August Silberstein
Herkules Schwach. Zweiter Band
August Silberstein

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Dreiundzwanzigstes Capitel.

Die lustigen und traurigen, verkauften und unverkauften Menschen und Dinge nehmen ihren Fortgang – der Schluß des großartigen Sonntags.

»Poll –« sagte endlich der angestaunte Künstler, »vor Dir und mithin vor Deiner Dame, brauche ich keine Umstände zu machen. – Es geht mir elend, sehr elend!«

»Wie, noch immer die alten Verhältnisse?«

»Noch immer. Kranz bezahlt schlecht und kann nicht besser bezahlen. Denke, die Kosten in jeder Stadt für einen neuen Zirkus, die Reiseauslagen für so viele Pferde, Personen, Gepäck, die Zeit, die im Jahre gefeiert werden muß, die Preise der Thiere, die unglücklichen Vorstellungen, die Summen, die für tägliche Auslagen aufgehen – denke nur so viele Pferde und so viele Menschen! – wo soll's stets herkommen?«

»Nun, das ist ja 'ne alte Geschichte; aber wo steckt's denn bei Dir besonders?«

»Wo? Wie Du nur fragen kannst! Bin ich denn nicht seit meiner Kindheit von meinem Vater verkauft? Ist nicht der Kontrakt bis zu meiner Großjährigkeit gemacht; habe 47 ich nicht so lange eigentlich Lehrzeit? Und ist nicht der Kontrakt mit Geldern so verklausulirt, daß ich wahrhaft, wahrhaftig verkauft bin?«

»Das ist wahr; aber Du erhältst doch immer Gage.«

»Das ist richtig. Aber Poll, weißt Du nicht, daß ich von den Gliederverrenkungen und Anstrengungen meiner Jugend – an der Brust leide? Wie lange werde ich's noch machen können, so muß ich das Reiten ganz, ganz aufgeben? Was dann? Schreiben kann ich nicht, mit Noth meinen Namen; im Lesen haben mich unsere Anschlagzettel noch ein wenig erhalten; was dann, wenn Kranz sagt: geh? – Den Stall putzen? – Muß ich nicht jetzt, wie früher, die Pferde mitbesorgen? Davon sind nur die ersten Künstler aus Paris oder London ausgenommen, die ihre kostbaren Pferde selbst mitbringen; das sind vielleicht sechs, glaub' nicht, ob so viele in ganz Deutschland; aber wir andern Alle sind ja ebenso Stallknechte als Künstler; und es ist natürlich, sonst könnte es eine Gesellschaft gar nicht leisten!«

»Dein Vater wie früher . . .?« fragte Poll mit freundschaftlichem Ausdrucke.

»Mein Vater wie früher; lebt und versäuft einen Theil meiner Gage, die ihm kontraktlich als Entschädigung für meine erste Jugend zufällt, wo ich ihm so viel gekostet! Poll – ihm!« Und der Künstler schlug ein leises, bitteres Lachen auf. »Er hat den Stall über sich, wie ich und Andere; er ist zu alt, um an was Anderes zu denken, und wird im Stall sein Leben beschließen. Er kann gar nicht mein Vater sein, er kann nicht! – So herzlos gegen mich!« –

»Ei, bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte 48 sein! Ist's denn mit Julius' Vater, dem falschen Risley, und dem der kleinen Anna anders? – Sind auch Väter!«

»Du hast Recht, Du hast Recht!« sagte der Kunstreiter schmerzlich. »Aber wie soll mir das enden? Soll ich auf den Jahrmärkten herumziehen, als einzelner, elender Budengaukler, oder mit mir gleichen, hungerigen Gimnastikern? Oder soll ich Feuer und Steine essen? Behalten wird mich zuletzt Kranz nicht mehr; denn er wird Leute brauchen, welche die Pferde besorgen und zugleich mitspielen. Und wenn er mich behält, so sinke ich so unter alle Andere als Stallknecht, daß ich mir die Augen aus dem Kopfe schämen müßte! Was soll ich nur thun? Gebe mir einen Rath. – Wenn ich nur gut schreiben könnte! Aber wo soll ich's gelernt haben? Im Stalle? Man fordert von uns nichts, von Jugend an, als Gliederverrenken, Hopsen und Springen, und daß wir uns herumwerfen lassen, wie vom Wege aufgeklaubte Steine. Warum bin ich nur so unglücklich, so unglücklich gerade ich! Wäre ich ein Schuster geworden, ich hätte Aussicht auf einen festen Platz, ein Weib, ein Haus und Heim, eine Familie und ein Alter! Hast Du schon einen alten Kunstreiter gesehen?«

