Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es hat sich eine alte Lindenhüttensage erhalten, nach der wir Lindenhüttenleute wohl einem alten gottgetreuen Geschlecht entstammen müssen. Danach wäre unser Häuschen schon im 30jährigen Kriege gebaut; in der zerborstenen Quersäule über unserer Thür konnte man auch noch immer so etwas wie eine Jahreszahl lesen. Der Herr Pastor, der einmal lange daran herumstudiert hat, glaubt, daß es die Zahl 1645 sei, und das soll ja wohl in den letzten Jahren des großen Krieges gewesen sein. Was aber das Schönste und Ergreifendste an der alten Lindenhüttensage ist, so soll unser Stammvater, als er die Hütte gebaut und die Linde davor gepflanzt hatte, gesagt haben:
»So lang' die Linde bleibet steh'n,
Wird mein Geschlecht zur Hütte geh'n;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.«
Und zu diesem Segensspruche hat die treue Linde, so behauptete unser Vater, ordentlich eine 24 Melodie gemacht. Wenn der leise Wind durch ihre Blätter geht, oder der daher fahrende Sturm dazwischen braust, immer tönt, allen vernehmbar, die Melodie zu dem urväterlichen Segensspruche.
Und unser Herrgott hat seine Lindenleute bis hierher ja auch wunderlich genug erhalten, sie durch gute und böse Tage geführt, sie nieder geworfen, aber auch wieder aufgerichtet.
Gewiß hatte die Lindenhütte schon bessere Tage gesehen, als die waren, in denen ich zur Welt kam; aber da unsere Eltern sich, getreu dem alten Lindenhüttensinn, gewöhnt hatten, die guten Zeiten wie die bösen, ohne Übermut und ohne Kleinmut, aus der Hand Gottes zu empfangen, so konnte sie auch der ärgste Hagelschlag nicht aus ihrem inneren Gleichgewichte bringen.
Als unser bißchen Korn und Flachs jämmerlich zerschlagen am Boden lag, und die Mutter im Kindbette beinah verzagen wollte, ist der Vater herein gekommen und hat weiter nichts gesagt als den Lindenhüttenspruch:
»So lang' die Linde bleibet steh'n,
Wird mein Geschlecht zur Hütte geh'n;
Den lieben Herrgott laß ich walten,
Der Lind' und Leute kann erhalten.«
Und da ist's unserer Mutter gewesen, wie sie hernach oft sagte, als hätte sie eine Stimme vom 25 Himmel gehört, ja, als hätte der liebe Herrgott selber gesprochen.
Unsere Mutter mußte die Kümmernis ja freilich härter ankommen als unseren Vater, denn sie hatte es in ihrer Jugend besser gehabt als er; sie war ein Bornriekens Mädchen, stammte also wie unsere Großmutter väterlicherseits von einem ansehnlichen Ackerhofe. Bornriekens hatten in allen drei FeldernEs gab damals noch Sommer-, Winter- und Brachfeld von einander getrennt. schöne Breiten Land und ackerten mit zwei Pferden. Unsere Mutter hielt aber viel zu groß auf den Vater, als daß sie sich dessen jemals gerühmt hätte, wie das sonst wohl thörichte Frauen thun, wenn sie von größerem Herkommen sind, als der Mann. Ihr »Mitgebrachtes« war ja auch nicht so groß, wie man denken könnte: Eine Brautkuh, eine große Eichentruhe mit schönem Leinenwerk, dazu 50 Thaler bar – das war das Hauptsächlichste. Heute geht ein Bornriekens Mädchen nicht unter 1000 Thalern weg. Nun, zu der Zeit wurde ja auch noch nicht so viel geerntet wie heute; ich weiß noch, daß wir uns beim Weizenschneiden auf die Kniee setzen mußten, um das kurze, dünne Fusselwerk fassen zu können.
Zur Lindenhütte gehörten zwei Morgen eigenes Ackerland; der eine lag auf dem »hohen 26 Kumpe«, der andere vor dem »kleinen Hagen«. Außerdem hatten wir noch einige Vorlinge aus der Gemeinde, denn damals konnten die kleinen Leute noch alles, was sie nicht selbst besaßen, von der Gemeinde für wenig Geld pachten oder kaufen. Die Kleinen hatten zu der Zeit überhaupt viel mehr Rechte an der Gemeinde wie jetzt; die Gemeinde war sozusagen ihre Mutter und hatte viel mehr übrig für sie als heute. Wenn der Bauermeister das Heu auf dem Bruche oder Anger oder an der »Beke« verpachtete, so war es ganz selbstverständlich, daß die Bauern so lange still schwiegen, bis die Kleinen ihr Notwendiges hatten. Und wenn das Gemeindeobst auf dem Bruche und im Dorfe verkauft wurde, war's genau ebenso. Die Hecken und Wege mit ihren Loren und Gräsern standen den Kleinen überhaupt ganz frei zu Gebote.
