Hermann Sinsheimer
Peter Wildangers Sohn
Hermann Sinsheimer

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Konrad erfuhr von Lisbeth, was vorgefallen war. Er freute sich und gab Michel Steinert die Hand. Im stillen dankte er der toten Mutter, daß sie auch das so gefügt habe. Als Lisbeth bei Tisch, wobei auch auf ihr Geheiß Michel zugegen war, erklärte, sie werde noch acht Tage im Hause bleiben und sie habe deswegen und insbesondere auch wegen ihrer Kinder an ihre Dienstherrschaft geschrieben, da wurde Konrad ganz glücklich.

Er verließ das Haus und schlug sich in die Felder. An Arbeit war kein Gedanke mehr bei ihm. Er blickte auf Arbeit und Ernte wie auf etwas Gewesenes. Auch die Menschen waren ihm fern und gleichgültig. Manchmal, wenn einer ihn anredete, sah er ihn durchdringend an und stellte die Frage an sich selbst: »Ist dieser einer von denen, die dem Geist sich erschlossen haben?« Von manchen hatte er die heimliche Zuversicht, daß sie es getan hätten. 158

Die Leute im Dorfe merkten bald Konrads verändertes Wesen: sein Schauen, sein Nachdenken, seine prüfenden Blicke.

Manche sagten: Der wird schon alt, wie sein Vater. Andere: Der sieht einem schon in den Geldbeutel. Wieder andere: Der Tod seiner Mutter hat sich ihm aufs Gemüt geschlagen. Die ganz Schlauen: Der wird ein Bummler und Nichtstuer und macht ein wichtiges Gesicht.

Konrad aber verlebte Tage des glücklichen Beruhens in sich selbst. Die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens tat er wie im Schlaf. Sein Gesicht war heiter und doch verschlossen. Er lächelte vor sich hin wie ein ewig spielendes Kind. Er war wieder ein Kind. Er hatte einen neuen Anfang gefunden. Jenseits lag das böse Leben unter der Gewalttätigkeit seines Vaters. Jenseits lag seine Auflehnung gegen den Vater, seine Verachtung der Mutter, sein Versuch, der Lisbeth zu helfen.

Das alles war für ihn jetzt wesenlose Vergangenheit. Er fühlte, daß er nichts mehr für oder gegen die Menschen tun könne. Er hatte nur noch Fragen und wieder Fragen an einen Geist, an einen Gott, an ein Höheres, Waltendes, an ein Müssen in den Menschen. 159

Sein dünnes Selbst war zerflossen in ein kleines entselbstetes Etwas, in ein ruhiges, friedliches Suchen nach Menschlichkeit und Menschheit. Er suchte in den Menschen, er suchte in den Pflanzen und Tieren, er suchte in den Büchern. Seine Schulbücher wurden ihm lächerlich, weil sie eifervoll hinter Dingen her waren, die ihm nichtig erschienen. Er verlachte Cicero, er verlachte Homer.

Eines Abends kam er, leicht müde vom Herumgehen, aber wach vom Grübeln und Fragen, nach Hause. Es war schon dunkel und er ging in einer Unruhe, die ihn plötzlich aus den Ecken und Winkeln des Hauses heraus überfallen hatte, im Hof umher. Vielmehr: er schlich umher und dachte, dieser Abend, dem sich die Sterne und jedes andere Licht versagt hatten, müßte ihm noch eine Aufklärung, eine Gewißheit geben, von der sich leben ließe, von der sich zum dritten Male neu und noch schöner leben ließe. Denn das war seine Sehnsucht, die er nicht kannte und nannte: immer wieder sich zu erneuern, in Freiheit des Denkens und Fühlens sich immer wieder umzuschaffen, sich zu erhöhen.

Er hörte überallher Geräusche – Geräusche eines Lebens, das sich von ihm nicht wahrnehmen ließ. Er fühlte sich daneben stehen. Eine kleine 160 wohltuende Verzweiflung tauchte in ihm auf. Er wurde frisch und von lebendigem Willen durchwogt. Er hätte gerne gesungen. Etwa das Lied: »Alles neu macht der Mai«.

Er setzte sich im Schuppen auf eine Bank, lehnte sich weit zurück und streckte die Arme auf der Lehne weit aus, so daß er mehr lag als saß. Er hörte Kichern aus dem Stall, seltsam erregend. Nach einer Weile sprang die Stalltüre auf und Michel Steinert huschte heraus. Konrad erkannte ihn an seinem lahmen Bein. Sonst sah er nichts von ihm.

