Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die selbstverständlichste Bestimmung, die der Geist von der umgebenden Welt aussagen kann: daß diese ist – scheint für das Bewußtsein, sowohl der Gattung wie des Individuums, erst relativ spät hervorzutreten. Das Kind, und offenbar auch der primitive Mensch, nimmt die Dinge, die sich seinem Bewußtsein bieten, ihrem bloßen Inhalte nach hin, ohne die Realitätsfrage zu stellen; die Erscheinungen des Traumes und der Phantasie werden unbefangen in ebendieselbe Reihe geordnet. Es ist kein zutreffender Ausdruck, daß der naive Mensch das Trügerische und Subjektive als dieselbe Realität hinnimmt, wie die Gegenstände der gediegensten Erfahrung. Vielmehr, sein Bewußtsein steht noch jenseits dieses ganzen Gegensatzes; weil er die Täuschung nicht als Täuschung weiß, weiß er auch die Wirklichkeit nicht als Wirklichkeit, sondern weiß nur den Inhalt seines Bewußtseins: den andern Menschen und die Sterne, die Landschaft und seinen eignen Leib; und dieser Inhalt, der ebensowohl ein wirklicher wie ein vorgespiegelter sein kann, hat sich noch jener Alternative nicht gestellt. Auf frühen Geistesstufen wird der irrealste Schein, die sinnloseste Phantasterei so ohne weiteres in das Leben verflochten, daß wahrscheinlich eine lange und durch die größten praktischen Schwierigkeiten korrigierte Erfahrung dazu gehörte, um Sein und Schein grundsätzlich voneinander zu sondern, um zu entdecken, daß ebenderselbe Inhalt, ebendasselbe »Ding« das eine wie das andre sein kann; und erst mit diesem Gegensatz dürfte die Welt aus einer Summe qualitativ bestimmter Erscheinungen ein »Sein« geworden sein. Das Gefühl oder der Begriff aber, der damit bezeichnet ist, wirft diese ursprüngliche Notwendigkeit ab, seines Gegensatzes zu bedürfen, um seinen Sinn zu gewinnen. Das Sein wird als ein Absolutes, Einziges, Allumfassendes gedacht: der erste Triumph des Begriffes, in einer, mit einem Wort bezeichenbaren Einheit die Gesamtheit der Dinge zusammenzufassen, so daß nichts draußen bleibt. Diese Umfassung gelingt dem Begriff des Seins mit einer doppelten Bedeutung. Er bezeichnet einmal den Komplex des Seienden, als das Unendliche und unendlich Mannigfaltige, das »ist«, die Welt des Seins; dann aber das Sein der Welt, die nicht weiter zu begründende Tatsache, daß all diese Dinge eben sind; in diesem Sinne ist das Sein das Allgemeine, das allen Weltinhalten, so verschieden und entgegengesetzt sie sein mögen, dennoch gemeinsam ist; dort ist es der gesamte Inhalt der Welt, hier ist es ihre allgemeine Form, dort umschreibt es die Welt von der Vielheit her, die sich eben darin zusammenfindet, daß sie ist, hier von der Einheit her, die dieses Sich-Zusammenfinden der Vielheit bedingt. So oder so verstanden, ist das Sein die reichste oder die ärmste Vorstellung. Man muß sich klarmachen, welche ungeheure Leistung des Geistes in diesem, jetzt so einfach scheinenden Begriff enthalten ist, wie die unabsehbare Fülle der Welt, deren inhaltliche Vielheiten und Fremdheiten niemand zu einer wirklichen Einheit zusammendenken kann, nun doch in einen Ring geschmiedet ist, unter das Joch dieses einen Gedankens: daß dies alles ist, einheitlich gebeugt. Und nun wirft in der andern, der abstrakten Bedeutung des Seins, der Begriff diese ganze Extensität ab und wird zu der einen Formel, die das Gemeinsame aller Dinge ausspricht. Insofern ist das Sein sozusagen der philosophischste aller Begriffe, er erfüllt am meisten die Vereinheitlichungsaufgabe des Geistes gegenüber der Ganzheit der Welt. Es wird sich freilich zeigen, wie die Verwechslung der beiden Bedeutungen vom »Sein« zum Verhängnis des philosophischen Weltbildes werden kann.
Das Sein pflegt nun dennoch in dieser Absolutheit und Gegensatzlosigkeit seines reinen Begriffes innerhalb der Philosophie nicht unmittelbar zu funktionieren. Es wird ihm vielmehr gewöhnlich eine Qualität zugeschrieben, es wird also in der eben beschriebenen Art irgendein einzelner Inhalt aus ihm herausgezogen, der als der schlechthin wesentliche empfunden und, gleichsam auf das allgemeine Sein sich zurückwendend, mit diesem identifiziert wird: der Geist oder der Wille, das Leben oder das Unbewußte sind in philosophischen Spekulationen das Sein überhaupt geworden. Indem die Dinge dies sind, sind sie überhaupt, das Sein, das, je nach seiner extensiven oder seiner abstrakten Bedeutung, entweder alle Färbungen einschließt oder jede Färbung ausschließt, ist hier von einer einzelnen ergriffen und geht völlig in ihr auf. Oder aber, das Sein bekommt nicht eine besondre Bestimmtheit, sondern es ist eine solche, es gewinnt sein Wesen an irgend etwas, was nicht Sein ist – sei es das Nicht-Sein selbst, sei es das Denken, das sich dem Sein gegenüberstellt, sei es der besondere Inhalt des einzelnen Dinges, der doch noch etwas andres ist, als bloßes Sein, sei es das Werden, das als Grundform des Weltganzen vom Sein nicht umfaßt wird.
Ein großer Teil jener Motive, die das Sein durch eine Spezifikation von ihm zu deuten und zu bedeuten beanspruchen, findet sich in der Seinslehre des Parmenides zusammen. Ihn beherrscht die scheinbar unausweichliche Logik des Gedankens: nur das Sein ist, das Nicht-Sein kann nicht sein. Die einzelnen Dinge sind als einzelne, d. h. in dem, was sie voneinander unterscheidet, eben nicht seiend, denn als seiende sind sie ja alle gleich und dasselbe. Er ist, wie mancher spätere Denker, vom Begriff des Seins hypnotisiert, in dessen dunklen Abgrund alles versinkt, was den Dingen noch außer dem, daß sie sind, anhaftet, also alle Qualitäten, durch die sie zu besondern werden; diese also können nichts als Schein und Trug sein. Nun aber ist das Sein des Parmenides doch noch nicht jener rein abstrakte, alle Weltinhalte übergreifende Begriff; sondern es scheint, als habe er sich unter dem Seienden als solchem das gedacht, was wir die Materie nennen. In der merkwürdigsten und lehrreichsten Weise ist hier eine Abstraktion von unerhörter, alles Frühere weit überwindender Höhe und Freiheit dennoch dem Sinnlichen, Greifbaren verwachsen. Die Dinge (so ungefähr muß seine Überlegung verlaufen sein) sind schwarz oder weiß, warm oder kalt – aber das ist doch nicht ihr Sein, denn jenes wechselt, während sie bleiben. Dagegen, ihre Materialität beharrt bei allem Wechsel ihrer Bestimmungen, sie ist jedenfalls immer da, sie also ist das Feste und Gleichmäßige, die eigentliche Realität, außer der es keine geben kann.
Es ist eine ungeheure Abstraktion, die ihn von dem, was doch allein gegeben ist, dem Bunten und Tönenden, dem Bewegten und mannigfach Geformten der Dinge zu dem bloßen Stoff zurücktrieb, der all diesem gemeinsam sei, und ihn dieses Gedankengebilde, das niemals als solches geschaut werden, niemals in seiner Reinheit gegeben werden kann, nun gerade als die alleinige Realität ansprechen ließ. Jener Schluß: da nur das Sein ist, das Nicht-Sein aber nicht, so kann es kein Werden und Vergehn und kein Anderssein geben, da alles dieses ein Nicht-Sein voraussetzt, ein Vorher, ein Nachher, ein Nebeneinander der Erscheinungen – dieser Schluß vergewaltigt ihn bis zu dem Grade, daß ihm das schlechthin Abstrakte, das reine Gedankengebilde der eigenschaftslosen Materie zum allein Realen wird. Eins der staunenswertesten Phänomene der Geistesgeschichte kommt hier vielleicht zum ersten Male auf. Daß rein innerlich erzeugte Vorstellungen als unzweifelbare äußere Realitäten gelten, wenn die Erregtheit des Augenblicks, die Bedürfnisse des Gemütes, die kritiklose Phantasie, dahin drängen, ist eine von je und allenthalben bestehende Tatsache. Um aber das Resultat eines begrifflichen Denkens, einer logischen Folgerung als absolute Realität zu verkünden, das ewig Unanschauliche der eigenschaftslosen, unbewegten Materie in der inneren Anschauung als das wahrhaft und einzig Wirkliche zu erblicken – dazu bedurfte es der unerhörten Intellektualität der Griechen, dazu mußte das Motiv der Souveränität des Geistes, mit dem die Griechen der Weltgeschichte der Kultur eine absolut entscheidende Wendung gaben, in seiner ganzen Kraft wirksam geworden sein.
Der Gegensatz, an dem das Sein sich in seinem Wesen offenbart, ist hier, wie gesagt, das Nicht-Sein. Und weil – in der merkwürdigen Vereinigung höchster Abstraktion mit dem naiven Bedürfnis nach Sinnlich-Naturhaftem, wie sie jenes frühe Griechentum charakterisiert – das Sein dem Stoffe gleichgesetzt wird, dem erfülltes Raume, so ist das Nicht-Sein der leere Raum: es kann also keinen leeren Raum geben; und darum auch keine Bewegung, da diese für die Anschauung der Zeit bedeutete, daß Materielles durch unerfüllten Raum hindurch seinen Ort wechselt. Weil das vollständige Sein ja schon überall ist, so kann es keinerlei Wechsel geben, die Materie bleibt eben unter allen Umständen Materie, und alles Werden und Vergehen ist trügender Schein. Ebenso ist das Sein auch unzerlegbar, denn neben dem Sein kann kein zweites Sein bestehen, das doch auch nur Sein, also kein andres als jenes wäre – und somit keine Mannigfaltigkeit gesonderter Erscheinungen. Es ist das tiefe Gefühl für die Einheit der Dinge, das in dieser wie in jeder Seins-Philosophie zum unmittelbarsten Ausdruck kommt. Das Denken steht hier dem Sein noch nicht gegenüber, als die andre Partei, sondern es wird von ihm mitumfaßt: »dasselbe ist das Denken und das, worauf das Denken geht«, und an andrer Stelle: »dasselbe ist das Denken und das Sein«. Für die Griechen kann – wir werden dies noch in einem viel reiferen Stadium feststellen – das Denken nur als ein ganz unmittelbares Verhältnis zu seinem Gegenstand Wahrheit sein. Die Souveränität des Geistes bedeutet noch nicht, daß er die Wahrheit als einen inneren Wert seiner selbst, als ein Verhältnis seiner Elemente zueinander erzeuge, das zu den äußeren Dingen nur eine symbolische, eine indirekte, eine durch höhere Instanzen getragene Verbindung hätte; sondern das Denken und das Gedachte müssen einander gleich sein und, in dieser primitiveren Vorstellungsweise, sogar eines und dasselbe sein: die eine Substanz, das reine Sein, muß das Denken gleichsam in sich eingetrunken haben, damit es wahr sei, also im eigentlichen Sinne überhaupt sei. Diese zwei Grundmotive also durchdringen sich in dieser Philosophie des Seins: das Wunder der Tatsache, daß überhaupt etwas ist – dessen Unbegreiflichkeit gewissermaßen dadurch gehoben wird, daß man sich entschließt, es eben nicht als Wunder, sondern gerade als das Fundamentale und Selbstverständliche, alles andre Erklärende zu setzen; und die Leidenschaft der Einheit, die Unerträglichkeit des Bunten, beziehungslos Mannigfaltigen der Welt, das als solches nur als der Betrug der Sinne, als leerer Schall gelten kann, weil es ja schon in der Tatsache, daß es ist, seine Einheit und zugleich seine Realität gefunden hat.
