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Die nächsten Tage verliefen im Hause Wildanger so geräuschlos wie keine zuvor. Der alte Wildanger hatte an der rechten Backe eine große Kratzwunde, die, da er nichts dagegen tat, eitrig verschorft war.
Konrad sah oft nach der Wunde heimlich hin und verfolgte sachlich und ohne Angst ihre sehr langsame Heilung. Der Alte behandelte ihn, als ob er nicht da wäre, und vermied es auch, mit ihm zusammen am Tische zu sitzen.
So kam es, daß Mutter und Sohn nun allein aßen. Der Vater aß bald in der Küche, bald im Feld; manchmal ließ er sich sogar sein Essen in den Stall bringen.
Oft nahm er sich vor, von neuem über Konrad herzufallen. Aber dessen Ruhe und Sicherheit machten ihn selbst unruhig und unsicher.
Je weniger ihr Mann im Wege war, desto 106 mehr nahm bei der Frau die Beweglichkeit zu. Sie mußte dies und jenes, worum sich Peter Wildanger früher gekümmert hatte und sich jetzt nicht mehr kümmerte, besorgen.
Es kamen sogar Leute, die Geld brachten und trafen den alten Wildanger nicht an. Da mußte ihn dann die Frau vertreten.
Das heißt: Sie mußte ihre Brille holen. Sie mußte Tinte, Feder und Papier holen. Sie mußte schreiben. Sie mußte ein paar Worte reden. Sie mußte das Geld verwahren. Und sie mußte in ihres Mannes Buch eine Notiz über den Empfang des Geldes eintragen.
Das war viel, viel Arbeit für sie. Konrad merkte das und war trotzdem nicht bemüht, ihr die Mühe zu erleichtern. Er hockte in seinem Zimmer vor einem Buch und starrte in die Luft. Das Haus verließ er kaum noch.
Wildanger merkte, wie seine Frau langsam in Tätigkeit und Bewegung kam. Was war das? Das war auch Auflehnung gegen ihn! Er besann sich, was er dagegen tun solle. Aber es waren kaum acht Tage seit dem Streit zwischen ihm und Konrad verflossen, da konnte man Frau Wildanger nicht 107 selten sogar im Hof sehen und Wildanger schlich bedrückt im Haus herum.
Ohne daß sie es selbst merkte, lockte sie diese oder jene kleine, aber notwendige Arbeit immer wieder aus ihrer Ecke hervor. Die Einsilbigkeit Wildangers zwang auch die Mägde und Arbeiter, sich an die Frau zu wenden. Sie hatte bald den ganzen Tag zu reden, zu werkeln, zu sorgen. Und es tat ihr nicht leid. Denn so konnte sie ihre Angst um ihren Mann und Konrad etwas beschwichtigen.
Ja, der alte Wildanger hatte viel den Tag über geredet, gewerkelt und gesorgt. Er hatte Wasser getragen, er hatte Holz gespalten, er hatte den Hof gekehrt, er hatte Gänge gemacht, Verhandlungen geführt, Bestellungen aufgegeben und Verträge geschlossen.
Nun war er wie eine eingerostete Maschine. Bisher war er der Arbeit nachgelaufen. Jetzt ließ er sie an sich herankommen. Meist war er draußen im Feld und arbeitete neben den Taglöhnern.
Bisher beschäftigten tausend kleine Verrichtungen und Planungen seine Gedanken. Jetzt war er nur noch von einem Gedanken besessen: von dem Gedanken an Konrad. Von dem Gedanken an diesen Knaben, an diesen Feind, an diese Gefahr. 108
Der zählt erst achtzehn Jahre, sagte er sich. Und trotzt mir. Der wird bald zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt sein. Und was wird er dann tun? Wie wird er mich dann schlagen, unterjochen und austreiben? Was dann kommen werde, kommen müsse, malte sich der kleine Mann in den dunkelsten Farben aus.
Er sah Konrad als eleganten jungen Mann am Bahnhof ankommen und sich selbst vor ihm knixen und dann das feine Gepäck hinter ihm hertragen. Er sah ihn mit gelassener Hand die Kommode öffnen, in dem das Geld, die Wertpapiere, Schuldscheine und Sparkassenbücher lagen, und er sah ihn von diesem Reichtum nehmen, soviel er Lust hatte.
Er hörte ihn befehlen, ermahnen und strafen.
Kurz: er hatte sich selbst so leidenschaftlich als unumschränkten Herrn des Hauses gefühlt, daß er von der plötzlichen Auflehnung Konrads die größte Gefahr für seine eigene Zukunft befürchtete.
Das machte ihn schwach und stumpf. Die Angst vor seinem Sohn befiel ihn wie eine schwere Krankheit. Er dachte nicht daran, was alles der Junge von ihm erlitten hatte. Er zählte nur auf, was der Junge ihm schon angetan zu haben schien. Er dachte 109 an die Szene vor dem Richter und an das selbstherrliche Tun und Lassen Konrads in den letzten Wochen.
Bei solchen Gedanken kam der kalte Schweiß über ihn. Er fühlte sich verfolgt und getreten, wie einst in der Jugend, als er, der Bankert einer armseligen Taglöhnerin, sich sein bißchen Brot zusammenbetteln mußte. Diese bittere Vergangenheit, die er längst ausgelöscht glaubte, stand plötzlich als Gegenwart und Zukunft vor ihm.
Was tun? Was tun? Nichts oder alles, dachte er. Den Sohn vertreiben oder sich selbst von ihm treiben oder gar vertreiben lassen.
