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Lisbeth ging in die Küche und jagte die Magd in ihre Kammer. Sie ging hinter ihr die Treppe hinauf, trat mit ihr in ihre Kammer und hieß sie sich ins Bett legen.
Das Mädchen entkleidete sich, immerfort leise weinend. Lisbeth stand am Fenster. Sie verstand nichts von diesem Weinen und Verzweifeltsein. Die Wut kochte in ihr. Als das Mädchen plötzlich lauter schluchzte, drehte sie sich jäh um und schlug mit Fäusten auf das arme Geschöpf ein. Das beruhigte sie. Das Mädchen ließ sich willig schlagen. Man hätte meinen können, es merke gar nichts von den Schlägen.
Dann ging Lisbeth zu Konrad. Der lag im Halbschlaf. Sein Atem ging schwer. Auf seinem Gesicht lag, verklärend, ein tiefer Schmerz.
Lisbeth fragte nach seinem Befinden und nach seinen Wünschen. Er antwortete nicht. 234
Sie sagte, sie werde bei ihm wachen. Da bewegte er den Kopf und hieß sie gehen.
Sie ging ruhig fort. Im Wohnzimmer setzte sie sich zum Tisch, faltete die Hände auf dem Tisch und begann das Vaterunser zu beten. Denn sie fühlte von ferne eine wirre Unruhe auf sich zustürzen.
Aber mitten im Texte des Gebetes brach sie ab. Sie wußte nicht, wozu sie ihn zu Ende sprechen sollte. Auch wurde ihr bange vor ihrer eigenen Stimme.
Sie fühlte das Haus, ihr Haus, um sich und sah sich geborgen. Immerhin hatte sie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen:
Sie habe es doch immer schwer gehabt, immer Arbeit und Sorgen. Und sie sei auch immer rechtschaffen geblieben. Nur das bißchen Lieben und Mannsleute – das könne man ihr doch nicht verargen. Sie wolle ja nicht, daß Konrad fortgehe; sie wolle ja nicht, daß ihr Vater fortgehe; sie wolle ja für beide arbeiten und sorgen. Nur müsse ihr das Haus gehören und die Kinder müßten da sein und sie müsse tun und lassen dürfen, was sie wolle. Sie fühlte sich frei und schuldlos und ging zu Bett. Ihr Vater dagegen irrte in der Nacht umher. Seine Gedanken kreisten um das Haus. 235
Manchmal setzte er sich irgendwo nieder und tat so, als ob er zu Hause hinter dem Tisch sitze: befahl der Magd, dem Knecht, den Taglöhnern, seiner Frau, Konrad, befahl und schimpfte, grübelte und ärgerte sich.
Oder er stand still, sah um sich und baute das ganze Haus rundum auf: zuerst das Wohnzimmer mit dem Tisch und der Bank da, mit der Kommode dort, mit den Stühlen und dem sonstigen Hausgerät; so auch die übrigen Zimmer, den Schuppen, die Scheune, die Ställe.
Sein Haus, sein Haus erbaute er. Das Haus, das man ihm genommen hatte. Das Haus, in dem jetzt der Teufel herrschte. Das Haus, in dem jetzt sein Sohn starb.
Starb? War er vielleicht nicht schon tot? Wildanger sah das Zimmer vor sich. Die Türe war verschlossen. Er stand davor. Er klopfte an, jetzt wie in einem fremden Haus. Niemand rief das Herein. Er trat ein, mit klopfendem Herzen. Da war das Bett. Kissen und Decke bauschten sich hoch auf. Er stand und starrte auf das Bett.
Er fuhr sich über die Augen und öffnete sie dann weit. Ringsum war die Nacht. Eine Gestorbenheit war in ihr, tief und rätselvoll wie der leibhaftige 236 Tod. Ueber ihm hingen ein paar Sterne im Aether wie leuchtende Tropfen aus einer anderen helleren Welt.
Wildanger fühlte sich in diese Nacht hineingewachsen, fern vom Leben, fern von sich selbst.
Er dachte – seit Jahrzehnten zum erstenmal – an seine Mutter. Wenn sein Vater, was oft geschah, betrunken nach Hause kam und schimpfte, pflegte sie zu singen. Warum? Er wußte es nicht. Vielleicht, dachte er, hat sie das Unglück fröhlich gemacht.
Sollte es ihn nicht auch fröhlich machen? Er ging aufgeregt ein paar Schritte im Kreis herum.
Seine Gedanken kehrten wieder ins Krankenzimmer zurück. Er stand vor dem Bett. Er suchte nach Konrad in den gebauschten Kissen und Decken. Da lag er mit blassem, aber frohem Gesicht.
Wildangers Augen wurden groß. Er meinte, sie flössen ihm über das ganze Gesicht.
Konrad blickte ihn an. Seine Augen leuchteten wie die Augen eines Kindes. Das übrige Gesicht aber war alt, war gestorben, war im Entschwinden.