Vielleicht gehört dies letzte Motiv zu den tiefsten aller Philosophie überhaupt. Nach ihren Eigenschaften und Schicksalen gehen die Dinge in einer unübersehbaren und zusammenhangslosen Vielheit auseinander. Wie will man eine Einheit, die alle Qualitäten umfaßt und mehr ist als eine bloße ideale Voraussetzung, zwischen der Welt der Farben und der der Töne herstellen, zwischen den Kreisungen der Gestirne und den Teilungen der Amöbe, zwischen einem Stück Holz und einem Rembrandtschen Porträt? Aber all diese Bestimmungen sind auch nicht davon abhängig, daß sie wirklich sind. Sie haben einen in Begriffen angebbaren Inhalt, der seine Angebbarkeit, seine Bedeutung, seinen Wert in sich bewährt, auch wenn er reines Denkgebilde, Anschauung der Phantasie, Forderung eines sittlichen, ästhetischen oder auch willkürlichen Sollens ist. Was also die Dinge als individuell gestaltete, voneinander ihrem Inhalt nach geschiedne erscheinen läßt, das hat eine rein innere Bedeutung, die sich jenseits der Frage vom Sein und Nichtsein hält. Insoweit aber die Dinge sind, haben sie in diesem Sein ihre Gemeinsamkeit und Ununterscheidbarkeit, in die Tatsache der Existenz reichen die Differenzen dessen, was existiert, nicht hinunter.
Nun aber erfolgt der metaphysische Sprung: daß dies Gemeinsame der Dinge als ein Einheitliches gilt, das sie verbindet, zu einer Einheit macht, daß die Substanz alles ist, der gegenüber ihr Verschiedenes ein Unwirkliches ist, ein Schein und Schimmer, ein subjektiver Trug. Die ganze Geschichte der Philosophie entlang wachsen diese drei Begriffe durcheinander und ineinander: das Allgemeine der Dinge, die Einheit der Dinge, die fundamentale Realität der Dinge. Hier liegt die verhängnisvolle Bezauberung, die das Denken von je durch die allgemeinen Begriffe erfahren hat. Es liegt unzweifelhaft ein tiefes Problem darin, daß Erscheinungen von individueller, selbständiger Existenz, nach räumlichen, zeitlichen und beliebig vielen sachlichen Bestimmtheiten voneinander abweichend, dennoch in irgendwelcher Bestimmtheit übereinstimmen, sie gemeinsam haben sollen, daß ihre sonstige völlige Unvergleichbarkeit ihre Gleichheit in einem Punkte nicht hindert. Der Gedanke scheint gar nicht ausschließbar, daß hiermit eine reale Zusammengehörigkeit – nicht nur eine im vergleichenden Geiste des Betrachters entstehende – unter diesen Erscheinungen offenbar werde; der Doppelsinn des »Gemeinsamen«: daß es die gleiche Qualität an verschiedenen Subjekten und den einheitlichen Besitz verschiedener Subjekte bedeutet – erscheint als das sprachliche Symbol dieser Struktur. Es ist, als ob der Geist die Zufälligkeit, die in diesem Vorkommen des Gleichen an im übrigen Ungleichem liegt, nicht ertragen könne und sie in eine innere Begründung und Notwendigkeit dadurch verwandle, daß er die eigenschaftliche Gleichheit zu einer substantiellen, einheitlichen Verbundenheit gerinnen läßt, daß er sie mindestens aus einer den Dingen untergelegten einheitlichen Wurzel wachsen läßt, die die Gleichheit ihrer Erzeugnisse begreiflich mache. Und daraus versteht man den nächsten Schritt: daß dieses den Erscheinungen Gemeinsame auch ihre eigentliche Realität sei. Denn wie sie unmittelbar gegeben sind, eine jede ihre unvergleichlichen und ihre mit andern vergleichlichen Qualitäten in unlöslichem Zusammen darbietend, stehen sie selbständig und fremd außereinander. Die Einheit, die in der Gleichheit gewisser Eigenschaften offenbar wird, kann also nur oberhalb oder unterhalb dieser unmittelbaren Erscheinung liegen. Sie ist entweder weniger als diese, ist eine bloß vom Betrachter vollzogene Abstraktion, ein bloßer »Hauch unsrer Stimme«, wie mittelalterliche Denker die Allgemeinbegriffe nannten; oder sie ist mehr, ist die tiefere Wirklichkeit unter der empirischen Wirklichkeit. Diese Einheit kann so vieles Einzelnes in sich wurzeln lassen, weil sie kraftvoller, fundamentaler, sicherer ist als jedes Einzelne – wie der Staat, der das Gemeinsame vieler Individuen und der Ort ihres Zusammenhanges ist, mehr ist als jedes Individuum, eine unzerstörbarere Wirklichkeit besitzt als ein jedes, und einem jeden, daran teilhabenden, einen Bestand und eine Festigkeit gibt, die er von sich aus nicht hat. Sollen die Einheiten, zu denen die Struktur unsres Denkens die Allgemeinheiten der Dinge konzentriert, nicht ein bloßer Überbau irrealer Reflexion sein, so müssen sie ein Unterbau von unbedingter, mehr als empirischer Realität sein. Was allem Einzelnen so überlegen ist, daß es unendlich vielem Einzelnen gemeinsam sein und es zusammenhalten kann, muß eine gediegenere, tiefer gegründete Wirklichkeit als dieses Einzelne haben, d. h. es kann nur als die eigentliche und absolute Wirklichkeit gelten, der gegenüber jene andre eine bloße Wirklichkeit zweiten Ranges ist. Im Begriff des Seins erfüllt sich dieses Zueinanderstreben der drei fundamentalen Kategorien ersichtlich am vollständigsten und am tiefsten. Nichts Allgemeineres scheint von den Inhalten unsrer Welt auszusagen, als daß sie sind, in der Reihe der Begriffe, die von geringem Umfang zu immer allgemeinerer Umfassung aufsteigen, steht zu oberst und abschließend der des Seins, dem das Heterogenste in immer gleicher Weise Raum geben muß. Und weiter: gerade dadurch, daß alle Inhalte der Welt sind, daß sie das Sein teilen, gehören sie zu einer Einheit zusammen. Als isolierte, in zufälligen Reihenfolgen, in gegenseitiger Fremdheit mögen sie gedacht werden: aber wenn sie sind, bilden sie eine Welt: in diesem Sinne hieß es schon bei den Griechen, daß jeder Träumende seine eigne Welt hätte, die Welt der Wachen aber nur eine wäre. Es ist nicht, wie wenn viele verschiedene Dinge schön sind, von denen doch ein jedes für sich sein kann und ohne durch seine Schönheit mit dem andern zu einer einheitlichen Welt der Schönheit oder in einer gemeinsamen Wurzel zusammenzugehören (obgleich auch dies eine metaphysische Lehre ist); aber alles, was ist, wird als zu einer Realität gehörig empfunden, gleichsam an dem einen Sein teilhabend. Und hier bedarf es keines besonderen Schrittes, um in dieser Einheit, zu der das Viele durch sein Gemeinsames wird, die eigentliche Realität unterhalb alles Flusses und alles Truges der Erscheinungen zu finden. Wenn der theologische Metaphysiker, an allen Dingen den Pulsschlag des göttlichen Lebens spürend und in dessen Einheit ihren Sinn findend, Gott als etwas Überempirisches und in der Unmittelbarkeit der Erscheinungen nicht Greifbares verehrt, so ist ihm dieser Gott doch eigentlich das einzig und unbedingt Reale, und daß er nicht da ist wie ein einzelnes Ding, das setzt seine Wirklichkeit nicht herab, sondern gerade nur damit ist deren Fülle und Absolutheit verträglich. Indem Schopenhauer jede Erscheinung von haltloser Unrast, unheilbarem Bewegungsdrange umgetrieben sieht und dies, durch das Bewußtsein des menschlichen Willens gedeutet, als einen einheitlichen, dies ziellose Weltleben lebenden Weltwillen zusammenschaut – ist eben dieser Wille, den keine Erscheinung unmittelbar zeigt, gerade weil er ihr innerstes Wesen ausmacht, eben doch das allein Reale; alle erfahrbare Wirklichkeit aber ist nichtige Erscheinung, ein Schleier, von unsern Sinnen gewebt, der jene absolute Wirklichkeit verhüllt. Wenn statt solcher qualitativer Bestimmungen der Wirklichkeit, deren Seinscharakter sich viel tiefer und fester als der der Einzeldinge gründet, nun das Sein selbst jenes Allgemeine und jene Einheit der Welt ausmacht, so ist, deutlicher als dort, dieses Sein die eigentliche und gleichsam unverschiebbare Wirklichkeit, der metaphysische Grund, über den die unmittelbar sich bietenden, in ihren Bestimmungen differierenden Erfahrbarkeiten der Welt als etwas Ideelles und Wurzelloses hinspielen. Es macht sich hier das Merkwürdige geltend, daß das Sein, das doch als die unmittelbarste, wahrnehmbarste, sozusagen aufdringlichste Tatsache erscheint, in Wahrheit die metaphysischste, ungreifbarste, unbeschreiblichste ist. Alle sogenannte sinnliche Gewißheit kann uns nur der Inhalte der Dinge sicher machen: des Farbigen und des Tönenden, des Harten und des Weichen, des Warmen und des Kalten. Aber daß diese, in ihren Qualitäten wahrgenommenen Dinge sind – das liegt für uns jenseits der Wahrnehmung selbst, das ist das schlechthin Unanschauliche. Dies ist, nebenbei bemerkt, der Sinn und Grund der Behauptung von der Kunst, daß sie »interesselos« ist – d. h., daß sie nach der Wirklichkeit der Objekte nicht fragt, sondern nur nach ihrer Erscheinung, nach ihrem »Bilde«. Die Sinne können uns das Sein nicht geben, sondern umgekehrt ist es etwas, was wir den Sinnen geben, ein Metaphysisches, das mit der Kunst nichts zu tun hat, weil sie die Sache der Sinne ist, der anschaulichen Inhalte der Dinge. Das Sein kann immer nur hinzugedacht werden, aus einer andern als der unmittelbar dargebotenen Ordnung der Dinge heraus.