Und wer eine Kuh hatte, hatte auch das Recht, sie mit den Kühen der Bauern auf die Weide gehen zu lassen, und der Kuhhirt durfte die Lindenhüttenkuh nicht geringer achten als Bornriekens oder sonst eines Bauern Kuh. Nach dem Kuhhirten trieb der »Swän« aus, und da konnte unser Schwein eben so gut nach den 27 Eicheln wühlen, als dem Bauermeister seine. Natürlich war auch noch der Gänsehirt da, und wo die Gänse der großen Bauern fraßen, hatten auch die Lindenhüttengänse ihre freie Schnabelweide. Unsere Mutter freute sich immer, wenn's erst ins Stoppelfeld ging, dann brauchten wir nur ganz wenig zuzukrauten und konnten eher unserem Verdienste nachgehen.
Wie gesagt, die kleinen Leute wußten damals noch eher, was sie an der Gemeinde hatten; darum herrschte auch keine so große Unruhe unter ihnen, und man zog noch nicht so von einem Ort zum andern, obgleich man seine liebe Not zu der Zeit eben so gut hatte, wie heute. Ich meine, der Sinn der Leute war ein ganz anderer, man gehörte mehr zusammen, wie im Hause, so auch auf dem Felde, so auch auf dem Thie, wenn die Musikanten spielten.
Ja, wenn nicht so ein fester, innerer Halt gewesen wäre – der bare Verdienst hätte gewiß niemand gehalten. Unser Vater ging vom Herbst bis zur Mähezeit um Pfingsten tagtäglich für sechs Mariengroschen1 Mariengroschen = 8 Pfennige. nach dem Holzhauen in die gräflichen Wälder, und unsere Mutter, wenn sie 'mal 'n Tag oder 'n halben dazwischen 28 'raus reißen konnte, kriegte bei ihrem eigenen Bruder nicht mehr als vier Mariengroschen für einen Arbeitstag, der mindestens zwölf Stunden lang war.
Nun läßt sich schon denken, wie es war, als erst die kleinen Kinder alle aufeinander gepurzelt kamen. Knapp, knapp! röppt de KrägeRuft die Krähe..
Das Allernotwendigste zum Leben, vor allem die Kartoffeln, lieferten unsere eigenen Äcker, so spärlich sie auch manches Jahr trugen. Ich weiß noch, wie froh die Eltern waren, daß sie doch das bißchen eigene Land hatten. Dann löste unsere Mutter auch manchen Groschen aus den Eiern, die unsere sechs Hühner legten; – außer am Osterfest pflegten die Lindenhüttenleute selbst keine Eier zu essen. Auch war die Mutter immer darauf bedacht, daß sie im Herbst ein paar Gänse nach Göttingen oder Münden auf den Markt bringen und mit dem Erlös einen Teil der drückenden Schuld tilgen konnte. Die Hauptsache aber für die Lindenhütte, die Freude, ich kann auch wohl sagen der Trost und Stolz unserer Mutter war unsere Kuh, unsere liebe gute braune Bläßkuh, die alle Jahr ein Kälbchen warf, das der Vater für ein gutes Stück Geld verkaufen konnte 29 und die immer so wunderschöne Milch gab, daß die Mutter uns Milch trinken lassen und doch noch manches Pfund Butter verkaufen konnte.
Ach lieber Gott, es würde schon gereicht haben, wie unsere Eltern oft sagten, wenn nur nicht das graue »Kankelbein«Die großbeinige Holzspinne, auch Weberknecht genannt, die der Volksaberglaube für einen Unglücksboten hält., das Unglück, so oft über die Lindenhüttenschwelle gekrochen wäre!
Eines Nachmittags, als die Mutter mit Bornriekens beim Flachskrauten am Brackensteiner Wege hinter der Feldlinde ist, und man sich gerade zum Halbabendbrot hingesetzt hat, kriecht ihr auch wieder so ein scheußliches Kankelbein über den Schoß. Die Mutter erschrickt und denkt gleich an ein Unglück. Ich kann nicht mehr daran glauben, daß so eine dumme Spinne mit dem menschlichen Glück oder Unglück in Zusammenhang stehen soll – jedenfalls aber ist es wunderbar, oder ein wunderbarer Zufall, wie man's nun nehmen will, daß auf die Spinne richtig das Unglück gefolgt ist. Man ist eben vom Halbabendbrote aufgestanden – unsere Mutter hat, wie sie oft, oft erzählte, vor einer dunklen Angst keinen Bissen herunterkriegen können – als unser Hanfrieder gelaufen kommt. Unsere Kuh, unsere gute braune Bläßkuh hätte das »Stickeblut« gekriegt. Unsere 30 Mutter auf und stracks durch die Felder ins Dorf. Als sie an die Lindenhütte kommt, ist unsere Braune schon tot. Unsere Mutter hat oft erzählt, es wäre ihr gewesen, als hätte sie einer mit der Axt vor den Kopf geschlagen. Von Versicherung wußte man damals noch nichts; das Geld zu einer neuen Kuh mußte geborgt werden. Man kann sich vorstellen, wie lange so ein Kankelbein hinter unseren armen Eltern herkankelte. 31