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Viertes Kapitel.
Von den idealen Forderungen.

Es ist auf diesen Blättern von den Begriffen, den logischen Normen, den Naturgesetzen die Rede gewesen, die zwar den Inhalt des richtigen Erkennens bilden, aber eben deshalb dem wirklichen psychologischen Vorstellen gegenüber eine selbständige Objektivität besitzen, die sich nicht in den gewöhnlich anerkannten Existenzarten, der physischen und der psychischen, unterbringen läßt. Und darum besteht, trotz der selbstverständlich unermeßlichen Bedeutung für das Vorstellen, die diese Inhalte seiner Wahrheit besitzen, eine tiefe innere Fremdheit zwischen ihnen und jenem. Das Vorstellen läuft ab, mögen seine Inhalte mit dem objektiven Geist übereinstimmen oder nicht, die Inhalte des »dritten Reiches« bewahren ihre selbstgenugsame Geltung, mögen sie sich in Seelen realisieren oder nicht. Jedes der beiden Gebiete weiß sozusagen nichts vom andern und ist vom Prinzip seiner eignen Existenz her nicht auf das andere gerichtet. Allein das seelische Leben rechnet noch mit einer andern Schicht ideeller Inhalte, die von seiner Wirklichkeit und der der Natur nicht weniger unabhängig sind, zu denen es aber dennoch eine innerlichere Beziehung besitzt, eine tiefere Verbundenheit des Sinnes, zu dem das Leben selbst und zu dem diese ideellen Gebilde bestimmt sind. Es sind damit diejenigen gemeint, deren Verwirklichung – sei es in psychischer, sei es in physischer Form – nicht einfach als seiend oder nichtseiend, sondern als sein sollend vorgestellt wird. Wenn eine richtig berechnete geometrische Formel kein Gegenbild in den Gestaltungen der Wirklichkeit findet, so bleiben eben beide völlig gegeneinander isoliert. Wenn aber die Idee einer sittlichen Handlung, einer Vollkommenheit der Seele, eines ersehnten Glückes von der Seele oder von der Welt nicht realisiert wird – so streckt sich dennoch irgendein Etwas von diesen zu jenen, irgendeine Notwendigkeit, die weder physische Naturgesetzlichkeit noch psychisches Müssen ist, baut sich wie eine ideelle Brücke zwischen ihnen. Die Frage steht hier nicht einfach zwischen Ja und Nein und ist mit dieser Entscheidung nicht abgetan. Sondern es tut sich jenseits dieser die Grundkategorie der Forderung auf, nicht als ein bloß subjektives Verlangen oder Sich-beansprucht-fühlen, sondern ein mit der Sache selbst gegebenes, in dem Verhältnis von Seele und Welt präformiertes Sollen, das einer besondern, aber nicht weniger übersubjektiven Logik unterliegt, wie das Sein. Durch diese Kategorie der objektiven Forderung, die die Realität und die Idealität in ganz einzigartiger Weise sich einander zuneigen läßt, rückt das Leben ersichtlich unter einen Aspekt, den weder das Sein noch das Erkennen von sich aus ihm gewähren kann; das Leben greift damit über die bloße Tatsächlichkeit von Seele und Welt und deren Abbild im Erkennen hinaus; und zwar in zwei Richtungen. Unser Bewußtsein empfindet Forderungen an sich gerichtet, die es durch den Willen realisieren kann. Das schwierige Problem, was »Wille« eigentlich bedeutet, braucht hier nicht gelöst zu werden; der Wille ist für jetzt nichts andres, als die Benennung für die Energie, durch welche unser gegebenes Sein auf eine Forderung hin den Gegenstand dieser Forderung realisiert oder von seiner Realisierung abbiegt. Nun sind die hier gemeinten Ansprüche nicht solche, die von irgendeinem Subjekt oder auch von uns selbst an uns gestellt werden; sondern diese sind von dem Gefühl begleitet, daß, wer solche Forderung ausspricht, damit nur der Träger einer überpersönlichen, dem bloßen Sein von ihm und uns überlegenen Ordnung ist. Wenn eine äußere oder eine innere Stimme uns sagt: liebe deinen Nächsten wie dich selbst – so stammt das Gewicht solcher Forderung nicht aus dieser Stimme, sondern aus einem Eigenrecht ihres Inhaltes; der Anspruch, daß es so sein soll, ist unabhängig davon, daß er von irgend jemandem geltend gemacht wird. Und das gilt nicht nur für so prinzipielle und noch nicht individualisierte Forderungen; sondern auch wo eine ganz singuläre und äußerliche Pflichterfüllung in Frage steht, empfinden wir deutlich, daß weder der materiale Inhalt der Verhältnisse und der Aktionen, um die es sich handelt, an und für sich, noch das momentane, innere oder äußere Auftauchen der Forderung ihren eigentlichen Nerv bildet; dieser liegt vielmehr in der eigentümlichen inneren Notwendigkeit, deren Gefühl den Inhalt des Tuns sozusagen durchdringt und ihn unter die Kategorie, daß er gesollt wird, treten läßt – eine Kategorie, die etwas durchaus Eignes und Selbständiges jenseits des Seins oder des Nichtseins des Inhaltes ist. Die Materie solchen Tuns mag durchaus sich in der erkennbaren Welt zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem Ich und den Dingen abspielen; aber aus ebendiesen Materien baut sich eine ganz neue Welt, indem ihre Verwirklichung als eine objektive, in sich selbst richtige, ihre Verwirklichung oder Nichtverwirklichung überlebende Forderung an das Ich auftritt.

Diese Struktur der Forderung, die wir die sittliche zu nennen pflegen, drückt Kant so aus: Pflichterfüllung im rein und allein sittlichen Sinne bedeute, daß wir etwas ausschließlich deshalb tun, weil es Pflicht ist. Oft genug sind Motive, die mit der sittlichen Forderung als solcher nichts zu tun haben, am Werke und hinreichend stark, um uns die Inhalte jener Forderung erfüllen zu lassen: Liebe und Mitleid, die Angst vor der Meinung der Menschen und dem bösen Gewissen, Koinzidenz mit dem eignen Glück und Hoffnung auf jenseitige Belohnung. Allein daß alle solche Motive den sittlich geforderten Inhalt in sich aufnehmen, ist ein glücklicher Zufall; von sich aus verweigern sie sich auch keinem durchaus verschiednen, ja keinem durchaus entgegengesetzten. Wäre also die Verwirklichung des pflichtmäßig Notwendigen derartigen Motiven ausgeliefert, die mit der Pflicht als solcher nichts zu tun haben, sondern sich an die Inhalte knüpfen, die diese gerade aufnimmt, aber auch an solche, die sie abweist – so hält Kant jegliche Sicherheit, daß das sittlich Notwendige geschehe, für prinzipiell ausgeschaltet. Dazu kommt, daß für Kant das Handeln aus dem reinen Pflichtmotiv heraus einen Wert besitzt, den kein andres ersetzen kann. Denn diese andern scheinen ihm alle im letzten Grunde auf naturhafte Triebe zurückzugehn, denen folgend wir bestenfalls in demselben Sinn erfreulich und »schöne Seelen« sind, in dem ein Rosenstrauch seine natürlichen Kräfte zur Schönheit seiner Blüte entfaltet. Aber jener spezifisch menschliche Wert, den wir den sittlichen nennen, erhübe sich erst, wo über die bloßen Triebe hinaus, die zu bestimmten Inhalten des Handelns drängen, das sozusagen formale Bewußtsein: dieses Handeln sei unsre Pflicht – uns zu ihm bestimmt. Das Pflichtmoment in der sittlichen Tat, das Kant mit dieser Schärfe gegen ihren materialen Inhalt wie gegen den bloß subjektiven Impuls abgrenzt, ist eine nähere Ausgestaltung jener ideellen, überpersönlichen Notwendigkeit, mit der gewisse Forderungen an uns gestellt werden. Wie manche Vorstellungsinhalte wahr sind, mögen wir sie vorstellen oder nicht, so sollen gewisse Handlungsinhalte geschehn, mögen wir sie vollbringen oder nicht. Wie das Naturgesetz gilt, bevor es entdeckt wird, so die Pflicht, bevor sie erfüllt wird und auch wenn sie nicht erfüllt wird, damit offenbarend, daß auch im Moment der Erfüllung eine in dieser selbst nicht aufgehende ideelle Ordnung zu Worte kommt und daß sie aus dieser den aus ihrem Inhalte nicht ablesbaren Ton einer an unsre Wirklichkeit gestellten Forderung erhalten hat.

Nun gibt diese ideelle Forderung, die weder in einer objektiven Realität, noch in unserm Subjekt ihre Heimat hat, ebendamit ein Problem auf, das man wahrscheinlich nur durch das Axiom lösen kann, daß diese als Anspruch des Daseins an uns auftretende Ordnung eine selbständige, nicht auf Bekannteres zu reduzierende, völlig autochthone Kategorie ist. Wir vernehmen dieses Sollen, das, befolgt oder nicht, unser Handeln durchflicht, ausschließlich als eine Stimme in uns; und es hat andrerseits den imperativischen, objektiven, sozusagen rücksichtslosen Ton, den sonst nur eine konkrete Macht ihren Befehlen gibt. Es kann diese Entgegengesetztheit der Ursprünge zu haben scheinen, weil es tatsächlich von keinem dieser herkommt, sondern einen ebenso primären und eigenrechtlichen Ursprung hat, wie das subjektive Leben und die äußere oder die geschichtliche Realität. Allein die Gewohnheit, nur mit diesen beiden Begriffen als letzten zu arbeiten, läßt jenes Sollen dauernd in den einen oder den andern gleiten. So wird der Sollenston, der in und über unserm Wollen schwebt, bald als ein rein subjektiv-psychologischer Antrieb eingeschätzt, ohne eine andre als die naturhafte Bedeutung, die etwa der Hunger oder jeder physisch-psychische Trieb auch besitzt. Bald erscheint, von der objektiven Seite her, das Sollen einfach als eine der realen Beziehungen, die das Individuum mit der Gesellschaft verknüpfen. So zweifellos nun allerdings ein ungeheurer Teil der Ansprüche, die wir an uns gestellt fühlen, sozialen Inhalt haben und dem realen Zwang entspringen, den die Gesellschaft zum Zweck ihrer Selbsterhaltung auf die Individuen ausübt – so erklärt dies wohl, weshalb dies und jenes gesollt wird, allein nicht die eigentümliche, innerlich objektive Form des Sollens selbst. Daß die gesellschaftlichen Institutionen uns nicht nur zwingen oder gewöhnen, sondern daß wir die so entstehenden Forderungen anerkennen, aber sie gelegentlich auch nicht anerkennen – das ist nicht der Zwang oder die Gewöhnung selbst. Über diesen vielmehr steht das mehr oder weniger klare Bewußtsein einer höheren Instanz, die wir freilich sozusagen nicht lokalisieren können, die aber allem, zunächst bloß sozial Geforderten das Cachet: daß wir es sollen, gibt oder verweigert. Und endlich verdichtet sich der Komplex der ideellen Linien, die von unsrer Realität nachgezeichnet zu werden verlangen, zu dem Glauben an eine göttliche Gesetzgebung. Wenn Inhalte eines entweder ausgeführten oder unterlassenen Handelns mit einem imperativischen Ton in unser Bewußtsein treten, so liegt der Schluß: irgend jemand müsse sie uns befehlen – ebenso nahe, wie aus der Tatsache, daß eine Welt existiert, der Schluß: also muß sie jemand geschaffen haben. Es fällt offenbar unsern Denkgewohnheiten äußerst schwer, den rein ideellen, sozusagen freischwebenden, keinerlei »Sein« enthaltenden Charakter der Welt des Sollens festzuhalten; immer wieder knüpfen wir sie an ein psychologisches oder ein soziales oder ein transzendentes Subjekt, immer wieder schleicht sich der Gedanke ein, daß sie, wenn sie nicht in der subjektiven Seele wurzle, in einem übersubjektiven Sein wurzeln müsse. Tatsächlich »wurzelt« sie so wenig irgendwo, wie wir das gleiche von der ideellen Welt des Erkennens, etwa von den Naturgesetzen, gesehen haben. Gerade die seelische Konstellation des Sollens, unter der diese Welt sich in uns darstellt, drückt ihre Stellung vortrefflich aus: sie steht jenseits des subjektiven Seins, da sie an dieses als eine Forderung herantritt, aber auch jenseits des objektiven Seins, da diese Forderung als solche von ihrer Realisierung oder Nicht-Realisierung gar nicht betroffen wird. Die Inhalte dieser Welt mögen noch so mannigfaltig und schwankend sein, sie mögen von Person zu Person, ja von Stunde zu Stunde wechseln – wann immer wir sie in uns finden, sind sie mit unsichtbaren Linien vor und in unsre praktische Realität gezeichnet, dieser nicht, wie das »dritte Reich« der Erkenntnis, ihre tatsächliche Gestaltung, aber ihren Wert bestimmend.

Während diese Forderung, die wir die sittliche zu nennen pflegen, im allgemeinen unbestritten ist, besitzt die in umgekehrter Richtung laufende keine so unmittelbar empfundne objektive Bedeutung. Enthält Sittlichkeit das, was die Welt (im weitesten, die idealen Gebilde einschließenden Sinne) von uns fordert, so verlangt doch auch die Seele von der Welt etwas. Sie verlangt, daß die Welt ihr Glück gebe, oder Gerechtigkeit, daß sie schön sei, daß sie die Spuren eines eignen Sinnes und Wertes zeige. Und wir unterscheiden dabei sehr wohl das bloße subjektive Wollen von demjenigen, in dem – mindestens für unser Gefühl – eine innere, der Sache selbst angemessene Notwendigkeit zu Worte kommt. Wie wir aus einer ideellen Ordnung heraus Bestimmtes sollen, dem Dasein ein bestimmtes Verhalten schulden, so soll aus einer ebensolchen heraus das Dasein sich uns gegenüber in einer bestimmten Weise verhalten, wenngleich dieses Sollen hier nicht, wie an uns, einen Willen vorfindet, den es psychologisch zu seiner Verwirklichung bewegen könnte; wie aber uns gegenüber das ideale Sollen doch gültig bleibt, selbst wenn jenes verwirklichende Wollen nicht eintritt – so bleibt der Anspruch an die Dinge, sich in bestimmten Weisen zu verhalten – sei es in ihrer Wirkung aus uns, sei es als Bild für uns – bestehen, von dem Lauf der Wirklichkeit realisiert oder nicht. Auch gilt dies keineswegs nur für Forderungen, die man ihrem Inhalte nach als »ideale« zu bezeichnen pflegt; ein durchaus persönliches Glücksverlangen oder der Wunsch nach einer Ordnung der Güter materieller Natur wird oft genug von dem Gefühle begleitet oder sozusagen durchblutet, daß damit erst der Sinn und die tiefere Logik der Dinge in der Welt erfüllt wäre. Man könnte von einer Moral der Weltordnung sprechen, die wir freilich in der Regel nur in ihrer näheren oder entfernteren Beziehung zu uns zu zeichnen interessiert sind, die aber keineswegs mit der Moral im Sinne der Forderung an unser Handeln zusammenfällt, deren Wegrichtung vielmehr ganz anders läuft. Weil der Gedanke dieser objektiv gesollten, von der Welt zu uns hin gerichteten Ordnung nicht die praktische Bedeutung hat, wie die im gewöhnlichen Sinne moralische, so hat sie keine so prinzipielle Ausgestaltung gefunden wie diese. Aber das tatsächliche Weltgefühl der Menschheit, die religiösen Weltdeutungen, die philosophischen Erwägungen über den Wert des Lebens und den der Welt zugesprochnen oder abgesprochnen Sinn ihrer Existenz sind von solchen idealen Forderungen an sie, von dem Sollen über ihrer Wirklichkeit und unabhängig von ihrer Wirklichkeit, getragen und durchzogen. In allem Guten, das uns zuteil wird, mag etwas liegen, das wir nur als »Gnade« bezeichnen können: die Schönheit der Welt, die wir genießen, empfangene Liebe, auch wenn wir sie mit gleichem oder größerem Maße zurückgeben, ist irgendwie »unverdient«, ja selbst in der einfachen Gerechtigkeit, die uns wird, kann noch etwas Dankenswertes liegen, noch ganz abgesehn von Hamlets misanthropischem Motiv: »Behandelt jeden nach Verdienst und wer ist vor Schlägen sicher?« Aber dies Moment von Gnade in allen Werten, die das Dasein uns zuwendet, brauchen wir keineswegs als eine Zufallsgunst und Fürstenlaune des Geschicks hinzunehmen, Auch der Gnade, obgleich man sie, ihrem Begriffe nach, nicht »verdienen« kann, kann man doch würdig sein, oder, auch hiervon noch abgesehn, kann es doch in einem höheren Sinne »in der Ordnung sein«, daß sie uns erwiesen wird.