Michel blieb stehen und horchte in den Stall hinein. Konrad verkroch sich noch mehr in die Bank. Sein Kopf lag hintenüber.

Dann kam Lisbeth heraus und steckte ihr Haar auf. Konrad sah das alles nun ganz scharf, wie wenn es mit einem Male hell geworden wäre.

Lisbeth und Michel berührten sich zärtlich. Plötzlich stieß Lisbeth einen heißen Laut aus und fiel über Michel her. Konrad hörte küssen und es war ihm, als ob die beiden miteinander kämpften. Dann sah er, wie Lisbeth den leicht widerstrebenden Michel wieder in den Stall zog. Dann war große Stille. Konrad meinte, er sei taub geworden.

Er erhob sich und ging an die Stalltüre. Er suchte 161 nicht zu lauschen oder zu spähen. Er stand da und besah die Türe. Von innen drangen Geräusche des fressenden Viehes heraus. Diese tierischen Laute taten ihm wohl.

Er war jetzt sehr schwach und ging in sein Zimmer hinauf. Dort saß er, die Arme auf den Knien, eine Stunde und mehr und tat nichts und dachte nichts und war sehr traurig. Er weinte auf. Das Blut stockte ihm in den Adern wie gekühltes Blei. Er machte manchmal Bewegungen mit dem Kopf, wie wenn er etwas verneinen wollte, wie wenn er alles verneinen wollte.

Er spürte, daß er trotz des Hochsommers kalte Füße hatte. Er bewegte sie im Takt und meinte nun zu gehen, immer nur zu gehen – irgendwohin, wo niemand und nichts war.

Dann hörte er Geräusch vor der Tür und ein leichtes Husten. Daran erkannte er die junge Magd. Er hörte sie auch die Speichertreppe hinaufgehen, wo sie in einer Kammer schlief. Die ältere Magd war vor Lisbeth schon vor ein paar Tagen aus dem Hause geflohen.

Ach, dachte Konrad, dieses kleine Mädchen ist ja auch noch da. Es war ihm nicht bewußt, daß er sie die ganzen Tage her je gesehen hatte. Er verfolgte sie: 162 nun ist sie in der Kammer, nun entkleidet sie sich und singt dabei, nun tritt sie ans Dachfenster und schließt es, weil ja in der Nacht Regen kommen kann, der sonst schnurgerade auf ihr Bett fallen müßte. Nun liegt sie und zieht die Decke über sich. Nun fallen ihr auch schon die Augen zu.

Konrad stand auf und ging, nicht einmal rasch, die Speichertreppe hinauf vor ihre Kammer. Er stand wie ein Unbeteiligter davor, aber schwach und zum Umfallen schläfrig. Nur seine Augen standen weit offen.

Nach einer Weile klopfte er. Drinnen fuhr die Magd auf. Er klopfte noch einmal.

Das Mädchen rief mit heller Stimme:

»Wer ist draußen?«

Konrad nannte leise seinen Namen. Er hörte das Mädchen kichern. Dann blieb es eine halbe Minute still.

»Ich mache nicht auf, und wenn der Kaiser von Deutschland draußen steht.«

Dann blieb es wieder still. Konrad blieb stehen.

Plötzlich wurde die Türe geöffnet und die Magd stand vor ihm und lachte:

»Es war gar nicht zugeriegelt.«

Konrad wußte nichts zu sagen. Er blieb stehen und 163 starrte das Mädchen an. Es war sonst, wenn man sie im Hause sah, ein schmutziges unordentliches Ding. Nun aber stand sie weiß und rein da. Wie ein Engel, dachte Konrad. Er erinnerte sich nicht, je so etwas Schönes gesehen zu haben. Ihr Haar lag wie ein verschwenderischer Schmuck lose um ihren Kopf und ihre Schultern. Ueber Konrad kam ein Gefühl der Ehrfurcht vor dieser Erscheinung.

Um etwas zu sagen, fragte er:

»Wie heißt du eigentlich? Ich habe deinen Namen vergessen.«

Ihr Name fiel ihm in der Tat nicht mehr ein, obwohl er ihn täglich oft gehört und selbst ausgesprochen hatte. Sein Gedächtnis verließ ihn, weil ihn Jede bisherige Vorstellung von diesem Wesen verlassen hatte.

