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Frühmorgens! Ein flatternder, blasser Schein beleuchtet schlaftrunkene und von Strapazen ermüdete Gesichter. Auf den Bänken schlafen die Soldaten wirr durcheinander. Die einen die Köpfe auf die Brust gesenkt, die anderen nach hintenüber gebeugt. Das Morgenrot bricht an und überflutet die ganze Welt mit einer rosigen Helle. Es ist frisch und erquickend. Die Soldaten erwachen. Der strahlende Morgen zaubert aus Schatten und Nebel eine ihnen unbekannte Landschaft hervor. Wo ist jetzt Pognebin und Umgegend? Hier ist schon fremdes Land und alles anders. Ringsum mit Eichengehölz bestandene Anhöhen, in den Niederungen mit roten Dachziegeln bedeckte Häuser mit schwarzen Fensterkreuzen in den weißen Wänden, die Häuser schön wie Herrschaftssitze und mit Weinefeu umrankt. Hie und da Kirchen mit spitzen Türmen, Fabriksessen mit Rauchsäulen. Nur scheint es hier zu enge zu sein, es fehlen weitgestreckte Ebenen und Getreidefelder. Dafür wimmelt es von Menschen. Dörfer und Städte flimmern vor den Augen. Der Zug bleibt nicht stehen, passiert eine Menge kleiner Stationen. Etwas muß geschehen sein, denn allenthalben sieht man Menschenhaufen. Die Sonne kommt langsam hinter den Höhenzügen zum Vorscheine, und so beginnt einer und der andere das Morgengebet laut herzusagen. Ihrem Beispiele folgen die übrigen; die ersten Strahlen werfen ihre Reflexe auf die betenden, ernsten Bauerngesichter.
Unterdessen macht der Zug auf einer Hauptstation Halt. Sofort umringt ihn eine Menschenmenge. Es sind schon Nachrichten vom Kriegsschauplatze da. Sieg! Sieg! Vor einigen Stunden sind Depeschen eingetroffen. Alle haben eine Niederlage erwartet, und da man sie mit einem günstigen Berichte weckte, ist die Freude maßlos. Die Leute haben halbbekleidet die Häuser und Betten verlassen und sind nach dem Bahnhof geeilt. Von manchen Dächern wehen bereits Fahnen und in allen Händen Taschentücher. In die Waggons wird Bier, Tabak und Zigarren gebracht. Die Begeisterung ist eine unbeschreibliche, die Gesichter strahlend. Die Wacht am Rhein braust wie ein Sturm dahin. Manche weinen, andere fallen sich in die Arme. Unser Fritz hat den Feind aufs Haupt geschlagen, Kanonen und Fahnen erbeutet. In edler Aufwallung geben die Menschenhaufen den Soldaten alles, was sie haben.
In die Herzen der Krieger zieht Hoffnung ein und sie beginnen gleichfalls zu singen. Die Waggons erbeben von den starken Männerstimmen, und die Menschenmenge hört mit Verwunderung die Worte eines unverstandenen Liedes. Die Leute aus Pognebin singen: »Bartosz! Bartosz! verlieren wir nicht die Hoffnung.« »Die Polen! Die Polen!« wiederholte die Menge wie erklärend und sammelt sich um die Waggons, die Haltung der Soldaten bewundernd und sich gleichzeitig durch das Erzählen von Anekdoten über die schreckliche Tapferkeit dieser polnischen Regimenter in der Freude bestärkend.
Bartek hat angeschwollene Backen, was ihn bei seinem gelben Schnurrbarte, glotzenden Augen und der riesiggroßen knochigen Gestalt furchtbar macht. Man staunt ihn auch wie ein seltenes Tier an. Was für Verteidiger die Deutschen haben! Der wird es den Franzosen einbrocken! Bartek lächelt befriedigt, denn auch er ist zufrieden, daß man die Franzosen geschlagen hat. Sie werden wenigstens nicht mehr nach Pognebin kommen, werden Magda nicht nachstellen und den Grund und Boden nicht wegnehmen. Und so lächelt er, da das Gesicht ihn aber sehr schmerzt, verzerrt es sich gleichzeitig und ist schrecklich. Dafür ißt er mit dem Appetite eines homerischen Helden. Erbsenwürste und Krügel Bier verschwinden in seinem Munde, wie in einem Schlunde. Man gibt ihm Zigarren, Pfennige: er nimmt alles.
