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Macrinus, ein Weber, in dessen Haus man Vinicius getragen hatte, wusch ihn, versorgte ihn mit Kleidung und stärkte ihn. Der junge Tribun, der sich inzwischen wieder völlig erholt hatte, erklärte, noch diese Nacht weitere Nachforschungen nach Linus anstellen zu wollen. Macrinus, der Christ war, bestätigte die Worte Chilons, daß Linus sich in Begleitung eines alten Priesters, Clemens, nach dem Ostrianum begeben habe, wo Petrus ganze Scharen von Anhängern des neuen Glaubens taufen wollte. Es war den Christen in der Nachbarschaft bekannt, daß Linus die Obhut über sein Haus vor zwei Tagen einem gewissen Gajus übergeben habe. Dies war für Vinicius ein Beweis dafür, daß weder Lygia noch Ursus im Hause geblieben seien, sondern ebenfalls sich nach dem Ostrianum begeben haben mußten.
Dieser Gedanke gewährte ihm einigen Trost. Linus war ein alter Mann, dem es schwer gefallen wäre, täglich von seiner Wohnung jenseit des Tiber nach dem Nomentanischen Tore und zurück zu gehen; wahrscheinlich wohnte er daher die paar Tage bei einem Glaubensgenossen außerhalb der Mauern, ebenso auch Lygia und Ursus. Auf diese Weise waren sie dem Brande entgangen, der sich überhaupt nicht bis zum jenseitigen Abhange des Esquilinus ausgedehnt hatte. Vinicius erblickte in dem allen eine Fügung Christi; er war sich bewußt, unter seinem Schutze zu stehen, und schwur mit einem von größerer Liebe als je erfüllten Herzen, ihm sein ganzes Leben zum Danke für diesen ersichtlichen Gnadenbeweis zu weihen.
Um so mehr aber zog es ihn nach dem Ostrianum. Er würde dort Lygia, Linus und Petrus finden und sie weit weg, auf eines seiner Güter, und wäre es bis nach Sizilien, bringen. Rom brannte eben, und nach einigen Tagen würde nichts von ihm übrig sein als Aschenhaufen. Warum sollte er also in der Nähe der Unglücksstätte und des rasenden Volkes bleiben? Dort würden sie von Scharen treuer Diener umringt sein, sich der ländlichen Ruhe erfreuen und unter den Fittichen Christi, von Petrus gesegnet, ein friedliches Leben führen. Wenn er sie nur bald fände!
Dies war jedoch keine leichte Sache. Vinicius erinnerte sich, mit welcher Mühe er von der Via Appia aus an das jenseitige Ufer des Tiber gelangt war und welchen Umweg er hatte machen müssen, um die Via Portuensis zu erreichen, und faßte daher den Entschluß, die Stadt diesmal in entgegengesetzter Richtung zu umgehen. Wenn er die Via Triumphalis benutzte, so war es möglich, dem Laufe des Flusses folgend, bis zur Ämilianischen Brücke und von da am Pincius vorbei über das Marsfeld hinweg an den Gärten des Pompejus, Lucullus und Sallustius entlang nach der Via Nomentana vorzudringen. Es war dies der kürzeste Weg, aber sowohl Macrinus wie Chilon rieten ihm davon ab. Das Feuer hatte zwar bis jetzt diesen Teil der Stadt noch nicht erreicht, aber alle Plätze und Straßen konnten möglicherweise von Menschen und Hausrat völlig versperrt sein. Chilon riet, über den Ager Vaticanus hinweg bis zur Porta Flaminia zu gehen, dort den Fluß zu überschreiten und dann außerhalb der Stadtmauern, jenseit der Gärten des Acilius bis zur Porta Salaria vorzudringen. Nach einigem Zaudern befolgte Vinicius diesen Rat.
Macrinus mußte zur Bewachung seines Hauses zurückbleiben; er besorgte aber zwei Maultiere, deren sich auch Lygia zur Weiterreise bedienen konnte. Er wollte Vinicius auch einen Sklaven mitgeben; dieser lehnte aber das Anerbieten ab, weil er hoffte, die erste beste ihm begegnende Abteilung Prätorianer würde sich, wie es schon am Morgen geschehen war, unter seinen Befehl stellen.