Diese Verwebung also der Allgemeinheit, der Einheit und der metaphysisch-übersinnlichen Bedeutung des Seins zieht sich in den mannigfachsten Weisen durch die ganze Geschichte der philosophischen Spekulation. Sie hat ihre klassische Zuspitzung, mehr als zweitausend Jahre nach Parmenides, durch Spinoza erfahren. – Das erste Interesse Spinozas, wie überhaupt der beginnenden Philosophie der neueren Zeit gilt dem Begriff der Substanz; d. h. der Gedanke wollte sich einer Wirklichkeit versichern, die an sich selbst notwendig und unbezweifelbar ist, eines absolut Zuverlässigen. das aller Relativität und aller Abhängigkeit enthoben wäre. Ein solches Bedürfnis, etwas völlig Festes in der Welt zu finden, war in einer Zeit besonders begreiflich, in der die Stabilität des mittelalterlichen Weltbildes aufgelöst und ein auf Bewegtheit, Kraftäußerungen, bloße Relationen der Erscheinungen gestellter Naturalismus an seine Stelle getreten war. In der Renaissance – soweit sie noch in diese Wendung hineinreicht – war die damit gegebene Erschütterung und Haltlosigkeit zunächst durch den Rausch der gewonnenen Freiheit überdeckt, durch den Stolz des Persönlichkeitsbewußtseins, das sich damals aus den kirchlichen und sozialen Bindungen des Mittelalters herausarbeitete, endlich durch den ästhetischen Reiz der Kunst, unter deren Führung jenes naturhafte, im Irdischen zentrierende Weltbild zuerst aufwuchs und die Seelen für sich gewann. Aber jenes Freiheitsgefühl verblaßte mit wachsendem Abstand von den zerbrochenen Bindungen, die Persönlichkeit fand nicht genug Halt in sich, um den von dem geistigen Bilde des Seins her entbehren zu können – bis Kant gerade in der Vorstellungskraft des Ich alle Festigkeit und Gesetzlichkeit dieses Bildes entdeckte und in seinem sittlichen Bewußtsein das einzig Absolute und Sinnvolle des Daseins überhaupt Eine genauere Darstellung der Kantischen Grundprinzipien habe ich in meinem Buche: Kant, 16 Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität, gegeben.. Und endlich, die Einstellung des Weltbildes unter die Norm der Kunst und der Schönheit scheint ihm nur da, wo sie sich als die Produktivität des Individuums ergibt, Halt und Legitimierung zu verleihen, der Gesamtheit eines Kulturkreises aber nur als vergängliche Illusion zu dienen. Gewiß waren die führenden Denker des 17. Jahrhunderts von der Notwendigkeit und ewigen Gültigkeit der Naturgesetze überzeugt, nachdem Galilei und Kopernikus, Boyle und Newton gewirkt hatten. Allein, es scheint dennoch erst einer späteren Zeit vorbehalten gewesen zu sein, von dieser Gewißheit, die doch nur die von Verhältnissen und Geschehnissen ist, das Bedürfnis nach einem sozusagen substantiell festen Punkt, nach einem Absoluten des Daseins zum Schweigen bringen zu lassen. Den Forschern, die ich nannte, war durchgehends noch der theologische Gottesbegriff unentbehrlich. In Spinoza drängte die denkerische Umsetzung dieses Bedürfnisses dazu, es nicht mehr durch einen Glauben an ein Gegenüber der Welt zu befriedigen, sondern durch ein logisch entwickelbares Wissen um die Welt selbst: das Denken der Welt muß in ihr selbst die »Substanz« zeigen, d. h. einen Begriff von unbedingter Festigkeit, der absolut in sich beschlossen und von nichts anderem abhängig ist. Wenn es eine so definierte Substanz gibt, so kann sie nur eine sein und muß unendlich, d. h. allumfassend sein. Denn gäbe es noch eine andre außer ihr und wäre sie endlich, so wäre eben etwas da, das sie einschlösse und ihr damit eine Grenze setzte, so wäre sie nicht in sich beschlossen, sondern in einem andern; und unabhängig kann nur das Unendliche sein, denn ein Endliches hat als solches ein andres Endliches außerhalb seiner und wird unvermeidlich von diesem irgendwie bestimmt. In solcher Verschlingung der Begriffe also erwächst, was zunächst von der »Substanz« zu fordern ist: sie muß unendlich sein, sonst wäre sie begrenzt, also nicht selbständig, und es kann nur eine geben, sonst wäre sie nicht unendlich, sondern hätte ihr Ende, wo die andre beginnt. Daraus folgt aber weiter, daß sie nicht von anderm hervorgebracht, nicht auf Grund von anderm begriffen werden kann; es gibt ja nichts »anderes« außer ihr. Sie ist also der Grund ihrer selbst, sie kann nur aus sich selbst begriffen werden. Die Wirklichkeit von dem, was nicht »Substanz« ist – also von Eigenschaften, Ereignissen, Einzelheiten –, mag von anderem abgeleitet, von außerhalb her logisch verstanden werden; die Wirklichkeit der Substanz aber kann nur aus ihrem eignen Begriff heraus erwiesen werden, aus der Gültigkeit ihres Begriffes folgt, daß sie ist; oder, anders ausgedrückt: daß sie nicht ist, wäre ein logischer Widerspruch. Mit dieser Deduktion, die freilich dem heutigen Denken abstrus und brüchig genug erscheint, soll das Bedürfnis nach dem schlechthin Festen und Unanzweifelbaren ganz und gar gestillt werden; denn was Sichreres, Verläßlicheres, Absoluteres kann es geben als dasjenige, dessen Nicht-Sein einen logischen Widerspruch bedeutet? das so wenig nicht-sein kann, wie das Runde nicht-rund oder das Schwarze nicht-schwarz sein kann? dessen Sein eine so notwendige Folge seines eignen Begriffes ist, wie das Resultat vier die notwendige Folge des Begriffes zweimalzwei ist, wie überhaupt ein Schlußsatz logisch unausweichlich ist, wenn seine Voraussetzungen da sind? Für diese Substanz braucht Spinoza auch den Ausdruck: Gott. Allein, da sie das Unendliche und Allumfassende ist und nichts außer sich oder sich gegenüber hat, so kann dieser Gott nicht von der Welt getrennt sein, sondern es gibt eben nur diese eine absolute Einheit, für die Substanz oder Gott nur zwei verschiedene Namen sind. Da nun aber die Welt in ihren dargebotenen Erscheinungen keineswegs eine einfache Einheit, sondern ein höchst Mannigfaltiges und Individualisiertes ist, da die Dinge in ihr nicht unendlich sind, sondern Anfang und Ende haben, da keines für sich logisch notwendig ist, sondern seine Notwendigkeit immer nur auf Naturgesetze hin aus andern ableitet – so muß die Substanz Spinozas noch einen näheren und eigentlichen, von ihm selbst aber nicht unmittelbar ausgesprochenen Sinn haben.
Es gibt nun, wie mir scheint, nur einen einzigen Begriff, der mit einer gewissen Plausibilität all jene Bestimmungen der »Substanz« in sich vereinigt: eben der Begriff des Seins. Dieser vor allem kann dazu verführen, aus ihm als bloßem Begriff die Realität als Gegenstand zu folgern: das Sein allein scheint dasjenige zu sein, dessen Nicht-Sein ein logischer Widerspruch wäre, das nicht als nicht-seiend gedacht werden kann. Hier liegt der Drehpunkt dieses ganzen Typus von Seins-Philosophien: die Verwechslung des Seins als abstrakten Begriffes mit dem Sein als der Gesamtheit der seienden Dinge. Es ist schon richtig, daß das Sein nicht das Nicht-Sein sein kann, oder: daß das Seiende, wenn es ist, wenn es unter den Begriff des Seins gehört, nicht zugleich nicht-sein kann – gerade wie ein Ding, wenn es schwarz ist, nicht zugleich nicht-schwarz sein kann. Es liegt aber gar kein logischer Widerspruch darin, daß das schwarze Ding überhaupt weggedacht werde, und ebensowenig also darin, daß die seienden Dinge überhaupt weggedacht werden. Wenn man einem Objekt eine gewisse Bestimmung zuspricht, so kann man sie ihm freilich nicht zugleich absprechen, ohne gegen die Logik zu verstoßen; spricht man sie ihm aber von vornherein ab, so ist die Voraussetzung des Widerspruchs beseitigt. Wenn die »Substanz« die Totalität der Dinge ist, so ist logisch nur so zu folgern: wenn sie sind, so sind sie eben und können nicht als nicht-seiend gedacht werden; aber daß sie sind, ist keineswegs logisch notwendig. Das Trügerische des Schlusses, der die logische »Notwendigkeit« der Substanz aus dem Satze: die seienden Dinge sind – entfalten will, ruht eben darin, daß das Sein in dem ersten Satzteil eine Bestimmung der Dinge ist, in dem späteren aber die Existenz der so bestimmten Dinge aussagt. An dem ganz ebenso gebauten Satz: die schwarzen Dinge sind – leuchtet ohne weiteres ein, daß er keinerlei logische Notwendigkeit besitzt; er kann wahr oder falsch sein, während der Satz: die schwarzen Dinge sind schwarz, notwendig wahr ist, weil in ihm das Schwarz des Subjekts und das Schwarz des Prädikats den gleichen Sinn hat; ob aber die schwarzen Dinge überhaupt sind, darüber sagt er nichts aus. Nur weil Subjekt und Prädikat des Satzes, daß die seienden Dinge sind, das gleiche Wort: Sein – aufweisen, entsteht der Schein, als hätte er die innere Notwendigkeit des Satzes: die schwarzen Dinge sind schwarz, während er in Wirklichkeit nur die rein tatsächliche, anderswoher zu erweisende Wahrheit oder Unwahrheit des Satzes hat: die schwarzen Dinge sind. Soll aber dennoch das Sein schon in dem ersten Satzteil die gleiche Existenz und Wirklichkeit aussagen, wie in dem zweiten, so ist der Satz allerdings logisch notwendig; allein nun wird wieder das, was man von den Dingen erweisen will: daß sie existieren – schon von vornherein in sie hineingelegt, so daß die jetzt zweifellose und selbstverständliche Wahrheit des Satzes dennoch das Sein der Dinge in der Welt der Wirklichkeit so wenig erweist, wie aus der zweifellosen Wahrheit des Satzes: ein rundes Viereck ist ein rundes Viereck – die Existenz eines runden Vierecks hervorgeht.
So ist es das Schicksal der »Substanz«, die »durch sich selbst begriffen wird«, »deren Begriff ihre Existenz notwendig macht«, daß der beweisende Satz entweder nicht logisch notwendig oder, wenn logisch notwendig, ein sachlich leerer Zirkel ist. Und dies ist die unvermeidliche Tragödie jenes Bedürfnisses, eine absolute Festigkeit des Daseins, nachdem der Glaube sie nicht mehr gewährleistet, vermittelst des Denkens zu gewinnen. Die in sich kreisende Notwendigkeit der bloßen Logik wird niemals die Existenz der Dinge aus sich entwickeln, diese vielmehr bleibt eine Tatsache, die als gegebene hingenommen, aber nie mit der unbedingten Notwendigkeit, wie jene Sehnsucht sie verlangt, begriffen werden kann. Es wird jederzeit eines der denkwürdigsten Vorkommnisse der Geistesgeschichte bleiben, wie das Bedürfnis nach dem absolut Sichern und Unbezweifelbaren, das ja seine Wurzeln gar nicht in bloßen Erkenntnisinteressen, sondern in dem gesamten Verhältnis des Menschen zur Welt hat, hier seine Befriedigung vermittelst der bloßen Erkenntnis sucht; diese tiefgelegne Unangemessenheit rächt sich sozusagen damit, daß die Stärke des Bedürfnisses gegen den Selbstbetrug und die Leerheit jenes logischen Verfahrens blind gemacht hat. – Aber die Notwendigkeit, die das Denken dem Sein zu gewinnen glaubte, bedeutet noch etwas weiteres, was sachlich vielleicht nur ein andrer Ausdruck für diese Notwendigkeit ist, seelisch aber einem besonderen Bedürfnis entspricht: daß das Sein logisch bewiesen, aus sich selbst verstanden werden soll, das macht es zu etwas Vernunftmäßigem, das löst das Dunkle, Irrationelle, Fatumsmäßige, das in der Tatsache des Seins überhaupt liegt. Daß es eine Welt gibt, ist die schlechthin harte Tatsache, diejenige, in die unsre Vernunft nicht eindringen kann: für Schopenhauer wie für die indische Philosophie wurde das Grauen, mit dem sie dem Sein gegenüberstehn und dessen Unbezwinglichkeit fühlen, zum leitenden Affekte in ihrem Denken; und vielleicht gibt es nur wenige Philosophen, die dieses Grauen nicht irgendwie empfunden hätten. Spinoza aber überwand es auf die radikalste Weise, indem er sich entschloß, das Sein zu lieben – das Sein bloß als Sein. Aber dazu mußte er, eine Natur von einer bis zur Mystik übersteigerten Intellektualität, das Sein eben verstehen: wie sollte man, so fragt er, etwas nicht lieben, dessen Notwendigkeit man einsieht? Er liebt das Sein – oder, wie er sagt, Gott –, weil er es als notwendig begreift, und zwar in jener unbedingten Notwendigkeit, die es nicht aus einem andern, sondern aus sich selbst, aus seinem eignen Begriff, gewinnt. Er kann das dumpfe Verhängnis des Seins nicht ertragen, sondern muß es logisch durchleuchten, als Vernunftmäßiges begreifen, damit er es lieben könne.
