Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Sie war ein Ende.

Als der nächste Morgen dämmerte – es war ein Morgen, der auf zerhagelte Felder, zerschmetterte Baumstämme und überschwemmte Straßen sah, lag Konrad unter einem Baum des Kastanienwäldchens vor dem Dorf. Er lag im Schmutz und Schlamm. Seine Kleider waren durchnäßt und zerfetzt. Sein Gesicht war von Schweiß und Blut verklebt.

Er zitterte am ganzen Leib vor Kälte und Schwäche. Ueber den Bäumen ging, blaß und in breiten milchigen Lichtern schwimmend, die Sonne auf. Sie fror am Himmel; ihre ersten dünnen Strahlen erstarrten in der Luft. Drüben, am westlichen Himmel, hing noch zerfetztes Gewölk.

Konrad setzte sich schwerfällig auf. Er betrachtete sich wie einen Fremden ohne Mitgefühl. Mechanisch versuchte er, den Schmutz von sich zu entfernen. 178 Aber seine Hände zitterten so, daß er sie gleich wieder matt in den Schoß legte.

Er dachte an nichts und niemanden und klebte Schultern und Kopf hart an den Baumstamm.

Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er blinzelte kaum. Er sah stumpf vor sich hin. Ein Käfer suchte sich aus dem Schlamm ans Sonnenlicht zu retten. Konrad griff nach ihm und warf ihn in eine Pfütze zurück.

Dort ertrank das Tier.

Konrad meinte bei sich:

»Gott hat ihn ertrinken lassen.«

Er warf plötzlich seinen Kopf zurück und starrte in die Sonne. Und wiederholte laut:

»Du, Gott, hast ihn ertrinken lassen!«

Er begann schwer zu atmen. Dann sagte er leise:

»Gott, du hast mich sterben lassen.«

Er dachte darüber nach und setzte hinzu:

»Ja, jetzt bin auch ich eine Leiche.«

Sein Kopf sank nieder. Er trauerte still und besonnen um sich, wie wenn ihm ein ferner Bekannter allzu früh gestorben wäre.

Er sann dem letzten Tag und der letzten Nacht und jedem Wort und jeder Stimmung nach, deren er sich noch erinnerte. Er erzählte sich alles, was da geschehen war, wie einem Unbeteiligten. 179

Was war denn geschehen? War überhaupt etwas geschehen? War das nicht alles Traum?

»Geträumt oder gelebt« – sagte er sich – »es ist mein Tod gewesen.«

Er sprach weiter zu sich:

»Es war ein schwerer Tod. Es ist so schön allein zu sterben. Ich aber bin mit einem andern zusammen in den Tod gefallen.

Habe ich sie oder hat sie mich mitgerissen? – Gott hat uns beide gerissen.«

Er sah sich neben Karla Birn auf dem Bett liegen. »Zwei Leichen, blaß und ausgelöscht. Und sie atmen, sie atmen.«

Konrad lachte still.

»Als ob man nur die Luft, die stickige und stinkende Luft zu atmen brauchte, um zu leben.«

Konrad lächelte wieder.

»Ich bin von ihr fortgegangen, eine Leiche von der andern.«

Sein Fortgehen interessierte ihn. Er wußte nicht genau, wann und wie es war. Er bemühte sich es noch einmal zu erleben.

Und er begann sich selbst zu erzählen:

»Ich lag bei ihr, bei Karla Birn.«

Die Röte stieg ihm heiß ins Gesicht. Er krampfte 180 rückwärts die Arme um den Stamm und dehnte und streckte sich, als könne er seinen Körper von sich abwerfen, als wolle er aus ihm herausspringen wie aus etwas unheimlich Häßlichem.

»Als ich anfing mich vor mir zu schämen – –«

Da stockte er, besann sich und fragte sich:

»Vor wem habe ich mich geschämt? Vor mir? Vor Gott? Wer bin ich? Wer ist Gott?«

Und nach einer langen Pause atemlosen Horchens: »Bin – ich – denn – Gott?«

Er stand hastig auf und taumelte vor fiebriger Schwäche und vor der Größe dieser Frage.