Was wir so als Anspruch, Wunsch, Ideal über die Wirklichkeit hinzeichnen, unterscheidet sich zwar oft nur zart und mit fließenden Übergängen von bloß subjektiven Begierden und Bedürfnissen; prinzipiell aber ist der Einschlag eines objektiven Sinnes und Rechtes gewisser Forderungen: wie die Dinge sein und verlaufen sollten, wenngleich sie es oft nicht tun – gar nicht zu verkennen. Aber auch hier ist es offenbar schwer, diese Inhalte und Ordnungen, von denen wir schlechthin nichts andres sagen können, als: sie sollen sein – in solch reiner Idealität zu erhalten. Auch sie gleiten in den Zustand des Seins hinüber. Dies geschieht einmal so, daß man die Wirklichkeit, deren Diskrepanz gegen das ihr abgeforderte Verhalten wir vor Augen haben, dennoch nicht als die im vollen und echten Sinne »wirkliche« gelten läßt. Vielmehr sei sie nur ein verschobenes, subjektives, fragmentarisches Bild, dessen Gegensatz gegen jene ideale Ordnung in der Art oder der Unvollkommenheit unsrer Wahrnehmung läge. Könnten wir die Dinge übersehn, wie sie wirklich sind, in ihrem letzten, scheinfreien Sein, in der Totalität ihrer Zusammenhänge und Ausgleichungen – während wir jetzt solchen gleichen, die von einem Gemälde nur die Schatten sehn, aber nicht das Ganze überblicken, das auch den Schatten ihren notwendigen Sinn gibt – so würden wir dieses Sein und die ideelle Ordnung des Sollens als eines und dasselbe erblicken. Obgleich diese Überzeugung als systematische, das Bild der gesamten Wirklichkeit und der Ansprüche an sie einschließend, nur selten geltend gemacht worden ist, so wirkt sie doch in Ansätzen, Einzelheiten, mehr oder weniger dumpfen Velleitäten außerordentlich häufig in die Weltanschauung der Menschen hinein; zu den durchgängigsten Selbsterhaltungen der Menschheit scheint diese naive Voraussetzung zu gehören: daß die Welt schon in Wirklichkeit so wäre, wie wir von ihr fordern, daß sie sein soll, und daß nur die Oberflächlichkeit, die Vorurteile, die Beschränktheit unsres Anschauens ihr Bild fälschten und dadurch einen Zwist zwischen diesem Bild und der idealen Ordnung stifteten, dessen Erfolg es wäre, daß wir die letztere nur als Forderung und Sollen empfänden.

Nach einer andern Dimension projiziert religiöse Empfindung das Sollen in das Sein, vermöge der Idee des jüngsten Tages und des kommenden göttlichen Reiches. Ein Zeitpunkt, der in völlig unberechenbarer Ferne, vielleicht aber auch in unmittelbarer Nähe liegt, erscheint als der geeignetste, um die Verwirklichung jener gesollten Ordnung der Dinge in ihm zu lokalisieren, die wir ebenso jenseits des Seins, wie jenseits des Nichtseins empfinden. Der Gott, der uns dereinst selig machen wird, der vollkommne Gerechtigkeit üben, der alle idealen Forderungen realisieren wird, ist in der jetzt fraglichen Hinsicht ebenderselbe wie der Gesetzgeber für das menschlich-sittliche Verhalten. In beiden Fällen handelt es sich darum, jener inneren Logik ideeller Ansprüche – mögen sie von der Welt an uns oder von uns an die Welt ergehen – einen Stützpunkt in einer festen Realität zu schaffen; diese idealen Forderungen können sich im typischen menschlichen Geist nicht selbst tragen, ihre Gleichgültigkeit gegen das empirische Sein scheint ihnen die Gültigkeit und die Festigkeit zu nehmen, und so sucht man nach einem Wesen, in dessen Sein – das auch über dem empirischen, wenngleich in ganz anderm Sinne liegt – ihre Gültigkeit und Festigkeit sich verankere. Ob dies der Gesetzgeber oder der Erfüller ist, ist hierfür irrelevant – nur daß die Vereinigung beider Funktionen gleichsam in einer Hand die Welt der idealen Forderungen wie von oben und unten her einheitlich zu umfassen und ihr so einen Einbau von gesteigerter Festigkeit in das Sein zu gewähren scheint. Es ist, als ob die Menschen das Sein nicht ertragen könnten, ohne es zu einem Sollen emporzuführen, das Sollen aber wiederum nicht, ohne es auf das Sein zurückzuführen.

Indem ich die nähere Betrachtung nun jener ersten Forderung, deren Realisierung die Welt von der Seele fordert, zuwende, erhebt sich die Frage, welche Kompetenz denn hier eigentlich die philosophische Erkenntnisweise besäße. Der rein theoretischen Auffassung, nach der die Philosophie nur die tatsächlich bewußten, innerlich – wenn auch nicht äußerlich – wirksamen sittlichen Impulse der Menschheit in ihrer Einheit (ober auch in ihren Widersprüchen), ihren Begründungen, ihrer seelischen, sozialen, metaphysischen Bedeutung darzustellen hätte – steht die praktische gegenüber, die den Philosophen zum »Gesetzgeber« der Menschheit machen möchte, zum Entdecker jener ideellen Normen, deren Gültigkeit dadurch nicht alteriert wird, daß sie bis zu dem Augenblick ihrer Verkündung weder im Bewußtsein noch in der tatsächlichen Praxis der Menschen bestanden haben. Die Mehrzahl der vorliegenden Moralphilosophien haben sich in einer mehr oder weniger unklaren Mischung beider Standpunkte bewegt. Im großen und ganzen scheint die Vorstellung zu herrschen, daß die sittlichen Forderungen, die sich als durchgehende Tatsachen im Bewußtsein der Menschheit finden, auch die sachlich richtigen seien und jener Logik der idealen Forderungen entsprechen, die von der Tatsache ihres Bewußtwerdens unabhängig ist. Aus diesem Zusammenhang heraus gesteht Kant dem Moralphilosophen nur die Aufgabe zu, eine »Formel« der Moralität zu finden. »Wer wollte einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre.« Hier ist also die Voraussetzung wirksam, die tief in der Metaphysik und Lebensanschauung des 18. Jahrhunderts wurzelt: daß wohl der einzelne Mensch irren könne, die Menschheit als ganze aber nicht. Hierauf insbesondre gründet sich jene Mischung der moralphilosophischen Aufgaben: wem es gelänge, die tatsächlich empfundenen Forderungen an den Menschen auf ein Prinzip zu bringen, der hätte das Recht, dieses Prinzip als moralischen Imperativ vorzuschreiben, seine Befolgung für jeden künftigen Fall als moralischer Gesetzgeber zu verlangen. Irgend ein Einschuß von reformatorischem, von praktisch-versittlichendem Bemühen ist eigentlich in jeder, noch so kühl betrachtenden, noch so logisch reflektierenden Moralphilosophie zu spüren. Und das Recht zu der Ungeschiedenheit, in der sich Theorie und Praxis, Wissenschaft und Predigt hier zusammenfinden, wird ersichtlich aus jener Vorstellung geschöpft, daß das im Bewußtsein der Menschheit als Tatsache gegebne Sollen – das also der bloßen Erkenntnis zugängig ist – zugleich die sachlich, ideell, an sie gestellte Forderung ist; man schreibt ihr auf diese Weise nur dasjenige vor, was sie sich, für den hinreichend tiefen und zusammenfassenden Blick, selber vorgeschrieben hat.

Dieser fundamentalen Struktur des ethischen Philosophierens steht nun aber ein allergewichtigstes Bedenken entgegen: die unübersehliche Mannigfaltigkeit dessen, was die Menschheit in ihrer zeitlichen und räumlichen Verbreitung als sittliche Forderungen anerkannt hat – eine Mannigfaltigkeit, deren Inhalte absolut unversöhnlich scheinen, unzählige Male einer im Gegensatz gegen den andern und als dessen unmittelbare Verneinung erwachsen, so daß die Voraussetzung, alles dies habe dennoch einen Generalnenner und ruhe auf einer gemeinsamen, überall geltend zu machenden Grundforderung, als gänzlich illusorisch erscheint. Was die Moral der Feuerländer und die des Griechentums, des Konfuzius und der Reformation an gemeinschaftlichen Inhalten besitzen, dürfte sich schwerlich auffinden lassen; und wie von einer höheren Instanz her wird das bestätigt, wenn wir die moralphilosophischen Prinzipien, deren jedes dennoch eine Gemeinsamkeit unter all jenem darzustellen beansprucht, in nicht geringere Diskrepanzen auseinanderfallen sehn: das Streben zu einem Maximum von Lustgefühlen und die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit, das persönliche Handeln nach Maximen, die sich zu allgemeinen Gesetzen eigneten und die Bestimmung der Willensakte nach Gesetzen solcher Harmonie, wie sie uns auch das Kunstwerk wertvoll machen, die Erfüllung des göttlichen Willens und die Einschmelzung des Ich in das Du oder in die gesellschaftlichen Interessen – jedes dieser Prinzipien ist als jenes letzte und höchste bezeichnet worden, in das alle als sittlich bezeichneten Handlungen auf größeren oder geringeren Umwegen, mit klarerem oder dumpferem Bewußtsein einflössen, und das das einheitliche Kriterium ihres moralischen Wertes wäre. Dennoch ist die Vereinheitlichung der sittlichen Welt ganz ebenso philosophisches Bedürfnis und Aufgabe, wie die Einheit der Welt des Seins es war. Wenn die Menschen in jedem einzelnen Falle wirklich wissen, welcher Forderung ihr Wille genügen soll, und wenn dies objektiv Rechte in tausend Fremdheiten, Zufälligkeiten, Gegnerschaften auseinanderzubrechen scheint, so kann die Reaktion des philosophischen, zu einem ethischen Weltbild strebenden Geistes nur die Bemühung sein, die Summe der Forderungen als eine Forderung zu begreifen. Denn daß die an einer Stelle geltende Forderung eine andre ist, als die an einer andern geltende, ist nur aus einem höchsten Gesetz heraus verständlich, das über der einen wie über der andern steht, so daß ihr Gegensatz sich nur aus der Unterschiedenheit der Lagen herleite, aus denen jenes einheitlich höchste Gesetz sie entwickelt.

Die Form, in der das Denken sich diese Aufgabe stellt, ist durchaus von der Struktur des menschlichen Willens abhängig, davon nämlich, daß dieser Wille in dem Rhythmus von Zweck und Mittel verläuft. Wenn das menschliche Wollen und Handeln, das unter dem Bewußtsein der Pflichtmäßigkeit und Sittlichkeit steht, nach den divergentesten Richtungen auseinanderstrebt, so scheint die philosophisch ersehnte Einheit nur so erreichbar: daß all jene Mannigfaltigkeiten nur verschiedne Mittel sind, die schließlich einen gemeinsamen Endzweck – die absolute sittliche Forderung – realisieren. Unsre Welt ist so eingerichtet, daß sehr verschiedenartige Mittel dem gleichen Zweck dienen können, weil in der Realität sehr verschiedne Ursachen die gleiche Wirkung hervorbringen können. So gefaßt, wäre die moralphilosophische Aufgabe im Prinzip lösbar. Die sittlichen Forderungen der Menschheit erschienen als ein ungeheurer Kreis, in dessen Peripherie die einzelne reale Aufgabe liegt, unabsehlich weit vielleicht von irgendeiner andern entfernt; allein von jeder führte ein Radius zu dem gemeinsamen Mittelpunkt des Ganzen, dessen Einheit alles zusammenhält und zu einem Sinne bringt. Unleugbar kommt in dem Suchen nach diesem Endzweck, der jeder zu ihm hinstrebenden Handlung den Wert der Sittlichkeit verliehe, eine tiefste Sehnsucht des Geistes zum Ausdruck, in der Fortsetzung jenes andern Bedürfnisses liegend, das für die rein tatsächlichen Willensimpulse der Menschen – die also nicht als ideale Forderungen austreten, sondern die sittlich gesollten, die gleichgültigen, die verbotenen gleichmäßig einschließen – einen gemeinsamen Zielpunkt sucht. Jetzt zunächst auf dieses letztere eintretend, würden wir unser Weltbild, mindestens sozusagen seiner Form nach, als ein unendlich befriedigenderes und erlösteres erblicken, wenn wir vertrauen könnten, daß das trübe Chaos der menschlichen Handlungen einem einzigen Ziele zustrebte. Freilich gibt solche Einheit einer Mehrheit von Gestaltungen Raum, die auseinanderzuhalten auch für die uns fragliche Einheit der sittlichen Forderungen – die gleichsam eine Auslese aus den bloßen Tatsächlichkeiten des Willens bewirken – von tiefster Bedeutung ist.

Es ist der Unterschied, ob das Handeln der Menschheit zu einem realen Zwecke zusammengeht, ob wir alle Werkleute an einem Bau sind – oder ob die Einheit des menschlichen Wollens bedeutet, daß jeder für sich von dem gleichen letzten Motiv wie jeder andre bestimmt wird – ob also ein tatsächliches Zusammenwirken oder eine bloße Parallelität der individuellen Impulse vorliegt, die nur dem überschauenden Blick als Einheit erscheint. Die erstere Überzeugung tritt wohl nur in theistisch-religiöser Gestalt auf. Nur wo ein göttlicher Weltplan vorausgesetzt wird, dem der Bau der ägyptischen Pyramiden sich ebenso einfügt, wie der spanische Erbfolgekrieg, vermögen die völlig berührungslosen, völlig heterogenen Momente der Menschheitsgeschichte als organisch zusammengehörige Mittel zu einem letzten Zweck zu erscheinen, sie können diese Bedeutung nicht aus sich und aus den Impulsen, die sie unmittelbar tragen, erhalten, sondern nur aus einer übergreifenden Macht, die ein jedes an der Stelle hervorruft, wo der Plan des Ganzen es notwendig macht. Hier liegt die Anwendung der religiösen Maxime: »Wer den göttlichen Absichten nicht mit seinem Wissen und Willen dient, der dient ihnen ohne sein Wissen und Willen.« Im kleinen Maßstabe, dem aber deshalb die metaphysische, nur der Totalität zukommende Bedeutung abgeht, wiederholt sich dies in gewissen fatalistischen Geschichtsphilosophien, z. B. der Marxischen. Wenn in einer bestimmten Epoche der Geschichte das allmählige Freiwerden der latenten Kräfte, die die Konstellationen dieser Epoche haben erwachsen lassen, die sozialistische Verfassung herbeiführen werden, so sei dies durchaus nicht von der bewußten Zwecksetzung der Individuen abhängig und bedürfe auch keineswegs einer angeblich »unbewußt« darauf gerichteten Zwecktätigkeit. Vielmehr führe der reine Sachgehalt der menschlichen Verhältnisse und Aktionen auf jenes Endziel, alles was die einzelnen tun und treiben, rücke das gesellschaftliche Dasein um einen Teilstrich näher an dieses heran, ein jeder, indem er seinen unmittelbaren und rein persönlichen Zwecken nachgeht, finde sich mit jedem andern in der Einheit jener überpersönlichen Zukunftsgestaltung zusammen. Allein diese Arten, die Entgegengesetztheiten der menschlichen Wollungen in einer objektiven, vom Individuum ganz weit abstehenden Gemeinsamkeit des Zieles zusammenzubringen, werden an Häufigkeit und Wichtigkeit weit von den Bemühungen übertroffen, die Einheit der Willenshandlungen in der Gleichheit ihres letzten persönlichen Zweckes zu suchen. Hier wird man freilich, um alle Diskrepanzen der bewußten Zwecksetzungen zu überwinden, zu dem Hilfsbegriff des »unbewußten Zweckes« greifen müssen. Wer etwa alles menschliche Wollen letzten Endes um der »individuellen Selbsterhaltung« willen geschehen läßt, wird dennoch nicht behaupten, daß dieser Endzweck in abstrakter oder überhaupt bewußter Weise dem Individuum gegenwärtig ist. Allein auf die bequeme Erklärung durch das Unbewußte, die im philosophischen wie im populären Denken grassiert, wird man wohl endgültig verzichten müssen. Angenommen, unsre Willensakte verliefen wirklich so, daß sie unsre Selbsterhaltung fördern, oder, wenn keine intellektuellen Unvollkommenheiten sie ablenkten, fördern würden, so kann man dennoch nicht schließen: da dieser Trieb nicht bewußt wirkt, so muß er unbewußt wirken – sondern nur: jene Akte verlaufen so, als ob sie aus einem Selbsterhaltungstriebe hervorgingen: woraus sie der Realität nach hervorgehen, wissen wir absolut nicht; da uns der Geist nur in der Form des Bewußtseins bekannt ist, so können wir nicht im geringsten wissen, ob die Motive und Gedanken, deren Bewußtsein einen bestimmten seelischen Erfolg auszulösen pflegt, auch dann die Ursachen des Eintretens dieser Erscheinung sind, wenn im Bewußtsein nichts von ihnen aufzufinden ist. Die »unbewußte Motivierung« ist nur der zu einer positiven Ursache emporgeschwindelte Ausdruck dafür, daß die gegebene seelische Erscheinung doch eine Ursache haben muß – die uns indes in diesem Falle völlig unbekannt ist; wir können nur sagen, daß, wenn sie bewußt wäre, sie erfahrungsgemäß wohl diesen und diesen Inhalt haben würde. Da sie aber nicht bewußt ist, fehlt uns jede Handhabe, Art und Bedeutung dieser Motivierung zu bestimmen; die unbewußte Vorstellung ist ausschließlich als künstlicher Hülfsbegriff zuzulassen, um dem Bedürfnis nach einem rationell-innerlichen Zusammenhange des seelischen Lebens zu genügen, den dessen bewußte und also allein real gegebne Inhalte nicht darbieten.