Die logische Kritik solcher Fehlwege des Denkens ist an und für sich von geringem Belang; fruchtbar ist nur die Erkenntnis, wie so große Denker trotz ihrer Irrigkeit an ihnen festhalten konnten und welche Bedeutung ihnen trotz dieser zukommt, welches tiefe Bedürfnis oder welche wertvolle Bestrebung sich mit ihnen offenbart. Der Begriff des sich selbst beweisenden Seins aber zeugt außer von jener Sehnsucht nach einer unbedingten Festigkeit des Daseins noch von einer andern: nach seiner Einheit. Der ganze Irrtum beruhte doch darauf, daß der abstrakte Begriff des Seins, der als solcher gültig und das unmittelbare Gegenteil des Nicht-Seins ist, mit der Gesamtheit der seienden Dinge verwechselt wurde, deren Nichtsein keineswegs etwas Undenkbares, logisch Ausgeschlossenes ist. Allein indem diese Verwechslung das Seinsmoment an den seienden Dingen alles andre überwuchern ließ, indem nur die Tatsache, daß sie sind, ihr Rätsel und die Lösung ihres Rätsels enthielt, kam damit die Überzeugung von der Einheit alles Seienden zum leidenschaftlichsten Ausdruck, die Sicherheit darüber, daß alle Unterschiede ihrer Inhalte die Welt nicht zerreißen, daß durch sie alle hindurch das Sein – »die Substanz oder Gott« – lebt und sie alle in Eins lebt. Die ganze abstruse Logik des Substanzbegriffs wird bei Spinoza von dem tiefen Gefühl getragen, daß in jedem Stück des Seins das Ganze da ist, ja daß es eigentlich gar kein Stück gibt, sondern nur das Ganze. Insofern das Einzelding ist, ist es ja dasselbe wie jedes andre und die Totalität des Seins ist in ihm. Insofern es aber Einzelding ist, ermangelt es eben der Totalität, es ist dann die Totalität unter Abzug alles dessen, was dieses eben nicht ist. Auch diese großartige Auffassung: daß jede Individualität als solche eine Verneinung der Gesamteinheit des Daseins wäre – ruht in ihrer logischen Verankerung auf jener Verwechslung der beiden Seinsbegriffe. Das Sein als die allgemeine Bestimmung der Dinge, als der nicht weiter erklärbare Zustand des Wirklichen, kommt dem Individuellsten und Unvollkommensten in vollem Maße zu, da es von ihm überhaupt kein geringeres Maß gibt; aber dem nun schiebt Spinoza das Sein im Sinn der Gesamtheit aller Dinge unter, für den es richtig ist, daß das Individuelle eine »Negation« ist, daß es seine bestimmte Grenze, die seine bestimmende Form ist, dadurch hat, daß alles andre außerhalb seiner ist, nicht es selbst ist. So unhaltbar also auch die Logik der Vorstellung von der individuellen Bestimmtheit als der Verneinung des Seins ist, so bezeichnet sie doch den einen Pol eines im Tiefsten bedeutsamen Dualismus der Lebensauffassung: ob alle Sonderform der Daseinsteile etwas eigentlich Irreales ist und deshalb, wie auch immer entstanden, zur Auflösung in das absolut Allgemeine und Eine bestimmt, ein Schimmer, hinhuschend über die Ungeschiedenheit der göttlichen Substanz, die allein ist – oder ob etwa diese, das wahre und definitive Sein, sich gerade in den besonderen Formen darstellt, ob die Individualität der Existenzen ihren eigentlichen Sinn und Wert trägt.
Diese letztere Wendung hat am vollkommensten vielleicht Schleiermacher vollzogen. Während die Seinsphilosophie die letzte Einheit der Dinge, die sie zu einem Ganzen zusammenbindet, in dem sozusagen Nächstliegenden sucht: in dem, was den Dingen gemeinsam ist, worin sie einander gleich sind – stellt sich für Schleiermacher das Eine und Absolute gerade in der Form des Individuellen und Unvergleichlichen dar. Alles Wirkliche, lehrt er, ist individuell; aber damit reißt sich nicht ein jedes egoistisch und im Grunde haltlos von jedem andern ab, sondern jede Sondergestalt ist nur eine besondre Realisierung der Gesamtkraft des Universums. Die Art, in der das göttliche Sein existiert, ist: daß es an jedem Punkte sich anders als an jedem andern äußert. Dies ist sozusagen das Urphänomen. So gut wie das Universum in der Form absoluter Einheit und Ungeschiedenheit existieren könnte – was ja auch die Meinung der Seinsphilosophen ist –, so gut besteht es nach der des metaphysischen Individualisten in der Form absoluter Individualität jedes Elementes; nach der Ursache, weshalb es so besteht, kann man so wenig fragen, wie danach, weshalb es überhaupt besteht, denn diese Form ist mit seinem Bestehen identisch. Man muß diesen Gedanken genau von einem andern sondern, der manches Ähnliche und Berührende besitzt: daß die Individualität der Wirklichkeiten gewissermaßen eine Arbeitsteilung sei – als läge jedem Stück der Welt eine Teilleistung ob, und gerade also, weil jedes dem andern ungleich ist, ergänzten sie sich alle zusammen zum einheitlichen Ganzen. Dieses Motiv gewinnt seine schönste und tiefsinnigste Ausgestaltung in der Analogie der Welt mit einem Organismus, oder vielmehr in dem Begreifen der Welt als eines Organismus, dessen Glieder, unvergleichbar an Gestalt und Funktion, eben dadurch wechselwirkend den Lebensprozeß der Welt in seiner Vollkommenheit tragen. Allein jene Individualitätslehre hat einen andern metaphysischen Nerv. In ihr gilt der Einzelne nicht als ein Glied der Welt, was ihm eben doch eine Unvollständigkeit zumuten würde, ein Angewiesensein auf andres, so daß die Deutung des Besondersseins als Ergebnis eines Abzuges vom Ganzen, als dessen partielle Negation, noch nicht absolut überwunden ist. Für Schleiermacher aber ist das einzelne individuelle Sein unmittelbar und ohne Kooperation mit anderem die Darstellung des Universums, ist dessen Gegenbild – denn wie es nur eine Welt gibt, so gibt es jedes Individuum nur einmal; seine Unvergleichlichkeit ist nicht ein Mittel, durch das es sich mit andern zusammenordnen kann, sondern der definitive Sinn, der jedes Ding zur Offenbarung, zum Pulsschlag des Absoluten macht, in dem dessen ganzes Leben lebt. Für den Pantheismus und alles, was an ihn rührt, hat das Besondre ein wirkliches Leben nur in der Form des Allgemeinen, für diesen metaphysischen Individualismus aber hat umgekehrt das Allgemeine sein Leben nur in der Form des Besonderen; es ist nicht jenseits dessen, wie etwa ein Gedanke, der sich, in sich einheitlich, dann noch in dem Nacheinander unterschiedner Worte ausspricht, sondern das Absolute, Göttliche, Unendliche des Daseins lebt unmittelbar und untrennbar in dem Unvergleichlichen, oder richtiger: als das Unvergleichliche jeder individuellen Gestaltung. Ein tiefster Unterschied der Ansicht von allem Dasein – insbesondre auch vom menschlichen – ist darin ausgesprochen, ob in jener All-Einheit die Sonderform des Einzelwesens nur gleichsam durch ein gegenseitiges Einengen und Begrenzen zustandekommt, dadurch, daß das Unendliche sich verringert und verneint – oder ob die Individualität sich von innen heraus ihre Form bestimmt, nicht als ein Minus, sondern als ein durchaus Positives, durch eignes Wachstum und Bestimmung aus der Ursprünglichkeit des eignen Wesens heraus; ob die individuelle Gestaltung ein eigentlich Unwirkliches ist gegenüber der Realität des undifferenzierten Unendlichen und Allgemeinen oder umgekehrt das eigentlich Wirkliche, in dem allein das Unendliche und Allgemeine lebt.
Wie nun die Philosophien des Seins die metaphysische Betonung der – eigentlich unbewegten – Einheit einzuschließen pflegen, so verbindet sich die Philosophie der Vielheit mit der des Werdens und der Bewegung. Wo die Einheit des Seins das kosmische Gedankenbild vorbehaltlos beherrscht, muß die Bewegung in diesem Bilde zurücktreten, ja im letzten Grunde verschwinden. Denn Bewegung kann immer nur die Teile eines Ganzen, relativ zueinander, betreffen. Das Ganze ist in Ruhe – wohin sollte es sich bewegen, da nichts außer ihm ist, wohin es gelangen könnte? Selbst wenn man sich schematisch ein kugelförmiges, um seinen Durchmesser als Achse rotierendes Ganzes dächte, so würde es, trotzdem jeder seiner Teile fortwährend die Stelle wechselte, doch als Ganzes an seiner Stelle bleiben und von einem ihm jenseitigen Punkte aus, für den keines seiner einzelnen Elemente, sondern nur das Ganze als einheitlicher Umfang gesehen wird, unbewegt erscheinen.
Nur jenes vorhin angedeutete Bild mag das Werden und die Einheit der Wirklichkeit zusammenschließen: sobald der Weltprozeß als das organische Sich-Entwickeln eines einheitlichen Kernes vorgestellt wird. Das Leben ist die einzige uns bekannte Existenzform, in der ein mit sich identisch bleibendes, unzerlegbares Wesen sich durch eine kontinuierliche Reihe von Formveränderungen hindurch erhält, und nur wenn wir die Bewegtheiten der Wirklichkeit unter dem Bilde der Stadien eines Lebensprozesses betrachten, sind sie mit der ungebrochnen Einheit der Welt, des Trägers dieses Prozesses, zu vereinigen. Wie aus weiter Ferne und noch ganz gebunden klingt diese höhere Einheit über dem Gegensatz der Seins- und der Werdensmetaphysik schon in der ersten und – so weit ihre Fragmente zu urteilen gestatten – monumentalsten Philosophie an, die die Welt vom Werden aus gedeutet hat, in der des Heraklit.