Das war für Madame Trullemaier eine erstaunlich treffende Bemerkung. Es fiel ihr, bei allem Bedauern Solger's ein, daß sie wirklich nie einen alten Kunstreiter gesehen. Wo kommen sie nur hin? dachte sie, ohne zu wagen, die Frage auszusprechen.

Während sie diese Frage dachte, fuhr schon Solger fort. »Ich weis, wo sie hinkommen. Ins Spital, zum Sterben an Beinbrüchen, Quetschungen, Gliederverletzungen oder Lungenschwindsucht; und wenn Du die elendsten Krämer, Schaubudenbesitzer, herumziehende jammervolle 49 Publikums-Spekulanten aller Art fragen wolltest, wer sie ursprünglich seien, Du würdest vielleicht hören, wenn sie sich nicht vielmehr schämen es zu sagen, der ehemals berühmte Reiter SoundSo! – Doch was sage ich Dir das? Du weißt es so gut als ich. Und als Du noch mit uns spieltest und bei uns zugleich dientest, habe nicht ich, haben nicht Andere mit Dir davon gesprochen? Doch, man wird Kunstreiter, ehe man noch weis, was mit uns geschieht; man biegt und verrenkt unsere Glieder, nachdem wir als arme unwissende Würmer verkauft sind; und Niemand nimmt sich unser an. Haben wir nicht unsern Wurz, den Zwerg, der, als kleiner Knabe, von Kunstreitern verwendet wurde, das Kreuz brach und ein elender verzerrter Krüppel ist, all sein Lebtag?«

»Wurz lebt noch?«

»Wurz lebt noch und ist gerade so viel Mensch als ein Stallköter. Er ist in seinem Leben fast nicht aus dem Stalle gekommen. So sehr ich Wurz gewohnt bin, und so oft ich auch Spässe, gleich den Andern, mit ihm gemacht habe, so gibt es doch Nächte, in denen er als warnendes, schreckendes Beispiel vor mir steht. Als Kind verkauft – es ist schrecklich! Er fühlt nichts. Doch Andere! – So lange wir Jungen sind, wenn auch arm und verkauft, betrachten wir in der Dummheit unser Leben, als müßte es so sein und nicht anders; und sind wir dann größer und bricht das Weh über unser Herz herein, dann sind wir schon ausgeschlossen von der heimischen, friedlichen Familienbevölkerung, und strolchen in der Welt herum, bereit für jedes Duzend Leute und Duzend Groschen den Hals zu brechen – und wenn wir ihn nicht brechen, uns herumzuwälzen in allen elenden Winkeln, um nur die Kosten zu verkleinern. Denn ist man einmal bei einem Direktor und mit einer 50 Gesellschaft aufgewachsen, so thut man viel aus Gewohnheit und oft unerklärlicher Rücksicht. Doch, wenn es dem Direktor auch gut geht, kann er nur Jedem um eine Kleinigkeit mehr geben, die Hauptsumme behält er für sich und hat täglich für so viele Neuigkeiten zu sorgen, daß er die alten Leute bald vergißt und sie wandern läßt, wohin sie gehen mögen, verkümmern, verhungern, verderben!«

»Nun, so arg ist es bei Euch doch nicht!« sagte Poll tröstend.

