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Wieder waren mehrere Monate verstrichen. Der Frühling war bereits vorgerückt. In Pognebin blühten die Kirschen im Obstgarten und bedeckten sich mit üppigen Blättern, und auf den Feldern grünte das Getreide. Magda saß vor der Hütte, schälte zu Mittag schlechtgeratene Erdäpfel, die sich eher fürs Vieh als für Menschen eigneten. Es war aber vor der Erntezeit und in Pognebin war alles knapp. Die Armut war auch von Magdas verdüstertem und sorgenvollem Gesichte herunterzulesen. Vielleicht um die Sorgen zu verscheuchen, sang das Weib, die Augen halb schließend, mit dünner, angestrengter Stimme:
»Oh, mein Jasiek ist in den Krieg gezogen, und schreibt mir Briefe, und ich schreibe ihm auch – denn oh, ich bin sein Weibchen.«
Auf den Kirschbäumen zwitscherten die Sperlinge, wie um sie zu übertönen, und sie schaute während des Singens versonnen bald auf den in der Sonne schlafenden Hund, bald auf den an der Hütte sich dahinziehenden Weg, bald auf den Steg, der von der Landstraße Garten und Feld durchschnitt. Vielleicht schaute Magda deshalb nach dem Pfade, da er querfeldein zum Bahnhof führte, und Gott fügte es, daß sie an diesem Tage nicht vergebens ausschaute. In der Ferne kam irgendeine Gestalt zum Vorschein, und das Weib bedeckte die Augen mit der Hand, konnte aber nichts erblicken, denn der Schein blendete sie. Nur der Hund erwachte, richtete den Kopf in die Höhe, und kurz bellend begann er die Ohren zu spitzen, den Kopf nach beiden Seiten drehend. Gleichzeitig drangen an Magdas Ohren die undeutlichen Worte eines Liedes. Der Hund schnellte auf einmal empor und sprang im gestreckten Laufe dem herankommenden Menschen entgegen. Da erblaßte Magda ein wenig.
»Ist es Bartek oder nicht!«
»Magda! ich bin es!« rief Bartek, die Handfläche an den Mund legend und den Schritt beschleunigend.
Er machte die Hängebank auf, stieß an den Verschluß an, stürzte beinahe um, taumelte, und sie fielen sich in die Arme.
Das Weib begann rasch zu reden:
»Und ich habe gedacht, du wirst nicht mehr heimkehren … Ich habe gedacht, sie haben ihn erschlagen! Nun, laß dich ansehen! Du bist sehr herabgekommen! O Jesus, o, du Liebster! … Er ist heimgekehrt, heimgekehrt!«
Von Zeit zu Zeit entfernte sie die Hände von seinem Halse, betrachtete ihn und umschlang ihn wieder.
»Er ist heimgekehrt! Gepriesen sei Gott … du mein liebster Bartek!
Nun, komm in die Hütte … Franek ist in der Schule! Der Deutsche setzt den Kindern etwas zu. Der Junge ist gesund. Du, die Augen glotzt er so wie du heraus. Oh, es war Zeit, daß du heimkehrst, denn ich konnte mir keinen Rat schaffen. Ich sage dir, es ist Not! Die Hütte verkommt. In die Scheune regnet es hinein. O Bartek, Bartek! Daß ich dich noch ganz sehe! Was für Sorgen ich mit dem Heu gehabt habe! Die Nachbarn waren mir behilflich. Und bist du gesund? O, ich freue mich, ich freue mich! Gott hat dich behütet. Komm in die Hütte. O Gott, es ist Bartek, und doch anders! Um Gottes willen, was ist dir?«
Erst in diesem Momente bemerkte Magda eine lange Schramme, die sich über Barteks Gesicht, über die linke Schläfe, Backe, bis aufs Kinn, dahinzog.
»Das ist nichts … Ein Kürassier hat mich da betastet, aber ich habe ihm auch eins versetzt: Ich war im Spital.«
»O Jesus!«
»Eh, das ist nichts.«
»Und du bist mager wie der Tod.«
»Ruhig!« erwiderte Bartek auf deutsch.