Er ist der erste Denker, der das Wesen der existierenden Welt darein setzt, daß sie sich bewegt; aller Stoff löst sich ihm auf in das, was mit ihm vorgeht. An die Stelle des bestimmten Seins tritt ihm das ewige Ineinanderübergehen der Gegensätze, der Tod der einen Gestaltung wird zum Leben der andern. Und wie alles Einzelne, so ist ihm die Welt als ganze in stetem Werden und Vergehen begriffen, das Weltsein ist das endlose Spiel, in dem die Gottheit die Welt in ihr Urelement zurücknimmt und wieder aus ihm erwachsen läßt. Nur in so ununterbrochenem Werden erhält sich das Sein: die Welt gleicht einem Mischtrank, der sich zersetzt, wenn er nicht fortwährend umgerührt wird. Nur dadurch, daß der immer abfließende Stoff durch immer zufließenden ersetzt wird, kann eine Form beharren, und jedes Sein ist wie das des Flusses, in den wir nicht zweimal hinabsteigen können, ohne daß er sich inzwischen erneuert hätte. Einer der reinsten Typen der philosophischen Begriffsbildung ist hier beobachtbar. An der Erfahrung, daß unter der anscheinenden Beharrung und inneren Einheit, mit der Dinge sich darbieten und erhalten, sich in Wirklichkeit Bewegungen, Wandlungen, Gegensätze verbergen – an dieser Erfahrung bleibt er hängen, sie allein kann er seinem Naturell nach wirklich aufnehmen. Wie für den Philosophen des Seins die Erfahrung, daß in allem Wechselnden etwas beharrt, so wächst für den Philosophen des Werdens die andre: daß in allem Beharrenden etwas wechselt, zum Weltbild aus. Die Leidenschaft, mit der diese Geister je eine Kategorie des menschlichen Weltverständnisses zur absoluten Form des Ganzen machen, läßt sie die Erfahrung des Entgegengesetzten überhaupt nicht machen. Das eigentümliche Verhältnis oder Mißverhältnis zwischen der unendlichen Vieldeutigkeit der Welt und den beschränkten Deutungsmitteln des Menschen ist in diesen grandiosen Einseitigkeiten der Weltauffassung zu seinem zugespitztesten Ausdruck gekommen.
Es ist nun vom äußersten Werte für das Verständnis philosophischer Begriffsentwicklung, zu beobachten, daß der Begriff des Werdens und der Relativität, der das Denken Heraklits unumschränkt beherrscht, von ihm dennoch nicht zu völliger abstrakter Reinheit gebracht worden ist. Er weiß das Werden nicht anders zu bezeichnen, denn als ein Verhältnis von Sein und Nichtsein, als ein Zugleich oder eine Ausgleichung von Gegensätzlichkeiten, von denen eine jede doch noch ein gewisses festes Sein besitzt, als eine Einheit der beiden Zustände, die es vermittelt: dessen, aus dem ein andrer wird, und dessen, der aus einem andren wird. Jugend und Alter, Heilsames und Verderbliches, Tag und Nacht, Leben und Tod seien eines und dasselbe. Er fühlt die Einheit des Werdeprozesses, der so gegensätzliche Stadien einschließt, aber mit seinen unbehilflichen Denkmitteln – und freilich auch aus einem spezifisch griechischen Instinkt heraus, auf den ich nachher eingehe – kommt er von dem Sein, das er doch überwinden will, nicht los, er kann es gleichsam nur dadurch paralysieren, daß er jedesmal seine Verneinung als mit ihm identisch setzt, daß die Gegensätze Eines wären. Wenn er schon einmal mit voller Klarheit sagt, daß wir nicht zweimal in denselben Fluß hinuntersteigen können, so drückt er das dann wieder so aus: wir steigen in den Fluß hinab und wir steigen nicht hinab. Nicht anders, wenn er die Relativität der Begriffe: Anfang und Ende, Gut und Schlecht, Oben und Unten ausdrücken will – in denen die Bewegtheit, die dort die Realität der Dinge betraf, gleichsam ihre begrifflichen Inhalte ergriffen hat. Er kann offenbar. noch nicht ausdrücken, daß sie ihren Sinn an ihrem gegenseitigen Verhältnis haben, sondern bleibt immer dabei, daß sie eines und dasselbe sind. Wie mit der Seinsphilosophie die metaphysische Einheit der Dinge, so ist mit der Werdensphilosophie der metaphysische Gegensatz unter den Weltelementen verbunden: der Streit ist für Heraklit der Vater aller Dinge, er hat das tiefe Gefühl für die Spannung der Dinge gegeneinander, für die Entschiedenheit des Ja und Nein, in dessen Formen der Weltprozeß sich vollzieht. Und wie sein Wissen um die Alleinherrschaft des Werdens ihn doch nicht dem Banne des Seins entziehen kann, so ist ihm der Kampf und die Entzweiung der Erscheinungen doch die Form ihrer tiefern Harmonie. Alles ist ihm wie Männliches und Weibliches, mit deren Gegensatz erst das Leben entsteht, wie die Spannung der Leier und des Bogens, die ihr Zusammenstimmen trägt, wie der Kampf unter den Menschen, der die einen zu Sklaven, die andern zu Freien macht und damit ihre Organisation und gerechte Ordnung erzeugt. Zum erstenmal deutet sich hier die Idee einer Weltvernunft an, deren Gesetzlichkeit in jedem Werden und Vergehen, jedem Streit und Widerspruch liegt, ohne selbst in diese dualistischen Formen hineingezogen zu werden. Mit diesen Andeutungen, die uns freilich aus den überlieferten Fragmenten nur wie ein ganz ferner Klang erreichen, erhebt sich Heraklit über den Gegensatz von Sein und Werden: ein in sich notwendiger Sinn, die Allgemeinheit eines zeitlos gültigen Gesetzes, steht über der Wirklichkeit und bindet die unzähligen Stadien des rastlosen Geschehens und die Unversöhntheit der Gegensatzpaare, in denen ein Glied immer die Verneinung des andern ist, zu Ordnung und Maß zusammen. Es ist begreiflich, daß gerade der Philosoph des Werdens diesen Gedanken der Weltvernunft konzipiert hat: denn er bedarf dieses Haltes viel mehr, sein Weltbild weist auf dieses Höhere, vom Sinn und der Idee aus Vereinheitlichende viel dringlicher hin, als eines, das von vornherein nur die Einheit des undifferenzierten Seins als Wirklichkeit anerkennt.
Daß nun Heraklit, wie ich erwähnte, bei alledem für das Werden keinen scharf begrifflichen Ausdruck findet, sondern es immer nur aus Sein und Nichtsein zusammensetzt, das wird daraus begreiflich, daß die ganze Ideen- und Idealbildung des griechischen Geistes auf ein festes, geschlossenes, substantielles Sein ging. Darum ist schließlich Parmenides viel mehr der eigentlich griechische Philosoph als Heraklit, und darum hat Plato, als er beider Lehren ihrem Wahrheitsgehalte nach vereinigen wollte, das heraklitische Fließen für das Gesetz der trügerischen, zufälligen, im Grunde unwirklichen Sinnenwelt erklärt, dagegen der Ideenwelt, die allen Erscheinungen verliehe, was an Realität in ihnen ist, das absolute Parmenideische Sein zugesprochen. Die Wirklichkeit des griechischen Lebens war unstet, zerrissen, problematisch genug; aber darum suchte ihr Denken die beruhigte Gewißheit des Seins und suchte es als die eigentlichere und gediegenere Realität dieser schwankenden und widerspruchsvollen Welt selbst oder als ihr Ideal, das doch nicht schlechthin jenseits ihrer ist. Es ist das Erhabne in diesen Ideen der Griechen, daß sie die Ergänzung und den Gegensatz zu dem empirisch gelebten Leben bilden und ihm dennoch irgendwie fühlbar einwohnen. Die Indianer ersehnen für das Jenseits ihre Jagdgründe, die Germanen turnieren und zechen in Walhall, die alten Juden träumen nur von der Fortsetzung und Erweiterung des Lebens in Familie und Stamm bis ins tausendste Glied. Ja selbst die Lebensverneinung, in der die Inder den Sinn des Lebens sehen, war nur eine Steigerung und Verabsolutierung der Indolenz und Tatenlosigkeit, in der die Wirklichkeit ihres irdischen Lebens verlief. Erst die Griechen haben die wahre Unabhängigkeit ihrer metaphysischen Ideen und Ideale von der Gegebenheit ihres Lebens und das gibt ihrer Geistigkeit jene unvergleichliche Spannweite und gleichzeitige Abrundung und Ausgeglichenheit – welche letztere freilich so lange fälschlich für eine Eigenschaft ihres tatsächlichen Lebens gehalten worden ist. Dies ist wohl der Zusammenhang, aus dem heraus ihre ganze philosophische Begriffsbildung zu dem Sein hin gravitiert, zu dem Gegensatz, der Ergänzung und doch zugleich der tieferen Wahrheit der wechselnden, vielspältigen, von fortwährenden Erschütterungen bedrohten Erscheinung des Lebens. An dem Substantiellen, dem Sein, dem in irgendeinem Sinn Stabilen haftet ihr Denken in dem Maße, daß sie, mindestens in ihrer klassischen Epoche, das Werden nicht als einen in gleichem Maß fundamentalen, weltbildenden, absolut primären Begriff herausarbeiten. Sie kommen nicht davon los, daß die Erscheinungen, die nicht als Sein anzusprechen sind, eben aus Sein und Nichtsein zusammengesetzt seien. Dies ist der letzte Grund für die berühmten Einwürfe, die Zeno gegen den Begriff der Bewegung richtet. Der scheinbar fliegende Pfeil müsse in Wirklichkeit ruhen, da er doch in einem einzelnen Augenblick in einem bestimmten Raumabschnitt sei; dieser aber ist nur genau so groß wie der Pfeil selbst und gibt ihm deshalb keine Möglichkeit der Bewegung: in diesem Augenblick also ruht er. Da nun die gesamte Zeit aus Augenblicken besteht, so ruht der Pfeil also immer. Anders ausgedrückt: wo ein Ding ist, kann es sich nicht bewegen, denn da ruht es eben; wo es nicht ist, kann es sich auch nicht bewegen, denn dort kann es überhaupt nichts tun. Die Bewegung wird also in fest umschriebne Momente zerlegt, in deren jedem ihr Träger in einem fest umschriebnen Raumteil ist oder nicht ist. Daraus ergibt sich der ganze Widerspruch, denn die kontinuierliche Bewegung läßt sich nicht auf solche Festigkeiten reduzieren, sondern ist von vornherein und ihrem unmittelbaren Wesen nach ein Gleiten von einem Punkt zum andern, ein Hindurchgleiten durch einen jeden. Das Bewegen oder das Werden ist ein eignes Verhältnis der Dinge zu Räumlichkeit oder Beschaffenheit, aber nicht aus einer Summe von fixierten Lagen oder von Seinszuständen zusammenzusetzen. Freilich liegt dieses letztere der rationalistischen Klarheit und Begrifflichkeit, die die Entdeckung und die Sehnsucht des klassischen Denkens war, sehr viel näher, als das Anerkennen des Werdens als einer völlig primären Kategorie; in ihm scheint tatsächlich etwas Dunkles, ja Mystisches zu liegen, und erst eine viel entwickeltere Stufe des Denkens findet nicht mehr in der Einfachheit des Seins die alleinige, alles Begreifen bedingende Instanz, sondern gibt seiner Auflösung im Werden die koordinierte, ja vielleicht die tiefer begründende Stellung. Jedenfalls wird aus jener historischen Struktur der Begriffe verständlich, wieso Heraklit, der seinem ganzen Naturell nach nur mit dem absoluten Begriff des Werdens auf den Eindruck der Welt antworten konnte, dies dennoch nur mit begrifflichen Ausdrücken tat, die das Werden doch wieder an den Fixiertheiten des Seins und ihren jeweiligen logischen Gegenteilen, an der bloßen Synthese von Sein und Nichtsein festhielten.