Nach einiger Zeit machte er sich mit Chilon auf den Weg, und beide gingen über den Pagus Janiculensis nach der Via Triumphalis. Auf den offenen Plätzen waren zwar Lagerplätze aufgeschlagen, die ihnen aber geringe Schwierigkeit verursachten, da der größte Teil der Bewohner durch die Via Portuensis dem Meere zu geflohen war. Vor dem Septimanischen Tore ritten sie zwischen dem Flusse und den herrlichen Gärten des Domitius weiter. Die mächtigen Zypressen der letzteren sahen infolge des Brandes rot aus, als würden sie von der Abendsonne beschienen. Die Straße war hier freier, nur ab und zu wurden sie durch vorüberhastende Landleute behindert. Vinicius trieb sein Tier zur höchsten Eile an, Chilon aber, der hinter ihm ritt, sprach fast auf dem ganzen Wege mit sich selber.
»Nun ist das Feuer hinter uns geblieben und wärmt uns den Rücken. Noch nie war es auf dieser Straße bei Nacht so hell. O Zeus! wenn du keinen Wolkenbruch auf dieses Feuer niedersendest, so hegst du keine Liebe zu Rom. Menschenkraft ist diesem Brande nicht gewachsen. Solch eine Stadt, der Griechenland und die ganze Welt gehorchte! Und jetzt kann der erste beste Grieche seine Bohnen in Roms Asche rösten! Wer hätte das gedacht! %hellip; Nun wird es wohl aus sein mit Rom und der römischen Herrschaft %hellip; Und wer auf den kalt gewordenen Trümmern umhergehen und pfeifen will, der kann getrost pfeifen. O ihr Götter! über eine solche weltbeherrschende Stadt pfeifen! Welcher Grieche oder selbst welcher Barbar hätte dies je erwartet? %hellip; Und doch kann man ruhig pfeifen, denn ein Häuflein Asche, mag es nun von einem Hirtenfeuer oder von einer brennenden Stadt herrühren, ist eben nur ein Häuflein Asche, das früher oder später der Wind verweht.«
Während dieses Selbstgespräches wandte er sich von Zeit zu Zeit nach dem Brande um und betrachtete mit einem Ausdruck boshafter Freude im Gesicht die Feuerwogen. Dann fuhr er fort: »Rom geht unter! Es geht unter und wird von der Erde verschwinden. Wohin wird die Welt nun ihr Getreide, ihre Oliven und ihr Geld senden? Wer wird ihr Gold und Tränen entpressen? Der Marmor brennt nicht, aber er zerbröckelt im Feuer. Das Kapitol stürzt in Trümmer, der Palatin stürzt in Trümmer! O Zeus! Rom war der Hirt, die anderen Völker waren die Schafe. Wenn der Hirt Hunger hatte, schlachtete er eins von den Schafen, aß das Fleisch, und dir, Vater der Götter, opferte er das Fell. Wer wird nun, o Wolkenversammler, die Schafe schlachten, und in wessen Hände wirst du die Peitsche des Hirten legen? Denn Rom brennt so lichterloh, o Vater, als hättest du es mit deinem Blitze in Brand gesteckt.«
»Beeile dich!« drängte Vinicius. »Was hast du dort zu tun?«
»Ich weine über Rom, Herr,« entgegnete Chilon. »Eine solche Stadt Jupiters!«
Eine Zeitlang ritten sie schweigend weiter. Tauben, die in Menge in den Villen und den kleinen Städten der Campania gehalten wurden, sowie Vögel aller Arten von der Küste und den nahen Bergen her hielten offenbar die Glut des Feuers für Sonnenschein und flogen scharenweise blindlings hinein.
Vinicius unterbrach zuerst das Schweigen.