Nur unter diesem Vorbehalt also kann von einer gemeinsamen Motivierung der unendlich mannigfaltigen bewußten Willensziele die Rede sein. Es kann nur bedeuten, daß die philosophische Reflexion jene Willensaktionen sozusagen nachträglich eventuell unter einen höheren Begriff bringen kann. Aber wenn sie es auch wirklich könnte – was sehr zweifelhaft ist –, so wäre die in der Struktur unsres Wesens gelegne Ursache davon, daß sie es kann, jedenfalls nur spekulativen Vermutungen zugängig. Ich nenne zuerst den schon vorhin angedeuteten Gedanken: daß alle menschlichen Handlungen schließlich auf die Selbsterhaltung des Handelnden hinausliefen. Man wird zunächst geneigt sein, dies für ein leeres Wortspiel zu halten. Denn da die Menschen unzählige Male das Selbstzerstörerische tun, und zwar nicht nur durch Verrechnung und Verblendung, sondern mit vollem Bewußtsein: sei es, weil sie mit sich ein Ende machen wollen, sei es in Aufopferung für andre und für Ideen – so müßte man den Begriff des »Selbst«, dessen Erhaltung alles dieses dienen soll, so weit fassen, daß er überhaupt nichts mehr besagt. Die Selbsterhaltung, in deren Namen jeder positive oder negative, egoistische oder altruistische Trieb wirke, ist ersichtlich nichts mehr, als ein Name, das »Selbst«, das von all diesen Entgegengesetztheiten gleichmäßig »erhalten« wird, kann nichts irgend Qualifiziertes sein, sondern das Synonymum für ein x, das besagt: jeder Willensakt führt auf irgendeinen Endpunkt hin und alle diese verschiednen Endpunkte sollen jetzt als einer und derselbe gelten. Dennoch könnte die Selbsterhaltungstheorie, so leer sie unmittelbar und logisch erscheint, der Ausdruck einer durchaus tiefsinnigen philosophischen Grundattitüde sein. Wenn man nämlich weniger das Selbst als die Erhaltung betont, so ist ihre Voraussetzung, daß diese Erhaltung dauernd bedroht ist. Vielleicht bringt die Struktur des Daseins es mit sich, daß jedes Wesen in jedem Augenblicke von dem, was außer ihm – vielleicht auch von dem, was in ihm ist – vernichtet, verschlungen, entselbstet werden würde, wenn es sich nicht mit einem ganz positiven Tun dagegen zur Wehre setzte und sein Sein aktiv behauptete. Da diese Notwendigkeit niemals auch nur einen Augenblick nachläßt, so ist die Selbsterhaltung allerdings das äußerste, was ein Wesen erreichen kann und alles, was es überhaupt tut, sind nur die Mittel oder, genauer, die Akte seiner Selbsterhaltung. Damit ist natürlich nicht nur die Erhaltung des physischen Lebens gemeint, sondern die Gesamtheit der Kräfte und Werte, die das Wesen eben zu diesem bestimmten Individuum machen. Wer also sich selbst zerstört oder auf sich verzichtet, kann in diesen Akten sozusagen ein größeres Quantum seines Selbst bewahren, als wenn er physisch weiterexistierte; er würde in diesem Falle, wie nun einmal sein Verhältnis zu den ihn bedrohenden Mächten des Daseins gestaltet ist, noch gründlicher zerstört werden, noch weniger von seinem Selbst erhalten. Sich selbst erhalten heißt nicht nur, überhaupt leben, sondern die Erhaltung ebendieses bestimmten Selbst; und während dies natürlich jegliche Entwicklungsbestrebung einschließen kann, da wir keineswegs in jedem Augenblick schon wir selbst sind, so kann z. B. unter Umständen das Grund- und Endwollen eines Schwächlings auf die Erhaltung ebendieses Schwachen selbst gehen und er würde sich durch einen Zuwachs von Kraft und Leben entselbstet fühlen. Die ganze psychologische Hypothese des formalen Selbsterhaltungstriebes, der sich in unsre einzelnen Impulse derart umsetzt, daß ihre Zwecke in dem seinigen zusammenlaufen, ruht aus der metaphysischen Vorstellung von dem Weltprozeß als dem endlosen Kampfe aller gegen alle. Es ist nicht ein Leben da, das sozusagen in sich fertig wäre und nur nach außen hin verteidigt werden muß; sondern das Leben ist unmittelbar jene Wechselwirkung seines tiefsten Punktes mit Mächten außerhalb seiner, die man nur Kampf nennen kann, weil in dem Augenblick, in dem die Aktion des Subjekts versagte, es von den ihm äußeren Mächten vernichtet wäre. Dieser Gedanke findet an der Vielheit unsrer Willensakte das divergente Material, an dem seine Einheit sich zu bewähren hat. Es kommt in ihm das Gefühl der tiefen Notwendigkeit der Bewährung im Kampfe zu Worte, die mit unserm Leben verknüpft ist – nicht als sein Akzidens, zufälliger Umstand, nachträgliche Verteidigung, sondern vom Innersten seiner Wurzel her, besser: als seine Wurzel ihm einwohnend.

In diesem Sinne gefaßt erscheint mir die Unifizierung all unsres Wollens durch den Selbsterhaltungstrieb jedenfalls als etwas erheblich Tieferes als die durch den sogenannten Glückstrieb des Menschen. Es ist nicht uninteressant, daß die Behauptung, der Mensch strebe schließlich nach nichts andrem als nach Lust – ebenso einem ganz oberflächlichen Zynismus entspringen kann, wie sie als Grundlage einer durchaus edeln Moral von eminent sozialen, ja sozialistischen Charakteren benutzt worden ist. Vielleicht legt das Zusammentreffen grade dieser beiden Träger eudämonistischer Psychologie es nahe, daß diese über das individuelle Wesen der seelischen Tatsachen hinwegsieht. Denn wie das sozialistische Dogma, mindestens in der hier fraglichen Form, dies tut, so ist die entscheidende Gedankentendenz des Zynismus eine nivellierende: er leugnet die eigentlichen Unterschiede der Dinge, weil sie ihm eben alle gleich wert- und sinnlos sind; Unterschiede zugeben hieße unvermeidlich auch Wertunterschiede anerkennen, und wie kann dies der Zynismus, da er doch keinen Wert anerkennt? Ohne eine radikale Gleichgültigkeit gegen die Individualität der seelischen Tatsächlichkeiten aber ist deren Reduktion aus den an sich unterschiedslosen Glücks- oder Lusttrieb nicht durchführbar, mit ihr indes ist diese Reduktion wiederum ganz inhaltlos. Denn wenn die mühevollste Hingabe an wissenschaftliche oder sonstige objektive Ziele und das leichtsinnigste Genußleben, wenn das Märtyrertum für politische oder religiöse Überzeugungen und die feigste Bosheit und Hinterlist, wenn die grenzenloseste Aufopferung und die grenzenloseste Selbstsucht doch alle zusammen nur ein einziges letztes Ziel der Lust verfolgen sollen, dann ist diese etwas so Abstraktes, muß, um das gleiche Verhältnis zu all diesem Entgegengesetzten zu haben, sich so hoch über das Einzelne erheben, daß sich gar kein spezifischer Inhalt mehr für sie angeben läßt; aller Eudämonismus kommt darauf hinaus, die tatsächlichen Ziele der Handlungen, die er aus der Erfahrung kennt, als Glück zu bezeichnen. Während die Theorie des Selbsterhaltungsmotives dem gleichen logischen Einwand ausgesetzt war, konnte ihr doch noch in der Deutung des Weltprozesses als des Kampfes aller seiner Elemente eine metaphysische Tiefe untergebaut werden, die die Theorie des Glücksmotives, soweit ich sehe, nicht findet und an dessen Stelle sie freilich eine biologische Hypothese zu ihrer Begründung angeboten hat. Wären die zum Leben erforderlichen Tätigkeiten – so ungefähr ist argumentiert worden – mit Schmerz statt mit Lust verbunden, so würde man sie soviel wie möglich vermeiden; deshalb würde ein Wesen, dem die Erhaltung des Lebens im wesentlichen Schmerz brächte, sich nicht erhalten können. Folglich muß die Anpassung dahin wirken, daß die aufgesuchten Funktionen – und dies sind eben die lustversprechenden – zugleich die lebenerhaltenden und -fördernden sind. Da die evolutionistische Zweckmäßigkeit auf die wachsende Herrschaft und Befestigung der letzteren geht, so kann sie kein besseres Mittel dazu anwenden, als daß sie die nützlichen Handlungen der Menschen, im Ideal also: alle ihre Handlungen überhaupt – mit dem Reizmittel des davon zu erhoffenden Glückes ausstattet. Kurz ausgedrückt: wird das Leben immer zweckmäßiger, so wird dies wahrscheinlich darum geschehen, weil die Zweckmäßigkeit gesucht und die Unzweckmäßigkeit geflohen wird; gesucht oder geflohen aber wird von den Menschen im allgemeinen nur das, was Lust oder Schmerz bereitet, so daß die vollkommne Zweckmäßigkeit der Tat vollkommnen Lusterfolg bedeuten würde. Daß der absolute Umfang des Willenslebens damit noch nicht eudämonistisch bestimmt erscheint (da er noch nicht absolut zweckmäßig bestimmt ist), würde die so behauptete Vereinheitlichung unsrer Wollungen im Prinzip nicht aufheben. Es wäre genug für die Vereinheitlichung unsres Wollens gewonnen, wenn wir nur seine generelle Entwicklungsrichtung auf Verbindung jedes seiner Inhalte mit einem Glückszweck erweisen könnten. In Wirklichkeit indes ist dieser Gedankengang brüchig, da sein psychologisches Zwischenglied: der Lusterfolg einer Handlung sei ihr stärkstes und eigentlich definitives Motiv – ein Irrtum und weiter nichts ist. Hierüber ganz klar zu werden, ist für den gesamten Inhalt dieses Kapitels von äußerster Wichtigkeit. Es ist zunächst zuzugeben, daß der hier fragliche Eudämonismus unter Lust oder Glück nicht nur niedrige oder sinnliche Empfindungen zu verstehen, ja, daß er nicht einmal vorauszusetzen braucht, daß die geistigen, edlen, kultivierten Genüsse durch irgendwelche historischen Umwege und Umbildungen auf jene zurückgeführt werden könnten. Aber selbst unter der Annahme, daß die intellektuellen, moralischen, ästhetischen Gebiete völlig selbständige Genußquellen aus sich entspringen ließen, die sich aus keinem tiefergelegenen Stromgebiet ableiten, reicht der Glücksbegriff absolut nicht aus, die tatsächlichen Motivierungen der Menschen zu umfassen, wenn man ihm nicht, wie ich es vorhin andeutete, jeden bestimmten Inhalt nehmen und ihn zum bloßen Namen für alle Motivierung überhaupt machen will. So armselig ist die Menschheit nicht, daß sie sich überhaupt nur von einem einzigen letzten Motiv lenken ließe, und das ganze psychologische Getriebe aus Lust gerichtet sein zu lassen, ist eine ebenso einseitig beschränkte Teleologie, wie jene war, die das Weltgetriebe um des Wohles des Menschen willen sich abspielen ließ. Und da dieser alles Handeln vereinheitlichende Lustbegriff die egoistische Lust bedeutet, so enthält er eine doppelte Borniertheit. Es ist eine Fälschung der Tatsachen, wenn man den Menschen als das egoistische Wesen schlechthin bezeichnet, d. h. als ein solches, dessen Handlungen ihren Endzweck in denjenigen Wirkungen haben, die auf den Handelnden selbst zurückkehren. In Wirklichkeit machen die Motivierungen unsrer Handlungen unzählige Male an Punkten Halt, die völlig und definitiv außerhalb unser selbst liegen: wir wollen, daß dieser und jener diesen und jenen Einfluß erfahre, in diesen und jenen Zustand versetzt werde; wir wollen, daß gewisse Ereignisse eintreten oder verhindert werden, Werte realisiert oder auch vernichtet werden – und es ist eine durch nichts gerechtfertigte Willkür, die Reihen solchen Wollens über diese Endpunkte hinaus hypothetisch zu verlängern, bis sie wieder in irgendeinem Zustande des Subjekts münden. Dies ist vielleicht der ärgste prinzipielle Mißbrauch, der je mit der unleugbaren Vieldeutigkeit alles Seelischen getrieben worden ist, im besten Fall eine Verführung durch den scheinbaren Tiefsinn des Schlusses: daß, da das Subjekt der Ausgangspunkt des Handelns sei, es auch sein Endpunkt sein müsse. Wenn nun aber dies Falsche auch richtig wäre, so erwiese dies den allbeherrschenden egoistischen Trieb noch keineswegs als Glückstrieb; vielmehr enthält das Ich noch eine Fülle von Zuständen und Werten außer dem Glück, die als Endziele des Handelns funktionieren können und funktionieren. Der Gewinn an Erkenntnis der Welt und die Produktivität auf dem uns zugeteilten Gebiet, die ethische Vollkommenheit in einzelnen Handlungen wie in dem aus sich nicht heraustretenden Sein der Seele, das religiöse Schicksal mit seinen Aufschwüngen, Gefahren, Erlösungen, das Gefühl der einheitlichen Persönlichkeit und des Gleichgewichts ihrer aufnehmenden und ausgebenden, ihrer niedreren und höheren Energien – alle diese, wenn man will, »egoistischen« Werte sind keineswegs von dem Generalnenner »Glück« getragen; unzählige Male wollen wir alles dies mit einem völlig objektiven Willen, weil das so gestaltete, so erlebende Ich als letztentscheidender Wert gefühlt wird, gleichgültig, welche sekundären Reflexe von Lust oder Leid ihn begleiten: unzählige Male wollen wir es, unter dem klaren Bewußtsein, es mit Leiden zu bezahlen und keinerlei Freuden damit zu gewinnen. Die eigentümliche Roheit der Psychologie, die bisher, mit ganz wenigen Ausnahmen, grade auf dem Gebiet ethischer Probleme dominiert hat, offenbart sich an der Selbstverständlichkeit, mit der man das egoistische Wollen dem Glückswollen gleichgesetzt hat.

Wo nun der Versuch, gelingend oder nicht, gemacht wird, die Gesamtheit der Willenshandlungen auf einen einheitlichen Endzweck zurückzuführen, pflegt dieses Bild des tatsächlichen Seins in das des Sollens überzugreifen. Es ist ein sehr tiefer und philosophisch höchst bedeutsamer Zug unsrer Geistigkeit, daß wir zwar unzähligen Tatsachen und Einzelheiten der Erscheinung gegenüber die Unstimmigkeit mit der idealen Forderung erkennen, aber uns schwer entschließen, auch das tiefste, definitive, sozusagen wirklichste Sein der Dinge nicht mit ihrem Werte und dem was sie sein sollen zusammengehn zu lassen. Ich führe einige Beispiele dieses Typus an. Ein religiöser Radikalismus macht Gott zur absolut und allein bestimmenden Ursache alles Seins und Geschehens; sein Wille bestimmt also auch, wie der menschliche Wille und die menschlichen Dinge verlaufen sollen. Und dennoch wird nun von diesem menschlichen Willen noch einmal gefordert, daß er dem göttlichen Willen gehorsam und gemäß sei. Das heißt also doch, daß unser Wille in seinem letzten Grunde, in seinem eigentlichen Sein, schon das ist, was die ideale Forderung von ihm verlangt. Dasselbe ist das Schema der Vernunftmoral, die das eigentlich reale, substantielle Wesen des Menschen in seine Vernunft setzt und nun doch seine sittlichen Notwendigkeiten dahin zusammenfaßt, daß die Vernunft auch wirklich sein Leben leite, daß dasjenige daraus verschwinde, was er ja eigentlich gar nicht selbst ist: die sinnlichen Elemente. Ganz entsprechend ist es, wenn die monistische Philosophie die Wesenseinheit aller Wesen lehrt, das Trügerisch-Scheinhafte der Besonderung und des Gegensatzes der Individuen; und nun fordert diese Philosophie von den Individuen erst, daß sie ihr Sondersein, ihren Sonderwillen abtun – den sie doch ihrer metaphysischen, letztinstanzlichen Wirklichkeit nach gar nicht besitzen; daß der einzelne zwischen sich und dem andern keinen Unterschied mache, sondern aus der Wurzelhaften Wesenseinheit aller heraus lebe – was er doch nach jener Voraussetzung sowieso tun muß, weil etwas andres als diese Einheit überhaupt nicht existiert. In diesem, auch auf weniger prinzipiellen Stufen sehr häufigen und immer logisch irrigen Verfahren: dasjenige, was ideal gefordert wird, schon als vorhanden, als die tiefste, wahrste Realität zu statuieren – lebt, je nach der Richtung des Betrachtens, sozusagen ein Moment des Mutes und eines der Feigheit. Es gehört Mut dazu, die Realität des Daseins, mit allem Grauenhaften, Verworrenen, schwer Erträglichen seiner Erscheinungen, als ein in seinem letzten Grunde Vollkommnes, mit der idealen Forderung Übereinkommendes zu verkünden; wenn es keine bloße Redensart ist (was es freilich oft genug sein mag), so beweist es eine außerordentliche Kraft, das Gefühl für das tiefste Wesen der Wirklichkeit immer in der Höhe zu halten, in der es mit dem Sollen und der Vollendung zusammenfällt. Von der andern Seite gesehn aber ist es doch eine Schwäche, das Ideal nickt in der harten Selbständigkeit seines reinen Forderungscharakters halten zu können, sondern ihm einen Fußpunkt und gleichsam körperlichen Halt in der Realität zu suchen, ein Mangel an Zuversicht, als könne sich das, was wir sollen, doch nicht in seiner Gleichgültigkeit gegen das, was wir sind, allein tragen, und bedürfe der Sicherheit, daß dieses Sein mindestens in seiner letzten Wurzel mit ihm eins sei.