Die Philosophie Heraklits ist, in der Form ihrer auf uns gekommenen Bruchstücke vielleicht die lapidarste, die die Geschichte der Philosophie besitzt; die extensivste andrerseits, die sich in dieser findet, ist gleichfalls eine Philosophie des Werdens: die Hegelsche, zu deren Skizzierung nach der Seite des Werdens-Problems hin ich mich jetzt wende. Meine ausführliche Darlegung hat den Zweck, eine einzige Formel Hegels: »die Selbstbewegung der Idee« zu deuten; in ihr ist alles zusammengefaßt, wodurch diese Philosophie als eine einzigartige Ausgestaltung des metaphysischen Werdens erscheint. – Seitdem die Hegelsche Spekulation ein Gemeingut des gebildeten Deutschlands war, hat sich in den gleichen Kreisen das Maß der Abstraktion im Denken und das Gefühl für den Wert der Begriffe unermeßlich gewandelt; die fundamentalen Motive Hegels – die keineswegs so veraltet sind wie ihr Ausdruck, in denen sich vielmehr ein Grundverhalten des Geistes zum gesamten Weltbild in voller Originalität und Tiefe offenbart – werden deshalb nur auf Wegen und Umwegen darstellbar sein, die mit den seinigen nicht zusammenfallen. Es ist vielfach auch innerhalb der Geistesgeschichte unvermeidlich, so zu verfahren wie der Natur gegenüber: die Wege, auf denen wir das Eintreffen eines Ereignisses (z. B. eines astronomischen) berechnen, haben nicht das geringste mit dem realen Verlaufe der natürlichen Ereignisse zu tun. Aber dieser führt zu einem Punkt, an dem er mit jener Berechnung zusammentrifft: das Endergebnis der Rechnung, aber nicht ihr Weg deckt sich mit dem ihres Gegenstandes. So also muß versucht werden, die entscheidenden Begriffe Hegels mit Mitteln und von Voraussetzungen aus zu gewinnen, deren er selbst sich nicht bedient hat.
Innerhalb der Geschichte unsres Geschlechtes sind eine große Reihe von Gebilden entwickelt, die durch subjektive psychologische Erfindung und Arbeit geschaffen sind, aber, nachdem dies geschehen ist, ein eigentümliches objektives, geistiges Dasein jenseits der einzelnen Geister gewinnen, die sie ursprünglich produziert haben oder sie nachträglich reproduzieren. Dahin gehören z. B. die Sätze des Rechts, die moralischen Vorschriften, die Traditionen jedes Gebietes, die Sprache, die Erzeugnisse der Kunst und die der Wissenschaft, die Religion. Dieses alles ist freilich an irgendwelche äußerliche Gestaltungen gebunden, an Gesprochnes und Geschriebnes, an Sichtbarkeiten und Fühlbarkeiten. Aber weder diese dinglichen noch die persönlichen Träger erschöpfen in ihrer zeitlichen Bedingtheit den Sachgehalt jener geistigen Tatsachen und die besondre Form seiner Existenz. Der Geist, der etwa in einem gedruckten Buch investiert ist, ist zweifellos in ihm, da er aus ihm herausgewonnen werden kann. Aber in welcher Art kann er darin sein? Es ist der Geist des Verfassers, der Inhalt seiner psychischen Prozesse, den das Buch enthält. Allein der Verfasser ist tot, sein Geist als psychischer Prozeß kann es also nicht sein. So ist es also der Leser, dessen seelische Dynamik aus den Strichen und Kringeln auf dem Papier Geist macht. Allein dies ist durch die Existenz des Buches bedingt und zwar in einer prinzipiell andern und unmittelbareren Weise, als es etwa dadurch bedingt ist, daß dieses reproduzierende Subjekt atmet und lesen gelernt hat. Der Inhalt, den der Leser in sich als lebendigen Prozeß bildet, ist in dem Buch in objektiver Form enthalten, der Leser »entnimmt« ihn. Wenn er ihn aber auch nicht entnähme, so würde das Buch darum dieses Inhaltes nicht verlustig gehen und seine Wahrheit oder Irrigkeit, sein Adel oder seine Gemeinheit ist ersichtlich gar nicht davon abhängig, wie oft oder selten, wie verständnisvoll oder nicht verstehend der Sinn des Buches in subjektiven Geistern wiedererzeugt wird. Diese Existenzform haben all jene Inhalte, religiöse oder rechtliche, wissenschaftliche oder irgendwie traditionelle, ethische oder künstlerische. Sie tauchen historisch auf und werden historisch beliebig reproduziert, aber zwischen diesen beiden psychischen Verwirklichungen besitzen sie eine Existenz in andrer Form und erweisen damit, daß sie auch innerhalb jener subjektiven Realitätsformen als etwas mit diesen nicht Erschöpftes, als etwas für sich Bedeutsames subsistieren – zweifellos als Geist, der mit seinen sinnlichen Anhaltspunkten sachlich nicht das Geringste zu tun hat, aber objektiver Geist, dessen sachliche Bedeutung unberührt über seiner subjektiven Lebendigkeit in diesem oder jenem Bewußtsein steht. Diese Kategorie, die es gestattet, Übermaterielles in Materiellem und Übersubjektives in Subjektivem aufzuheben, bestimmt die ganze historische Entwicklung der Menschheit, dieser objektive Geist läßt die Arbeit der Menschheit ihre Ergebnisse über alle Einzelpersonen und Einzelreproduktionen hinaus bewahren.
Und eben diese Kategorie gilt, wie für das historische Dasein, so der Natur gegenüber. Die begrifflichen Formulierungen des natürlichen Geschehens, die wir Naturgesetze nennen, stehen ebenso jenseits dieses Geschehens, als einzelner zeitlicher Realitäten, wie jenseits der seelischen Vorgänge, mit denen einzelne Subjekte sie vorstellen. Die mathematische Formel, die die Bewegung zweier Materienmassen für alle Zeiten ausdrückt und zu berechnen gestattet, ist doch in diesen Massen und in dem sinnlichen Bilde ihrer Bewegung nicht enthalten; die Tatsachen der Materialität laufen ab, gleichviel ob jenes rein geistige Gebilde, das den menschlichen Denkmitteln und -formen entspricht, existiert oder nicht, gerade wie, von der andern Seite gesehen, der Inhalt dieses Gesetzes gültig ist, gleichviel ob es in irgendeinem Moment der Weltexistenz etwa keine Materie gäbe; dieser zeitliche Zufall berührt die Zeitlosigkeit des Gesetzes nicht. Ebenso gleichgültig aber verhält sich diese zu der Tatsache ihres Entdeckt- und Nach-Gedachtwerdens in menschlichen Seelen. Die Materienmassen haben sich in jenem Verhältnis angezogen, bevor Menschen es formulierten, und werden es noch tun, wenn es keine Menschen mehr geben sollte; denn das Naturgesetz wird »gefunden«, wie etwas Bereitliegendes – bereit für den Geist, dessen Gedankentat es ersichtlich nicht schafft, während es ebensowenig in der Materie steckt. An diesem Punkte zeigt sich die völlige Selbstständigkeit und Unreduzierbarkeit des »objektiven Geistes« vielleicht am augenfälligsten: rein geistige Inhalte – denn das Gesetz, die Formel, ist nicht materiell, wie der Gegenstand seiner Gültigkeit es ist –, die dennoch von ihrer Produktion und Reproduktion in »Geistern« völlig unabhängig sind. Nun ist aber die Zugehörigkeit zu diesen keineswegs auf so komplexe Gebilde wie Naturgesetze oder historische Normen und Traditionen beschränkt. Vielmehr zeigen auch alle »Begriffe« den gleichen Charakter. Das, was ein Ding geistig bedeutet, wodurch es als ein Element des geistigen Lebens konstruierbar wird, ist sein Begriff. Haben wir z. B. den Begriff Baum einmal gefaßt, so hat er einen bestimmten, sachlichen, für alle Zeiten gültigen Inhalt, gleichviel wieviele und was für Bäume auf der Erde wachsen, gleichviel aber auch, ob, wann, von wem dieser Begriff gebildet und nachgesprochen wird. Der einzelne Baum weiß sozusagen von diesem Begriff nichts, der ein bloß geistiges, für den Geist bedeutsames Gebilde ist, ohne daß die Seele, als subjektive, zeitliche Realität, ihn mit willkürlichem und singulärem Belieben schaffen könnte. Vielmehr auch in der Bildung vernünftiger Begriffe sind wir an ein objektiv Vorgezeichnetes gebunden, das freilich nicht in den materiellen Greifbarkeiten, auf die es sich bezieht, aufzuzeigen ist, sondern immer ein Geistiges bleibt, das psychisch ergriffen oder nicht ergriffen werden kann, aber in seinem Sinn und seiner Vernünftigkeit von dieser Frage nicht abhängt.
Diese Bedeutung des Begriffes ist für Hegel von der äußersten Wichtigkeit. Das Problem der Erkenntnis hatte der Kant-Fichtesche Idealismus so gelöst, daß das Denken, selbst sich seinen Gegenstand schafft: wenn die Welt meine Vorstellung ist, muß freilich meine Vorstellung mit der Welt übereinstimmen. Hegel empfand dies als einen unbefriedigenden Subjektivismus, gegen den aber ein einfaches Zurückgreifen auf den naiven Standpunkt: daß unser Vorstellen die objektive Realität unmittelbar abbildete – nicht mehr möglich wäre. Es bedarf vielmehr einer Objektivität, die geistig ist, damit unser Vorstellen die Wahrheit als Übereinstimmung mit jener Realität ergriffe, und die dies dadurch ermöglicht, daß sie der Sinn, der Inhalt, das Gültige der äußeren Wirklichkeiten ist. Wahres erkennend, zeichnet der Geist eine gleichsam präformierte Gestalt nach, die aber geistig sein muß und die Materialität als solche nicht in sich eingeschluckt hat. Erkennen ist mehr als bloßes Vorstellen, als der momentane Bewußtseinsakt des Subjekts, es ist das Vorstellen, das die Dinge in der Form des Geistes in sich enthält oder mit dieser Form übereinstimmt oder der Träger der geistigen Objektivität ist. So muß das, was wir als den eigentlichen Inhalt des Erkennens bezeichnen können und was sich schließlich am elementarsten als »Begriff« gezeigt hatte, das Gemeinsame zwischen dem seelisch-subjektiven Vorgang und den Objekten sein, dasjenige, was sich einerseits in psychischer, andrerseits in äußerlicher Form darbietet und dadurch jener die Möglichkeit gibt, die »Wahrheit« über diese zu enthalten. Die Fremdheit zwischen der subjektiven Vorstellung und der objektiven Wirklichkeit, die das Erkennen immer wieder zum Problem macht, versöhnt sich dadurch, daß in beiden jeweils derselbe gültige Inhalt besteht, beides die Verwirklichungen von »Begriffen« sind. Darum ist der Begriff für Hegel durchaus nicht nur eine Abstraktion, ein Allgemeines, das aus den konkreten Dingen durch Absehen von ihren individuellen Differenzen herausgezogen wird. Wir gewinnen ihn vielleicht durch solche Analyse und Wiederzusammensetzung gegebner Vorstellungen, aber was die Erkenntnis mit dem so Gewonnenen meint, ist der durchaus konkrete Sachgehalt der Dinge, das Ding in der zeitlosen Sprache des objektiven Geistes, gleichsam bevor es in die des zeitlichen Objekts und die des zeitlichen Geistes übersetzt ist.