»Wo warst du beim Ausbruche des Feuers?«
»Ich ging gerade zu meinem Freunde Euricius, Herr, der einen Kramladen beim großen Zirkus unterhielt, und dachte über die Lehre Christi nach, als der Ruf: Feuer! ertönte. Die Menschen drängten sich um den Zirkus, teils aus Furcht, teils aus Neugierde; als aber die Flammen den ganzen Zirkus ergriffen und außerdem auch andere Häuser zu brennen begannen, mußte jeder auf seine eigene Rettung bedacht sein.«
»Hast du Leute Brandfackeln in die Häuser werfen sehen?«
»Was habe ich nicht sehen müssen, o Urenkel des Aeneas! Ich sah Leute, die sich mit dem Schwerte den Weg durch die Menge bahnten; ich sah Kämpfe und auf dem Pflaster zertretene menschliche Eingeweide. Ach, Herr, hättest du das gesehen, so würdest du geglaubt haben, Barbaren hätten eine Stadt erobert und richteten ein Blutbad an. Von allen Seiten hörte man rufen, das Ende der Welt sei gekommen. Einige verloren völlig den Kopf und blieben, ohne an Flucht zu denken, besinnungslos stehen, bis sie von den Flammen umringt waren. Etliche wurden wahnsinnig, andere heulten aus Verzweiflung; Ich sah aber auch Leute, die vor Freude heulten; denn, o Herr, es gibt auf Erden sehr viel schlechte Menschen, die die Wohltaten eurer milden Herrschaft und jene gerechten Gesetze nicht zu würdigen verstehen, kraft deren ihr allen nehmt, was sie besitzen, und es für euch behaltet. Die Menschen wissen sich eben nicht in den Willen der Götter zu fügen!«
Vinicius war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um den Hohn, der in Chilons Worten lag, zu merken. Schon bei dem bloßen Gedanken, Lygia könne sich inmitten dieses Chaos, in diesen schrecklichen Straßen befunden haben, in denen menschliche Eingeweide zertreten wurden, faßte ihn ein Schauder. Obgleich er daher Chilon wohl schon zehnmal nach allem gefragt hatte, was dieser wissen konnte, wandte er sich doch noch einmal mit den Worten an ihn: »Und du hast sie im Ostrianum mit eigenen Augen gesehen?«
»Jawohl, Sohn der Venus,« ich habe das Mädchen, den guten Lygier, den heiligen Linus und den Apostel Petrus gesehen.«
»Vor dem Brande?«
»Vor dem Brande, Mithras!«
In Vinicius regte sich jetzt ein Zweifel, ob auch Chilon nicht lüge; daher zügelte er sein Maultier, sah den alten Griechen drohend an und fragte: »Was hattest du dort zu tun?«
Chilon geriet in Verwirrung. Zwar hegte er wie viele die Meinung, mit dem Untergange Roms sei auch der Untergang der römischen Herrschaft besiegelt; aber jetzt war er mit Vinicius allein und erinnerte sich, daß dieser ihm unter den furchtbarsten Drohungen verboten hatte, die Christen und namentlich Linus und Lygia zu beobachten.
»Herr,« begann er, »warum willst du mir nicht glauben, daß ich sie liebe? Ja, so ist es! Ich war im Ostrianum, weil ich zur Hälfte Christ bin. Pyrrhon lehrte mich Tugend höher zu schätzen als Philosophie, deshalb halte ich mich mehr und mehr zu tugendhaften Leuten. Und außerdem bin ich arm, Herr, und litt, während du in Antium weiltest, öfters Hunger bei meinen Büchern. Daher setzte ich mich vor die Mauern des Ostrianums, denn die Christen geben, trotzdem sie selbst arm sind, reichlichere Almosen als alle anderen Bewohner Roms zusammengenommen.«
Dieser Grund erschien Vinicius einleuchtend, und er fragte daher weniger streng: »Weißt du nicht, wo Linus augenblicklich wohnt?«
»Du hast mich einst hart für meine Neugier gestraft,« entgegnete der Grieche.
Vinicius schwieg, und beide ritten weiter.
»Herr,« begann Chilon nach einer Weile, »ohne mich würdest du das Mädchen nicht finden; aber wenn wir sie finden, wirst du dann einen armen Philosophen nicht vergessen?«
»Du sollst ein Haus mit einem Weinberg in Ameriola bekommen,« entgegnete Vinicius.
»Ich danke dir, Herakles! Mit einem Weinberge? %hellip; Ich danke dir! O, mit einem Weinberge!«
Sie kamen jetzt an den vatikanischen Hügeln vorüber, die vom Brande rot angestrahlt waren; bei der Naumachia bogen sie rechts ab, um nach Durchquerung des vatikanischen Feldes sich dem Flusse zu nähern, diesen zu überschreiten und dann auf die Porta Flaminia zuzureiten. Mit einem Male hielt Chilon sein Maultier an und sagte: »Herr, es ist mir ein guter Einfall gekommen.«
»Sprich!« erwiderte Vinicius.