Sie fand seine Frage natürlich höchst sonderbar und antwortete mit hoher, zirpender Stimme:

»Ich heiße auch Lisbeth.«

Konrad riß die Augen wie vor etwas Neuem auf. Das Dachfenster in der Kammer war in einer schiefen Wand, durch die er den Himmel sah. Und das Mädchen stand ihm im Rahmen des Fensters wie zum Himmel gehörig. Er sagte nichts. 164

Da nahm das Mädchen die Türe und schickte sich an sie zu schließen. Sie sagte:

»Mir wird's kalt. Ich muß zumachen.«

Sie meinte Konrad würde sie daran hindern. Aber er tat nichts dergleichen und die Türe klinkte ein.

Konrad blieb stehen und fühlte, daß das Mädchen wie vorher hinter der geschlossenen Türe stand. Er sah sie noch immer vor sich stehen, weiß, rein, ein Engel, eine Erscheinung.

Der Riegel wurde geräuschvoll vorgeschoben. Das schreckte ihn auf; er wandte sich zum Gehen.

Dabei ging ihm durch den Kopf: »Auch Lisbeth! Auch Lisbeth.« Ob wohl Lisbeth auch so war, so weiß, so rein, so wie ein Engel? Er dachte heftig an Michel Steinert und faßte eine Abneigung gegen ihn.

Er ging an seinem Zimmer vorbei und stieg die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer hörte er Stimmen. Er trat ein. Am Tisch saßen Lisbeth und sein Vater über einen Haufen von Papieren.

Sie beachteten ihn kaum. Lisbeth sagte nur:

»In der Küche steht Essen für dich, Konrad. Du kannst doch vom Latein nicht satt werden, Kerlchen.« Er setzte sich, ohne ihr etwas zu antworten, auf einen Stuhl im Hintergrund. 165

Wildanger und seine Tochter aber hatten sich zusammengetan, um Lisbeths Anteil an der mütterlichen Erbschaft auszurechnen. Lisbeth war es zufrieden, daß ihr Erbteil in Geld ausbezahlt werden solle. Aber sie wollte sofort Klarheit über die Höhe des ihr zukommenden Betrages haben.

»Wir brauchen keinen Notar und keinen Richter. Ich habe selbst meine fünf Sinne und kann sehen, was mir gehört und was nicht« – hatte sie gesagt. Sie saß aufrecht und breit am Tisch, besah sich jedes Schriftstück und prüfte jede Behauptung ihres Vaters und rechnete jede seiner Aufstellungen nach. Wildanger war geschäftig wie ein kleiner Angestellter von ihr. Sein böses Gewissen hielt ihn in Angst. Aber je sicherer er wurde, daß Lisbeth vom Testament der Mutter keine Ahnung hatte, desto freudiger schob er ihr bei der Rechnungsstellung einige Vorteile zu.

Die beiden verstanden sich, mußte man zugestehen, wenn man ihnen zuhörte.

Dem verzauberten Konrad aber ging die Geschäftigkeit der beiden bitter ein. Vor seinen Augen schimmerte noch die helle Erscheinung der jungen Magd. Sie wollte er hier in der Luft des Todes, im Bannkreis der Mutter aufs neue genießen und sah sich 166 zurückgestoßen und gehindert durch die beiden Rechner. Die waren, nein, die waren nicht reif für die Reinheit und die Erscheinung des Geistes. Leichen, Leichen, Leichen – dies Wort kam ihm wieder in den Sinn und polterte ihm geradezu auf die Zunge, so daß er die Lippen zusammenpressen mußte, um es ihnen nicht ins Gesicht zu schreien.

Er war erschüttert von der Enttäuschung über Vater und Schwester, die im Angesicht des Todes schon wieder rechneten, die einen Handel abschlossen, während er fühlte, wie seit Tagen, seit dem Tod der Mutter der Himmel zu ihm niederschwebte.

Er sagte sich: »Die Mutter und ich leben. Die beiden da sterben jeden Tag ihren gewohnten Tod.«

Und er mühte sich ab, die beiden weit von sich zu schieben und rührte in seinen Gedanken alles an, was ihn von dem Vater und der Schwester und was die beiden unter sich trennte.