»Ja, ich habe mich vor mir und zugleich vor Gott geschämt. Also, ich muß doch etwas Göttliches sein.«

Er sank nieder in den Schlamm. Die dicken Stämme der Kastanienbäume führten vor ihm einen wilden und plumpen Tanz auf. Er sah, wie sie sich mit ihren Wurzeln aus dem aufgeweichten Boden hoben und nun, jeder wie auf tausend knöchernen Beinen und Beinchen, über das Gras hinhopsten. Das Gras brannte und es war über dem Wasser, das in großen vielfarbigen Pfützen stand, ein einziges lohendes Feuer. Und in der Luft war Feuer, das zwischen den Baumkronen hindurch herniederflackerte. Und dort oben, am Himmel, war wieder Feuer – Feuer 181 der sich nun mächtig rötenden Sonne. Das Feuer floß am Himmel hin, goß auf die Erde nieder und flackerte am Gras über dem Wasser. Dazwischen hopsten die mächtigen, plumpen Bäume.

Konrad sank vollends um und lag wie tot.

So fand man ihn und trug ihn nach Hause. Und als er nach zwei Tagen aus seinem Fieber erwachte, da war sein erster Gedanke:

»Ja, ich habe mich vor dem Gott in mir geschämt und ging darum von ihr fort.«

Und sogleich erzählte er sich weiter:

»Aber die Türe unten ging nicht auf. Wer hatte sie inzwischen verschlossen? Ich rüttelte und rüttelte, sie ging nicht auf. Ich ging in Karlas Schulzimmer, um von da zum Fenster hinauszuspringen. Da hörte ich in der Nacht, in der Nacht – – –«

Hier hielt er inne wie vor dem Schwersten, das er sich zu sagen hatte.

»– – – in der Nacht standen da Kinder und Karla Birn vor ihnen. Und sie sangen: ›Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei.‹ Und Karla Birn spielte die Geige dazu. Aber nein, sie kratzte die Geige und die Kinder brüllten das Lied. Und dieser ohrenbetäubende Lärm warf mich zum Fenster in den Regen hinaus. Auch der Regen brüllte 182 und der Wind. Und ich jagte fort – durchs Dorf, durch die Felder, durch den Regen, durch den Wind, bis – – –«

Nun umfing ihn ein großes Dunkel. Er drückte seinen Kopf tief in die Kissen und wartete auf Helle. Es dauerte eine Weile; dann hob sich ein Lächeln von seinen geschlossenen Augen, die sich langsam und groß öffneten, und spielte über sein Gesicht hin.

»– – – bis ich mich hierher flüchtete in dieses Bett, in dieses Zimmer, zu mir, zu meinem Gott.«

Er lag wie ein ganz glückliches Kind, schmal und blaß, da. Er fühlte, wie ein schwerer Schmerz ihm an den Seiten den Körper aufreißen wollte. Aber er achtete dessen nicht. Sein Gesicht blieb ruhig und glücklich.

Lisbeth trat an sein Bett und lachte verlegen. Er sah sie groß und ernst an. Sie entfernte sich gleich wieder.

Im Hof traf sie Michel Steinert; dem sagte sie, daß »der Kleine« immer noch Fieber habe, aber wach sei. Das hörte auch Peter Wildanger und schlich sofort von der Arbeit hinauf ins Zimmer.

Konrad hatte seine Augen geschlossen. Aber er erkannte seinen Vater am Schritt und begann vor Aufregung zu zittern. 183

Wildanger sah den Jungen schlafen und ging sogleich wieder. Als er draußen war, wollte sich Konrad jäh aufrichten. Er konnte es nicht. Da erst fühlte er, daß er schwer krank sein müsse.