»Zwischen dem Janiculus und dem Vaticanus hinter den Gärten der Agrippina befinden sich Gruben, aus denen man Steine und Sand zum Bau des Neronischen Zirkus herausgenommen hat. Nun höre mich, Herr! In der letzten Zeit haben die Juden, von denen es, wie du weißt, eine große Menge jenseit des Tiber gibt, angefangen, die Christen grausam zu verfolgen. Du wirst dich erinnern, daß schon zur Zeit des göttlichen Claudius solche Bewegungen vorkamen, so daß der Caesar sich genötigt sah, sie aus Rom auszuweisen. Doch jetzt, wo sie zurückgekehrt sind und sich unter dem Schutze der Augusta sicher fühlen, belästigen sie die Christen um so mehr. Ich weiß es! ich habe es selbst gesehen. Zwar ist noch kein Edikt gegen die Christen erlassen, aber die Juden klagen sie beim Stadtpräfekten an, daß sie Kinder schlachten, einen Esel anbeten und sich zu einer Religion bekennen, die vom Senate nicht anerkannt sei. Sie schlagen sie sogar und überfallen ihre Bethäuser so wütend, daß sich die Christen vor ihnen verbergen müssen.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Vinicius.
»Daß Synagogen offen jenseit des Tiber existieren, die Christen jedoch, um der Verfolgung zu entgehen, heimlich beten müssen und sich in verfallenen Hütten vor der Stadt oder in Sandgruben versammeln. Die jenseit des Tiber wohnenden haben sich nun die Grube gewählt, die infolge des Baues des Zirkus und verschiedener Häuser längs des Tibers entstanden ist. Jetzt, wo die Stadt untergeht, beten die Anhänger Christi unzweifelhaft. Jedenfalls werden wir eine große Anzahl von ihnen in der Grube antreffen, und ich rate dir daher, Herr, mit mir dorthin zu gehen.«
»Du sagtest mir aber doch, Linus befinde sich im Ostrianum?« rief Vinicius ungeduldig aus.
»Du hast mir ein Haus mit einem Weinberg in Ameriola versprochen,« entgegnete Chilon; »ich will daher das Mädchen überall suchen, wo ich es zu finden hoffen kann. Sie können nach dem Ausbruche des Brandes in ihre Wohnung jenseit des Tibers zurückgekehrt sein %hellip; Sie können die Stadt verlassen haben, genau so, wie wir sie in diesem Augenblicke verlassen. Linus besitzt ein Haus; er wollte diesem vielleicht näher sein, um zu sehen, ob das Feuer nicht auch diesen Stadtteil ergreife. Wenn sie zurückgekehrt sind, so schwöre ich dir, Herr, bei Persephone, daß wir sie in der Grube beim Gebet antreffen, und schlimmstenfalls erhalten wir dort Nachricht über sie.«
»Du hast recht; reite voraus!« erwiderte der Tribun.
Chilon bog, ohne zu schwanken, links nach dem Hügel zu ab. Für einen Augenblick verbarg dessen Abhang ihnen das Feuer, so daß die beiden im Schatten ritten, während die benachbarten Höhen hell beleuchtet waren. Als sie an dem Zirkus vorbei waren, bogen sie nochmals links ab und befanden sich jetzt in einer Art Gasse, in der vollständiges Dunkel herrschte. Aber in dieser Finsternis bemerkte Vinicius eine Anzahl Laternen.
»Da sind sie!« sagte Chilon. »Es werden ihrer heut mehr als je sein, weil ihre übrigen Bethäuser verbrannt oder voller Rauch sind, wie das ganze Viertel jenseit des Tiber.«
»Ja, ich höre Gesang,« erwiderte Vinicius.
Wirklich drangen Stimmen singender Menschen aus der dunklen Höhle am Abhange des Hügels, und es verschwand eine Laterne nach der anderen. Aus den Seitenwegen tauchten beständig neue Gestalten auf, so daß Vinicius und Chilon sich nach einiger Zeit mitten in einer ganzen Menschenschar befanden.