»Augenblicklich allerdings nicht. Aber bin ich der Direktor? Ich bin nur ein Mitglied. Und wenn ich auch zu den Besseren gehöre, so weißt Du doch, was wir zu tragen haben. Es ist ein Elend, ein großes Elend!«

»Mein lieber Solger,« sagte Poll bewegt, »glaubst Du, Du sagst mir etwas Neues? Sicher nicht! Hab' ich nicht selbst schon oft darüber nachgedacht? Aber helfen kann ich nicht!«

»Das kannst Du nicht. Aber ich finde so selten einen Menschen, dem ich ein Wort sagen kann! – Heute bin ich da, morgen dort; wo soll mir ein Freund herkommen? Mein Vater säuft und liegt auf dem Stroh im Stalle, und nennt mich einen Hund, oder greift gar zu einer Peitsche, wenn ich murre. – Wo finde ich Jemanden, dem ich mich mittheilen könnte? Die Andern haben mit sich zu thun, oder suchen im Lumpiren, im Trinken, in übertreibender Lustigkeit, sich selbst zu betäuben und wollen nichts von Dem hören, was sie in sich wol fühlen. Dann gibt es auch Dummköpfe, die sich von dem Beifallklatschen abspeisen lassen und glauben, ein Hund käme einst aus ihr Grab, oder ein Hahn krähe um sie, wenn sie einmal hinaus sind. – Aus der Stadt, aus der Welt! – Es ist ein Elend, nicht einmal 51 mit Jemandem so ganz nach Wunsch sprechen zu können! Es war mir ordentlich leicht ums Herz, als ich Dein altes bekanntes Gesicht wieder sah. Du kanntest mich von Jugend auf, weißt woher ich bin; sind wir doch Landsleute und aus der Nachbarschaft! Und hast Du doch selbst meine Mutter, meine gute, gute Mutter gekannt!« Hier traten dem armen Kunstreiter Thränen in die Augen.

»Gott hab' sie selig; war eine gute Frau!« sagte Poll treuherzig.

»Wenn sie das wüßte! – Es ist gut, daß sie frühzeitig starb und mich nicht mehr sah! Oder wäre ich nicht Kunstreiter geworden, wenn sie gelebt hätte? Ich glaube. Denn eine Mutter, ist – eine Mutter! Obwol . . . ich hab' auch Mütter gesehen . . . nun, sie sind selten. – Meine süße, liebe, sanfte Mutter! Wenn ich nur einmal zu ihrem Grabe könnte! Dort möchte ich weinen, vielleicht käme mir auch einmal das Beten; weis so nicht mehr, wie man's macht. – Zu ihrem Grab! – Wir reiten nur in großen Städten; dort liegt sie nicht. Du kennst ja unser stilles, kleines Dorf!«

»Kenn's, kenn's; hab selbst manchen theuren Todten und Lebenden dort!«

»Wenn ich nur einmal hinkönnte!« Und der arme Solger blickte so sehnsüchtig und wehmüthig.

»Wenn, wenn, ja wol!« Poll sah ihm mit einem bedauernden Blicke ins Gesicht.

»Aber – ich verschwätze mich ja mit Dir! Ich muß noch bei den Pferden helfen und Kostüme in Ordnung bringen. Hab' mich nur auf kurze Zeit davon gemacht; ich mußte einmal wieder mit einer theilnehmenden, freundlichen Seele sprechen. – Poll!« und er blieb stehen und sah ihm 52 ins Gesicht. »Weist Du mir zu rathen, rathe – zu helfen, helfe – ich bitte Dich um Gotteswillen, oder ich gehe noch eher zu Grunde, als es ohnehin sein muß!« Und er zeigte auf seine Brust.

»Solger, Du weißt, ich nehme sehr Antheil an Dir; aber Deine Sache will bedacht sein. Du kennst den Kontrakt, Du bist minderjährig . . . Dein Vater . . . und Kranz läßt auch die gewohnten, abgerichteten und billigen Mitglieder nicht leicht von sich. – Ich kann Dir nicht gleich sagen, was zu thun ist; bin ich ja selbst noch nicht gar so lange hier und zudem erst aus der Kunstvagirerei heraus. Ihr gebt ja doch einige Wochen Vorstellungen? Ich kann Dich noch öfter sehen und werde es. Leb' jetzt wohl und gehe nach Hause.«

»Nach Hause – wo ist das?«

»Nun, nun . . .« sagte Poll gerührt, »geh zu Kranz und mache aus Dir noch das Beste, so lange es geht. Es wird schon anders werden. – Leb' wohl!« Und er schüttelte ihm die Hand. Solger erwiederte dies herzlich, machte eine sehr graziöse Verbeugung gegen die Dame, und ging seiner Wege – in den Glanz und die Pracht des Zirkus, der Götter und Heroen zurück, die täglich flimmernd, strahlend, in Jugendfülle, beneidenswerther Grazie und rosiger Wangenschminke erschienen.