»Diese Deutschlein scheinen eine gute Nation zu sein,« sagt er zu Wojtek, und bald darauf fügt er hinzu: »Siehst du, man hat die Franzosen geschlagen!«
Aber der skeptische Wojtek wirft einen Schatten auf seinen Frohsinn.
Wojtek prophezeit wie Kassandra:
»Die Franzosen lassen sich immer zuerst schlagen, um irre zu führen, wenn sie sich aber dann ins Zeug legen, so fliegen Späne.«
Wojtek weiß nicht, daß seine Meinung von der größeren Hälfte Europas geteilt wird, und noch weniger, daß ganz Europa sich mit ihm zusammen irrt.
Sie fahren weiter. So weit das Auge reicht, sind alle Häuser beflaggt. Auf manchen Stationen bleiben sie länger stehen, denn überall sind volle Bahnzüge. Von allen Seiten Deutschlands eilen Truppen, die siegenden Mitbrüder zu verstärken. Die Eisenbahnzüge sind grün bekränzt. Die Ulanen hissen auf ihre Lanzen die ihnen unterwegs geschenkten Blumensträuße. Unter diesen Ulanen ist die Mehrzahl auch Polen. Manchmal hört man von Waggon zu Waggon Gespräche und Zurufe: »Jungens, wie geht's euch! und wohin führt uns Gott?«
Manchmal kommt aus einem auf einem Nachbargeleise dahinrollenden Zuge ein bekanntes Lied herangeflogen, und Bartek und seine Kameraden fangen es auf und setzen es fort.
In dem Maße, wie sie Pognebin traurig verlassen hatten, sind sie jetzt voll Begeisterung und Mut. Der erste aus Frankreich eingelangte Eisenbahnzug mit Verwundeten trübt aber diese gute Stimmung. Er macht in Deutz Halt und steht lange, um die, welche aufs Schlachtfeld eilen, passieren zu lassen. Ehe aber alle die Brücke nach Köln zurückgelegt haben, werden einige Stunden verstreichen. Bartek eilt mit den anderen, die Kranken und Blessierten in Augenschein zu nehmen. Manche liegen in geschlossenen, andere aus Raummangel in offenen Waggons, und diese kann man gut sehen. Nach dem ersten Blicke fliegt Bartels Heldengeist zur Schulter hinaus.
»Wojtek, komm her!« ruft er entsetzt, »sieh nur, wie die Franzosen die Leute zugerichtet haben!« – Und es ist was zu sehen! Die Gesichter blaß, abgequält; manche von Pulver oder Schmerz entstellt und blutbedeckt. Auf die Stimme der allgemeinen Freude erwidern sie nur mit einem Stöhnen. Manche verfluchen den Krieg, die Franzosen und die Deutschen. Die vertrockneten und schwarz gewordenen Lippen rufen fortwährend nach Wasser; die Augen schauen wie irre drein. Hie und da zwischen den Verwundeten sieht man das erstarrte Gesicht eines Sterbenden, manchmal ruhig mit blauen Flecken um die Augen, manchmal von Konvulsionen verzerrt, mit entsetzten Augen und fletschenden Zähnen. Bartek sieht zum erstenmale die blutigen Früchte des Krieges. In seinem Kopfe entsteht wieder ein Chaos, er gafft wie betäubt und steht im Gedränge mit offenem Munde; man stößt ihn nach allen Seiten; ein Gendarm versetzt ihm einen Kolbenstoß ins Genick. Er suchte Wojtek mit den Augen, findet ihn und sagt:
»Wojtek, hab' Gott im Herzen! O!«
»Dir wird es auch so ergehen.«
»Jesus Maria! So morden sich die Menschen. Wenn ein Bauer den andern erschlägt, führen ihn doch die Gendarmen ins Gericht ab, und er wird bestraft!«
»Und jetzt ist der der beste, wer am meisten so die Leute zurichtet. Du Narr, hast geglaubt, du wirst mit Pulver wie im Manöver, oder nach der Scheibe, und nicht auf Menschen schießen!«
Hier zeigte sich augenscheinlich der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Unser Bartek war doch ein Soldat, hatte Manöver und Übungen mitgemacht, wußte, daß der Krieg dazu da sei, um sich totzuschlagen, und als er jetzt das Blut der Blessierten, das Elend des Krieges erblickte, wurde ihm so übel, daß er sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Er gewann wieder Achtung für die Franzosen, die sich erst dann verringerte, als sie nach Köln kamen. Auf dem Zentralbahnhofe erblickten sie zum erstenmale Kriegsgefangene. Es umringte sie eine Menge Soldaten und Volk, welches auf sie mit Stolz, aber noch ohne Haß schaute. Bartek drängte sich durch den Haufen, sich mit den Ellbogen Bahn machend, schaute auf den Waggon und verwunderte sich.