Nun aber kam ihm wieder die Erinnerung an jenen Abend, an dem es ihn aus dem Hause getrieben hatte. Er dachte:

Sie haben sich geschimpft und geschlagen, aber sie sind ja tot und wissen heute nichts mehr davon. Nur ich weiß von der Hölle, in der sie leben. Nur ich weiß, daß an jenem Abend ihre Hölle auch über mich gekommen ist.

Seine Schmerzen drangen wild auf ihn ein. – Er stöhnte laut auf. Er preßte die Hände an die beiden Seiten und wand sich wie ein Wurm, um den Schmerzen auszuweichen. Aber sie brannten in ihm um so wilder.

So verging eine Stunde. Die Luft im Zimmer, dessen Fenster geschlossen waren, war dunstig und schwer. Das Atmen bereitete dem Kranken große Schmerzen. Er wurde müde davon. Durch die beiden Fenster, die auf den Hof gingen, drang das Geräusch der Arbeit zu ihm herein. Er bemühte sich, einzelne Stimmen, die er hörte, zu unterscheiden. Sie erschienen ihm alle fremd. 184

Der Arzt trat ein. Ein alter, sehr kurzsichtiger Herr, der ununterbrochen ein Lied vor sich hinsummte.

Und seit Jahrzehnten immer die gleiche Melodie, den Trauermarsch:

»Es geht bei gedämpfter Trommel Klang;
Wie weit noch die Stätte, der Weg wie lang!
Ach wär' ich zur Ruh, wär' alles vorbei!
Ich glaub', es bricht mir das Herz entzwei.«

Im Dorf ging die Sage, er summe dies Lied auch im Schlaf. Mißtrauische Leute erzählten sich auch, am Tempo, in dem der alte Doktor sein Lied summe, könne man ersehen, für wie krank er seine Patienten halte. Je ungefährlicher die Krankheit, desto langsamer und getragener klinge die Melodie. An Totenbetten dagegen nehme sie einen stürmischen Takt an.

Der alte Herr, ein sehr einsamer und schweigsamer Junggeselle, pflegte alle Patienten unter dreißig Jahren zu duzen.

Er trat ans Bett und sah durch seine unheimlich scharfe Brille auf Konrad nieder.

Lisbeth stand hinter ihm, rot und feucht vor Schweiß, die Aermel weit aufgekrempelt, so daß man ihre fleischigen gebräunten Arme sehen konnte.

Der Arzt nahm grüßend Konrads Hand und behielt 185 sie gleich, um den Puls zu fühlen. Und vom Puls aus tastete er, wiederum ohne Unterbrechung, den ganzen Körper ab und behorchte und befühlte den Kranken von oben bis unten. Dann sah er sich nach Lisbeth um. Sie war aber während der Untersuchung, die ihr zu lange dauerte, verschwunden.

Es war eine bleierne Stille im Zimmer. Nur das Summen des Arztes schwang sich, einer großen schwarzen Fliege gleich, durch den Raum. Man konnte dem Tempo nichts Bestimmtes entnehmen.

Der Arzt holte sein Rezeptbuch aus der Tasche und begann zu schreiben.

Konrad fragte plötzlich:

»Muß ich sterben?«

Der Arzt zog die Stirne hoch. Seine Glatze legte sich in Falten.

»Heut noch nicht, und morgen noch nicht. Aber in hundert Jahren bestimmt!«

Dann schrieb er weiter. Das Rezeptbuch hielt er dabei dicht vor seine Augen. Konrad vermutete, daß er dahinter lächle, und ärgerte sich.