Wie aber auch veranlaßt, die Inhalte, in denen der tatsächliche menschliche Wille seinen vereinheitlichenden Endzweck zu finden schien, sind oft genug zu Prinzipien der Moral geworden. So entsteht aus dem Glücksmotiv das Moralprinzip, mit dem der sogenannte Utilitarismus alle als ethisch anerkannte Praxis zu formulieren behauptet: handle so, daß der Erfolg deines Handelns die Summe des überhaupt empfundenen Glückes so hoch wie möglich steigere; oder auch: der Endzweck jedes als ethisch empfundenen Handelns ist, zu dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl beizutragen. Ich will, als Beispiel moralphilosophischer Überlegungen, einigen Verzweigungen dieses Prinzips nachgehn. Was daran auf den ersten Blick der idealen Forderung zu widersprechen scheint: daß hier die Glücks würdigkeit vernachlässigt ist, da doch das ethische Interesse daran hafte, daß nicht jeder beliebige, vor allem nicht der Böse des Glücks teilhaftig werde, sondern der Gute und Verdienstvolle – das ist doch bei näherem Zusehn dieser auf das Glücksquantum als solches gehenden Forderung keineswegs fremd. Denn sie wird sich so rechtfertigen: böse ist eben derjenige, der andre Menschen Unglücklich macht; würde er nun noch durch Glück belohnt werden, so würde er dadurch gestärkt und in solchem Handeln ermutigt werden. Es würde also der definitive Zweck, zu einem Maximum von Glück überhaupt zu gelangen, durch den Endeffekt einer Verteilung des Glücks, die es dem Bösen statt dem Guten zukommen ließe, hintangehalten werden. Daß das Auf-sich-nehmen und Zufügen von Leiden bis zur Vernichtung, daß Opfer, Verzichte, rücksichtslose Strenge als sittlich wertvoll gelten können, ordnet sich diesem ethischen Eudämonismus durchaus ein. Die Verkettungen und Verzweigungen der inneren und der äußeren Dinge sind so vielgliedrig, so oft rückläufig, so umwegereich, daß eine äußerste Abkehr von direkt eudämonistischen Aktionen dennoch das rechte Mittel sein kann, am letzten Ende in ein mögliches Glücksmaximum einzumünden. Die wunderbare, im allgemeinen als gar zu selbstverständlich hingenommene Strukturbedingung unsrer Welt: daß jedes Geschehen zwar nur eine bestimmte Folge, aber unzählige verschiedne Ursachen haben kann – bewirkt es, daß die allerentgegengesetztesten Handlungsweisen gleichmäßig, jenem absoluten Glückszweck dienen und deshalb gleichmäßig, sittliche Würde erwerben können: daß die Spartaner schwächliche Kinder töteten und moderne Eltern sie mit doppelter Sorgfalt großziehn, daß objektive Ziele vor der Rücksicht auf lebende Subjekte zurücktreten und daß umgekehrt das sachliche Interesse völlig gleichgültig gegen alle personalen Konsequenzen verfolgt wird, daß das praktische Interesse ausschließlich dem Individuum gilt und daß es ausschließlich der Gesellschaft gilt – jede Seite dieser Gegensätze kann unter gegebnen Umständen das geeignetste Mittel sein, ein Glücksmaximum zu realisieren. Auf Grund dieser Möglichkeit glaubt die Theorie sich als diejenige beweisen zu können, die alle überhaupt anerkannten ethischen Werte und Theorien in sich zusammenfaßte, all diese Anerkanntheiten bedeuteten eben nur den Instinkt dafür, daß ihre Inhalte Wege und Mittel für die Steigerung des Glückes der größtmöglichen Zahl sind. Das Glück selbst ist dabei sozusagen kein ethischer Wert, sondern entweder ein metaphysischer oder es ist der Wert schlechthin, der nicht durch irgendein differenzierendes Beiwort zu bestimmen sei; aber an dem Glück als absolutem Menschheitszustand praktisch zu arbeiten, bewußt oder unbewußt, direkt oder an den Mitteln zu ihm und den Mitteln der Mittel – das verleihe solchem Wollen den Wert, den wir den sittlichen nennen.

Wollte man aber auch den schon angedeuteten Mangel dieser Theorie in Kauf nehmen: daß ein Glücksbegriff, der alle ethisch wertvollen Intentionen als ihr Endzweck aufzunehmen vermöchte, etwas völlig Verblasenes und jedes angebbaren Inhaltes Bares sein müßte – so würden ihrem Anspruch, gleichsam den Oberbegriff und die Vereinheitlichung aller sittlichen Imperative darzustellen, noch immer zwei prinzipielle Schwierigkeiten entgegenstehn; sie stammen aus dem Begriff der Glücksqualität und dem der Glücksverteilung, zwei Begriffen, die weite Bezirke im Reiche der idealen Forderungen decken. – Für jenen ethischen Eudämonismus ist das Glück ein in sich einheitlicher und invariabler Zustand, für den es Maßunterschiede, aber keine Artunterschiede gibt. Es ist dies gewissen naturwissenschaftlichen Idealen analog. Wo etwa ein »Urstoff« gesucht wurde, der nur durch Mannigfaltigkeiten und Änderungen seiner Verteilungen und Lagen die ganze erscheinende Verschiedenheit der Weltsubstanzen erzeugte; oder wenn eine in sich einheitliche und unveränderliche Energiesumme angenommen wird, die in lauter Wandlungen und Zurückverwandlungen das Spiel der Welt trüge – da unterstehn diese Tatsachenbegriffe der gleichen universellen geistigen Tendenz, wie der Idealbegriff des Glücks, aus dessen Umsetzungen und Quantitätsverteilungen die unübersehlichen Inhalte der sittlichen Zielsetzungen gespeist würden. Durch welche Mittel dieses Glück erzeugt würde, wäre für seine ethische Zielbedeutung gleichgültig; der eine fände es in dem einen, der andre in einem andern Zustand, und danach müßte sich die sittliche Aktion des dritten sozusagen technisch richten, aber das Maß ihres sittlichen Wertes fände diese Aktion doch nur an dem Quantum jener in ihrem Wesen immer gleichen Glückseligkeit, das sie realisiert oder wenigstens zu realisieren beabsichtigt. Alle Wertunterschiede in den Glücksgefühlen der Individuen, die sich auch als Wertunterschiede der daraufhin gerichteten sittlichen Intentionen spiegelten, wären ausschließlich Unterschiede des Maßes; alle andern, nicht-quantitativen Unterschiede der Glücksgefühle beträfen nur ihre Form, Erscheinung, Kombination, aber nicht ihren Wert. Und diese Voraussetzung des Utilitarismus teilt sogar Kant, der radikalste Gegner aller eudämonistischen Moral, mit ihm: Glück sei eben Glück und die Unterschiede der Veranlassungen, auf die hin die Individuen es empfinden, seien für seinen Wert so irrelevant, wie es für den Wert des Goldes sei, ob es aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sande gewaschen ist. Was wir edlere Freuden nennten, seien nur solche, die sich nicht abnutzen, die mehr als die gemeinen in unsrer Gewalt sind, die weitere Verfeinerung und Genußfähigkeit mit sich bringen – kurz, die sich durch das im ganzen höhere Maß ihres Lustertrages, nicht durch eine andre oder wertvollere Art desselben charakterisierten. Dies ist ein völliger Irrtum und nur durch die Leidenschaft, um jeden Preis ein Dogma aufrechtzuerhalten, erklärlich. In Wirklichkeit empfinden wir die verschiednen Veranlassungen, an denen die verschiednen Individuen ihr Glück finden, als Unterschiede der Wertqualitäten selbst, das Individuum unterscheidet seine einzelnen Lustempfindungen sehr sicher in dieser Weise; so daß wir oft genug von zwei Glücksgefühlen unzweideutig urteilen: sie brächten uns zwar das gleiche Glücksmaß, aber dennoch sei das eine dem andern vorzuziehn, weil die Qualität der Empfindung die wertvollere wäre – und zwar nicht unmittelbar wegen ihrer sittlichen, ästhetischen oder sonst objektiven Bedeutung, sondern weil es, rein als Glück, wenn auch vielleicht von jenen Wertskalen her, eine neue Bedeutung bekommen hat; es steht als rein eudämonistische Qualität höher, während es als eudämonistische Quantität dem andern gleich- oder vielleicht nachsteht. Und dies genügt, um jenen abstrakten Glücksbegriff zu entthronen, der mit seinen bloßen Gradunterschieden eine absolute Vereinheitlichung der sittlichen Ziele erzwingen wollte – wenn auch jede Messung von Glückszuständen gegeneinander überhaupt von höchst prekärer, keinen objektiven Maßstab zulassender, ja, wahrscheinlich nur symbolischer Art ist. Es ist für das Grundproblem der idealen Ansprüche, die zwischen den objektiven Ordnungen und dem Subjekte hin und her gehn – von äußerstem Belang, daß das Glück Wertkriterien in sich birgt, die von der Frage nach seinem Quantum unabhängig sind. Sowohl die eudämonistischen Moralen, die nur nach dem Glücksmaß fragen, wie die rigorosen, rationalistischen, asketischen, die prinzipiell nach dem Glück nicht fragen, pflegen diese zweifellose Aussage des sittlichen Bewußtseins zu überhören. Es bestimmt den Wert des Menschen nicht nur, ob er nach Glück strebt, oder nach anderem, vielleicht höherem; sondern auch, worin er das Glück findet, nach dem er strebt. Ob er seine beglückteste Stunde in den Armen einer Kokotte oder beim Anhören der Neunten Symphonie erlebt – das ist ein Unterschied der Persönlichkeiten, der weder mit dem Glücksmaß, noch unmittelbar mit ihrem sittlichen Wollen etwas zu tun hat. Das Sein des einen dieser beiden ist eben wertvoller als das des andern. Und wenn selbst beide nur »ihr Glück suchen« und insofern von Kant für gleich »wertlos« erklärt würden, so stellt sich dieser Moralismus in zweifellose Opposition gegen unser tatsächliches Wertempfinden. Der eine ist wertvoller als der andre, weil sozusagen die Welt, indem sie den einen einschließt, wertvoller ist, als wenn sie den andern beherbergt. Die Vergleichung mit dem Golde unsres Geldes ist unrichtig, weil aus diesem freilich jede Spur seines Ursprungs verschwunden ist, so daß dieser überhaupt keine Bedeutung mehr besitzt. Aber in unsern Freuden leben die Dinge und Ereignisse, auf die unsre Seele mit diesem Gefühl antwortet, noch fort, als sehr entschiedne qualitative Unterschiede des Glücks. Dies ist einer der prinzipiellen Punkte, an denen die Analogien zwischen der physischen und der seelischen Welt völlig versagen. Die erstere hat nur eine Gegenwart, deren Ursachen in der Vergangenheit absolut verschwunden und abgetan sind; diese mögen einmal so, ein andres Mal völlig anders liegen – sobald sie die gleichen Resultate erzeugt haben, ist in diesen keine Spur jener Verschiedenheiten mehr zu entdecken. Die Seele aber ist das Gebilde, das Geschichte hat, d. h. in dessen Gegenwart die bestimmte, individuelle Vergangenheit unverwechselbar lebt. Nur eine gewaltsame Abstraktion kann in der Seele ein ganz allgemeines »Glück« finden, das sich gegen seine Veranlassungen so gleichgültig verhielte, wie das Gold gegen seine Fundstellen. Unser Glück ist vielmehr ein immer qualifiziertes, d. h. durch seine Veranlassungen in seinem Wert bestimmtes, derart, daß etwas, was wir unvermeidlich als ein größeres Glücksquantum bezeichnen müssen, dennoch wegen seines qualitativen Momentes in seinem Gesamtwert hinter einem andern zurücksteht, und zwar rein als Glück – wie ein kleines Stück eines kostbaren Stoffes wertvoller sein kann, als ein großes von geringerem, wobei beide eben doch Stoffe und gar nichts andres bleiben. Dies also dementiert den Versuch, im Glück den absoluten Wert zu sehn, und damit allen »sittlichen« Willensaktionen, die als solche auf seine wachsende Realisierung gehn, eine grundsätzliche Einheit daraufhin zu verleihen, daß jener Endwert in sich einheitlich und nur quantitativen Abstufungen zugängig wäre.

Nicht weniger greift in die idealen Forderungen, in die von innen nach außen, wie in die von außen nach innen gehenden, diejenige Kritik der rein eudämonistischen Moral ein, die von der Frage nach der Verteilung des Glücks ausgeht. Gewiß liegt auch in diesem Begriff eine wirklichkeitsfremde Schematik, da man das »Glück« nicht willensmäßig »verteilen« kann, wie einen Korb Äpfel. Dennoch kann man die Verteilung von Rechten und Pflichten, von Eigentum und Positionen, die von individuellen Mächten, wie von sozialen Einrichtungen ausgehn, vielleicht auf diesen einheitlichen Endausdruck bringen. Aber man bemerkt dann sogleich, daß unsre Forderungen hier nicht von einer beliebig zu verteilenden Vermehrung eines Gesamtglückes befriedigt werden, sondern daß ganz jenseits dieser Quantitätsangelegenheit mit der Frage der Verteilung das Problem eines ganz neuen und selbständigen Wertes auftaucht. Und zwar zunächst als die ideale Forderung der Gerechtigkeit, die die Ordnung der Dinge an das Individuum, aber auch das Individuum an die Ordnung der Dinge stellt. Die utilitarische Lehre, nach der die Gerechtigkeit nichts andres als ein Mittel zum Zweck der irdischen Glücksmehrung ist, bedarf keines Eingehens. Denn wenn auch angebbare Zweckmäßigkeiten den historischen Ursprung der einzelnen Normen der Gerechtigkeit bilden, so ist ihr innerer, sachlicher Sinn und die Bedeutung, mit der sie innerhalb unsres Wertempfindens gilt, durchaus definitiv, selbstgenugsam, von keinen darüberstehenden Werten entlehnt; was das Fiat justitia, pereat mundus treffend ausdrückt. Gerechtigkeit besagt – in bezug auf das Glück –, daß es eine ideelle Verteilung seiner gibt, eine Vorgezeichnetheit, wie seine Maße dem einen und dem andern zukommen, die seiner wirklichen Verteilung als ein Sollen, eine Forderung seitens der idealen Welt gegenübersteht; das Quantum, das als Material dieser Forderung dem einzelnen und der Gesellschaft zur Verfügung steht, ist völlig irrelevant, denn nur das Verhältnis, in dem der eine und der andre an dem zur Verfügung stehenden teilhaben soll, ist der Inhalt jener Forderung. Dieses Verhältnis nun ist auf zwei Weisen zu bestimmen, deren Gegensatz eine der ganz großen, grundsätzlichen Parteiungen der Menschheit bezeichnet. Der Gegensatz scheidet sich an der Frage: ob die Gerechtigkeit fordere, daß dasjenige, was wir als Glück oder Glücksmittel bezeichnen, nach dem Prinzip der Gleichheit oder nach dem der Ungleichheit aller Individuen verteilt werde? Grade die Gerechtigkeit freilich scheint hier nur auf eine Weise entscheiden zu können: dem größeren Verdienste der größere Lohn; eine ideal gerechte Weltverfassung würde das Glück genau im Maße der Unterschiede des Verdienstes verteilen. Dennoch gibt es Gefühlsweisen, die die Gerechtigkeit anders deuten, alle diejenigen, für die die Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt, die erste, axiomatische Forderung an die Ordnung der Dinge ist. Vielleicht werden auch diese anerkennen, daß ein absolut gleiches Anteilhaben aller Individuen an den äußeren und den inneren Gütern des Lebens schon als Vorstellung ganz unvollziehbar und unsinnig ist; aber über alle notwendige – auch innerlich notwendige – Bruchstückhaftigkeit seiner Verwirklichung hin bleibt diesen Naturen die Gleichheit der schlechthin ideale Gedanke – freilich dem früher behandelten Typus von Ideen angehörig, die nur in einer entschiednen Distanz von der Singularität des Wirklichen Geltung und Bedeutung bewahren, ohne daß diese Unmöglichkeit, sie in das einzelne zu übertragen und an diesem zu bewähren, ihnen ihren Wert als prinzipielle Allgemeinheiten raubte. Es handelt sich bei der Maxime der Gleichheit, des prinzipiellen, weit über alles Ökonomische hinausgehenden Kommunismus keineswegs nur um den Impuls der Liebe, die nach der Gerechtigkeit nicht fragt und bewußterweise die Ungleichheiten zu nivellieren strebt, die die Gerechtigkeit erzeugen müßte; sondern grade als eine tiefere Gerechtigkeit wird die Ausgleichung der Glückslagen gefordert. Alles Verdienst, das einen Unterschied zwischen diesen zu begründen aufgerufen ist, wird hier als etwas Minimes und Gleichgültiges gegenüber dem empfunden, was für den Menschen wesentlich und allen gemeinsam ist. Der religiöse Gedanke, alle Seelen seien als solche zur Seligkeit berufen und was sie voneinander unterschiede, berührte nicht den entscheidenden metaphysischen Wert der Seele – ist nur der transzendente Ausdruck dieser ganz tiefgelegenen ethischen Überzeugung, daß der Anspruch an die Güter und das Glück des Lebens ein »Menschenrecht« sei, das von den Differenzen der menschlichen Eigenschaften, Leistungen, Willensrichtungen überhaupt nicht berührt würde. Gleichviel ob diese Intention auf die »Gleichheit«, dieses grundsätzliche Zerschneiden des Bandes zwischen Verdienst und Lohn, auch nur gedanklich durchführbar ist oder nicht – es gehört doch zu den großen Geistesprinzipien der Menschheit und ist, in Versuchen, Absichten, Ansätzen, sehr viel häufiger wirksam, als seine praktisch unvermeidliche Mischung mit der entgegengesetzten Denkart sichtbar macht.