Er war tatsächlich abgemagert, heruntergekommen, schäbig. Ein echter Sieger! Und überdies schwankte er auf den Beinen.
»Was, bist du betrunken?«
»Ich bin noch schwach.«
Er war schwach, das war sicher, war aber auch betrunken, denn bei seiner Erschöpfung genügte ein Mäßchen Schnaps, und Bartek hatte am Bahnhofe gegen vier getrunken. Dafür aber hatte er Courage und die Miene eines wahren Siegers. Solch eine Miene hatte er früher nie gehabt.
» Ruhig!« wiederholte er. »Wir haben den Krieg Die gesperrt gedruckten Worte spricht Bartek deutsch. beendet! Jetzt bin ich ein Herr, verstehst du? Und siehst du das?« Hier wies er mit der Hand auf seine Kreuze und Medaillen. »Weißt du, wer ich bin? He? links, rechts! Heu! Stroh! Heu! Stroh! Halt!«
Das » Halt« brüllte er so schrill, daß das Weib einige Schritte zurückprallte.
»Bist du verrückt worden?«
»Magda, wie geht's dir? Wenn ich sage: wie geht es dir! also wie geht es dir? Und französisch kannst du, Närrin? … Musiu, musiu! wer ist musiu? ich bin musiu! weißt?«
»Mensch, was ist mit dir geschehen?«
»Was kümmert das dich! Was? donc diner? verstehst?«
Auf Magdas Stirne begann es zu dräuen.
»Wie plapperst du denn? Kannst du nicht polnisch? Ein schöner Schwab! Was hat man aus dir gemacht?«
»Gib mir zu essen!«
»Vorwärts in die Hütte.«
Jegliches Kommando machte auf Bartek einen Eindruck, dem er in keiner Weise zu widerstehen vermochte. Als er also »vorwärts« vernahm, reckte er sich empor, streckte die Hände die Hüften entlang aus, und eine Halbschwenkung machend marschierte er in der angegebenen Richtung. Erst auf der Schwelle kam er zu sich und begann Magda verwundert zu betrachten.
»No, Magda, du bist es?«
»Vorwärts! Marsch!«
Er trat in die Hütte, fiel aber noch auf der Schwelle um. Der Schnaps begann ihm jetzt tüchtig zu Kopf zu steigen. Er begann zu singen und sich in der Hütte nach Franek umzublicken. Er sagte sogar: » Morgen, Kerl!« obwohl Franek nicht da war. Dann brach er in ein Lachen aus, machte einen sehr großen Schritt dann zwei sehr kleine Schritte, schrie: »Hurrah!« und lag der Länge nach auf der Pritsche. Abends erwachte er nüchtern, ausgeruht, begrüßte Franek und von Magda sich einige Pfennige erbittend, machte er einen Triumphzug nach dem Wirtshause. Der Ruhm seiner Taten war ihm schon nach Pognebin vorangegangen, denn manche Soldaten anderer Kompagnien desselben Regimentes, die früher zurückgekehrt waren, erzählten seine Heldentaten bei Gravelotte und Sedan. Und als sich jetzt die Kunde verbreitete, der Sieger sei im Wirtshause, kamen alle früheren Kameraden herbeigeeilt, ihn zu sehen.
Unser Bartek sitzt also am Tische und niemand würde ihn jetzt erkennen. Er, der früher so sanftmütig war, schlägt jetzt mit der Faust auf den Tisch, bläht sich wie ein Truthahn auf.
»Und denkt ihr, Jungens, wie ich die Franzosen damals durchgewalkt habe: was hat Steinmetz gesagt?«
»Was sollen wir nicht denken.«
»Man hat viel geredet, uns vor den Franzosen schrecken eingejagt, und das ist eine schwache Nation, was? Sie essen Salat wie Hasen, so fliehen sie auch wie Hasen. Und Bier trinken sie nicht, nur Wein.«
»Jawohl.«
»Wenn wir irgendein Dorf niederbrannten, so falteten sie die Hände und schrieen gleich: pitié! pitié! Das sollte wohl heißen, sie werden zu trinken Im polnischen heißt picie = das Trinken. geben, wenn man sie im Frieden läßt. Wir scherten uns aber nicht darum.«
»Man kann also verstehen, was sie schwatzen?« frug ein junger Bauernknecht.