Er fragte wie ein ungezogenes Kind:

»Was fehlt mir denn?«

Wieder ließ der Alte seine Augenbrauen hochschnellen und steckte dabei den Bleistift hinters Ohr. 186

»Dir fehlt die Gesundheit. Das nennt man bald so, bald so, bei dir Lungenentzündung. Du hättest dir in dieser verrückten Nacht auch ein Bein brechen können oder das Genick. Oder – – –«

Der Arzt besann sich und fuhr dann fort:

»– – – das Herz!«

Dann lachte er brüllend. Konrad dachte: er hat recht, und sagte sehr leise: »Ich sterbe gern.«

Inzwischen hatte der Doktor sein Summen wieder aufgenommen. Als Konrad die letzten Worte sagte, da begann er zur Melodie im Zimmer auf und ab zu marschieren. Das Tempo war sehr rasch. Dieser junge Mann, dachte er bei sich, ist ein bißchen verrückt. So etwas war ihm zuwider. Er wurde grob: »Also stirb! Dieses Vergnügen kannst du dir machen. Du bist dann der erste Mensch seit dem Herrn Jesus, der gern gestorben ist. Das lernt man wohl jetzt in der Schule.«

Er nahm rasch Konrads Hand, versprach, morgen wiederzukommen und ging. Das Summen zog vor ihm her wie eine Wolke.

Konrad sah sich plötzlich vor eine neue schwere Frage gestellt:

»Ist Jesus gerne gestorben?«

Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß jener Sohn 187 Gottes, wie es im Katechismus hieß, durch seinen Tod viel Gutes gestiftet hat.

Konrad mußte an seine Mutter denken. Auch von ihr hatte er geglaubt, sie habe durch ihren Tod Gutes gestiftet. Nun aber, nach den Vorgängen, die er erlebt hatte und die durch seine vom Fieber erhitzte Erinnerung teuflisch vergrößert wurden, glaubte er nicht mehr daran.

Konrad, so schwach er war, ließ nicht ab, bis er über den Tod der Mutter im klaren war. Von einer geheimen Kraft bewegt, zog das Leben der Mutter an ihm vorüber. Er erkannte, daß es stumpf und faul war. Wie hätte da ihr Tod Gutes bringen können? War aber sein eigenes Leben besser und reiner als das der Mutter? Er stellte und verneinte zugleich die Frage.

Durfte er also sterben? Nach einem solchen Leben? Nein, nein, nein – er wollte nicht sterben, er wollte leben.

Und er wandte seine ganze Aufmerksamkeit den Schmerzen zu, die in ihm wühlten.

Er rief nach Hilfe. Er rief Lisbeth, den Vater, die kleine Magd und Michel Steinert.

Aber niemand kam. Sie waren im Stall, wo sie die 188 Geburt eines Kälbchens erwarteten und das Ihrige dazu taten.

Konrad schrie immer lauter. Man solle ihm helfen, man solle ihm die Medizin machen lassen, er wolle keine Schmerzen haben, er wolle nicht sterben.

Das Schreien und der Ingrimm, daß niemand kam, rafften das bißchen Kraft, mit dem er aus dem Fieber wieder zum Leben gekommen war, vollends hinweg.

Er schrie nicht mehr, er lallte:

»Nicht sterben! Gutes stiften! Kommt alle! Karla, hilf mir!«

Nun sank er wieder, während er heulte, ins Fieber: »Mutter, Mutter! Ich will nicht sterben. Jesus ist auch nicht gestorben.«

Als endlich Lisbeth nach ihm sah, lag er, von Tränen und hohem Fieber das Gesicht überfeuchtet, mit glasigen Augen da und ächzte von Jesus, der Mutter und Karla Birn.

Sie trocknete ihm Gesicht und Brust, streichelte ihm die Wangen und ging mit den Rezepten sehr still hinaus. Es war ihr weinerlich zumute.

Im Hof sagte sie dem Michel, sie glaube, daß Konrad sterben müsse. Dabei kamen ihr die Tränen.

Michel starrte dumm vor sich hin und dachte: 189

Da bin ich in einen Unglückstempel geraten.

Lisbeth ging in den Stall, um dort die Magd zu holen, die in die Apotheke laufen sollte.