Der allgemeinere Sinn der Gerechtigkeit ist der scheinbar durchaus einfache und klare, daß der Mensch im Maße seiner Würdigkeit genießen soll, daß es dem moralisch Guten eudämonistisch gutgehen soll, dem moralisch Schlechten aber schlecht. In Wirklichkeit indessen ist der Begriff des Würdigseins keineswegs unzweideutig. Schon in dem rein moralischen Sinn, in dem ich ihn eben interpretierte und dessen Durchführung man als die »sittliche Weltordnung« zu bezeichnen pflegt, läßt er uns eigentlich ganz ratlos über das Maß, in dem das eudämonistische Äquivalent einem gegebnen Verhalten zukommt. Es gibt zwischen beiden durchaus keine logische, aus ihrem Sachgehalt folgende Relation, keine Tat kann rein aus dem Quantum ihres ethischen Wertes heraus die ideale Forderung auf ein bestimmtes Quantum eudämonistischen Lohnes erheben – genau so wenig, wie man es dem Verbrechen für sich allein und außerhalb der gesamten sozialen, psychologischen und Zweckmäßigkeitszusammenhänge ansehn kann, welche Strafe es verdient. Der schlechthin sittliche Mensch – dies allein könnte man etwa sagen – sollte schlechthin glücklich sein, und mit dieser Bestimmung rettet sich auch Kant aus der Schwierigkeit der Relation zwischen Tugend und Glückseligkeit, indem er eine in der Unendlichkeit eines unsterblichen Lebens sich vollziehende Vervollkommnung der Seele annimmt, der durch die Einwirkung einer transzendenten Macht – da es sozusagen von selbst nicht geschehen könne – eine in gleichem Maße steigende Seligkeit entspräche. Wie aber in den niederen, irdischen Maßen Verdienst und Lohn sich zu entsprechen habe, dafür fehlt uns jeder unmittelbare Maßstab. Für die letztinstanzliche, in sich selbst ruhende Wertung des Gerechtigkeitsideales gibt es vielleicht keinen stärkeren Beweis, als daß diese Ratlosigkeit, dieses Versagen aller Sachlogik für seine singuläre Durchführung, sein normatives, forderndes Wesen für uns durchaus nicht erschüttert. Wir wissen sehr wohl, daß zufällige historische Umstände und das Maß der Glücksmöglichkeiten überhaupt, das sie bieten, unsre Vorstellungen darüber bestimmen, welcher eudämonistische Erfolg einem gewissen moralischen Verhalten zukommt; aber diesen fordern wir nun, als ob eine unbedingte, aus der Sache hervorgehende, indiskutable Notwendigkeit beides ideell verbände. Was uns an diesem Verhalten für unsern Gegenstand interessiert, ist die Folgerung, daß der Gerechtigkeitsanspruch nicht erst von seinem eventuellen Effekt, die Glückssumme zu vermehren, abgeleitet sein kann. Dieser Effekt mag gleichfalls für sich eine ideale Forderung bilden; sie steht aber neben jenem Anspruch, mit dessen Erfüllung sich eine ethische Reihe definitiv abschließt. Die soziale Idealbildung offenbart das an mehr als einer Stelle. Die sozialistische Ordnung wird heute vielfach als ein Gebot der Gerechtigkeit gefordert. Die eudämonistischen Bevorzugungen, die durch die Zufälle der Geburt, die Begünstigung gewisser Stände, die Chancen der Konjunkturen, die arbeitslose Akkumulierung des Kapitals einzelnen in den Schoß fallen, scheinen aller ethischen Ordnung derart zu widersprechen, daß nur eine prinzipielle Änderung der gesellschaftlichen Basis die Gerechtigkeit wiederherstellen kann: indem der Privatbesitz, an dessen ungleichmäßiger Verteilung all jene Ungerechtigkeiten haften, zu öffentlichem Eigentum wird, und jeder nicht mehr und nicht weniger als den gleichmäßigen, unpräjudizierten Zugang zu den Arbeitsmitteln hat. Was er also gewinnt und genießen kann, ist dann auch nicht mehr und nicht weniger als der Ertrag seiner Arbeit. Aber grade von leidenschaftlichen Verteidigern dieser Absicht, die ungerechten Bevorzugungen und die ungerechten Benachteiligungen aufzuheben, hört man den eudämonistischen Gesamterfolg davon bezweifeln. Ob die Menschen im sozialistischen Staat grade glücklicher sein würden, als unter der jetzigen Verfassung, sei durchaus fraglich, aber darauf komme es für dieses Ideal auch gar nicht an. Dies ist sozusagen nur die ethische Spiegelung der realistischeren Auffassung von Marx selbst, für den die geschichtliche Entwicklung der Wirtschaft ganz von selbst, durch den unentrinnbaren Zwang der in ihr erwachsenden Kräfte, die sozialistische Gesellschaftsform genau so herbeiführen wird, wie sie die sklavenwirtschaftliche, die feudale, die liberalistische Form hat entstehen lassen – ob es mit unserm Willen oder gegen unsern Willen geschieht, danach fragt diese geschichtliche Notwendigkeit so wenig, wie danach, ob der von ihr herbeigeführte Zustand die Individuen glücklicher oder elender macht. Wie sich hier die reale, zum Sozialismus führende Entwicklung, obgleich sie doch schließlich nur von Menschen getragen wird, gegen die Glücksfrage gleichgültig verhält, so tut es auch die ideale, von der ich sprach. Sie geht ausschließlich auf Gerechtigkeit, auf das ideal geforderte Verhältnis zwischen Leistung und Erfolg – ob aber die Gesamtheit der Glücksgefühle dadurch gesteigert wird, oder ob diese etwa bei einer ungerechten Verteilung eine höhere ist, ob vielleicht die »Durchschnittsbehaglichkeit« eines sozialisierten Zustandes es zu den spezifischen Glücksgefühlen gar nicht recht kommen läßt, die sich in einem unterschiedsreicheren entwickeln – das steht ganz dahin und keine Beantwortung dieser Frage kann die Entscheidung beeinflussen, die von dem Ideal der Gerechtigkeit als letztinstanzlichem getroffen wird.

Endlich kommt ein drittes Motiv in Frage, das die Gravitierung aller ethisch genannten Handlungen auf den Endzweck der Glückssteigerung durch eine ganz anders gerichtete, aber nicht weniger definitive Wertempfindung durchbricht. Ihre Erörterung knüpft sich am besten an Schopenhauers Begründung der Sittlichkeit auf die metaphysische Wesensidentität alles Seienden. Das Ich und das Du, die sich einander entgegensetzen, wohnten nur im Reich der Erscheinung, nur die zerspaltenden Formen unsres Intellekts schüfen das Bild der getrennten Individuen, von deren Trennung das Ding-an-sich nichts weiß. Diese absolute und absolut einheitliche Substanz des Seins ist für Schopenhauer jener nie zu befriedigende Wille – eben deshalb nie zu befriedigen, weil er das absolute Sein ist, das also nichts außer sich hat, an dem es sich befriedigen könnte und dessen Wesen deshalb, gleichsam nach innen hin angesehn, nur ewige Qual sein kann; dies ist der metaphysische Grund, der sich als die unstillbare Begehrlichkeit, die tiefe, jeder scheinbaren Befriedigung folgende Enttäuschtheit, die rastlose Qual im Leben jedes Individuums offenbart. Das Wesen des sittlich edlen Menschen nun glaubt Schopenhauer darin zusammenzufassen, daß er weniger, als sonst geschieht, einen Unterschied zwischen sich und andern macht. Ein solcher habe das Täuschende der Individuation durchschaut, er wisse – wenn auch nicht in bewußten Begriffen – daß das Leiden der andern im Grunde sein eignes ist, und er tut, was er kann, zu seiner Linderung – da eben alles, was der Mensch für andre und deshalb schließlich für sich selbst tun kann, Linderung des Leidens, als unsres allgemeinen und unentrinnbaren Schicksals, ist. Die metaphysische Bedeutung aller Sittlichkeit ist, daß die überempirische Einheit alles Seienden, also auch die des Ich und des Du, sich in der Erscheinung realisiere. Die Linderung des Leidens ist hier ersichtlich nichts als die Steigerung des Glücks, in der negativen Form, in die die pessimistische Voraussetzung sie bringt. Begründet die All-Einheit auf diesem Wege das ethisch-eudämonistische Endziel, so ist damit freilich der egoistischen Aktion der Sinn entzogen; aber, genau angesehn, der altruistischen auch. Mündet Lust und Leid der Wirklichkeit so – etwas grob ausgedrückt – an einer Zentralstation, werden alle eudämonistischen Werte so gleichsam in einen Topf geworfen, so ist es ganz gleichgültig, ob die Stelle Ich oder Du heißt, an der innerhalb der Erscheinung die bestimmten Quantitäten des einen und des andern haften und von der aus sie, an jenes Zentrum gelangend, erst ihre wahrhafte Bedeutung gewinnen, aber auch ihre Provenienzen völlig auslöschen. Wenn, von der metaphysisch entscheidenden Instanz aus, das Du so gut ist, wie das Ich, so ist das Ich auch so gut wie das Du, und man wüßte nicht, weshalb eine Handlung, die dem Handelnden ein gewisses Glücksmaß einträgt, weniger wertvoll sein sollte als eine, die seinem Nebenmenschen ebendasselbe verschafft. Darum muß es für Schopenhauer sinnlos und verwerflich sein, wenn jemand ein relativ großes eignes Glücksquantum aufopfert, um für einen andern nur ein relativ kleines zu gewinnen. Denn mit solcher Handlung wäre die Gesamtsumme des überhaupt gewinnbaren Glückes herabgesetzt, jene Gesamtsumme, die von der metaphysischen Seinseinheit, unter Auslöschung der Subjekte ihrer Einzelbeiträge, ausgenommen wird. Hier aber offenbart sich von neuem der Widerspruch, in den sich jede materiale Einheit der ethischen Forderung mit den Tatsachen des sittlichen Bewußtseins selbst setzt. Denn soweit dieses überhaupt auf Altruismus eingestellt ist, urteilt es zweifellos durchgehends, daß der sittliche Wert eines Tuns keineswegs an der Äquivalenz zwischen eignem Opfer und fremdem Gewinn Halt mache, sondern eher noch steige, wenn sich das Verhältnis beider zu ungunsten des Ich verschiebt. Von jedem egoistischen Interesse freilich hat Schopenhauer die eudämonistische Moral gereinigt, indem er den eudämonistischen Endzweck an der metaphysischen, unindividuellen Wesenseinheit haften ließ. Indem wir uns nun aber den sittlichen Wert einer Handlung nicht nehmen lassen, die ein geringes Glück des Du mit einem überwiegenden Leiden des Ich erkauft – gelingt es auch diesem Tiefsinn nicht, alle ethischen Wertungen, und nicht einmal eine so auf der Hand liegende, in jene Deutung der Moral einzuschließen.

So haben sich also innerhalb der eudämonistischen Idealbildung selbst dreierlei Werte gezeigt, die mit der Forderung des Glücksmaximums nicht gedeckt sind, sich in dieses nicht als seine Mittel auflösen lassen und die dennoch als unleugbare moralische Realitäten gegeben sind: die Qualitätsverschiedenheiten des Glücks, die, an seine Veranlassungen geknüpft, die Wertbedeutung eines geringen Quantums hoch über die eines größeren heben können; die Verteilung des Glücks, deren Gerechtigkeit nur in dem Verhältnis seiner Quanten zueinander und zum Verdienste ruht, aber gegen sein absolutes Maß ganz gleichgültig ist; die Aufopferung endlich, die ihren Wert keineswegs an das mit ihr erreichte Gesamtglück bindet, sondern eine große Hingabe des Ich gegen einen kleinen Gewinn des Du mit keiner kleineren, oft mit einer größeren sittlichen Würde bekleidet, als das umgekehrte Verhältnis ihrer Seiten.

Ich habe das Glücksprinzip so ausführlich erörtert, um daran ein Beispiel moralphilosophischer Kritik zu geben. Denn welchen Endzweck man auch aufstellen mag, der alle als sittlich empfundenen Handlungen als seine Mittel erkennen ließe und so ihre Einheit und ihr Absolutes darstellte – die Kritik bereitet jedem das gleiche Schicksal; sie hat bisher noch jedem gegenüber sittliche Werte aufzufinden gewußt, die in die Richtung eines andern Definitivums führen. Die Herrschaft der Vernunft über die »niederen« Triebe oder das wohlverstandene Eigeninteresse, die Hingabe des Individuums an die Gesamtheit der Gesellschaft oder der Menschheit, die Befolgung des göttlichen Willens oder die harmonische Ausbildung der eignen Persönlichkeit, das mystische Verschmelzen des Sonderdaseins mit der pantheistischen All-Einheit oder die steigende Realisierung der Freiheit im individuellen und im Gattungsleben – jeder dieser sittlichen Endzwecke hat einmal die Stellung des alleinherrschenden usurpiert und keiner hat sie vor dem Wettbewerbe andrer halten können. Vielleicht hat jede solcher Behauptungen recht, wenn sie ihren Inhalt als ein Definitivum hinstellt, über das unser sittliches Wollen nicht hinausfragt oder mindestens in gewissen Situationen nicht hinauszufragen braucht. Der Irrtum scheint nur darin zu liegen, daß man den Endzweckcharakter des einen Ideals daran bindet, daß man ihn jedem andern verweigert. So arm ist weder das Reich der Ideen, noch die menschliche Natur, daß man der definitiven idealen Forderung einen bestimmten Inhalt abstreiten müßte, weil man ihr auch noch einen zweiten oder dritten gewähren muß.