Nun ist dieser Sachgehalt insoweit noch etwas Unlebendiges, ein bloßes Nebeneinander der Begriffe. Damit die Bewegtheit und die Form der Wirklichkeit wie die des Erkennens ihren Inhalt und ihre Brücke in dem objektiven Geist finden, müssen die Begriffe sozusagen in Fluß geraten, es muß eine Art ihrer Beziehung und Entwicklung geben, die ebenso geistig objektiv und ebenso für jene beiden Verwirklichungsformen gültig ist, wie es sich von ihren Inhalten selbst gezeigt hat. Als diese Bewegtheitsform entdeckt Hegel die Logik.
Zur näheren Einsicht hiervon führt zunächst die triviale und an sich ganz unzulängliche Bestimmung: die Logik stelle fest, wie wir denken sollen – nicht wie wir wirklich denken, was vielmehr Sache der Psychologie sei. Die Definition bedarf der Ergänzung: wir sollen der Logik gemäß denken – nicht schlechthin, sondern nur, wenn wir richtig denken wollen. Wer etwa kein Interesse daran hat, richtig zu denken – was aus allerhand Gründen der Phantasie, der Religion, der praktisch zweckmäßigen Selbsttäuschung usw. sehr wohl geschehen kann –, für den besteht der Imperativ der Logik keineswegs. Immerhin bleibt bestehen, daß die logische Verknüpfung der Begriffe ein objektives Verhältnis der letzteren ist, das sich zwar in unserm subjektiven Denken ihrer verwirklichen kann, aber auch ohne dies und selbst bei völliger Abweichung des Bewußtseins von der Logik seine Gültigkeit, seinen Charakter als Norm diesem Bewußtsein gegenüber bewahrt. Nur im richtigen Denken ist sie restlos realisiert. Richtig aber ist dieses Denken ersichtlich darum, weil seine Inhalte ihrer objektiven Bedeutung nach – oder: seine realen Gegenstände – diejenigen Beziehungen zueinander haben, die eben in den Regeln der Logik ausgedrückt sind: indem die Begriffe sich ihr gemäß verhalten, ordnen, entwickeln, ist eben dies auch das Verhalten, die Ordnung, die Entwicklung der Dinge, deren Begriffe jene sind. Die Dinge verhalten sich logisch, sonst würden wir sie nicht an der Hand der Logik zuverlässig berechnen können. In der unmittelbaren Wirklichkeit sind die logischen Formen so wenig greifbar, wie der Begriff in ihr greifbar ist; nur wie die Qualität der Dinge sich ihrer geistigen Bedeutung nach im Begriff ausdrückt, so drücken sich ihre Beziehungen zueinander, drückt sich die Folge des einen auf das andre in der logischen Über- und Unterordnung der Begriffe, in ihrem logischen Sich-Ein- und Ausschließen, in dem logischen Schlußverfahren aus. In der innerlich-psychologischen Form nun ebenso wie in der äußerlich-physischen erscheinen die von der Logik festgestellten Verhältnisse der Weltinhalte als Bewegungen. Darum kann man die logischen Verknüpfungen der Begriffe, vor allem die Folgerungen im logischen Schluß, als Bewegungen der Begriffe bezeichnen. Gewiß bewegen sie selbst sich nicht so, wie Bewegungen in unserer Seele oder mit materiellen Objekten stattfinden; aber die logischen Relationen zeigen dasjenige, was in jenen beiden Formen als Bewegung auftritt, in seiner geistigen Bedeutung, sie sind die Bewegungen in der Form des objektiven Geistes, die Bewegungen des sinnvollen Inhalts der innern wie der äußern Realität. – Das bis hierher Dargestellte wird als bloße Beschreibung und Analyse des Erkennens gelten können. Die Begriffe in ihrer objektiven Geistigkeit und ihre der Logik folgende Entwicklung erscheinen als Elemente, allenfalls als Hilfskonstruktionen, auf die die Tatsache des Erkennens, der »Wahrheit« genannten Beziehung zwischen subjektivem Denken und objektivem Dasein unvermeidlich hinweist. Aber dies alles ist nur Voraussetzung und Vorbereitung für den metaphysischen Grundgedanken Hegels.
Alle psychologischen Denkbewegungen und Inhalte eines Subjekts hängen dadurch zusammen, daß sie eben die Vorstellungen eines Ich sind; sie schweben nicht, jedes für sich, im Leeren, sondern sie sind die jeweiligen Zustände, Äußerungen, Resultate einer mit ihnen sich entwickelnden Psyche; alles Erkennen als subjektives Leben ist die Entfaltung eines Geistes. Dies nun findet nach Hegels Meinung sein Gegenbild im objektiven Geiste. Alle Inhalte dieses hängen zusammen, in ihnen, als sie, an ihrem logischen Zusammenhang äußert sich eben der Geist, der nun als metaphysische Realität ersteht, als »die Idee« schlechthin. Hiermit wird das, was ich bisher als eine analytische Reflexion über das Erkennen entwickelte, zu einer Behauptung über das Sein. Die Idee, deren Inhalte und Evolutionen sich als Innerlichkeit und Äußerlichkeit und eins mit dem andern vermittelnd, dargestellt haben, wird jetzt noch in einem ganz andern Sinn die Möglichkeit der Wahrheit: die Idee, der in Begriffen und logischen Entwicklungen ausgedrückte Sinn der Dinge ist ihre absolute Realität, in aller physischer und psychischer Erscheinung als das eigentlich und allein Seiende lebendig. Denn wie sollte die geistige Bewegtheit auf den Wegen der Logik dieselben Bilder, Zustände, Inhalte gewinnen, wie die natürliche Bewegtheit, wenn nicht das gleiche Sein in ihnen wäre? wie sollte die Wahrheit über die äußeren Dinge in uns sein, wenn nicht die Idee, die Einheit aller durch ihre Bewegungen zusammenhängenden Begriffe, denselben Gesetzen in uns wie außer uns folgte? – nicht als eine zufällige Harmonie beider Welten, sondern beides die verschieden Lebendigkeiten und Gestaltungen eines und desselben metaphysischen, als objektive Geistigkeit lebenden Seins. Dieses Sein ist ein unaufhörlich werdendes, weil wir die Wahrheit durch Schlüsse ergreifen, also durch eine Entwicklung des geistigen Gehaltes. Indem wir aus Obersatz und Untersatz einen Schlußsatz gewinnen, geht unser Geist an der ideellen Ordnung der Dinge, die die Substanz der Wahrheit ist, gleichsam entlang. So existiert jeder Schluß, den wir vollziehen, auf diese zwei verschiedenen Weisen: er ist einmal ein rein sachlicher Zusammenhang, eine rein logisch-begriffliche Entwicklung, der eine ideale Wirklichkeit hat und in dem es kein Vorher und Nachher gibt, denn dem Sinne nach ist doch der Obersatz nicht früher als der Untersatz und beide nicht früher als der Schlußsatz; und er ist andrerseits ein subjektiver Prozeß, der dieses sachlich Wahre in eine psychologische Wirklichkeit überführt und in dem es ein Vorher und Nachher gibt. Die Wahrheit ist an sich etwas Zeitloses, aber diese Zeitlosigkeit birgt jene ideelle Entwicklung, das absolute Sein hat diese zeitlose Bewegtheit des Schlusses, die sich ebenso in den Bewegungen unsres Bewußtseins wie in denen der äußeren Geschehnisse verzeitlicht. Die letzte, den Weltprozeß tragende Realität ist jene »Vernunft«, die in der Sachlichkeit logischer Entwicklungen lebt und das Nacheinander alles »historischen« Geschehens begreiflich macht; denn dieses Begreifen heißt, daß die Vernunft in ihrer metaphysischen Realität – man mag sie, mit einem etwas phantastischen Ausdruck, den Weltgeist nennen – den richtigen Denkvorgang in der Seele nach denselben Normen ablaufen läßt, wie die Bewegungen seines Objekts.
Darum hat die Vernünftigkeit in Hegels bekanntem Satz: »Alles Wirkliche ist vernünftig« keineswegs den optimistischen Sinn, wie wenn wir die Handlungsweise eines Menschen als »vernünftig« loben. Er bedeutet vielmehr: der Inhalt aller Wirklichkeit ist durch unsre Vernunft begreifbar, und darum muß eine objektive Vernunft, eine sich selbst bewegende, gestaltende, entwickelnde, als Kern aller Wirklichkeit zugrunde liegen. Die logische Begreifbarkeit alles Wirklichen wäre selbst nicht logisch begreiflich, wenn nicht die Vernunft das eigentliche Wesen und metaphysische Leben eben dieses Wirklichen wäre.
Mit alledem hat Hegel einen neuen und metaphysisch vertieften Begriff des Werdens aufgebracht, indem er den Entwicklungsbegriff auf die objektiv geistige Bedeutung der Dinge und des Geschehens, die jenseits aller zeitlichen Realität steht, übertragen hat. Wenn wir durch Schlüsse des begrifflichen Denkens die Weltvorgänge erfassen, so offenbart sich damit ihre geistige Entwicklung, ihr zeitloses Werden. Jede Stufe des Seins wird im geschichtlichen Weltprozeß über sich hinausgetrieben, wie und weil die Begriffe, die dessen Inhalt angeben, in endlosen logischen Kombinationen und Deduktionen immer neue Begriffe aus sich erzeugen, die die Wahrheit über jene äußeren Gestaltungen bedeuten. So wird alles Werden aus der auseinanderfallenden Vielheit seiner Erscheinungen erlöst und geht, gerade weil es Werden ist, in der Einheit der Idee zusammen, als deren Lebensstadien der Sinn jener Erscheinungen sich erweist – wie, andeutungsweise und fragmentarisch, unser Gedankenprozeß als die Einheit unseres Ich zusammenhängt.