Michel sah ihr nach. Dabei kam ihm der Gedanke, daß er ja dann mit Lisbeth das ganze Erbe bekomme. Er konnte sich nicht entschlagen, zu lächeln. Aber es war ein trübes Lächeln. Denn seine Furcht vor dem Unglück und sein Mitleid mit Konrad war größer, als seine Liebe zum Reichtum.

Wildanger kam gerade aus dem Stall. Michel sagte, ach, es stehe ja so schlecht mit dem Konrad.

Wildanger nickte mehrere Male mit dem Kopf.

Ein so guter Junge dürfe doch nicht sterben, das sei doch zu hart.

Wildanger sah ihn groß an und dachte: So ein Heuchler!

Michel wurde es schwül, weil Wildanger nichts redete. Er dachte an die unglücklichen Verhältnisse, die zwischen Wildanger, Lisbeth und Konrad bestanden. Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das steife Bein. Das pflegte er immer zu tun, wenn er's mit dem Gemüt und der Verlegenheit, was bei ihm das Gleiche war, bekam.

Wildanger ging ins Haus. Beim Gehen warf er hin: 190

»Soll halt die Familie der Reihe nach sterben. Ich bin's zufrieden.«

Das stimmte nicht ganz. Zwar stimmte, daß er in seiner Wut und Angst oft und oft an den Tod Lisbeths dachte. An irgendeinen Tod. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Den trifft der Schlag, jener fällt sich zu Tode, ein dritter wird von einem Pferd zerfleischt, mancher stirbt im Bett, mancher auch wird ermordet.

Das dachte er jetzt wieder durch, während er sich in der Stube müde zum Tische setzte.

Ja, mancher wird ermordet! Und – – – mancher – – – mordet? Nein, das gibt es nicht. Solche kennt er nicht, die morden. Wer sollte Lisbeth morden? Er??

Er stand auf und sah rund um sich. Er sah die schöne geräumige Stube, die Kommode, in der Geld, Wertpapiere und Schuldscheine lagen, auch das Testament. Aber er sah noch mehr: den Hof, die Ställe mit Pferden und Kühen, die Felder. Wäre nicht diese lebendige, mannsstarke Person, das alles gehörte ihm.

Und wieder wanderten seine Gedanken zum Tod. Die ganze Familie stirbt weg. Zuerst die Mutter. 191 Dann der Konrad. Dann die Lisbeth. Und dann und zuletzt er selbst. Er selbst zuletzt. Aber die Lisbeth! Die stirbt nicht. Aber . . . man könnte doch, man könnte sie ja – – – Er sprach und dachte es nicht aus, sondern lachte. Er sollte die Lisbeth . . .? Er ist doch kein Mörder. Derlei Menschen gibt es in der ganzen Gegend nicht. Vielleicht in großen Städten. Vielleicht unter Verrückten.

Was hatte sie ihm denn getan? Sie hatten sich geschimpft und geschlagen. Früher schimpfte und schlug nur er im Haus. Damals war er, nun ja, damals war er glücklich. Jetzt schlug auch die Lisbeth. Und schimpfen konnte sie wie ein Heide, noch besser als er selbst.

Aber am nächsten Tag waren sie wieder gut zueinander. Am nächsten Tag war wieder Friede. Nur der dumme Michel wurde rot, als er ihn, Wildanger, sah.

Wildanger lachte. Er war klug geworden. Gegen die Lisbeth ließ sich nichts sagen. Die war eine, ein Kerl, ein Weibsbild wie wenige. Mit der mußte man sich verhalten oder – er überlegte lang – oder . . . sie ermorden! Als ob das so ginge, eins, zwei, drei! Er mußte ja froh sein, daß sie ihn leben ließ. 192

Dagegen Konrad – der starb also nun von allein. Der paßte auch nicht in dieses Haus. Ein Schwächling und Träumer, ein stolzes Stückchen Kalbfleisch. Der hatte sich gegen ihn aufgelehnt. Und er hatte sich ins Bockshorn jagen lassen. Warum eigentlich? Er verstand sich selbst nicht mehr.