Eine Schar kleiner, schmutziger, ausgehungerter französischer Infanteristen in zerfetzten Mänteln füllte den Waggon wie Heringe eine Tonne. Viele von ihnen streckten die Hände nach den winzigen Gaben, mit denen die Volksmenge, insoweit die Wachen es nicht verhinderten, sie bedachte, aus. Nach dem, was Bartek von Wojtek vernommen, hatte er eine ganz andere Vorstellung von den Franzosen. Wieder zog Mut in seine Brust. Er schaute sich um, ob Wojtek nicht da sei. Wojtek stand nebenan.
»Was hast du geredet?« fragt Bartek. »Das sind doch Knirpse. Wenn ich einen über den Kopf haue, werden ihrer vier niederpurzeln.«
»Sie haben herunterkommen müssen,« antwortete der gleichfalls enttäuschte Wojtek.
»In was für Sprache plappern sie?«
»Natürlich nicht polnisch.«
Der in dieser Hinsicht beruhigte Bartek ging weiter die Waggons entlang.
»Es sind furchtbar herabgekommene Menschen!« sagte er, nachdem er die Liniensoldaten vor sich hatte Revue passieren lassen.
Aber in den weiteren Waggons saßen Zuaven. Die gaben Bartek mehr zu denken. Da sie in gedeckten Waggons saßen, konnte man nicht feststellen, ob jeder zwei-, dreimal so stark sei, wie ein sonstiger Mensch, aber durch die Fenster sah man lange Bärte und martialische, ernste Gesichter alter Soldaten mit dunklem Teint und drohend blitzenden Augen. Barteks Mut drohte wieder zur Schulter hinauszufliegen.
»Diese sind schrecklicher,« flüsterte er leise, als fürchte er, man könnte ihn hören.
»Du hast jene, welche sich nicht gefangen nehmen ließen, noch nicht gesehen,« erwiderte Wojtek.
»Hab' Gott im Herzen!«
»Du wirst sehen.«
Nachdem sie die Zuaven genug angeschaut hatten, gingen sie weiter. Gleich beim folgenden Waggon prallte Bartek wie gebrüht zurück.
»O Wojtek, zu Hilfe!«
Im offenen Fenster sah man das dunkle, beinahe schwarze Gesicht eines Turkos, das Weiße im Auge verdreht. Er mußte verwundet sein, denn das Gesicht wurde von Schmerz verzerrt.
»Nun?« sagt Wojtek.
»Das ist ein Gespenst, kein Soldat. Gott sei mir Sünder gnädig.«
»Schau nur, was für Zähne er hat.«
»Daß ihn …! Ich will ihn nicht ansehen!« Bartek verstummte, aber bald fragte er:
»Wojtek!«
»Was?«
»Würde es ihm nicht helfen, wenn man über ihm das Zeichen des Kreuzes machte?«
»Die Heiden haben kein Verständnis für den heiligen Glauben.«
Man gab das Signal zum Einsteigen. Nach einer Weile setzte sich der Zug in Bewegung. Als es dunkel wurde, sah Bartek das schwarze Gesicht des Turkos und das furchtbare Weiße seiner Augen fortwährend vor sich. Von den Empfindungen, die in diesem Momente diesen Krieger aus Pognebin beseelten, hätte man nicht viel auf seine späteren Taten schließen können.