Unleugbar allerdings setzt sich dieser Erkenntnis die ideale Forderung der Einheit entgegen, die wir, aus einem ganz tiefen organischen Bedürfnis unsres Seins heraus an das Reich der Ideale stellen. Wir mögen das, was der Mensch oder die Menschheit letzten Endes als die Notwendigkeit des Wertes und Heiles fühlt, nicht in eine Vielheit gegeneinander gleichgültiger Forderungen auseinanderfallen lassen; und scheinen für die Inhalte dieser Notwendigkeit keine andre Einheitsform zur Verfügung zu haben, als eben die teleologische, d. h. wir müssen einen dieser Inhalte als den Endzweck denken, für den alle andern schließlich nur Mittel sind – so sehr diese Mittel psychologisch selbst zu Endzwecken auswachsen mögen. Dem tieferen Leben ist damit ein, in den verschiedensten Formen und Graden aufwachsendes Problem gegeben. Von allen Zerrissenheiten und Versprengtheiten des tatsächlichen Lebens abgesehn, ist auch nur die Forderung seiner Einheit keineswegs eine allgemein akzeptierte. Vielmehr erscheint grade ein Dualismus, wahrscheinlich sogar den meisten Menschen, als das Rechte und Seinsollende. Das Wertvolle des Lebens, die wirklich geübte Sittlichkeit, das wirklich genossene Glück, die wirklich gelungene Vollendung von Sein und Tun solle man in ihrer reinen Höhe und Grenzsicherung halten, entschieden umfriedet gegenüber dem Unvollkommenen, der Sünde, dem Leiden, dem äußerlich und innerlich Häßlichen. Der eigentliche Gewinn des Lebens, das, was schließlich als seine Realität und Substanz bleibt, ergebe sich, wenn man all dies letztere als seine Passiva ansieht und von jenen Aktivis behält, was uns eben nach Abzug der letzteren übrigbleibt. Dieser gewöhnlichen Auffassung, die das Leben als die Bilanz von positiven und negativen Größen der Lebensmaterie auffaßt, steht eine seltnere, aber vielleicht tiefere gegenüber, die die Inhalte des Lebens, in bezug auf seinen letzten Sinn, überhaupt nicht mit dem Plus- und Minuszeichen einander entgegenstellen mag, sondern sie alle in eine einzige positive Reihe einstellt: das Gute und das Böse, das wir tun und das wir leiden, das Schöne, das uns fesselt und das Häßliche, das wir fliehen, die vollendeten wie die Bruchstück gebliebenen Reihen unsres Lebens – alles dies mag sich sachlich noch so sehr widersprechen, aber als Elemente des Lebens, als Szenen eines Schicksals gehört es in die ohne Pause und Hiatus fortschreitende Verknüpftheit des Erlebens überhaupt, es ist ein Leben, dessen Sinn als Leben über alle Gegensätzlichkeiten fortwebt, die seine Inhalte von andern Kriterien aus zeigen mögen. Diese Gegensätze sollen keineswegs negiert werden; sondern indem sie fortbestehn, lebt das übergreifende, oder richtiger, das sie innerlich durchflutende Leben sie in die Einheit einer Ichentwicklung. Zu dieser, deutlicher oder dumpfer gefühlten Einheit unsres Seins aber suchen wir eine entsprechende Einheit unsres Sollens, eine Einheit, für die das in die ideale Welt hineinprojizierte Ich, der Gott als sittlicher Gesetzgeber, den Ausdruck – oder: den Ausdruck unsres Bedürfnisses nach ihr – darstellt. Wo die Einheit des Lebens nicht als daseiend empfunden wird, steht sie wenigstens als Forderung vor uns, als Bewußtsein, daß eine bestimmte Werthöhe des Lebens durch sie bedingt ist; und es ist schwer erträglich, daß die idealen Inhalte, mit denen doch schließlich der Wert des Lebens sich realisiert, nicht untereinander die gleiche Einheit zeigen sollen. Es genügt nicht, daß sie sich logisch nicht widersprechen; die Schönheit der Lebensgestaltung und die Ergebung in Gottes Willen, die Vernunftmäßigkeit des Handelns und die soziale Hingebung, die Höherentwicklung des Typus Mensch und die christliche Nächstenliebe – alles dies mag prinzipiell nebeneinander bestehen können, keines mag verneinend in das andre eingreifen; aber dies genügt unserm Einheitsbedürfnis noch nicht. Daß alledem doch gleichsam die Richtung auf uns gemeinsam ist, daß sich diese ideellen Linien in uns schneiden, scheint der tiefsten Rechtfertigung zu entbehren, solange zwischen ihnen selbst keine positive Verknüpftheit konstatiert ist. Und da nun die Energie in uns, an welche diese Ansprüche appellieren, die praktische ist, das Handeln, das wir in der Form des Zwecksetzens und Mittelergreifens vollziehen, so ist die nächstliegende, ja vielleicht die einzige Ordnung, in der unsre Imperative zu einer Einheit zusammengehn, wie gesagt, die teleologische, d. h. wir organisieren sie so, daß einer als der definitive und absolute Zweck erscheinen soll, dem sich die andern als ein Stufenbau oder allenfalls als eine Koordination von Mitteln unterordnen.

Daß dies nun tatsächlich nicht gelingt, daß die Stromrichtungen der idealen Forderungsgebiete, mindestens für unser bisher entwickeltes Sehen, nicht in einem Meere münden – dies spitzt sich in einem Erscheinungstypus zu, der andrerseits doch wieder aus den Inkohärenzen und Fremdheiten jenes Gebietes eine Beziehung erwachsen läßt. Ich meine die Tatsache, die man im allgemeinen als den »Konflikt der Pflichten« bezeichnet und in der offenbar das Verhältnis zwischen der Einheit, die der Mensch ist, und der Vielheit, die seine Aufgaben sind, zum Austrag kommt. Mag der Konflikt nun so zustande kommen, daß eine Handlung von einem sittlichen Interesse geboten, von einem andern verboten wird, wie der Antigone die Bestattung des Bruders durch die Familienpietät zur Pflicht gemacht, durch die Pflicht des politischen Gehorsams untersagt wird; oder mögen die Pflichten zwar in ihrem Inhalte gar nicht kollidieren, eine jede aber Kräfte und Mittel des Subjekts in einem Maße beanspruchen, das nur für eine hinreichend vorhanden ist – in jedem Fall entspringt er daraus, daß das einheitliche Individuum im Schnittpunkt mehrerer sozialer, ideeller oder überhaupt irgendwie fordernder Kreise steht. Diese Kreise gewinnen ihre Berührung in dem einzelnen, aber um den Preis, diesen selbst zu zerreißen. Die tiefe Tragik dieser Situation ist, daß sie den einzelnen zwar – im »reinen Fall« – vernichtet, da seine Lebenseinheit in dieser Vielheit aufgelöst wird, daß aber auch mit der letalen Lösung, die der Konflikt mindestens auf der Bühne zu finden pflegt, die Rechnung nicht aufgeht, weil die objektiven Forderungen in ihrer Unversöhntheit weiter bestehn: der Abgrund zwischen ihnen schließt sich nicht, nachdem dieses Opfer hineingestürzt ist; der Konflikt ist nicht seinem inneren Sinne nach, sondern nur in einer zufälligen historischen Erscheinung zu Ende, und daß der Tod des Helden »die sittliche Weltordnung wiederherstellt«, ist eine oberflächliche Redensart. Die Praxis, die die minderen Grade dieser Situation täglich durchmacht, hilft sich freilich so, daß sie die mannigfaltigen Forderungen auf das in jeder enthaltene Pflichtquantum hin prüft und wenn die eine mehr »Pflicht« ist, als die andre, sie im Konfliktfalle vor dieser bevorzugt. Diese Entscheidung, die schließlich mit einem gewissen moralischen Automatismus vor sich geht, diese quantitative Wägung und Ordnung zwischen höheren und niederen Pflichten mag angesichts jener Struktur des sittlichen Lebens gemäß subjektiver Einheit und objektiver Vielheit die einzige Möglichkeit sein, das Leben noch irgendwie ethisch durchführbar zu machen. Aber ihr Versagen liegt nicht nur auf der Hand, wo der moralische Instinkt, der schließlich die Bilanz jener Rechnung ziehen muß, kein eindeutiges Resultat verkündet, oder wo er sich für die Gleichheit der Pflichtquanten in zwei Forderungen entscheidet, deren Erfüllungen sich logisch oder technisch gegenseitig ausschließen. Viel wesentlicher ist, daß selbst angesichts völlig gelingender Rangordnung der Pflichten und angesichts des »guten Gewissens«, mit dem die geringere hintangesetzt wird, diese ihren Anspruch und ihre Wirkung nicht vollkommen abdiziert. Sie erzeugt vielmehr, aller Überzeugung von ihrer relativen Inferiorität zum Trotz, ein Nachgefühl von sittlicher Schuld. Oft genug wenigstens hat die einzelne Pflicht einen selbständigen Anspruch gewonnen, die Appellation, die sie bei Zurückweisung dieses an die Instanz des Gewissens richtet, tritt sozusagen selbsttätig ein und bleibt selbst bei ihrem Zusammentreffen mit einer ihr entgegengesetzten, sehr viel wichtigeren und ihr deshalb vorgezognen, nicht aus. Dieses Versagen selbst der objektiv begründeten Rangordnung der Pflichten ist vielleicht der schärfste Ausdruck, den die Unversöhnbarkeit der Pflichtengegensätze gewinnen kann; es zeigt, daß der Mensch nicht nur der indifferente Schauplatz für die Abwägung objektiver Werte ist, sondern als Person, als Ich, mit jedem dieser verbunden ist, unabhängig von der Relation zwischen dem einen und dem andern. So zwingen uns die Komplikationen des Lebens hundertfach, die Sittlichkeit zu verletzen, um der Sittlichkeit willen, und zwar, ohne daß man nun frei und leicht weiterschritte, sondern mit lange nachwirkendem Bewußtsein, daß wir zwar vielleicht ein Sittliches getan, aber ein Sittliches jedenfalls unterlassen haben Mit den in der philosophischen Literatur vorliegenden Behandlungen des Konfliktes der Pflichten hängt diese nur im negativen Sinne zusammen. Mit wenigen Ausnahmen scheinen die ethischen Systeme sich für verpflichtet zu halten, zu einem »versöhnlichen Schlusse« zu gelangen, so daß sie über den tiefen Riß, den jene Erscheinung durch die sittliche Welt legt, mit einem, wie mir scheint, oberflächlichen Optimismus hinwegzugehn pflegen. Eine ausführliche Erörterung des Konflikts der Pflichten habe ich im letzten Kapitel meiner »Einleitung in die Moralwissenschaft« unternommen..

Dieser Unvollkommenheit unsrer sittlichen Lage, die grade an unsern größten Vollkommenheiten erwächst, steht nicht einmal die Hoffnung gegenüber, daß kultiviertere innere oder äußere Zustände das Maß solcher Konflikte vermindern werden. Vielmehr scheinen gewisse ideale Werte grade an sie gebunden zu sein. Der Pflichtenkonflikt ist nämlich, als typische Erscheinung, das Ergebnis einer hohen und differenzierenden Entwicklung, des Interesses und der Haftung des Individuums an immer mannigfaltiger aufwachsenden Gebilden sozialer und religiöser, intellektueller und beruflicher Art. Es ist ein unmittelbarer Gradmesser der Kultur, wie viele Möglichkeiten von Forderungskonflikten das Individuum in seiner sozialen und ideellen Welt vorfindet; und subjektiv: je tiefer das Denken und Fühlen jeden Eindruck und jeden Anspruch des Seins auch in seine mittelbaren Beziehungen, seine Ursachen und Konsequenzen verfolgt, desto zahlreicher entstehen auch jene innerlichen Konflikte, zu denen der Oberflächliche und Kulturlose, nur dem primären Eindruck der Dinge Hingegebne, gar keine Gelegenheit hat. Man kann wohl sagen, daß, wer nie einen Konflikt von Pflichten erlebt hat, sicherlich nicht die Ansprüche der Dinge, der Menschen, der Ideen bis ins letzte durchempfunden hat. Dies ist sozusagen die Materie des ethischen Konfliktes, die sich mit der Verbreiterung und Vertiefung des kulturellen Daseins ins Unabsehliche vermehrt. Und dasselbe findet von der andern Seite seiner Bedingtheit, der formalen oder personalen, her statt. Denn durch die angedeutete Situation wird die Einheit der Persönlichkeit entweder zerrissen, sie zerflackert haltlos in inkohärenten Bewährungen oder passivistisch-sentimentalem Leiden an der Unmöglichkeit einer objektiv genügenden und subjektiv harmonischen Sittlichkeit – oder das Bedürfnis nach der Einheit der Lebensbewährungen erhält eine unerhörte Kraft, eine Dringlichkeit der Aufgabe, zu der primitivere, von selbst einheitlichere Zustände gar keine Veranlassung geben. Auf diesem Wege wird der Konflikt gradezu zur Schule, in der sich das Ich bildet. Und umgekehrt: je einheitlicher wir das Leben zu gestalten, in je engere Beziehungen wir seine Seiten zu setzen suchen, d. h. je leidenschaftlicher das Ichbewußtsein seine Inhalte zu beherrschen strebt, desto konfliktvoller muß das Leben werden. Es ist nicht nur die Synthese der Dinge, die durch das Ich geschieht und ihrerseits das Leben und Bewußtsein des Ich ermöglicht, sondern ihre Antithese erfüllt dieselbe Funktion. So wird mit der Entwicklung des höheren Lebens der Konflikt als typische Erscheinung von den beiden Seiten her immer unvermeidlicher, die ihn überhaupt tragen: es wächst die Expansion inhaltlicher Forderungen, die von dem einen Ich Erfüllung erwarten; und es wächst die Intensität, mit der das Ich seine Einheit zu gewinnen und zu verteidigen beansprucht. In dem Maß, in dem innere und äußere Entfaltungen den Anspruch jeder seiner Seiten steigern, erschweren sie gerade die Erfüllung der andern; wenn wir von den Kompromissen absehn, durch die freilich die Praxis des Tages sich ermöglicht, die aber alles andre als Versöhnung und Lösung sind – so wird der Widerstreit der idealen Forderungen die immer unvermeidlichere Form, in der die höchst verselbständigten Interessen des Lebens sich eines höchst selbständigen Ich zu bemächtigen suchen.

Diese Bedeutung des Konflikts der Pflichten verstärkt sozusagen die Anschaulichkeit der Tatsache, daß die ethischen Forderungen sich nicht einheitlich organisieren lassen. Auch hier wiederholt die Menschheit als ganze die Schicksalsform des Individuums: wie es diesem in der Praxis nicht gelingt, die Gesamtheit seiner Pflichten in eine Harmonie zu vereinheitlichen, die nirgends einen Widerstreit oder einen unerfüllten Rest ließe, wie vielmehr der Schein davon nur durch abschwächendes Kompromiß oder usurpatorische Inthronisierung einer Pflicht auf Kosten der andern zu erreichen ist – so ist unter den ethischen Imperativen der Menschheit überhaupt noch keiner entdeckt, auf dessen Inhalt die Reflexion alle übrigen als seine Mittel reduzieren könnte; sie kann auch diesem Ganzen gegenüber die Einheit nur so gewinnen, daß die Widersprüche und Fremdheiten der Forderungsinhalte gewissermaßen begütigt und herabgesetzt werden, oder so, daß irgendein einzelner eine dogmatische Prärogative bekommt, die vielmehr von einem frommen und praktisch-reformatorischen Wunsche, als von theoretischer Beweisbarkeit getragen zu sein pflegt. Aber mit einer ganz neuen Wendung bemächtigt sich nun das philosophische Vereinheitlichungsbedürfnis jener ethischen Tatsächlichkeiten, die sich ihm bisher zu entziehen schienen. Es gelang nicht, die Zwecke oder Inhalte des als sittlich empfundenen Tuns auf einen höchsten zu reduzieren, von dem gleichsam der sittliche Wert auf alle ausstrahlte – wie aber wäre es, wenn dieser Wert überhaupt nicht an einem Zweck oder Inhalt des Tuns haftete, sondern an seiner Form? Wenn es eine bestimmte, sozusagen funktionelle Art des Handelns gäbe, die seine Sittlichkeit bedeutete, ohne von vornherein auf irgend einen bestimmten Inhalt festgelegt zu sein oder von irgend einem bestimmten Zweck ihre Würde zu entlehnen? Diese Wendung des Problems ist die große Leistung Kants.