»Oh, ganz gewiß,« sagte er sich, »ist die Lisbeth nicht so rein, so weiß, so hell wie das Mädchen in der Dachkammer.« Er entkleidete die Schwester mit den Augen und sah sie dick und rund vor sich stehen. Das war eine für Michel Steinert, eine Dienstmagd. Die oben aber war ein Engel, eine Gottesmagd. 167

Diese Gedankengänge gefielen ihm sehr. Er roch förmlich, wie Lisbeth nach dem Stall duftete, und der Ekel vor ihr schüttelte ihn. Die da oben aber roch – ja, nach wem roch dieses Mädchen eigentlich? Er besann sich nicht allzulange, bis er zu dem Ergebnis kam: dieses Mädchen roch nach – Gott.

Konrad wurde bei diesem Gedanken über und über rot wie ein Knabe, der sich vor etwas Unbekanntem schämte. Er war tief verlegen vor sich selbst. Um diesem Gefühl zu entrinnen, verrannte er sich wieder mit feindlichen Gefühlen in die beiden am Tisch.

Da blitzte ihm eine Erinnerung auf. Er hatte einmal gehört, daß sein Vater als Knecht ins Haus gekommen sei, so wie jetzt Michel Steinert, und ehe ihn die Ueberlegung daran hinderte, sagte er laut und fast freudig:

»Das ist doch komisch. Erst warst du, Vater, Knecht im Haus und hast unsere Mutter geheiratet. Und jetzt ist Michel Steinert Knecht und heiratet die Lisbeth.«

Wildanger und Lisbeth schraken schon beim Klang seiner ganz hart gewordenen Stimme aus ihrer Arbeit auf. Als sie nun aber den Sinn seiner Worte begriffen, da lachte Lisbeth herzlich auf, Wildanger erstarrte vor Schreck. Er dachte sofort daran, daß das 168 Haus ja eigentlich schon der Lisbeth und diesem lahmen Knecht gehöre und daß sie ihn, wann sie wollten, hinauswerfen könnten.

Alles drehte sich um ihn, alles blutete in ihm. Seine Herrschsucht, sein Geiz, sein Haß gegen Lisbeth, seine Erbitterung über seine Frau – das riß ihn über sich selbst hinaus und er schmiß sich über den Tisch, schlug auf die Papiere, zerriß und zerfetzte sie und schrie dabei wie ein Tier.

Lisbeth hatte sich rasch gefaßt, sprang auf, riß den Vater zurück und warf ihn, als er sich wehrte, nun selbst in Zorn geratend, zur Türe hinaus.

Das alles geschah in wenigen Sekunden. Lisbeth ging, keuchend von der Anstrengung, zum Tisch zurück. Während sie daran ging, die Papiere wieder in Ordnung zu bringen, versuchte sie schon wieder, über ihre Atemlosigkeit hinweg zu lächeln. Lächelnd und wie eine Siegerin sah sie zu Konrad hin, der sich an seinem Stuhl halten mußte, um nicht zu Boden zu fallen.

Es war totenstill im Zimmer. Konrad aber glaubte, die ganze Hölle kreische und tobe auf ihn ein.

Lisbeth wollte gerade den Mund auftun, um etwas zu sagen, da erhob sich im Hof ein Lärm. Beide eilten hinaus und sahen, wie Wildanger den Michel 169 aus der Knechtkammer, die neben dem Stall lag, herauszerrte, auf ihn einschlug und ihn zu Boden zu bringen versuchte. Dabei goß er eine Flut der häßlichsten Schimpfworte über ihn aus.

Michel, nur notdürftig bekleidet, wehrte sich kaum. Er sah aus, als ob er träume und den Sinn des bösen Traumes zu erfassen suche.

Konrad preßte sich vor diesem Anblick hart an die Haustüre und hätte aufschreien mögen vor Schmerz. Jeder Schlag, jedes Wort seines Vaters traf ihn zu Tode.

Lisbeth aber stürzte sich wie eine Wilde auf den Vater. Der Lärm wurde noch lauter. Lisbeth und ihr Vater schlugen aufeinander ein. Michel Steinert stand dabei und weinte wie ein Kind.

Konrad rannte fort zum Hof hinaus. Wie im Traum sah er, daß Nachbarn herbeieilten, und daß sie ihm kichernd nachglotzten, während sie auch schon das Schauspiel im Hof genossen.