»Du wirst nicht verstehen, denn du bist dumm, und ich verstehe, Donc dipç, verstanden?«
»Was redet Ihr?«
»Und habt Ihr Paris gesehen? Dort war eine Schlacht nach der andern. Aber in jeder haben wir gesiegt. Sie haben kein gutes Kommando. So haben die Leute gesagt. Ihre Offiziere, Generale sind miserabel, unsere aber gut.« –
Matthias Kierz, ein alter, kluger Landwirt aus Pognebin, begann mit dem Haupte zu schütteln.
»O, die Deutschen haben einen furchtbaren Krieg gewonnen, und wir haben ihnen geholfen; was wir aber davon haben werden, das weiß Gott allein.«
Bartek stierte ihn an.
»Was redet Ihr?«
»Die Deutschen haben uns auch so nicht achten wollen, und jetzt tragen sie die Nasen hoch, als gäbe es keinen Gott mehr über ihnen. Und sie werden uns noch ärger als bisher mißachten.
»Das ist nicht wahr!« sagte Bartek.
Der alte Kierz genoß in Pognebin solch ein Ansehen, daß das ganze Dorf alles nach seinem Kopfe auffaßte, und es war eine Keckheit, ihm zu widersprechen, aber Bartek war jetzt ein Sieger und eine Autorität selbst.
Sie blickten ihn aber verwundert und sogar mit einer gewissen Entrüstung an.
»Du wirst mit Matthias streiten? … Was bist du?«
»Was kümmert mich Matthias! Ich habe nicht nur mit solchen geredet, versteht Ihr! Jungens, habe ich nicht mit Steinmetz geredet, was? Matthias ersinnt was. Jetzt wird uns besser sein.«
Matthias schaute den Sieger eine Weile an.
»O du Narr!« sagte er.
Bartek schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alle Gläser in die Höhe sprangen.
» Still der Kerl da! Heu, Stroh! …«
»Still, brülle nicht so! Frage, du Tor, Ehrwürden oder den Gutsherrn.«
»Waren Hochwürden im Kriege oder der Gutsherr? Ich aber war. Jungens, glaubt nicht. Jetzt wird man beginnen uns zu achten, wer hat die Bataille gewonnen? Wir. Ich. Um was ich jetzt bitten werde, das werde ich bekommen, wenn ich in Frankreich ein Gutsherr werden will, so werde ich es sein. Die Regierung weiß gut, wer die Franzosen geschlagen hat. Und unsere Regimenter waren die besten. So stand's in den Befehlen. Jetzt sind die Polen obenan: versteht Ihr?«
Kierz winkte mit der Hand, stand auf und ging. Bartek trug auch auf politischem Felde den Sieg davon. Diejenigen, die mit ihm zurückgeblieben waren, gafften ihn jetzt wie einen Regenbogen an; und er sagte:
»Und ich könnte kriegen, was ich wollte, wenn nicht ich wäre, wären sie gut daran! Der alte Kierz ist ein Tölpel, versteht Ihr? Wenn die Regierung schlagen heißt, muß man schlagen. Wer wird mich mißachten? Die Deutschen? Und was ist das?«
Hier wies er wieder auf die Kreuze und Medaillen.
»Und für wen habe ich die Franzosen durchwalkt? Nicht für die Deutschen! Ich bin jetzt besser als ein Deutscher, denn kein einziger Deutscher hat soviel Auszeichnungen. Bier her! Ich habe mit Steinmetz geredet und auch mit Podbielski. Bier her!«
Langsam begann ein Trinkgelage. Bartek hub zu singen an:
»Trinkt, trinkt, trinkt!
Wenn in meiner Tasche
Noch ein Taler klingt.«
Plötzlich zog er aus der Tasche eine Handvoll Pfennige hervor.
»Nehmet! Ich bin jetzt ein Herr … Ihr wollt nicht? Wir haben in Frankreich nicht nur solches Geld gehabt, nur haben wir es verjubelt.«
Der Humor betrunkener Menschen pflegt jäh umzuschlagen. Bartek scharrte unverhofft das Geld vom Tische zusammen und begann kläglich zu rufen:
»Gott sei meiner sündigen Seele gnädig!«
Darauf stemmte er beide Ellbogen auf den Tisch, verbarg den Kopf in die großmächtigen Hände und schwieg.