Er gewinnt von vornherein das Wesen der sittlichen Forderung nicht von irgendeinem wertvollen Inhalt des Seins oder Handelns her, den es zu realisieren gälte; sondern fragt: was ist überhaupt sittliche Forderung als solche, als eine prinzipielle Form der idealen Welt in ihrem Verhältnis zur Seele? Es schwebt ihm nicht, wie den andern Moralphilosophen, ein Wert vor, dessen Realisierung durch unser Handeln dieses zu einem sittlichen machte; sondern umgekehrt, die Sittlichkeit ist ihm eine ganz autochthone, autonome Beschaffenheit des Handelns und bestimmt von sich aus erst, welche Inhalte sie aufzunehmen und ebendamit zu sittlichen Zwecken zu machen hat. Die Forderung geht nicht auf den Inhalt des pflichtmäßigen Wollens, sondern auf das pflichtmäßige Wollen des Inhaltes. In der Bestimmung des pflichtmäßigen Wollens als solchen also läge die Einheit der Moral, die an ihren Inhalten vergeblich gesucht würde. Diese Bestimmung nun zeigt als ihre erste Bedingung: die Freiwilligkeit. Die eigentlich erzwungene Handlung ist nicht eine geforderte, denn was man erzwingen kann, braucht man nicht zu fordern; und ebensowenig ist das relativ, nämlich durch Furcht und Hoffnung, erzwungene Handeln ein gefordertes, sondern es ist die eine Seite eines »Geschäftes«, von dem man sich nur zu überlegen hat, ob man es angesichts der von unserm Willen nicht abhängigen Äquivalente machen will oder nicht; das Handeln wird hier von dem logischen Resultate dieser Abwägung, aber nicht von unserm Willen – dem allein doch eine Forderung gelten kann – abhängig. Aber das freiwillig Erfüllte ist nun doch Pflicht, d. h. Gesetz. Gesetz ist dasjenige, was für alle individuellen Fälle gilt, bei denen seine Voraussetzungen zutreffen. Nun kann unsre Anerkennung solchen Gesetzes ersichtlich nicht daraufhin erfolgen, daß es uns von irgendwoher gegeben und allgemein anerkannt ist. Denn das wäre ein Abbruch jener Freiheit, die in jeder momentanen Situation zu entscheiden hat, was sie grade in dieser als sittlich notwendig anerkennen will. So bleibt zur Vereinigung dieser Ansprüche nichts übrig, als daß der Handelnde von sich aus wolle oder wenigstens wollen könne, daß seine Handlungsweise ein allgemeines Gesetz sei. Es gibt kein Gesetz, das mit Sicherheit und von vornherein für jede ausdenkbare Situation gälte. Aber wenn ein Wille Pflicht sein soll, so muß wenigstens möglich sein, daß sein Inhalt Gesetz wäre. Ob er das wirklich ist, ob das allgemeine Gesetz, dem der sittliche Wille sich gehorsam oder von dem er sich legitimiert fühlt, historisch oder psychologisch besteht, ist ganz gleichgültig. Damit enthebt Kant das Kriterium der Moral jedem, dem Stoffe nach bestimmten Zweck und verlegt das Gemeinsame aller als sittlich geltenden Handlungen in die formale Beschaffenheit des Willens. Wir können – das hat sich hinreichend gezeigt – keinen Zweck finden, der alle Inhalte des Sollens in sich vereinheitlichte; aber so wunderlich, revolutionär, ohne Zusammenhang mit allen andern der einzelne sei: ich muß wollen können, daß er ein allgemeines Gesetz sei, sonst würde ich ihn auch nicht als Gesetz für mich, als Pflicht, empfinden können. Für die Berücksichtigung der besondern Umstände, unter denen eine Handlung erfolgt und deren Mannigfaltigkeit jeden ein für allemal vorgeschriebnen Zweck zu einer Illusion macht, läßt diese Moralformel den breitesten Raum. Die Handlung als Ganzes, zu der also auch alle einzelnen Bedingungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebensgeschichte und die Konstellation seiner Umgebung gehören, steht in Frage. Erst von der so spezifizierten Tat wird die mögliche Verallgemeinerung zum Gesetz verlangt. Dadurch wird es denkbar, daß die, äußerlich angesehn, unsittlichste Tat, deren Gültigkeit als allgemeines Gesetz ganz ausgeschlossen erscheint – z. B. das Töten eines Menschen –, dennoch, indem alle ihre besondren Umstände in Betracht gezogen werden, durchaus als allgemeines Gesetz gelten könnte, aber freilich nur als diese vielleicht nie wiederholte, durch diese ganz individuellen Umstände bestimmte Tat. Die letzten und besondersten Qualifikationen Her Handlungen können, ja müssen bei ihrer sittlichen Beurteilung einbezogen werden, und erst wenn sie es sind, wenn der Tatbestand bis in seine feinsten Fugen und Verästelungen hinein klarliegt, dann erst tritt jene Forderung auf, die Handlung, alle diese Umstände einbegriffen, als allgemein gültige ansehen zu können. Welches inhaltlich bestimmte Moralgebot man auch aussprechen möge, die Vervollkommnung der eignen Persönlichkeit oder die Glückssteigerung der Gesamtheit, die Herrschaft der Vernunft oder der göttlichen Offenbarung, die Steigerung des Mitleids oder der individuellen Kraft – immer wird es Situationen geben, deren eigentümlicher Kompliziertheit ein solcher Imperativ nicht gewachsen ist, keiner wird für jede mögliche individuelle Sachlage vorgesorgt haben, und so wird man, wenn man ihm dennoch unbedingten Gehorsam wahren will, sich vergewaltigt fühlen; man wird empfinden, daß das momentane Problem, die eigenartige Ausgestaltung des persönlichen Schicksals damit eine äußerliche und rohe Beugung unter ein Gesetz erfährt, bei dessen Schöpfung auf sie keine Rücksicht genommen ist. Erst die Kantische Formel, die von dem höchsten Imperativ jede einzelne, inhaltliche Bestimmung ausschließt, gibt damit den einzelnen Bestimmtheiten des gegebenen Falles uneingeschränkten Raum.

Dies ist der objektive Aspekt der Einheit der sittlichen Forderungen, die Kant – wenngleich mit etwas andrer Begründung – durch die Wendung von ihrem inhaltlichen zu ihrem funktionellen Wesen gewinnt. Er ergänzt diese, indem er die subjektive Triebfeder des sittlichen Handelns nicht weniger von dessen Inhalten abwendet und sie ihren Wert sozusagen in ihrem eignen inneren Leben, in der formalen Tatsache des Pflichtbewußtseins finden läßt. Die Tat, die in die Außenwelt tritt, mag sachlich alle sittlichen Ansprüche erfüllen: ob ihr ein sittlicher Wert des handelnden Subjekts zugrunde liegt, ist ihr dennoch niemals anzusehn, sondern haftet, allgemein zugegebner Weise, an der Unwahrnehmbarkeit des guten oder bösen Motives. Aber dessen »Güte« enthält noch immer eine Zweideutigkeit. Gewiß ist es »gut«, sittlich zu handeln, weil wir daran Freude finden, weil die so erreichte Harmonie mit unsrer Umwelt uns wohltut, weil Teilnahme und Liebe zu den Menschen uns bewegt. Allein diese Motivierung vermittelst der Beglücktheit durch das Gute und den Trieb zu ihm trägt mit nicht geringerer Stärke auch den entgegengesetzten Inhalt: auch zum Bösen fühlen wir uns »getrieben«, auch Grausamkeiten und Bosheiten erzeugen Lustempfindungen, der rücksichtsloseste Egoismus, die tendenziöseste Gesetzwidrigkeit wird um ihrer eudämonistischen Erfolge willen geübt. Angesichts dieser Zufälligkeit, ob es sich auf gute oder auf böse Inhalte richte, kann das Glücks- und Instinktmotiv, so rein und von so erwünschten Erfolgen es auch im ersteren Falle sei, dennoch selbst in diesem nicht den sittlichen Wert einer Handlung tragen. Worin jemand seine Befriedigung findet, das hängt eben nicht von seinem Willen ab, sondern von seiner naturgegebnen Anlage, die er hinnehmen muß wie Regen und Sonnenschein. Die Zufälligkeit des Gefühlsinteresses, bald an das Edelste, bald an das Gemeinste sich knüpfend, ist das Gegenteil der Notwendigkeit, mit der die sittliche Forderung uns entgegentritt. Wird aber das Gefühl als sittlich wertvolle Motivierung ausgeschaltet, so bleibt für diese nur ein Einziges übrig: die Handlung muß geschehn, nur weil sie sittlich, nur weil sie Pflicht ist. Weder die pflichtmäßige Handlung als äußere Tatsache (der ihr Motiv nicht anzusehn ist), noch der Reiz des Guten (da der gleichstarke Reiz auch das Schlechte motivieren kann) trägt den sittlichen Wert: nur das Handeln aus dem ausschließlichen Motive, daß eben diese Handlung Pflicht ist, genügt dem sittlichen Anspruch. – Es ist nur ein andrer Ausgangspunkt des Weges zu dem gleichen Zielpunkt, wenn Kant als die beiden Elemente eines sittlichen Tuns unterscheidet: den Inhalt oder Gegenstand, den es realisiert, und die formale Tatsache, daß diese Realisierung Pflicht ist. Bildet nun der erstere das Motiv des Handelns, so ist dieses nicht seinem Wesen nach sittlich. Denn wenn die Gegenstände unsrer Pflichten die Triebe zu ihrer Erfüllung in uns auslösen, so bedarf es nicht erst der Pflicht, sie werden vielmehr aus andern Motiven realisiert: weil ihre Realität uns irgendwie interessiert, weil sie eine Lücke in unsrer Existenz ausfüllen, weil wir, indem sie auf uns zurückwirken, glücklicher sind, als wir ohne sie wären. Dann brauchte jene Erfüllung also nicht Pflicht zu sein, dann flösse sie nicht aus unsrem in sich selbst freien Willen, dann würden wir, falls etwa andre Mächte sie herbeiführten, völlig zufrieden sein und ihre sittliche Bedeutung wäre eine praktisch überflüssige Zutat. So bleibt also dem sittlichen Tun als solchem nur das andre Motiv: daß es eben Pflicht ist, daß das Gesetz erfüllt wird, bloß weil es Gesetz ist, völlig gleichgültig gegen die wechselnden Inhalte, deren Verwirklichung es uns auferlegt; möge diese noch aus andern Interessen heraus uns wichtig sein, sittlich wertvoll kann sie nur sein, wenn die Tatsache ihrer Sittlichkeit ihr Motiv bildet.

Mit diesen Bestimmungen ist eine prinzipielle Einheit der sittlichen Forderungen erreicht, wie sie durch keine der vorher versuchten Synthesen ihrer Inhalte zu gewinnen war. Denn nun liegt sie in dem wirklich Gemeinsamen: darin, daß all diese Inhalte, so mannigfaltig und divergent sie seien, sittlich gefordert sind. Die Pflicht ruht nun nicht mehr darin, daß dies und jenes sittlich notwendig ist – wer wollte dies für immer und für alle bindend ausmachen? –, sondern daß man so handle, wie es in dieser, vielleicht nie wiederkehrenden Situation Gesetz sein müßte, wie es als Pflicht für alle, die sich in ebendieser befinden, vorgestellt werden muß. Die Beschaffenheit des hierdurch und nicht durch irgendeinen Zweckinhalt bestimmten Willens ist die sittliche, diese allein wird, welche Handlung auch in Frage stünde, im Namen der Sittlichkeit gefordert, wo überhaupt in ihrem Namen gefordert wird. – Ich lasse nun dahingestellt, ob damit wirklich der Einheitspunkt alles als sittlich Empfundenen erreicht ist. Uns interessiert hier nicht die Kritik, sondern die positive Tatsache, daß jedenfalls der Weg, den diese Wendung der Fragestellung einschlägt, sich dem Ziel viel hoffnungsvoller nähert, als alle Versuche, die Zweckinhalte des Sittlichen in eine teleologische Einheit zu bringen. Vielleicht ist der Kantische Pflichtbegriff, die Forderung, ein jedes Handeln als ein allgemeines Gesetz denken zu können, damit es sittlich sei, noch immer zu inhaltlich bestimmt, vielleicht muß das wirklich allgemein Sittliche noch radikaler am rein Funktionellen, an der Form des Handelns als solchen erkannt werden. Kant weist selbst einmal auf eine solche, noch größere, noch freiere Ansicht von der Einheit alles Sittlichen hin: es wäre innerhalb der Welt, ja auch außerhalb derselben nichts denkbar, das schlechthin gut genannt werden könne, als allein ein guter Wille. Der gute Wille tritt so als eine einheitliche, letztentscheidende, nicht aus anderm zusammensetzbare Beschaffenheit unsres Wesens auf; wie wir etwa einen Menschen anmutig nennen und damit die rein von innen her bestimmte Linie seiner Bewegungen meinen, die formale Art seiner Innervationen, die die verschiedensten Handlungen gleichmäßig beseelt, so erscheint die Güte des Willens, d. h. die Sittlichkeit, als eine unmittelbare Qualität und Lebensform des Willensprozesses. Die moralischen Unterschiede steigen aus den Inhalten des Willens in ihren dynamischen Träger hinab. Gewiß bestimmt dessen »Güte« die Wahl jener Inhalte; aber nicht sie sind gut und lassen dadurch den Willen gut sein, wie es die gewöhnliche Auffassung meint, sondern nur er, als Träger der Inhalte oder Ziele, als die spontane und formende Kraft unsres Innern, hat in sich die Qualität, die wir gut nennen und die er seinen Inhalten mitteilt. Auf den absoluten sittlichen Sinn hin angesehn, ist es keineswegs von vornherein »gut«, dem Vaterlande zu dienen oder die Feinde zu lieben, den Armen wohlzutun oder seine Versprechungen zu halten – da die Ziele und Materien des Wollens überhaupt von sich aus diese Qualität gar nicht haben können; sondern dies sind etwa typische Inhalte eines von sich aus guten Willens und darum sind sie gut. Die tiefste Forderung – mit der dieser Gedankengang freilich von der Kantischen Moralauffassung ganz abbiegt – wäre dann auf das Sein des Menschen, statt unmittelbar auf das einzelne Tun gerichtet, und daran träte das scholastische Prinzip in seine Rechte: das Handeln folgt dem Sein. Vom Sein, insoweit es im Willen zum Ausdruck kommt, wird die Qualität des »Guten« verlangt – für die es vielleicht eine Analyse und Definition nicht gibt, sondern die eine nur zu erlebende Rhythmik des Willens, Form seines Funktionierens bedeutet. Wie sie sich äußert, unter welchen Umständen sie auftritt, welche Reaktionen des inneren und äußeren Lebens sie auslöst, mögen wir beschreiben und die Forderungen der Praxis mögen sich auf all dies einzelne Gute richten; gut aber, im sittlichen Sinne, ist es doch nur, insoweit es als von jenem guten Willen getragen gelten kann. Hier läge dann die Einheit dessen, was, in so unabsehbarer inhaltlicher Mannigfaltigkeit, als sittlich empfunden und gefordert wird. Und die moralischen Imperative wären nur Ausmündungen, Ausformungen, Substantialisierungen des guten Willens, in demselben Sinne, in dem die Vorstellung Gottes der substantialisierende Ausdruck der religiösen Stimmung ist. Auch würde man nun verstehn, nicht nur, weshalb alle Konstituierungen einer sittlichen Forderung schlechthin, die alle andern teleologisch einschlösse, mißlingen müssen – da die Inhalte des guten Willens, als einer reinen Funktion, so wenig zu präjudizieren sind, wie die des Denkens oder des Fühlens –, sondern auch, weshalb alle diese philosophischen Moralprinzipien etwas eigentümlich Unlebendiges zu haben pflegen. Dieses ist überall fühlbar, wo die Inhalte oder Resultate eines Prozesses sich an die Stelle dieses selbst setzen. Wie eng und dürftig erscheinen doch eigentlich die Dogmen, die religiösen Begriffe, die fixierten Äußerungen des Glaubens, wenn man sie an der Glut und der Intensität des religiösen Erlebens ihrer Schöpfer mißt, das uns aus imponderablen Symptomen entgegenleuchtet oder aus der Analogie eignen Erlebens intuitiv erfaßbar wird! Wie mager und schemenhaft muten denjenigen, der den philosophischen Geistesprozeß nicht an sich selbst erfahren hat, die Begriffe der philosophischen Systeme an, in denen jener Prozeß zum Stehen und Erstarren gekommen ist! Er vollzieht sich freilich an ihnen, sie sind sein allein Aussagbares oder auch das Ergebnis, das er sozusagen zurückläßt; allein das Leben, das sie durchblutet hat, die Leidenschaft des schöpferischen Prozesses, der diese starren Begriffe in die Kontinuität eines inneren Erlebens verschmolzen hat, ist unmittelbar jenen selbst gar nicht mehr anzusehn. Sie sind wie einst lebendige Körper, die der Strom des inneren Werdens trug und die er an das Ufer geworfen hat; außerhalb ihres Ursprungselementes nicht mehr lebensfähig, liegen sie – wenn der etwas übertreibende Ausdruck gestattet ist – wie Leichname da, während jener Strom das Geheimnis ihres Lebens mit sich weitertrug. Nicht anders wird es sich wohl auch mit den Maximen und Imperativen verhalten, mit deren Forderungsinhalten man die Sittlichkeit des sittlichen Lebens herauszudestillieren und zu fixieren meinte. Die Sittlichkeit liegt eben nicht in diesen Inhalten an und für sich, die im besten Falle einzelne Ergebnisse, diskontinuierliche und symbolische Angebbarkeiten jenes inneren und tiefen Lebensprozesses sind, den man vielleicht den guten Willen nennen kann. Die Sittlichkeit ist ihrer Wurzel, ihrem eigentlichen Werte nach überhaupt nicht mit dem Material des Willens zur Deckung zu bringen, das doch in irgendeinem Sinne immer außerhalb seiner liegt, nicht mit dem ganzen Gefüge von Zwecken und Mitteln, dessen Einzelgestaltungen, obgleich sie logische und psychologische Innerlichkeiten sind, das ethische Willensleben nicht anders ausdrücken, als der Körper die Seele ausdrückt. Wie der Wille überhaupt ein Geschehen ist, das nur erlebt oder nacherlebt, nicht aber aus seinen Zielen und Zielstationen konstruiert werden kann, so ist auch der gute Wille eine zwar nur an ihren Inhalten realisierte, aber nicht aus ihnen bestehende, reine Funktion. Daher das im tiefsten Unbefriedigende und Leblose der begrifflichen Moralprinzipien. Sie wollen aus den Inhalten des guten Willens, in deren Ebene verbleibend, das ihnen Gemeinsame, das sie Tragende und Treibende, die Einheit über ihnen herausgewinnen, was ihnen prinzipiell nicht gelingen kann, weil dieses Wesenhafte, Entscheidende, Bewegende, die wirkliche Einheit in und über ihnen, sich überhaupt nicht in der Ebene dieser Inhalte, obgleich nur an ihnen konkret werdend, vollzieht und deshalb mit der Abstraktion dessen, was ihnen logisch gemeinsam ist, so wenig zusammenfällt, wie die einzelnen Punkte einer Linie mit der Bewegung, deren Kontinuität diese Linie bildet.