Nach langem Nachdenken kam er dahinter: Damals hat die Welt angefangen, für ihn plötzlich anders zu werden. Seine Frau begann zu sterben. Die Lisbeth begann ins Haus zu kommen. Konrad begann krank zu werden. Das war's. Damals wäre er selbst fast auch krank geworden. Das war wie eine Seuche. Nun wird Konrad sterben und die Seuche ist vorbei. Lisbeth und er werden leben und arbeiten, sich schimpfen und schlagen. Er werde schon seinen Mann stellen.

Er setzte sich wieder an den Tisch und aß tüchtig. Wie zu Mutters Zeiten stand immer Essen auf dem Tisch. Eine gute Einrichtung, dachte Wildanger. Arbeiten muß sein und Essen muß sein. Und er aß für zwei.

Michel kam ins Zimmer. Der Bräutigam, dachte Wildanger lustig, der Hausbesitzer. Der dumme Konrad hatte doch recht: Ganz so wie damals. Nur: Michel war dumm und die Lisbeth tüchtig. Der 193 wird kein Hausbesitzer, der bleibt auch in der Ehe Knecht. Wildanger freute sich unbändig.

Michel setzte sich in eine Ecke.

Wildanger suchte nun das Gespräch über Konrad, das Michel draußen mit ihm begonnen hatte, fortzusetzen. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

Michel dachte:

Der trommelt den Tod herbei.

Wildanger klatschte die trommelnde Hand auf sein Knie:

»Ja, der Konrad!«

»So jung!«

»Er wird älter werden.«

»Er wird sterben!«

Michel stieß es rauh hervor. Draußen fuhr ein schwer beladener Wagen vorüber. Die Fenster klirrten davon.

In den Lärm hinein schrie Wildanger:

»Wo Leben ist, da muß auch Tod sein.«

Michel schrie hinüber, denn der Wagen rumpelte immer noch durchs Zimmer:

»Wir sind schuld an seinem Tod.«

Wildanger lachte laut auf. Der Wagen war vorüber und Stille im Zimmer. 194

Michel sprach nach einer Pause weiter:

»Wenn wir nicht so häßlich aneinander geraten wären, so hätte er sich nicht in die Nacht hinausgestürzt, der arme Kerl. Das war sein Tod.«

Lisbeth kam herein und legte ein paar Briefe auf den Tisch. Wildanger beachtete sie nicht.

Lisbeth sagte im Hinausgehen schluchzend:

»Konrad röchelt nur noch. Er ist von Sinnen.«

Es wurde wieder ganz still im Zimmer. Wildanger begann leise zu trommeln. Michel, traurig und in tiefster Verlegenheit, rieb sein lahmes Bein, das lang ins Zimmer gestreckt war.

Michel flüsterte fast:

»Man müßte eigentlich beten.«

Wildanger stand auf. Michel glaubte, er wolle beten, und stand auch auf. Aber Wildanger horchte nur angestrengt nach oben.

Michel dachte:

Er hört den Tod gehen.

Wildanger sagte, es sei Zeit hinaufzugehen, damit er nicht allein sei. Und er ging.

Michel blieb gelähmt stehen und meinte, Wildanger gehe dem Tod Konrads entgegen.

Die Angst vor diesem Haus packte ihn an. Er hatte 195 die tote Frau in ihrem Sarg liegen sehen, geholfen ihn zuzunageln.

Nun sah er die dicke Gestalt durchs Zimmer gehen, immer auf und ab. Und er sah Wildanger mit dem knöchernen Tod vor Konrads Bett stehen und Lisbeth dahinter. Und nun trat hinter Lisbeth die tote, dicke Frau, ein gelber Schatten, und hüllte alle in ihre Todesfarbe ein.