Wildanger erschrak tief. Wer lag da? War das Konrad? War das sein Sohn? War – das – nicht – er – selbst? 237
Er stand und war jedes Gedankens und jedes Gefühles bar. Das – war – er – selbst . . .!
Zur gleichen Zeit zitterte Konrads Leben leise dem Tod entgegen. Er war fröhlichen Gemütes, sah Vater, Mutter und Schwester, die junge Magd und Karla Birn vor dem Bette stehen, sah zwischen ihnen den Gekreuzigten schweben und freute sich dieser schönen Vereinigung aller.
Sein Vater trat nahe zu ihm und lächelte. Sein Gesicht war jung und schön. War es nicht das Gesicht eines Kindes? War es nicht – – sein, sein eigenes Gesicht?
Und wer war er selbst, der da in seinem Glück lag? War er nicht – – sein Vater?
Eine heiße Welle der Freude übergoß ihn. Er fühlte sich aufgegangen in seinem Vater. Dessen Wesen starb in ihm dahin. Und was Leben blieb, das war er, er selbst, das war Konrad.
In dem Sterbenden jubelte eine große, stille Seligkeit, eine Erlöstheit.
Wildanger draußen in der Nacht fühlte sie mit, sah sich selbst hinsterben, sah auf zu den wenigen Sternen wie zu neuen Wegzeichen.
Eine tolle Lust am Sterben dessen, der da im Bett lag, überkam ihn. Er begann zu gehen, zu laufen, 238 zu rennen. Er rannte durch die Felder zum Dorf, durch das Dorf zu seinem Haus – das Haus stand in der Nacht wie ein friedlicher Mond im dunklen Himmel –, durch das Haus, dessen Tor sperrangelweit aufstand, vor die Tür des Sterbezimmers und nun durch die Türe vor das Bett.
Atemlos stand er, sah Konrad und sah sich.
Dieser lag, leicht fröstelnd, und sah in dem Vater sich selbst.
In beiden war eine beglückende Einheit des Lebens, ein Hinsterben zum Göttlichen.
Wildanger sank ersterbend am Bett nieder.
Konrad sah nun sein Leben beschlossen und war bereit, hinüberzugehen.
Aber in Peter Wildanger, der sich schon dem Tod hingegeben hatte, schrie noch einmal die Sucht zu leben auf. Noch einmal stürzte das Haus und der Besitz auf ihn ein. Noch einmal rührte ihn Lisbeths leiblicher Atem an.
Er begann zu reden. Er erhob sich schwer und sprach zu Konrad, sprach in die Kissen des Bettes hinein:
»Sieh, Konrad, dies Haus ist mein. Man hat es mir genommen. Aber man kann es mir nicht 239 nehmen. Es ist mein Leben. Wer darf mir das Leben nehmen?«
Diesen letzten Satz wimmerte Peter Wildanger in das Bett.
Konrad riß seine Augen weit auf und erhob sich, indem er sich mühsam auf die rückwärts aufgestemmten Arme stützte, im Bett.
Der Tod brach aus seinen Augen wie ein wildes Feuer, wie ein vielfach gedoppeltes Leben. Sein Mund war verzerrt zu einem Krampf, wie wenn er noch in einer letzten Minute größte Worte gebären wollte.
Er neigte den Kopf leicht zu dem Vater hin, der über dem Bettrand lag. Schwer atmend saß der verzehrte Körper da, bis er Kraft fand, ein paar Worte zu flüstern:
»Vater, du bist ein Tier, ein Feind. Du zerrst mich zurück, du hinderst mich selig zu werden.«
Peter Wildanger sah zu dem Sohn auf und wimmerte:
»Das Haus ist mein! Das Haus ist mein!«
Da sank Konrad leise in die Kissen zurück und sagte: »Es ist nicht dein. Es wird in Flammen aufgehen.« Konrad lag mit weit aufgerissenen Augen und sah das Haus um sich in rote Flammen gehüllt. Er 240 hörte brennendes Holz knistern und krachen, Ziegeln stürzen und Glas splittern.
Peter Wildanger erhob erschreckt den Kopf. Denn was Konrad sah, erschien auch ihm wirklich.
Er sprang auf und blickte entsetzt um sich. Aber plötzlich stand wieder das Haus friedlich da. Es brannte nicht! Es war und blieb – kein Haus mehr, ein Gefängnis, eine Hölle.
Peter Wildanger stürzte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Er fegte durch den Hof, durch die Scheune, durch die Ställe. Das Haus blieb. Das Haus brannte nicht.
Als er wieder in den Hof trat, fiel sein Blick auf eine Windlaterne, die brennend dastand. Seine Augen blieben gebannt an der Flamme. Sie wuchs und wuchs und überwuchs den Hof, das Haus, den Himmel.