Chilon stieg von seinem Maultier ab, winkte einem Knaben, der in der Nähe saß, und sagte ihm: »Ich bin ein Priester Christi, ein Bischof. Halte uns die Maultiere, du wirst dafür meinen Segen und die Vergebung deiner Sünden erhalten.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er ihm die Zügel zu und folgte mit Vinicius der vorausschreitenden Menge.
Nach einiger Zeit gelangten sie in die Höhle und kamen bei dem trüben Schein der Laternen in einen dunklen Gang, der sich später zu einer geräumigeren Grube erweiterte, in der offenbar noch kürzlich Steine gebrochen worden waren, da die Wände noch Spuren frischer Bearbeitung zeigten.
Es war hier heller als in dem Gange, weil außer Kerzen und Laternen noch Fackeln brannten. Bei ihrem Lichte bemerkte Vinicius eine große Menge Knieender, mit zum Himmel ausgestreckten Armen. Lygia, den Apostel Petrus und Linus konnte er nirgends entdecken, dagegen sah er überall feierlich bewegte Gesichter. Auf einigen war deutlich Erwartung, Schrecken, Hoffnung zu lesen. Das Licht spiegelte sich in den glänzenden, emporgerichteten Augen wider, Schweißtropfen rannen von den totenblassen Stirnen hernieder; einige sangen Hymnen, andere wiederholten wie im Fieber den Namen Jesus, etliche schlugen sich an die Brust. Unzweifelhaft erwarteten sie jeden Augenblick das Eintreten eines außerordentlichen Ereignisses.
Inzwischen schwieg der Gesang, und über der Versammlung, in einer Nische, die durch die Entfernung eines riesigen Steinblockes entstanden war, erschien der Vinicius bekannte Crispus mit seinen halb geistesabwesenden, blassen, fanatischen, ernsten Zügen. Aller Augen richteten sich auf ihn wie in Erwartung aufrichtender und tröstender Worte. Doch er begann, nachdem er die Gemeinde gesegnet hatte, mit fliegender, beinahe kreischender Stimme: »Bereuet eure Sünden; denn die Stunde ist gekommen. Sehet auf die Stadt des Lasters und des Verbrechens, auf das neue Babylon sandte der Herr das Feuer der Verwüstung herab. Die Stunde des Gerichts, des Zornes und der Vernichtung hat geschlagen %hellip; Der Herr hat seine Wiederkunft verheißen, und bald werdet ihr ihn sehen. Aber nicht mehr als Lamm wird er erscheinen, das sein Blut für eure Sünden vergossen hat, sondern als furchtbarer Richter, der in seiner Gerechtigkeit Sünder und Ungläubige in den Pfuhl der Hölle schleudert %hellip; Wehe der Welt und wehe den Sündern, denn für sie wird es kein Erbarmen geben %hellip; Ich schaue dich, Christus! Die Sterne fallen wie Regentropfen zur Erde, die Sonne verfinstert sich, die Erde öffnet ihre Tiefen, und die Toten stehen auf. Du aber erscheinst mit Posaunenhall und Legionen von Engeln, unter Donner und Blitz. Ich schaue und höre dich, Christus!«
Er schwieg und schien erhobenen Hauptes auf eine furchtbare Erscheinung zu blicken. In diesem Augenblicke ließ sich ein dumpfes Getöse in der Höhle vernehmen, ein-, zwei-, zehnmal. In der brennenden Stadt begannen ganze Straßen ausgebrannter Häuser zusammenzustürzen. Doch die Mehrzahl der Christen hielt jene Stimmen für ein deutliches Zeichen, daß die Stunde des Schreckens gekommen sei, denn der Glaube an die nahe bevorstehende Wiederkunft Christi und an das Ende der Welt war allgemein unter ihnen verbreitet, und jetzt hatte der Brand der Stadt ihn noch verstärkt. Das Entsetzen vor dem Herrn ergriff die Gemeinde. Mehrere Stimmen begannen zu wiederholen: »Der Tag des Gerichts! %hellip; Siehe, er ist gekommen!« Andere schlugen die Hände vor das Gesicht, weil sie glaubten, die Erde bebe in ihren Grundfesten, ihren Schlünden würden Tiere der Hölle entsteigen und sich auf die Sünder stürzen. Die einen riefen: »Christus, erbarme dich unser! Christus, sei uns gnädig! %hellip;« – andere bekannten laut ihre Sünden, noch andere umarmten sich, um in dem furchtbaren Augenblicke ein Herz nahe an dem ihren schlagen zu hören.