Er sank erschöpft in seinen Stuhl. Er suchte irgendwo Hilfe und Zuflucht. Er fand sie bei seiner alten Mutter. Das war ein armes, gekrümmtes Taglöhnerweibchen, fromm und bieder, mit immer sauberer Schürze, grauem Kopftuch. Die sah er zu Hause sitzen. Abends pflegte sie Gebete herzusagen und dabei zu gestikulieren, als ob sie sich mit irgend einem Unsichtbaren über einen sehr interessanten Gesprächsstoff unterhielte.

Michel fühlte sich weit fort von diesem friedlichen Bild und war unglücklich. Die Angst riß ihn wieder hoch. Er stampfte im Zimmer umher und begann auch, vom Tische Brocken wegzunehmen und zu essen. Von Zeit zu Zeit horchte er nach oben. Aber er hörte nichts.

Es war dämmrig im Zimmer und die Vorhänge bewegten sich leise. 196

Plötzlich durchriß ein furchtbarer Schrei Konrads die Stille. Michel glaubte, das Haus erbebe und das ganze Dorf müsse zusammenstürzen. Dann war es wieder ruhig.

Nach einer Weile schrie Lisbeth im Hof, so laut sie konnte:

»Michel, Michel!«

Er schlich hinaus. Er wunderte sich, daß es noch hell war draußen. Er hatte im Zimmer gemeint, es sei schon Abend und dunkel.

Lisbeth fuhr ihn an:

»Der Faulenzer ist für nichts gut. Stubenhocker brauchen wir keine.«

Michel wagte nicht nach Konrad zu fragen. Er ging mit grimmigem Fleiß an die Arbeit und ließ nicht ab, bis man ihn, nach Stunden, zum Abendessen rief. Es wurde schweigend eingenommen. Michel stand bald auf und ging rasch in den Hof und in seine Kammer.

Dort setzte er sich aufs Bett und machte sich Gedanken. Er war traurig und unglücklich. Die Furcht ließ nicht los von ihm. Die Furcht vor diesem Haus und vor Lisbeth.

Er wußte nicht, was mit Konrad war. Er entschloß sich, zu ihm zu gehen. Er schlich hinauf zu ihm. Als 197 er am Bette stand, sah er ihn mit offenen Augen leblos liegen. Die Augen beachteten ihn nicht. Michels Furcht stieg ins Ungemessene. Er wußte nicht: war dieser Mensch nun tot oder lebte er?

Er verließ, ohne den Blick von Konrad abzuwenden, das Zimmer. Während er die Treppe hinunterstieg, ging ihm ein Entschluß ein. Er rieb sich ununterbrochen das steife Bein.

Er ging in seine Kammer, nahm seinen Hut und verließ sie wieder. Das bißchen Wäsche und den guten Anzug, die er sich hier angeschafft hatte, streifte er noch mit einem bedauernden Blick. Als er im Hof stand, erinnerte er sich, daß in der Waschschüssel noch schmutziges Wasser von ihm war. Er ging zurück und schüttete es in den Hof und stellte die Schüssel wieder an den Platz.

Dann verließ er das Haus und das Dorf. Auf der Landstraße fiel ihm ein, was ihm Lisbeth von ihrer Dienstherrschaft erzählt hatte. Er beschloß bei den Leuten Arbeit zu suchen und ihnen alles zu sagen. Er war überzeugt, daß der alte Mann, der eine so schöne Rede gehalten hatte, ihn aufnehmen werde. Als er soweit war, legte er sich an einem Straßengraben nieder und schlief ein.

Am nächsten Tag war er in der Tat bei Lisbeths 198 Dienstherrschaft schon als Knecht gedungen. Er erzählte dem Alten, was er im Hause Wildanger erlebt hatte. Der schüttelte, nichts verstehend, den Kopf.

Lisbeths Kinder waren noch im Haus und heulten den ganzen Tag nach ihrer Mutter. Abends nahm sich Michel ihrer an und brachte sie alle ins Bett, als ob er ihr Vater wäre. 199

 


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