Ich begnüge mich mit dieser Andeutung einer philosophisch vereinheitlichenden Attitüde gegenüber dem, was uns als Forderung an uns bewußt ist. Es hat sehr naheliegende, im Praktischen wurzelnde Gründe, daß den umgekehrt verlaufenden, an das objektive Dasein gerichteten Forderungen nicht das gleiche Maß von Überlegungen zuteil geworden ist. Daß eine Welt der Ideen als »gültige« anerkannt ist und ihr gegenüber eine Realität – das stellt sich als Forderung an diese letztere dar, die sich in zwei Richtungen spaltet: daß von der Seele etwas gefordert wird, was schließlich irgendwie in die Welt mündet, und von der Welt etwas, was in die Seele mündet. Wird die Welt von dieser Forderung aus betrachtet, so reagiert das philosophische Bewußtsein auf ihren Anblick im ganzen mit den beiden Antworten, die man als Optimismus und Pessimismus bezeichnet. Ganz allgemein ausgedrückt: für jenen erfüllt die Welt die ideale Forderung, die, gleichsam durch uns hindurchgeleitet, an sie gestellt wird, für diesen erfüllt sie sie nicht – aber nicht etwa so, daß sie sie nur nicht erfüllte, d. h. ihr nicht voll Genüge täte, sondern es ist das prinzipielle und ausgesprochne Wesen der Welt, ihr nicht genugzutun. Der Gegensatz ganz grob ausgedrückt: die Welt ist Gottes oder die Welt ist des Teufels. Der Optimismus befindet sich von vornherein in Verteidigungsstellung. Die Summe des Bösen, der Leiden, der Unvollkommenheiten und Kontra-Idealitäten in der Welt ist so überwältigend, daß dem Verteidiger der »besten aller möglichen Welten« die Beweislast obliegt, während der Pessimist einfach und sozusagen ohne ein Wort hinzuzufügen nur auf jene Summe hinzuzeigen braucht. Ja, er könnte gerade die Behauptung, daß keine bessere Welt als die gegebne denkbar sei, als den radikalsten Erweis seiner Position ansehn: denn wie muß das Sein seinem Wesen nach, wie muß das Prinzip Welt seinen letzten Möglichkeiten nach beschaffen sein, wenn es nicht einmal denkbar ist, daß eine bessere Welt sei, als diese unvollkommene, dunkle, von Qualen erfüllte? Demgegenüber kann sich der Optimismus in die religiöse Verschanzung zurückziehn: der Güte und Weisheit Gottes widerspräche es, daß die von ihm geschaffne Welt schlecht sein solle. Indem dahingestellt bleibt, welche Überzeugungskraft dieses Argument heute noch ausüben kann, enthält es doch ein Motiv von nicht zu unterschätzender Tiefe: daß nämlich die Ertragbarkeit der Welt im letzten Grunde – wie alle letzten Stationen unsrer Wege – auf einem Glauben beruht: unser Wissen wie unser Vertrauen zu Menschen, unsre praktischen Zielsetzungen wie unsre Wertungen kommen einmal an einen Punkt, wo die Kette der Beweise an einem nur noch vom Glauben getragenen Ringe hängt. Und so wird es wohl auch mit der Reihe ineinander verwebter Gefühle und Gedanken sein, die man eben die Ertragbarkeit der Welt nennen kann. Daß die Welt gut sein muß, weil Gott sie gemacht hat, ist schließlich nur die naive Formulierung dieser tief menschlichen Notwendigkeit, den letzten Punkt des Wissens auf einen Glauben zu stützen – nur daß die Entwicklung der Menschheit diesen Punkt immer weiter hinausschiebt und daß die Wissenschaft nicht gestatten darf, ihn ohne Vorbehalt festzulegen. Von dem theologischen Argumente indes abgesehn, kann der optimistische Gedankengang zwei Wege einschlagen, deren einer sozusagen durch das Nebeneinander, der andre durch das Nacheinander der Weltelemente führt. Der erstere heftet sich an die Idee des »Ganzen« der Welt und seines Unterschiedes von ihren einzelnen Teilen. Das isoliert betrachtete Element mag von geringem oder negativem Wert sein; das verhindert nicht, daß es im Zusammenhänge des Ganzen dessen Gesamtzwecken dient, daß es mit allen andern zusammen eine Harmonie bildet, die an ihm in seiner Vereinzeltheit auch nicht pro rata festzustellen ist. Im kleinen erleben wir dies tausendfach: wie das an sich schmerzliche Opfer einen definitiven Gewinn bedingt, wie rücksichtslos egoistische Absichten des Individuums dem Nutzen der Gesellschaft dienen, wie das Leiden, bis zu seinen äußersten Graden, eine sonst unerreichbare Vertiefung und Veredlung des Lebens zur Folge hat. Warum sollte dies nicht der Typus des Weltbildes überhaupt sein? So überwältigend die Erfahrungen des Übels und des Bösen sein mögen, sie bleiben eine Summe von Einzelheiten, die den Charakter der einheitlichen Totalität des Seins so wenig präjudiziert, wie aus einem einzelnen Pinselstrich das Wesen der Bildeinheit zu entnehmen ist. Der Drehpunkt dieses Gedankens ist nicht die – immer etwas kindliche – Abwägung des Guten gegen das Böse in der Welt, sondern der tiefere Gedanke, daß eine Summe von Einzelheiten es der organischen Einheit, in die sie sich als Glieder einfügen, noch ganz freiläßt, eine von jenen unabhängige Färbung und Wertbedeutung zu besitzen. Indem diese Feststellung sich mit der andern vereinigt: daß all das Schlechte, Leidvolle, Unbefriedigende des Daseins, mit dem der Pessimismus sich beweisen will, immer nur ein Einzelnes – ein wie großes und unübersehbares Einzelnes auch immer – sei, ist freilich die Beweiskraft des Pessimismus als Weltanschauung problematisch geworden; allein die optimistische damit als erwiesen zu behaupten, wäre ersichtlich eine Erschleichung. Von »Beweisen« wird man ja wohl überhaupt in dieser Frage absehen müssen; aber immerhin ist es ein Unterschied, ob die Erwägungen, wie hier, nur auf ein non liquet führen, oder ob ein positives Motiv, wenn auch seine Kraft uns nicht bis zu dem Schlußpunkt notwendiger Überzeugung tragen kann, für die eine Seite eintritt. Dies scheint für die andre Möglichkeit des Optimismus zu gelten, die in dem Entwicklungsgedanken wurzelt. Man mag zugeben, daß die Welt, insbesondre das Sein, das Schicksal und das Verhalten der Menschen durchaus der idealen Forderung nicht genügt; aber ebensowenig ist erwiesen, daß dieses Verhältnis zwischen Forderung und Wirklichkeit ein seinem Wesen nach stabiles ist, daß keine Aufwärtsbewegung der Wirklichkeit in der Richtung der Forderung geschieht. Dies ist an und für sich natürlich eine ganz sterile Denkmöglichkeit, die aber entweder durch die metaphysische Idee, daß in jedem Ding seine Vollendung als Trieb und Bestimmung, der es ins Unendliche zureift, angelegt ist – oder durch die biologische Idee der Evolution einen Inhalt und ein Leben gewinnt. Das erstere liegt in der Richtung Leibnizscher Spekulation.

Jede Monade enthält von Ewigkeit her die Spannkräfte von allem in sich, was sie je sein und was je mit ihr geschehen wird, da die einzelne nie andre, als innere Zustände haben kann. Nun wäre wohl eine derartige Anordnung der latenten Energien eines Wesens denkbar, daß deren Entfaltung, ihrer natürlichen Ordnung nach, das Wesen aus unvollkommenen zu immer vollkommneren Zuständen führte, wie es in dem Wachstum der Organismen, wenn auch fragmentarisch genug, in die Erscheinung tritt. Nach dieser Analogie könnte man sich auch die Welt, als ganze und in all ihren Elementen, von einem »Formtrieb« geleitet denken, der die Richtung nach dem zu, was uns als ideale Forderung an das Dasein erscheint, einhielte, gleichviel, ob wir uns über die einzelnen Inhalte dieser Forderung in Subjektivität und Irrtum befinden. Was uns als Unvollkommenheit in uns und außer uns erscheint, wäre ein bloßes Noch-nicht, ein Durchgangspunkt, eine entstellende Hülle, von der die Dinge sich ganz von selbst Stück für Stück entkleiden. Was die Seele in sich fühlt: daß die vollendete Form ihrer selbst in einer ideellen Vorgezeichnetheit von vornherein in ihr ruht und nur entfaltet zu werden braucht, daß alles Dunkle, Böse, Leidvolle in ihr nur die Stationen ihres inneren Kalvarienberges sind, dessen Richtung sie ganz von selbst zu der reinen und erlösenden Höhe führt – das wäre das metaphysische Schicksal des Daseins überhaupt. – Die biologische Fundierung, die die Lehre von den immer wachsenden Anpassungen und Zweckmäßigkeiten der Organismen der optimistischen Stimmung gewährt, ist bekannt genug. Gewiß trifft diese Entwicklung nur die Organismen, sozusagen nur die Subjekte selbst und nicht die Welt, die sie umgibt und auf deren Vollendung doch gleichfalls die ideale Forderung geht. Allein da es sich doch im wesentlichen um eine Relation zwischen Mensch und Welt handelt, so mag die letztere bleiben, wie sie ist, da doch jedes beliebige Resultat der Beziehung erreicht werden kann, wenn nur der eine, der subjektive Faktor, hinreichend variabel ist. Wie man sich nun auch diese Variabilität und ihre Ausnutzung für die Anpassung des Menschen an die Welt denke, ob im Darwinschen oder in einem andern Sinne: daß es die natürliche Notwendigkeit des Lebens ist, »besser« zu werden und dadurch die ungeänderte Welt im Verhältnis zu sich »besser« zu machen – diese Überzeugung mag, unterhalb ihrer naturwissenschaftlichen und historischen Begründungen, von einem tiefen Optimismus getragen sein; aber jedenfalls ist sie ihrerseits wieder die Begründung seiner. Dieses Bild des Lebens, daß es seinem eignen Sinne nach und in seinen innersten Energien die Möglichkeit, Bestrebung, Gewähr dafür besitzt, zu einem Mehr seiner selbst und über jedes Jetzt hinauszuschreiten – dies ist doch wohl der Trost und das Unverlierbare des modernen Geistes, die durch Nietzsche zum Lichte der gesamten seelischen Landschaft geworden ist. Alle die Leiden und Mängel des Lebens, auf die der Pessimismus sich stützt, sind jetzt nicht nur Lücken und Unvollkommenheiten, die das Leben in dem Maße überwindet, in dem es mehr Leben, d. h. mehr Kraft, mehr Schönheit, mehr Weltbesitz wird, sondern sie sind die innerlich notwendigen Durchgangspunkte, von denen jeder an seiner Stelle der relativ beste, die jetzt mögliche Höhe des Lebens ist, die ebendeshalb die Staffel zu einer höheren sein kann.

In dem Geheimnis des Lebens als solchen und in dem Versprechen, das es nicht nur gibt, sondern das es ist, liegt diese Überwindung des Pessimismus; aber in ebendem liegt auch die tiefste Begründung, zu der der Pessimismus selbst es gebracht hat. Für Schopenhauer heißt Leben nichts andres als Wollen; es kann nichts andres heißen, weil Sein überhaupt ihm nichts andres bedeutet als Wollen. Natürlich nickt die seelische Erscheinung des Willens legt er, anthropomorph und fetischistisch, der Welt zugrunde, sondern er sieht in ihr überall nur den dumpfen Drang, das endlose Getriebenwerden, das Anderswerden ohne Ziel und Ruhe, das in uns, in der Form des Bewußtseins, Wille heißt und deshalb auch in seiner metaphysischen Absolutheit so genannt werden mag. Indem der Wille in diesem Sinne das »Ding-an-sich« der Welt ist und der Gespaltenheit unsrer individualisierenden Auffassungsformen fremd, kann er nur einer sein. Als absolute Einheit aber hat er nichts außer sich, womit er seinen Durst stillen, woran er die Unrast, die er nicht hat, sondern die er ist, stillen könnte. Er kann nur an sich selbst zehren, und das Leben ist, als die intensivste Form des Seins, auch die höchste des Wollens. Darum bedarf jedes Wesen eines andern, entsaugt seine Lebensmöglichkeit einem andern, um im nächsten Augenblick auf neuen Raub auszugehn; der Wille zum Leben wird seine eigne Nahrung, in tausend Verkleidungen greift er immer nur sich selbst, weil es außer ihm nichts gibt. Der Ort der höchsten Bewußtheit, das Menschengeschlecht, ist der Schauplatz für die höchste Steigerung dieser Selbstverzehrung des Willens, dessen Einheit seine Sättigung ausschließt: die Menschen sehen die ganze Natur als ein Fabrikat zu ihrem Verbrauch an und unter ihnen tobt der nur schlecht versteckte, nur in Momenten zum Waffenstillstand kommende Kampf aller gegen alle. Dem Wollen kann nie genügt werden, nur seine Objekte, die das Bewußtsein ihm verschafft, können wechseln. Daher scheint es uns so oft, als ob die Erreichung eines momentanen Zieles unfern Willen definitiv befriedigte, während diese Erreichung uns über kurz oder lang enttäuscht und einem andern Begehren Platz schafft. Weil das Dasein immer nur will und den Willen nie befriedigen kann, da es ja immer Wille bleibt, ist die Welt aus ihrem tiefsten Grunde heraus »schlechter als keine Welt«. Und ebendarum ist das fühlende Leben zu unaufhebbarem Leiden verurteilt; denn was es im besten Falle erreichen könnte – aber außerhalb der Abtötung von Wille und Leben überhaupt ersichtlich nicht erreichen kann –, ist, daß der Wille befriedigt wird, d. h. daß das Leiden am Nicht-Haben, an der Entbehrung aufgehoben wird. Alle Beglückung kann also ihrem Wesen nach nichts andres sein, als die Befreiung von einem Schmerz, einer Not, etwas Negatives, dessen Gewinn uns genau so läßt, wie wenn der Wille und das Leben überhaupt nicht gewesen wäre.

Dieser Gedankengang ist widerlegbar genug. Es ist nicht richtig, daß unser Glück nur Befriedigung von Wollungen ist; nicht nur daß wir an manchem glücklich sind, das wir gar nicht »gewollt« haben, sondern das Wollen, das Streben, das ahnende Vorweggenießen gibt uns oft ein Glück, das von der gleichsam substantiellen »Erfüllung« des Wollens ganz unabhängig ist. Aber auf Widerlegung der verstandesmäßigen Beweise kommt es so wenig dem Pessimismus wie dem Optimismus gegenüber hier an. Das Entscheidende ist die in beiden offenbarte, rein tatsächliche Attitüde gegenüber dem Leben als dem Orte der idealen Forderung. Die Überzeugung vom Unwert des Lebens, die aus dessen Vieldeutigkeit grade nur das Übergewicht des Leidens, die Unzulänglichkeit unsrer Bestrebungen heraussieht, und die Überzeugung vom Werte des Lebens, für die jeder Mangel die Vorstufe eines Besitzes ist, jedes Leiden gleichgültig gegenüber den darüberhin aussteigenden Werten des Seins und Tuns – dies sind die Ausdrücke für fundamentale Beschaffenheiten gegensätzlicher Seelen und deshalb in keine »höhere Einheit« zu versöhnen. Was man dennoch ihre Einheit nennen könnte, liegt nicht wiederum in einer Theorie, sondern in dem Erlebnis der Seele, die in diesen beiden extremen Ausdrücken die Pole ihres eignen, zwischen der Verzweiflung über das Leben und dem Jubel über das Leben schwingenden Daseins erblickt Ich entnehme diese Sätze der eingehenderen Darstellung in meinem »Schopenhauer und Nietzsche«..

In allen Erörterungen dieses Kapitels ist wohl das Motiv fühlbar gewesen: daß die Forderungen der Welt an uns und von uns an die Welt tief innerlich verbunden sind; das, was man Lebensanschauung nennt, ruht überall auf irgendeinem Verhältnis zwischen diesen beiden Richtungen der idealen Forderung. Das offenbart sich ohne weiteres, indem die Proportion zwischen den Werten, die man, etwas altmodisch, als Tugend und Glückseligkeit bezeichnet, ein oder vielleicht das fundamentale Thema der Moralphilosophie geworden ist. Über beiden Forderungen erhebt sich die neue, sie zusammenzubringen, sie irgendwie als eine zu begreifen, und besteht selbst da, wo eine Seite negiert wird, wie in der asketischen Weltanschauung die nur von uns ein Sein und Tun verlangt, aber jeglichen Anspruch an die Welt und ihre Leistung für uns ableugnet. Vielleicht gelingt es weder unserm Tun auf der einen Seite, noch unsrer Auffassung der Welt auf der andern, beide Forderungen in ein metaphysisches Gesamtbild einzuschließen; vielleicht muß immer ein Rest bleiben, nicht nur an jeder Forderung für sich, sondern auch an der Einheit beider, die wir begehren. Diesen Rest zu begleichen, ist Sache des Glaubens, der Gnade. Er zeichnet die Grenze, an der, jenseits des Gebietes der Philosophie, die Quellen der Religion entspringen.


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