»Was ist dir?« fragte einer der Betrunkenen.
»Was kann ich dafür,« brummte Bartek düster. »Sie sind selbst hineingeraten! Nur taten sie mir leid, denn beide waren Einheimische. Gott sei mir gnädig! Einer war wie das Morgenrot. Tags daraus war er blaß wie ein Tuch. Schnaps!«
Es entstand ein Moment unheimlicher Stille. Die Bauern blickten einer den andern verwundert an.
»Was schwatzt er?« fragte einer von ihnen.
»Etwas in seinem Gewissen redet.«
»Durch diesen Krieg hat man sich das Trinken angewöhnt,« knurrte Bartek.
Er trank ein-, zweimal hintereinander Branntwein. Eine Weile saß er schweigend, dann spuckte er aus, und plötzlich kehrte seine gute Laune wieder.
»Und habt Ihr mit Steinmetz geredet? Ich aber hab' mit ihm geredet. Hurrah! Trinkt. Wer zahlt? Ich!«
»Du Trunkenbold, du zahlst!« ließ sich Magdas Stimme vernehmen, »aber auch ich werde dir heimzahlen, fürchte nicht!«
Bartek starrte sein hinzugekommenes Weib mit verglasten Augen an.
»Und mit Steinmetz hast du geredet? Wer bist du?«
Statt ihm zu antworten, wandte sich Magda an die Zuhörer und begann zu jammern:
»O Leute, Leute, seht meine Schande und mein Unglück. Er ist heimgekehrt, ich habe mich gefreut, und er ist betrunken nach Hause gekommen. Und er hat an Gott vergessen und auch das Polnische. Er hat sich schlafen gelegt, wurde nüchtern, jetzt trinkt er wieder und zahlt mit meiner Arbeit, mit meinem Schweiße. Und woher hast du dieses Geld genommen? Hab' ich es nicht blutig erarbeitet? O Leute, Leute, er ist kein Katholik mehr, nur ein besessener Deutscher, der deutsch plappert und auf menschliches Unrecht lauert. Das ist ein Abtrünniger, ein …«
Hier brach das Weib in Tränen aus, dann erhob sie die Stimme um eine Oktave höher und lamentierte weiter:
»Er war dumm, aber gut; was haben sie aber jetzt aus ihm gemacht? Ich habe seiner abends und morgens geharrt und habe was erlebt. Von nirgends Trost, von nirgends Erbarmen! Großer Gott! Daß du ganz zugrunde gehst!«
Die letzten Worte sprach sie wehmütig, beinahe singend. Und darauf Bartek:
»Still, denn ich haue dir eine herunter!«
»Schlage, schneide mir den Kopf ab, schlage mich tot, ermorde mich,« ruft das Weib heftig und den Hals reckend, wandte sie sich an die Bauern:
»Leute, sehet nur.«
Die Bauern begannen sich aber aus dem Staube zu machen. Bald war das Wirtshaus verödet, nur Bartek war mit seinem Weibe zurückgeblieben, das weiter den Hals streckte.
»Was streckst du diese Luftröhre wie eine Gans aus!« brummte Bartek. »Komm nach Haus.«
»Schneide ab!« wiederholte Magda.
»Das werde ich bleiben lassen,« erwiderte er und steckte die Hände in die Taschen.
Um dem Streite ein Ende zu machen, löschte der Schankwirt die einzige Kerze aus. Es ward dunkel und still. Nach einer Weile ertönte in der Dunkelheit Magdas quietschende Stimme:
»Schneide ab!«
»Das werde ich eben bleiben lassen,« entgegnete Barteks triumphierende Stimme.
Beim Mondscheine sah man zwei Gestalten, die von dem Wirtshause auf die Bauernhütten zu schritten. Eine von ihnen, die voranging, jammerte laut: das war Magda; ihr folgte gesenkten Hauptes und ziemlich demütig der Sieger von Gravelotte und Sedan.