In solchen Augenblicken der Entschlußlosigkeit blieb ihm nichts erspart: sein Unrecht an Lisbeth und das Unrecht, das er seiner Frau tat, fiel ihm ein. Was tun? Was tun?
Er kam zu keinem Entschlusse. Er fing schon an, sich vor seiner Frau, vor ihrer Beweglichkeit und Tätigkeit zu fürchten. Er begann schon, zwei Todfeinde im Hause zu sehen.
Da kam ihm der Gedanke, zum Vormundschaftsrichter zu fahren und diesem ruhigen, erfahrenen Mann sein Leid zu klagen. Nicht, als ob er sich davon einen Erfolg versprochen hätte. Aber er 110 verstand sich selbst und seine Furcht so gar nicht, daß er das Bedürfnis hatte, sich von jemandem aufklären und beruhigen zu lassen.
So fuhr er denn an einem kühlen Regentag in die Stadt.
Als er vor dem freundlichen Richter stand, wurde er verlegen. Der Richter fragte ihn, wie man einen alten Bekannten fragt, nach dem Grund seines Erscheinens im Amt.
Was der Herr Wildanger denn Gutes bringe. Er freue sich, ihm zu Diensten sein zu können. Er fahre morgen in Urlaub, da tue er vorher gerne noch etwas Rechtschaffenes.
Wildanger fand keine Worte. Er sah verwirrt über die Akten hin, die der Richter heute besonders hoch aufgestapelt hatte, um seinem Vertreter eine Freude zu machen.
Ob etwas vorgefallen sei in der Familie, fragte der Richter weiter.
Wildanger nickte stumm. Dann starrte er wieder dumm vor sich hin. Inzwischen studierte der Richter das Kursbuch.
Wildanger fragte plötzlich stockend, wohin denn der Herr Oberamtsrichter reisen wolle.
»Ans Meer, mein Lieber, ans Meer,« antwortete 111 der Richter. »Die Sorgen von mir abspülen und den Aerger und allen sonstigen Dreck.«
»So etwas hätte man auch sehr nötig,« flüsterte Wildanger.
»Fahren Sie mit, mein Lieber. Sie sind ja trotz Ihrer vier unehelichen Enkeln ein gemachter Mann. Wie gehts denn den Kleinen? Und wie dem Herrn Sohn?!«
Das war das Stichwort für Wildanger. Wie ein aufgeregter Schauspieler, der mit seiner Rolle nicht ins Reine gekommen ist, begann er wirr zu erzählen und aufzusagen, was er auf dem Herzen hatte. Der Richter war ans Fenster getreten, die Hände über der Brust verschränkt und ein wenig lächelnd. Ein wenig lächelnd trat er, als Wildangers Redestrom versiegt war, vor das kleine Männchen hin und sagte vergnügt, jedes Wort ins Lustige ziehend: »Soll ich vielleicht Ihrem Herrn Sohn die verdienten Prügel geben?«
Wildanger sah ihn hilflos an.
»Oder soll ich ihn mit ans Meer nehmen und ihn wie eine junge Katze ersäufen?«
Wildanger tat, wie wenn er nichts hörte.
»Oder ist denn mein Freund Wildanger ein Narr, 112 daß er nicht einmal selbst wüßte, was er da zu tun hätte.«
Nun sah Wildanger mit großen Augen auf, griff sich an den Kopf und sagte sehr mühsam:
»Vielleicht, Herr Richter, bin ich ein Narr. Ich hab's immer schwer gehabt im Leben.«
Nun machte der Richter, die Hände in den Hosentaschen, einen vergnügten Rundgang durchs Zimmer, und da er dabei wieder so recht einen Ueberblick bekam über die vielen unerledigten Akten, wurde seine Stimmung noch aufgeräumter.
Er blieb wieder vor Wildanger stehen:
»Ihr Sohn ist so einer wie Sie. Ein Harter, ein Knöcherner, ein Mordskerl. Freuen Sie sich und prügeln Sie ihn, bis er nicht mehr stehen kann.«
Da brachte ein Schreiber zehn Zettel mit der Aufschrift »Sehr dringlich!« herein. Die legte der Richter in die zehn dicksten Aktenbündel und pfiff dazu: »Auf in den Kampf, Torero!« Dann stand er wieder am Fenster, rasselte mit seinen Schlüsseln und sah einer großen Mücke zu, die sich aus dem Regen ins Zimmer gerettet hatte.
Wildanger griff nach seinem Hut, der auf einem Stuhl lag, und schickte sich an fortzugehen. 113
Da überkam den Richter sein Ferienübermut. Er trat hart vor Wildanger und sagte pfiffig:
»Holt doch Eure Tochter Lisbeth zu Hilfe. Die wird mit jedem Mannskerl fertig. Vollends mit ihrem Brüderchen.«
Das traf Wildanger wie ein Schlag, er bedankte sich und ging hastig.
Draußen sah er mehrere Male aufgeregt zurück, wie wenn er Angst hätte, der Richter komme ihm nach und wolle ihm noch einen Rat dieser Art geben.
Er konnte es nicht erwarten, bis der Zug zurückfuhr. Er hatte noch eine Stunde Zeit. Diese benutzte er dazu, um zu einem halben Dutzend Bekannten zu laufen und seinen Sohn und seine Frau bei ihnen anzuklagen. Man hielt ihn für verrückt. In X. angelangt, sprang er aus dem noch fahrenden Zug heraus, lief ohne Gruß am Vorsteher vorbei und nach Hause. Hier ging er in den Stall und legte sich dort, ohne erst seine sonntägliche Kleidung abzulegen, nieder.