Eine Weile gingen dann Poll und seine Begleiterin still den Weg entlang. Endlich sagte die Letztere: »Hätt's mein Lebtag nicht geglaubt, daß es den Leuten so schlecht gehe. – Wenn man die Pracht sieht – da glaubt man ja es regnet Geld in ihre Taschen! – Aber, sagen Sie mir nur, wie leben denn die Kunstreiterinen, diese schönen lieben Gesichter, und wo kommen sie nur hin, wenn sie älter 53 werden? In meinem Leben ist mir noch keine alte Kunstreiterin vorgekommen!«

»Das ist dieselbe Geschichte wie von den Männern; nur mit wenigen Abwechslungen,« sagte Poll. »Erst werden sie gut verkauft und verspekulirt, wie die Knaben; dann werden sie größer und schön. Und es gibt immer reiche Bummellanten, die sich's was kosten lassen, mit einer Kunstreiterin in Verhältnissen zu stehen, das heißt, so lange sie in der Stadt ist. Ist sie sehr schön und sehr klug, hat sie zudem Glück, so kann sie im Glanze ein par Thälerchen ins Trockene bringen, höchst selten ein Vermögen zum Leben. Ist sie leichtsinnig, so führt sie ein par Jahre ein lustiges leichtes Leben und geht noch eher zu Grunde, oder wird desto eher herumziehende Waffelbäckerin, geschminkte Budenkassirerin, Eigenthümerin eines geflickten Panoramas oder Wachsfigurenkabinettes auf einem Wagen, der nicht Ruh noch Rast hat und Küche und Wohnung ist; oder sie reitet einige Jahre noch auf elenden Mähren mit den Dorf-Kunstreitern, und geht miserabel, kümmernd und schwindsüchtig zu Grunde. Wenige . . . kurz es geschieht nicht gar oft, daß Eine in ein bürgerliches Leben kommt, heirathet und lebt und stirbt wie Andere. – Es ist ein Jammer!«

»Und ist den Leuten nicht zu helfen?«

»Diesen nimmer,« sagte Poll gelassen; »aber ich wüßte etwas für die Zukunft. – Wenn die Regierung, die sich doch um Alles umsieht, 'mal sagen würde: Das Kind von einem Menschen muß erst ein Mensch werden, und dann kann es noch was Anderes sein – dann würde es gleich anders!«

»Ich verstehe das nicht.«

»Nun, das ist sehr einfach. Ein jedes Kind müßte 54 erst in die Schule gehen; und ginge nun jedes Kind in die Schule, dürfte man nichts aus ihm machen, bevor es nicht in der Schule bis zu einem gewissen Alter vorerst gelernt, Mensch zu sein, dann gäbe es weniger Unglückliche, Gliederverrenker, Schwindsüchtige und erbarmenswürdige Marktherumzieher, doch etwas mehr nützliche, wackere Menschen. Freilich könnten die Glieder nicht gar so furchtbar verrenkt werden, wie bisher, da man's bei ganz kleinen, weichen Kindern beginnt; aber wär's 'n Schaden für die Menschheit? Es gäbe dann auch weniger solcher »Künstler«, und sie kämen dadurch weniger auf den Hund. Da vergnügen sich aber die Großen an Kinderballets und reitenden und gliederbrechenden Kindern, rufen ihnen Bravos zu und sind entzückt und werfen Bonbons. Doch, wenn ihr eigenes Kleines schief in der Windel oder in dem weichen Bette liegt, richten sie ängstlich, rufen tausend Doktores und finden über ein Hüsteln kein Jammersende! Hole der Geier diese Barmherzigkeit, wenn eines Armen Kind nicht auch als Mensch betrachtet werden soll! – Und könnte ich alle Leute, Fremde oder Einheimische, 's ist Alles eins, bei den Köpfen nehmen, welche – bisher mit hoher obrigkeitlicher Erlaubniß – ihr eigenes Fleisch und Bein in den Kindern öffentlich maltraitiren und deren Jahre für Groschen elend verkaufen, ich würde gleich Polizeier und schlüge das Hohle aneinander, daß es hallen sollte und sie für alle Zukunft die große Trommel ersparen! – So, ich habe gesprochen!«