Es gab unter den Anwesenden aber auch solche, deren Züge wie weltentrückt, voll überirdischen Lächelns keine Spur von Furcht zeigten. An mehreren Stellen wurden Stimmen laut: es waren Leute, welche in religiöser Begeisterung anfingen, unverständliche Worte in unbekannten Sprachen zu schreien. Aus einer dunklen Ecke der Höhle rief jemand: »Schläfer, wachet auf!« Aber alles übertönte Crispus' Ruf: »Wachet, wachet!«
Bisweilen jedoch trat Stille ein, als hielte jeder den Atem an und harre des Kommenden. Dann drang aus der Ferne das Getöse zusammenstürzender Häuser herüber, und von neuem begann das Ächzen, Beten, Stöhnen und Rufen: »Erlöser, erbarme dich!« Mitunter erhob auch Crispus seine Stimme und rief: »Entsaget den irdischen Gütern, denn in kurzem werdet ihr keine Erde mehr unter den Füßen haben! Entsaget irdischer Liebe, denn der Herr wird die verdammen, die Weib und Kind mehr lieben als ihn. Wehe dem, der das Geschöpf mehr liebt als den Schöpfer! Wehe den Reichen! Wehe den Prassern! Wehe den Unkeuschen! Wehe dem Gatten, dem Weibe, dem Kinde!«
Plötzlich erschütterte ein noch stärkerer Krach als vorher den Steinbruch. Alle warfen sich zur Erde und streckten die Arme in Kreuzesform aus, um sich dadurch vor bösen Geistern zu schützen. Tiefe Stille trat ein, nur unterbrochen durch die raschen Atemzüge der Anwesenden und durch angstvolles Geflüster: »Jesus, Jesus, Jesus!« und ab und zu durch das Weinen von Kindern. In diesem Augenblicke erklang eine ruhige Stimme über die ausgestreckt daliegenden dunklen Gestalten hin: »Friede sei mit euch!«
Es war die Stimme des Apostels Petrus, der kurz zuvor die Höhle betreten hatte. Bei seinen Worten wich sofort jede Angst, wie sie aus einer Herde weicht, wenn der Hirte erscheint. Die Beter erhoben sich von der Erde, die in seiner Nähe stehenden schmiegten sich an seine Kniee, als suchten sie unter seinen Fittichen Schutz. Er breitete die Arme über sie aus und sprach: »Warum zagt ihr in eurem Herzen? Wer von euch weiß denn, was seiner wartet, bevor die Stunde naht? Der Herr hat Babylon mit Feuer gestraft, aber euch, die ihr durch die Taufe gereinigt seid und die das Blut des Lammes von den Sünden erlöst hat, wird er seine Gnade widerfahren lassen, und ihr werdet mit seinem Namen auf den Lippen sterben. Friede sei mit euch!«
Nach Crispus' drohenden, erbarmungslosen Worten träufelte Petrus' Rede auf die Herzen der Anwesenden wie lindernder Balsam. Statt der Furcht vor Gott beherrschte nun die Liebe zu Gott die Gemüter. Die Gläubigen fanden den Christus, wie sie ihn aus den Erzählungen des Apostels lieben gelernt hatten, wieder, und also nicht einen erbarmungslosen Richter, sondern ein sanftes, geduldiges Lamm, dessen Erbarmen menschliche Tücke tausendfach übersteigt. Ein Gefühl der Erleichterung beseelte die ganze Gemeinde, Trost und Dankbarkeit gegen den Apostel erfüllte die Herzen. Von allen Seiten wurden Stimmen laut: »Wir sind deine Schafe, weide uns!« Näher bei ihm Knieende baten: »Verlaß uns nicht in der Stunde der Gefahr« und schmiegten sich dichter an ihn heran. Auch Vinicius trat hinzu, erfaßte den Mantel des Apostels, neigte sein Haupt und sprach: »Herr, rette mich! Ich habe im Rauche des Feuers und im Gedränge des Volkes nach ihr gesucht, sie aber nirgends finden können. Allein ich glaube, daß du sie mir wiedergeben kannst.«
Petrus legte ihm die Hand aufs Haupt.
»Sei getrost,« sagte er, »und komm mit mir.«