Während Konrad so davonlief, hatte er, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ein Ziel: Karla Birn. Aber das Schulhaus, vor dem er bald keuchend stand, lag ganz im Dunkeln. Konrad suchte es in seiner ganzen Höhe und Breite vergebens nach einem Lichtfünkchen ab. 170

Er stand davor mit heißen Augen, die vom Haus zum Himmel und vom Himmel zum Haus wanderten, – ein ratloses verirrtes Kind.

Der Himmel hing schwarz und niedrig über den Häusern.

In Konrads Ohren brauste das Blut. Er hörte fernes Geschrei. Das wuchs und wuchs und füllte die ganze Straße aus, schlug gegen die Fenster und Türen der Häuser, schlug zum Himmel auf, tobte durch die Lüfte, donnerte am Boden hin und machte alles erbeben. Konrad stand, ein kleines Nichts, mitten in diesem rasenden Geschrei. Er hielt sich mit den steif ausgestreckten Armen am Zaun des Schulhofes. Sein Kopf stak tief in den Schultern.

Er fühlte sich sehr schwach. Es fiel ihm ein, daß er sehr lange nichts gegessen habe. Leise und kindlich sagte er:

»Ich habe Hunger.«

Das Geschrei tönte ferner und ferner und verebbte vollends. Es wurde einige Augenblicke ganz still in Konrad, dann huben Kinderstimmen zu singen an und eine Geige fiel ein. Es war nicht mehr dunkel um ihn. Der Himmel wölbte sich groß und weit über den Giebeln der Häuser. Konrad reckte und streckte sich. Er hob seine Hände zum Himmel und wurde 171 froh, daß es Nacht war, daß er allein war und daß kein Licht diese große Dunkelheit vernichtete, die ihm nun ganz voll war von Helle und fließendem Leuchten.

Er trat in den Schulhof – die Türe war offen – und er betrat das Schulhaus – auch diese Türe war offen – und er betrat durch die wiederum offene Türe den Schulsaal der Karla Birn. Neben dem Schrank hing ein Schlüssel. Mit diesem öffnete er und nahm die Geige heraus.

Er trat an das Lehrpult, setzte die Geige an und wollte spielen. Da fiel ihm ein, daß er ja gar nicht spielen könne. Er wurde sehr traurig darüber und verschloß die Geige wieder.

Nun ging er um die Bänke der Kinder herum, setzte sich manchmal hin und war bald Karla Birn, bald Schüler.

Dann öffnete er wieder den Schrank und sah darin jene silbergraue Schürze, die Karla Birn trug, als er ihr den Tod seiner Mutter mitteilte. Er strich zärtlich über die Schürze und vergrub sein Gesicht in ihr.

In das Schulzimmer brach ein dünnes Bündel Lichtstrahlen ein. Draußen fuhr ein Lastwagen, an dem zwei Lichter hingen, dumpf vorüber. Der 172 Boden des Schulzimmers rollte unter den Rädern leise mit.

Konrad ging nun hinaus und stieg die Treppe zur Wohnung der Karla Birn hinauf. Er klopfte bei ihr an. Sie rief ihn gedämpft herein. Er trat ein. Sie lag wach im Bett. Eine Wachskerze brannte klein neben dem Bett.

»Ich bin krank,« sagte sie. »Ich habe sehr an Sie gedacht, Konrad.«

»Karla, das ist schön, daß Sie zu mir Konrad sagen.«

»Ich habe immer leise Konrad gesagt und laut: Herr Wildanger. Haben Sie das nie gehört?«

»Ich will nie mehr Wildanger genannt werden. Wildanger heißt Teufel. Du hast einen so schönen Namen – Karla Birn.«

Er wiederholte den Namen mit träumender Stimme mehrere Male. Sie lachte vor Glück leise dazu. Konrad meinte, er singe diesen Namen und ihr Lachen sei der Geigenton dazu.

Karla Birn sagte:

»Du hast mich du genannt. Das macht mich gesund.«

»Warum bist du krank?«

»Ich bin krank, weil ich nicht weiß, wer ich bin und was ich soll.« 173

»Auch ich bin krank.«

»Warum?«

»Weil ich achtzehn Jahre in einer Hölle gelebt habe. Aber ich wußte es nicht.«

»Ich habe überhaupt noch nicht gelebt. Und wußte immer, daß ich nicht lebe.«

»Auch du« – sagte Konrad lächelnd – »eine Leiche.«

»Wie können wir zum Leben erwachen?«

Konrad sah den Gekreuzigten über Karlas Bett hängen. Die unruhige Flamme der Kerze gespensterte darüber hin. Konrad genoß freudig diesen Anblick.

