe auf und blickte hinaus in die Weite und in das milde, freundliche Antlitz des Mondes. Nicht dachte ich wie in meiner Kinderzeit an das Märchen vom Mann im Monde; jetzt lag mir etwas anderes im Sinn: Der liebe Mond, so nahe und so weit, steht er nicht auch über der Lindenhütte und – über dem Hause, darin Lorenz Holzhöfer wohnt? Könnte sich's nicht treffen, daß der Vater und die Geschwister und – Lorenz in eben diesem Augenblicke auf jenen dunklen Mondfleck gucken, auf den mein Blick jetzt gerichtet ist? Eine mächtige Sehnsucht erfaßte mich; Seufzer und Schluchzer rangen sich aus dem gequälten Herzen. Und wieder faltete ich die Hände und betete mit tiefer Inbrunst: »Ach, großer Gott und Herr, gieb doch, daß ich – krank werde!« 294 Und die feste Hoffnung auf baldiges Krankwerden beruhigte, tröstete mich abermals so sehr, daß ich bald in einen erquicklichen Schlummer sank.

Am anderen Tage traf ich zufällig mit einer Hilgenthaler Bäuerin zusammen, die in Tannenfeld einkaufen wollte. Kennst du das eigenartige Freudengefühl, das im Herzen aufquillt, wenn man so verlassen in der Fremde leben muß und plötzlich ein heimatlich Angesicht wahrnimmt? Ich konnte mich gar nicht satt sehen und hören an der Bäuerin, zumal da sie sich so vertraulich zu mir herabließ. In Hilgenthal hatten wir uns kaum gekannt und sicher nicht mehr Worte miteinander gewechselt, als die üblichen Grüße notwendig erforderten, denn die Bäuerin war der stolzesten eine. Darum sage ich: Was sich in der Heimat nicht kennt, das befreundet die freundlose Fremd'. Ja, ja! – Allerlei wußte die Bäuerin zu erzählen, aber plötzlich unterbrach sie sich: »Weißt du's denn auch schon, daß am gestrigen Tage bei euch in der Lindenhütte eingebrochen ist?«

Mir stand das Herz fast still, so erschrak ich.

»Ich habe nicht viel darauf zugeschlagen,« fuhr die Bäuerin fort, »als die Leute es heute morgen erzählten; doch so viel glaube ich wohl verstanden zu haben, daß der Dieb fast die ganze 295 Hütte leer gekramt hat. Er hat die Zeit gewußt, wo alle Leute im Felde gewesen sind.«

Bergesschwer lastete die unheilvolle Nachricht auf meinem Herzen. »O dieser garstige Dieb – wenn er schon stehlen mußte, konnte er dann nicht in ein vollgefülltes Bauernhaus oder in das Grafenschloß einbrechen!«

Am nächsten Sonntage erlebte ich eine große Freude: Der Vater besuchte mich. Und ich erlebte noch etwas: Meine beiden Herrinnen waren auf einmal wie umgewandelt, zeigten sich im schönsten Einvernehmen, setzten dem Vater das beste Essen vor und strichen mich heraus, daß mir Hören und Sehen verging. Friedesinchen, die so viel gestoßene und geschimpfte Dirn, war, kehr' die Hand, das trefflichste Mädchen von der Welt geworden.

Der Vater ließ sich's wohlschmecken und brach wiederholt in den freudigen Ruf aus: »Friedesinchen, Kind, wie bin ich froh, du hast es gut getroffen, wie ich seh'. Gott sei Dank. Ich habe immer so eine schwere Ahnung gehabt – deinetwegen ist's nicht gewesen. – Daß du nur gar nicht ein wenig gewachsen und gar nicht ein wenig dicker geworden bist?«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, mochte auch aus Mitleid mit dem Vater die Wahrheit 296 nicht enthüllen, hätte aber auch nicht dazu kommen können, denn die beiden Weiber waren so schlau, der Rede des Vaters immer eine andere Wendung zu geben. Ich fragte den Vater nach der Einbruchsgeschichte, von der sich die Leute erzählten. Durch sein Gesicht ging ein leises Lächeln: »O, die Leute sind nicht recht klug. Weil bei uns nie was passiert, machen sie aus Mücken Elefanten. Von unserem letzten Brotlaib ist uns ein ganz kleiner Knust weggeschnitten – das ist die ganze Geschichte. Wer's gethan hat, wissen wir nicht; am Ende ist's eine Art Schneewittchen gewesen. Gewiß aber ist es ein Menschenkind gewesen, bei dem die Not dahinter gesessen hat, darum soll's ihm von Herzen gegönnt sein.«

Ich hatte mich flugs zur Erde gebückt, als hätte ich eine Spendel fallen lassen. Glühend heiß war mir's im Gesicht aufgeschossen.

Ich habe dem ahnungslosen Vater den Einbrecher nicht genannt, und so ist er eine halbe Stunde später wieder fröhlich und guter Dinge von dannen gezogen.

Kaum war der Vater aus unseren Augen, da fuhren die scheußlichen Schlangen auch schon wieder unter den Rosenblättern hervor und bissen so giftig auf sich und auf mich ein, daß ich mich angstvoll in die Ecke drücken mußte. Lange ließen 297 sie es mich entgelten, daß sie mit ihm und mir die kurze Weile hatten freundlich thun, es sich auch 'was hatten kosten lassen müssen.

Vergeblich wartete ich von einem Tage zum andern auf die erhoffte Krankheit. In unbedachtem Frevel habe ich sie erzwingen wollen. Als der Winter kam, habe ich mich so leicht gehalten wie im Sommer; barfüßig und barhäuptig bin ich aufs Eis und in den Schnee gegangen, mit entblößter Brust ins wildeste Schneestürmen hineingelaufen; in der grimmigsten Nacht habe ich die Klappe meiner Schlafkammer aufgeriegelt, daß am Morgen fußhoher Schnee auf der Decke lag und fingerlange Zacken und Nadeln an der Bettstatt glitzerten. Und – ward doch nicht krank. Kann mir's nur so erklären, daß der liebe Gott seinen Wettern geboten hat, Friedesinchens Gesundheit zu schonen, was es auch in seiner Unklugheit noch anfangen möchte.

Im letzten Vierteljahr erging es mir übrigens ein wenig erträglicher als in den drei ersten; es ward mir ab und zu sogar eine scheinbar recht freundliche Behandlung zu teil. Mit Speck fängt man Mäuse, dachten die Herrinnen und schienen im Traume nicht daran zu zweifeln, daß ich mich durch ihr Schönthun fangen und auf ein weiteres Jahr binden lassen werde. Indes hatten mir 298 Lorenzens Eltern schon eine Stelle in Goltdorf ausgemacht, und als das Jahr zur Neige ging, jauchzte ich so laut und so anhaltend auf, daß es durch ganz Tannenfeld klang.

»Hört ihr,« haben die Tannenfelder sich einander zugerufen, »Friedesinchens Jahr ist um!« Und hinzugesetzt haben sie: »Du lieber Gott, das arme Kind – wie glücklich mag es sein!«

Ja, glücklich war ich, glücklich wie der trillernde Vogel in der blauen Luft! Glücklich wie ein Kind auf dem Osteranger! Glücklich wie ein Soldat nach siegreicher Schlacht! 299


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