Nach einer kurzen Pause fuhr Poll heiterer fort: »Und jetzt ist wieder unser Sonntag!« »Uns gehen die Reiter und Springer mit ihren Familiensorgen nichts an; wir wollen lustig sein! Kommen Sie, Madame!« Und er zog die Trullemaier wieder lebhaft mit sich. Sogleich eilte er 55 in ein wunderbares Panorama, und Mutter und Sohn sahen erstaunliche, ungeahnte, noch nicht dagewesene Dinge. Von dem Panorama ging's in ein Kabinet, oder anderes »rama«, und noch in mehrere »rama«, überall ward Poll sammt Gesellschaft vorzüglich berücksichtigt. Alle Trübsal war vergessen, die Dame hing selig und entzückt an Poll's Arm.

Je mehr Kunst jedoch Alexi sah, desto fester nur stand es in ihm, ein Kunstleben, ein Dasein voller Wunder zu führen. Das Gespräch des Kunstreiters war ihm »albern«; denn er, Alexi, hatte keinen Vater, der ihm die Einnahme versöffe, sagte er sich, und er sei nicht lungenkrank, überhaupt: Jene seien sämmtlich Leute, die es nicht recht verständen! Er wolle erst zeigen, wie man zu reiten vermöge. Die Leute sollen, herbeilaufend, ihm das Geld in Scheffeln bringen! Die wunderbarsten Kapriolen führte er im Geiste aus, die fantastischen, im strengsten Galoppe noch immer zu langsamen Pferde, bekamen furchtbare Hiebe und Zurufe von ihm, bis die Bravissimi und »Beifälle« der Menge, betäubend, entzückend in seine Ohren gellten.

Ein öffentlicher Garten erhielt die beneidenswerthe Bestimmung, unsere Gesellschafter aufzunehmen und ihnen, nach den Kunstgenüssen, die leiblichen zu vermitteln.

Madame hatte ganz das Ansehen hoher Gönner, welche es sich zuweilen nicht versagen können, das Treiben der Volksmenge zu besehen und Gastgeber aus dem Volke zu beglücken.

Poll fand es für seine unumgänglichste Pflicht, das erste Glas auf das Wohl seiner liebenswürdigen Gesellschafterin zu trinken, und es kamen seinerseits Toaste, die jeder parlamentarischen Versammlung zu hoher Zierde gereicht 56 hätten. Alexis ließ es seinerseits an Zuspruch nicht fehlen – und Madame gab dem Drängen nach.

Poll forderte, daß sie endlich zur Abwechslung doch auch einmal auf seine Gesundheit trinken möge! – Als dies genügend geschehen, entgegnete er diese Huld durch eine gleiche. – Endlich verwickelte Poll noch allerlei Personennamen in die Toasterei. – Und als die Personen gehörig gewürdigt waren, fand Poll den besondersten Anlaß zu Heiterkeit und Wohltrinken darin, daß er zum erstenmale aus dem Künstlerischen sich heraus und in das Bürgerliche hinein sich fetire! – Zum Schlusse konnte er sich's nicht versagen, für die hohe Ehre, welche ihm Madame durch ihre Gegenwart angethan, den eben neu gefüllten Humpen, namentlich zum Beweise lebhaften Bewußtgewordenseins, bis auf die Neige zu leeren!

Das Kichern trat bei den Gefeierten und Mitfeiernden öfter als sonst ein – und nicht ohne einigen Mangel an gewohnter Grazie erhob man sich allerseits, bei einbrechendem Abende, zum Heimgange.