Peter Wildanger sah sich in Flammen gehüllt. Seine Knie brachen, er wankte, aber er fiel nicht.
Er zwang sich gewaltsam auf und atmete wie ein schwer Betrunkener.
Dann hatte er plötzlich die Laterne in der Hand und wankte mit ihr in die Scheune, in der das gelbe Getreide hoch aufgetürmt war. Durch mehrere 241 Dachluken fiel das Mondlicht herein und flammte über das Gebälk hin.
Wieder sah Wildanger den ganzen hohen Raum in Flammen. Er stand in qualvoller Betäubung mitten in einem Meere von Licht und Feuer. Draußen sang ein sommerlicher Nachtwind durch den Hof – Vorbote eines nahenden Wetters.
Wildanger öffnete zitternd die Windlaterne. Sie flog, wie von einer unsichtbaren Macht geworfen, aus seinen Händen in hohem Bogen hinauf auf den Strohberg. Wildanger sah ihr taumelnd nach. Er wagte nicht mehr zu atmen.
Dann schoß eine hohe Flamme mit hartem Geräusch auf, das wie ein fernes Gelächter klang. Wildanger schloß die Augen und stand minutenlang blind auf der Stelle.
Als er die Augen öffnete, stand die Scheune in hellen Flammen. Er wankte in den Hof und setzte sich auf einen Holzklotz, der in einer Ecke stand.
Mit den Flammen wuchs auch der Wind, der sie förderte. Der Himmel überzog sich mit graublauem Gewölk. Es sah nach einem Gewitter aus. Aber nirgends eine Spur von Regen.
Konrad hatte die Hände über dem Bette gefaltet 242 und freute sich zu sterben. Er fühlte im Zimmer den schlechten Atem und die schlechten Worte des Vaters und sehnte sich darnach, von dieser Atmosphäre befreit zu werden.
Er fühlte keinen Schmerz und überhaupt keinerlei körperliches Leben mehr in sich. Sein Leib schien sich ihm zu dehnen und zu weiten. Er hatte eine schöne Vision.
Sein Körper zerfloß in blaue Wolken und diese Wolken bauten sich auf zu einer großen Domfront mit einem hohen Portal, durch das eine stille Seligkeit, wieder blau, zu ihm herdämmerte. Und er schwebte vor diesem Portal, ein golden zuckendes Flämmchen – seine Seele. Sie zog durch das Portal, das sein entkörpertes Ich ihm öffnete, ins Himmelreich ein.
Ein überirdisches Lächeln durchrann ihn. Er dachte an Karla Birn. Er sah sie in ihrem Bette liegen zu Füßen des Gekreuzigten und er sang ihr die Frage zu:
»Ziehst du mit mir?«
Sie nickte lächelnd, enthob sich der Erde, auf der sie stand, und wurde ein schwingender Geigenton.
Konrad sah diesen Geigenton sich wie ein 243 Regenbogen durch die Luft in das Portal hinein wölben. Und er hörte Kinderstimmen singen:
»Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei.«
Auch den Klang dieser zarten Stimmen sah er im Portal aufleuchten.
So lag er und freute sich der Schönheit des Todes. Ringsum flammte und dampfte es. Dumpfe Töne irdischen Zusammenbruchs fielen ihm von weither ins Ohr.
Und so wäre er wohl in die Erlösung hinübergeträumt, wenn nicht plötzlich nahe harte Menschenstimmen ihn zurückgezerrt hätten.
Erst hörte er die junge Magd kreischen: »Es brennt.« Dann schrie die Lisbeth, dann viele Leute, dann krachten die Balken, und knirschten zermürbte Steine.
Diese Wirklichkeit riß Konrad hoch. Er stürzte, gleich einem völlig Gesunden, ans Fenster und sah durch Flammen und Rauch, wie er vermeinte, in eine Hölle, in deren letzter schwach erhellter Ecke er die zusammengekrümmte Gestalt seines Vaters erblickte, die niemand außer ihm sah.
Da wußte er, daß sein Vater den Brand gelegt hatte, 244 daß sein Vater durch diese Missetat ihn hinderte, zu sterben.
Er stürzte zur Tür hinaus, zur Treppe hin in den Hof, durch die Menschen, die da schreiend herumirrten, auf den Vater zu.
Neben dem Holzklotz, auf dem Peter Wildanger saß, lag eine schwere Axt. Die ergriff Konrad und schwang sie mit dürren Armen hoch und ließ sie auf den Kopf des Vaters niedersausen.
Im Augenblicke ihres Aufpralls hob Wildanger den Kopf und sah mit ruhigen Augen den Sohn an.
Dieser sah in diesen Augen seine eigenen, in diesem Kopf seinen eigenen und fühlte sich zu Tode getroffen.
Peter Wildanger fiel lautlos vornüber. Konrad wankte und fiel ebenfalls nach vorne, dem Vater in die Arme.
So starben beide. 245