Daß so der Weltprozeß wirklich einer ist, indem der Entwicklungsgedanke seine gegeneinander zufällig erscheinenden Elemente: den zeitlos-begrifflichen Sinn und den historischen Verlauf, gleichmäßig erfaßt – dies drückt sich nun weiterhin so aus, daß dieser Entwicklungsverlauf der »Idee« überall einem und demselben rhythmischen Gesetze folgt. Die logische Forderung der Begriffe organisiert das Dasein im Großen wie im Kleinen, im Nebeneinander wie im Nacheinander, in uns wie außer uns, derart, daß jedes seiner Stadien, jeder Sachgehalt der Dinge und des Wissens aus sich heraus und zu seinem Gegenteil getrieben wird. Jedes Ja fordert sein Nein, jedes Nein sein Ja. Aber dieses Gegenteil ist selbst wieder ein Einseitiges und an dem Widerspruch dieser beiden Einseitigkeiten kann der Geist nicht Halt machen: Satz und Gegensatz müssen sich zu einer höheren Einheit zusammenfassen, in der der Sinn und Wert eines jeden bewahrt, ihre Gegensätzlichkeit aber versöhnt ist. Es ist das Schema von Thesis, Antithesis, Synthesis, durch das der Geist die Welt baut. Nun mag diese Synthesis sich als der höhere Begriff über zwei engeren und entgegengesetzten darstellen, oder als die öffentliche Institution, die den Interessen zweier streitenden Parteien gleichmäßig genugtut, oder als die Religion, die die Triebe der Demütigung und der Überhebung in dem Bewußtsein der Versöhnung aufhebt – immer ist sie selbst ein Einseitiges, wenn auch ein Höheres, das nun auf seiner Stufe wiederum seinen Gegensatz findet, mit dem es zu einer Synthesis zusammengeht. So strebt jedes Weltstadium oder jeder Weltinhalt über sich hinaus, es kann keinen Stillstand und Abschluß in diesem Prozeß der Gegensätzlichkeit, der Versöhnung und der neuen Gegensätzlichkeit des Versöhnenden geben. Wie für Spinoza ist für Hegel jede Bestimmtheit eine Verneinung, die ihre Ergänzung fordert; aber sie gewinnt sie hier nicht dadurch, daß sie als etwas eigentlich Irreales sogleich in den Abgrund des allgemeinen Seins geworfen wird, sondern in dem endlosen Prozeß, der die Einzelbestimmtheit und ihren Gegensatz vereinheitlicht, um diese Einheit dann in unbegrenzt höheren Formen sich dem Absoluten und Ganzen zuentwickeln zu lassen. Das Werden – oder die Welt als Werden – ist hier nicht einfach die letzte Tatsache, sondern es ist der Ausdruck für die logische Struktur der Weltinhalte selbst.
Noch eindringlicher wird dies durch die Bestimmung, daß das Anderssein, der Gegensatz eines Weltmomentes, zu dessen eignem Wesen gehört, daß es an seinem Gegensatz – und an der Versöhnung mit diesem Gegensatz – zu sich selbst kommt. Indem ein Zustand, ein Gedanke, ein Ding, ein Schicksal seinen Gegensatz findet oder erzeugt und mit diesem nun das Höhere seiner selbst hervortreibt, kehrt es zu sich selbst zurück, es findet sich selbst – sein höheres, reineres, vollkommeneres Sein – in diesem Übergang zu dem, was nicht es selbst ist, und zu dem, worin es mit diesem Gegensatz zusammengeht. Jedes Ding wird ganz es selbst erst, wenn es seinen Gegensatz in sich aufgenommen hat. Ich will auf die logische Rechtfertigung oder Angreifbarkeit dieses Gedankens nicht eingehen; im höchsten Maße gehört er zu denen, die nur in der metaphysischen Distanz von den Einzelwirklichkeiten ihre »Wahrheit« haben. Ein tiefes Gefühl für die Tragik des Daseins liegt in dieser Anweisung auf das Nein, die in jedem Ja enthalten ist, die das Ja erst zu seinem rechten Sinne kommen läßt. Aber es liegt darin auch die Versöhnung, die dieser Tragik durch den Entwicklungsgedanken kommt, indem Ja und Nein miteinander das höhere Ja erzwingen, das jedem der Gegensätze erst die volle Entfaltung seiner Keime und das Niederreißen der Grenzen gewährt, mit denen sein bisheriger Gegensatz es beengte. Innerhalb der christlichen Weltanschauung ist ja das Gefühl für die inneren, bis in die Wurzel hinabreichenden Widersprüche des Seins oft genug, wenn auch nicht so prinzipiell, lebendig gewesen. Aber hier kam ihnen die Versöhnung von außen her, von einem Transzendenten, das seinem eignen Sinne nach zu jener Gegensätzlichkeit des Wirklichen gar keine Beziehung hatte. Hegel hat diesen versöhnenden »Geist über den Sternen« in den Weltprozeß hinuntergezogen, als den »Geist«, d. h. die logische Notwendigkeit dieses Prozesses selbst; die Versöhnung lebt jetzt nicht mehr außerhalb der Dinge, sondern in ihnen, der Gegensatz ist das Bedürfnis, an dem das Einzelne gleichsam stirbt, um, ihn und sich selbst überwindend, als sein eignes Höheres aufzuerstehen. Daß das Einzelne zu seinem Sinne nur kommt, indem es sich zum Ganzen entwickelt und dazu in seinen eignen Gegensatz umschlagen oder ihn hervorrufen muß, um in der Synthese mit ihm seine Bestimmung zu erhalten – das ist jener Kern der Hegelschen Philosophie, mit dem sie sich als die radikalste Philosophie des Werdens offenbart: der logische Prozeß, der hier die absolute Wirklichkeit der Welt ausmacht, kann an keinen Punkt gelangen, für den es keinen Gegensatz und deshalb keine Weiterentwicklung gäbe. Das Sein erreicht gleichsam sich selbst erst auf jenem endlosen Wege des Werdens.
Die Formel von Thesis, Antithesis, Synthesis entfaltet ihre größte Tiefe vielleicht gerade dann, wenn es das zentrale Interesse ist, daß die Welt als ein absolutes Werden gedeutet werde. Denn nicht gründlicher kann das Sein in das Werden aufgelöst werden, als daß man jegliches bestimmte Sein als solches mit seinem Gegensatz behaftet sein läßt, mit einem Widerspruch, der nur durch einen Prozeß, durch ein Geschehen gelöst werden kann, so daß das Sein auf jeder Stufe nur durch eine unendliche Entwicklung zu seinem eignen Höheren und erst damit zu sich selbst kommen kann. Abgesehen indes von dem Tiefsinn der Spekulation, der sich gerade an dieser Tendenz entfaltet, ist jene Formel als Weltgesetz doch von einer indiskutabeln Armseligkeit. Sie ist einerseits zu allgemein und zu dünn, andrerseits doch schon zu eng und zu diktatorisch, um die Fülle der Erscheinungen in sich zu fassen. Für uns aber ist eine innere Schwierigkeit wesentlicher, die diese, wie vielleicht jede Philosophie des Werdens angreift. Wenn jene Weltformel gilt, so wird jede Erscheinung der historischen Wirklichkeit über sich hinausgetrieben, der Weltprozeß ist seiner logischen Notwendigkeit nach ein endloser und jenes »Ganze«, in dem jede seiner Reihen zur Reife und Ruhe kommt, ist nur ein ideales, in keinem Zeitpunkt erreichtes. Dies muß also doch auch für diese Lehre und Formel selbst gelten! Hegel entwickelt z. B. die ganze Geschichte der Philosophie als eine Selbstbewegung der Idee, als ein Höhergetriebenwerden jedes Standpunktes gemäß der innern Logik, die den Gegensatz und die Synthese fordert; aber er begeht die Inkonsequenz, seine eigne Philosophie, deren Inhalt eben diese Deutung der philosophischen Erscheinungen ist, als den Abschluß zu predigen, über den die Entwicklung nicht mehr hinausgeht – und sie kann auch nicht über ihn hinaus, wenn die Lehre wahr sein soll. So bewegt er sich in diesem Zirkel: wenn seine Lehre gilt, so ist sie bestimmt, durch eine höhere, d. h. doch, eine wahrere, abgelöst zu werden; geschieht dies aber, so ist sie wiederum nicht »wahr«, oder hat mindestens nur die temporäre, für ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Geistes geltende »Wahrheit«, deren Relativität gerade Hegel aufs entschiedenste ablehnen würde. Es ist prinzipiell dasselbe, wie daß er die politische Geschichte der Menschheit als eine logische, über jeden Haltepunkt wegschreitende Entwicklung darstellt und dann in dem preußischen Staate seiner Zeit die schlechthin vernünftige, d. h. die weitere Entwicklung überflüssig machende Staatsform anerkennt. Während dies aber eine Inkonsequenz ist, mit der schließlich nur die Behauptung über den preußischen Staat, nicht aber die Deutung der Geschichte überhaupt hinfällig wird, steht es anders mit der Anwendung des Prinzips auf die Geschichte der Philosophie, also auf sich selbst. Wenn das Entwicklungsprinzip auch für die Erkenntnis gilt, so vernichtet es den Anspruch jedes einzelnen Stadiums, als das definitive zu gelten; wenn also ein Stadium gerade den Inhalt hat: daß ein nie abschließbares Werden und Über-sich-hinausgehen das Wesen der Dinge ist – so enthält dieser Inhalt eine Selbstkritik, dem seine Gültigkeit nicht standhalten kann. Ich lasse dahingestellt, ob die Philosophien des Seins, die von ihrem Prinzip her eine absolute Wahrheit eher ermöglichen, sich nicht auf einen ebenso unsichern Boden stellen: denn damit eine Lehre zum Inhalt haben könne, daß es eine ewige und unbedingte Wahrheit gibt, muß zunächst einmal festgestellt sein, daß eine Lehre überhaupt und als solche, sozusagen formal, imstande ist, zu unbedingten Wahrheiten zu gelangen. Denn die Behauptung, es bestehe eine absolute Wahrheit, muß sich doch selbst als absolut wahre geben – setzt also ihre eigne Gültigkeit schon voraus! Indem ich also dahingestellt lasse, ob dem Verhängnis, sich selbst nicht begründen zu können, nicht diese entgegengesetzten Metaphysiken gleichmäßig verfallen, so ist doch zweifellos die des Werdens ihm in sichtbarerem Maß ausgesetzt. Die Wahrheit, daß alles fließt, ist also selbst eine fließende, auch sie ist durch das Gesetz, das sie selbst verkündet, dazu bestimmt, von einer andern, ja entgegengesetzten, abgelöst zu werden; Heraklit müßte in seiner Ausdrucksweise von ihr sagen: ich glaube daran und ich glaube nicht daran. Dies aber untergräbt die Lehre selbst: sie kann von allem Seienden sagen, daß es seinem Wesen nach fließt und verfließt – nur von dem Inhalt dieser Aussage selbst nicht, ohne ihre Gültigkeit auch für alle andern Inhalte illusorisch zu machen. Diesem Geschick unterliegt jede Entwicklungstheorie. Wenn Nietzsche predigt, daß der Mensch – nämlich der Mensch jeder jeweiligen Entwicklungsstufe – überwunden werden muß, so muß auch diese Predigt selbst überwunden werden und gilt sachlich also überhaupt nicht. Die Philosophien des Werdens, insbesondre in ihrer höchsten Steigerung zur Philosophie der Entwicklung, können sich sämtlich nicht dieser logischen Konsequenz der Unterordnung unter sich selbst entziehen und gerade wenn sie ganz wahr sind, also auch auf sich selbst anwendbar, so können sie nicht ganz wahr sein, sondern müssen eine höhere Stufe der Erkenntnis über sich haben.
Es ist nicht dieses Ortes, zu versuchen, ob diese typische Tragik des Denkens sich etwa auflösen läßt oder ob man bei der – sozusagen für die Praxis des Erkennens hinreichenden – Resignation stehen bleiben muß, daß im Geistigen überhaupt dasjenige, was man mit dem Gleichnis der »Fundamente« bezeichnen muß, unsicherer und »unfundamentierter« zu sein pflegt, als dasjenige, was über ihm aufgebaut ist. Aber dies darf wenigstens angedeutet werden, daß in der Tatsache: daß wir jenen tragischen Widerspruch alles Erkennens selbst erkennen und wissen, für den Geist die Gewähr liegt, von ihm nicht verschlungen zu werden.