Poll erklärte, indem er einen Augenblick starrend vor dem Garten stand, die Luft für »sehr schwül«. Er fächelte sich Kühlung mit dem Hute zu, setzte ihn nicht ganz ohne Fehlgriffe wieder zurecht, bot, mehr vorgeneigt als für das europäische Gleichgewicht nothwendig war, seiner Dame den Arm, und ging, indem er die Füße sehr fest auf die Erde setzte, mit ihr vorwärts.

Madame schüttelte das Haupt, ohne, merkwürdigerweise, für dessen Beweglichkeit so viel Mühe anwenden zu dürfen als sonst. Sie fand es nothwendig, sich etwas fester an ihren »Begleiter« anzuklammern, als früher. 57

Auf dem Wege fielen Poll immer mehr tiefsinnige Gedanken ein, so daß er es sogar nothwendig fand, stehen zu bleiben. Erst dann bewegte er sich weiter, nachdem er die Gedanken so philosophisch vorgetragen, daß weder seine Begleiterin, noch der sehr wissenschaftliche Alexis, ein Wort davon verstanden.

Einmal war er so gefühlsüberwältigt von diesem heutigen schönen Tag, daß er Madame Trullemaier, da es schon sehr dunkel in der ziemlich leeren unbedeutenden Querstraße war, die sie eben gingen, um den Hals nehmen und herzhaft zu küssen versuchen wollte. Die dabei seitwärts geschobene Haube wieder in Ordnung zu bringen, vergaß Madame Trullemaier ganz.

Nach so geringfügigen Unterbrechungen und den nicht geradesten Linien, gelangte man der Behausung näher. Poll glaubte zu bemerken, Madame Trullemaier sei »etwas angegriffen«, während er sich sehr wohl, ganz ausgezeichnet wohl befände. –

An der letzten Straßenecke fand die längst beabsichtigte Trennung, gegenwirkend der nachbarlichen Nachredesucht, statt. –

Madame Trullemaier hielt sich, bei dem Scheine der Straßenlaternen, stark an den Häusern, ging in das ihre, borte im Dunkeln lange Zeit, konsequent an der Seite, wo das Schlüsselloch sich nicht befand, den Schlüssel in das Holz der Thüre, bis sie endlich, den Irrthum bemerkend, aufschloß, in ihre Räume gelangte und sofort mit besonderer Sorgfalt, auf ihr eigenes Wohl, frisches Wasser ausbrachte.

Poll ließ sich, ohne viele Widerrede, von Alexis bis zu Hause und auf die Treppe hinauf begleiten. Er gab 58 dem Jungen, dem sonst sehr schwül war, fortwährend werthvolle Lehren, mit Philosophie untermengt. Ob der Junge absichtlich, oder irrthümlich, Poll nicht an die richtigste Thüre, sondern an jene hart nebenan brachte, ist schwer zu entscheiden. Sicher ist aber, daß Poll in vollster Zuversicht vorwärts ging an jenen Ort, wo sein Zimmer sich befand, d. h. befinden sollte. Dort warf er nur Weniges von sich und ließ sich, mit aller Schwere seines Körpers, sofort auf das Bett fallen.

Ein entsetzlicher Schrei einer Weiberstimme ertönte unter ihm.

Poll sprang entsetzt empor!

Der Schrei kam aus der Kehle der alten Köchin, welche bereits friedlich in Schlummer gesunken war.

Poll äußerte die größte Entrüstung über solche Attentate in seinem Zimmer. Die Köchin erhob ihre Stimme immer mehr und mehr. Hausleute kamen mit Lichtern herbei und entdeckten die verschiedenen Verirrungen.

Bald darauf herrschten wieder Ruhe und Frieden in Europa, besonders im Schwach'schen Theile desselben.

Daß Poll zuweilen aus dem Traume und durch die Stille der Nacht rief: »Immer 'ran meine Herrschaften! Die merkwürdige Rosine! Gelehrte Kaninchen! Standespersonen nach Belieben!« that der allgemeinen Ruhe nur sehr unmerklichen Eintrag und kann gar nicht beachtet werden. 59



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