Er deutete auf das Kruzifix und sagte:

»So können wir zum Leben erwachen.«

Karla Birn richtete sich jäh im Bett auf und sah, auf ihre Arme gestützt, auf das Kreuz.

Sie fragte erschrocken:

»Was ist das?«

Konrad fiel am Bett nieder und sagte kaum hörbar: »Das sind wir.«

Die Kerze war zu Ende gebrannt. Sie flackerte einige Male groß auf, so daß es um den Gekreuzigten hell aufleuchtete und erlosch. Es war nun völlig dunkel im Zimmer. Karla und Konrad hörten nur ihr eigenes gespanntes Atemholen. 174

Konrad hob den Kopf und sah in der Dunkelheit Karlas Arme und Gesicht leuchten. Nach einer Weile sah er auch ihre Augen, die wie zwei matte Sterne im Dunkel schwammen. Er starrte sie an wie ein Rätsel. Da fiel ihm das Buch ein, aus dem sie ihm vorgelesen hatte.

»Lies mir doch wieder aus dem Buche vor.«

Sie klagte:

»Ich habe es nicht mehr. Ich habe es verbrannt. Es ist mir so lästig geworden. Ich habe es nicht verstanden.«

Konrad schnellte auf die Beine.

»Verbrannt? Dieses Buch? Was sollen wir jetzt tun?«

Seine Stimme klang rauh und kurz. Seine Zunge war schwer.

Er besann sich, während ihm sehr heiß wurde, auf die Worte, die er damals gehört hatte, wie auf ein verlorenes Gut. Karla sank in die Kissen zurück. Langsam und feierlich begann Konrad zu sprechen: »Der Geist des Herrn kommt von oben und wirket wo und wie und wann er will bei denen er kein Hindernis findet. Das sind die Kinder Gottes. Auf! Herzensfreund, tue dein Selbst ab, damit du das höchste Gut gewahrest.« 175

Karla hatte, während Konrad sprach, ihren Kopf erhoben. Nun sagte sie:

»War das so schön damals? Nun weiß ich es. Nun bin ich glücklich.«

Draußen hatte sich ein Wind erhoben und fegte hoch über den Häusern hin. Es wetterleuchtete manchmal.

Konrad setzte sich zu Karla ans Bett und sagte furchtsam:

»Es kommt ein Wetter.«

Er hatte Angst vor diesem Wetter, weil er die Stille wie einen schützenden Mantel empfand.

Karla zog ihn leise zu sich. Sein Kopf lag neben ihrem. Er legte seine zitternde Hand auf ihre Brust und wagte sich nun nicht mehr zu rühren.

Er dachte an die junge Magd und wußte, daß sie nun neben ihm liege, noch reiner, noch weißer. Er meinte, daß der Himmel zu ihm gekommen sei, und war froh darüber.

Seine Gedanken stiegen aus der Glückseligkeit, die ihn umfing, auf und begriffen sein Leben und seine Welt in sich.

Er begann laut und einfach zu erzählen. Er erzählte, was heute zu Hause geschehen war und wie er früher mit dem Vater gekämpft habe und daß seine 176 Mutter habe sterben müssen, um diese ganze Hölle aufzurühren und zu vernichten.

Draußen war nun das Wetter gekommen. Es regnete und hagelte. Und es blitzte und donnerte.

Die Donnerschläge krachten gegen das Haus, daß es zitterte. Der Regen war so heftig, daß beide seine Nässe und Kälte spürten und meinten, es regne ins Zimmer hinein.

Sie rückten immer näher zueinander und umschlangen sich endlich. Karla Birn weinte. Sie erlebte nun ihren kleinen Jungferntraum und hielt das große Glück, das bisher unerreichbar vor ihr hergetanzt war und sie genarrt hatte, in ihren Händen.

Konrad wühlte in ihrem dünnen Haar, das wie spröder Flachs durch seine Finger glitt.

In beiden war eine Entbundenheit, die nichts davon wußte, ob sie ein Anfang oder ein Ende ist. 177

 


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