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Im Hause erfuhren es bald sämtliche Mitbewohner, daß die Dackel verschwunden waren. Es tat allen leid, obgleich die Schelme ihnen doch die Nachtruhe gestört hatten. Am meisten klagten die beiden Kinder, Jan und Malve. Sie taten wirklich, als gehörten die Dackel ihnen. Sie erzählten das Geschehene Minni, und Minni tat es auch leid, denn wenn die Dackel auch nicht gut gegen sie gewesen waren, gefallen hatten sie ihr doch, viel besser als der brummige Bello. Der nun war der einzige im Hause, der sich freute, ganz unbändig freute er sich. Er knurrte und fletschte die Zähne. Das sollte heißen: ich bin froh. Aber Christine, die das sah, verstand es falsch. »Greuliches Tier«, sagte sie und gab Bello einen Klaps. Das nahm der gewaltig übel. Er fing ein solches Geschrei an, daß Tante Laura eilig herzulief.
»Mein armes, süßes Bellochen, was ist dir?«
Bello fletschte die Zähne gegen Christine, und die Tante rief böse: »Du hast ihn geschlagen, du schlimmes Mädchen.«
Christine verteidigte sich, sie hätte ihm nur einen ganz kleinen Klaps gegeben; aber der Mops stellte sich so an, daß ihr die Tante nicht glaubte. Die schalt sie sogar eine Lügnerin, und die arme Christine ging weinend aus dem Zimmer.
Draußen traf sie Anna, die sie tröstete und ihr erzählte, der Mops wäre ganz heimtückisch, und es wäre vielleicht gut, daß die Dackel weg wären, das hätte immer nur Ärger gegeben.
»Meine armen Schelme, wo sie nur sein mögen? Ach, wären sie doch auf dem Lande geblieben, statt hier in die gräßliche Stadt zu kommen!«
Anna war zwar der Meinung, so gräßlich wäre die Stadt gar nicht, und sie fing an, vom Kino und ähnlichen Dingen zu reden. Doch Christine redete vom Wald, und Anna fand zuletzt, im Walde möchte es ihr schon gefallen.
So redeten die beiden hin und her, und Christine vergaß allmählich ihren Kummer, als sie vom heimatlichen Walde erzählte.
Da kam Minni.
Ganz sacht spazierte sie zum Fenster herein. Sie wollte Christine über den Verlust der Dackel trösten. Zärtlich schmiegte sich Minni an Christine an, leckte ihr die Hände und schnupperte mit ihrem Näschen an Christines Wange, dazu schnurrte sie wie ein Spinnrädchen. Christine streichelte das niedliche, zärtliche Tierchen.
»Sie ist lieb«, sagte Anna, »wenn Bello sie nur nicht erwischt.«
Kaum war das Wort ausgesprochen, als draußen Bellos Stimme ertönte. Anna wollte das Fenster gerade wieder öffnen und Minni hinauslassen, da rief Tante Laura draußen: »Macht mal die Türe auf, ich bringe das Geschirr.«
»Da!« Anna zeigte auf eine Türe, und Christine schlüpfte auf einen schmalen Gang hinaus, zog die Türe hinter sich zu und hörte drinnen Tante Laura sagen: »Wo ist denn Christine?«
»Die ist raus in den Garten, das arme Wurm wollte mal frische Luft schnappen.«
»Warum ist sie denn ein armes Wurm?« fragte die Tante scharf.
»Na, weil sie aus dem Walde ist und es ihr hier in der greulichen Stadt gewiß nicht gefallen wird.«
Christine mußte lachen, und lachend ging sie mit Minni, die sich ganz fest an sie schmiegte, den Gang entlang. Sie kam an eine Treppe, die nach oben und unten führte, die Hintertreppe des Hauses. Sie gedachte hinaufzugehen, um Minni zurückzutragen, doch als sie eine Treppe gegangen war, wer stand da? Onkel Potzhundert, der sich vor seiner Tür Stiefel putzte.
»Potzhundert, wer ist denn da?« rief er erstaunt.
»Du putzt deine Stiefel selbst?« rief Christine nicht minder erstaunt.
Da kam es heraus: die Aufwärterin des Onkels war krank geworden, und Christines Hilfe zu erbitten, hatte er nicht gewagt, weil die Tante immer gleich eifersüchtig war. Sie wollte von allen am liebsten gehabt werden, und weil den kleinen, liebenswürdigen Onkel Potzhundert alle Leute gern hatten, war sie immer eifersüchtig auf ihn, und sie hatte schon vorher gesagt, Christine und die Dackel dürften nicht zu ihm kommen.
»Ach, die armen Dackel, wo sie nur sein mögen?«
Minni, die das wohl verstand, schmiegte sich wieder fest an das Mädchen an, und der Onkel, der das sah, fragte erstaunt: »Ist das nicht Minni?«
Christine nickte, und der Onkel riet ihr, der Tante nichts von Minni zu erzählen, denn Minni zürne sie sehr; übrigens sei es erstaunlich, daß Minni zu ihr gekommen sei, denn Minni tue vornehm wie eine Prinzessin und lasse sich beileibe nicht von jedem anfassen.
»Wo ist Minni?« fragte ein liebes Stimmchen. Malve stand oben an der Treppe, und Jan tauchte hinter ihr auf.
Christine erzählte nun zum zweiten Male, wie Minni zu ihr gekommen sei, und auch die Kinder fanden es erstaunlich wie der Onkel. Aber Malve wußte eine Erklärung, sie sagte: »Sie sehen so lieb aus, da hat Minni Sie gleich lieb gewonnen, wie ich auch.«
»Ich habe dich auch lieb«, antwortete Christine fröhlich, und eine rasche Freundschaft war geschlossen. Minni war jedenfalls sehr einverstanden, sie ließ sich von den neuen Freundinnen liebkosen, aber dann sagte Christine eifrig: »Nun nimm du deine Minni, ich muß dem Onkel helfen Stiefel putzen, die werden sonst gar nicht fertig!«
»Ich helfe«, schrie Jan von oben, »Stiefel putzen kann ich fein, ich putze unsere ganzen Stiefel!«
Onkel Potzhundert wußte gar nicht, wie ihm geschah, auf einmal putzten flinke Hände seine Stiefel, seine Kleider wurden gereinigt, und dann ging noch Christine in seine Wohnung und brachte dort alles in Ordnung. Es tat auch not, denn seit drei Tagen war kein Staub gewischt worden, kein Boden gekehrt, kein Stück Geschirr abgewaschen, es war eine unordentliche Wirtschaft.
Der Onkel mahnte zwar, »die Tante wird schelten, sie wird eifersüchtig, wenn du mir hilfst«, aber Christine lachte nur. Ihr schien das Helfen einfach Pflicht zu sein.
Und dann schalt die Tante gar nicht, als ihr die Nichte auf die Frage, wo sie gewesen wäre, einfach die Wahrheit sagte. Tante Laura schämte sich, denn sie sah ein, daß es ihre Pflicht gewesen wäre, dem Bruder zu helfen. Zum ersten Male fiel es der Tante ein, daß einer gegen den anderen Pflichten hat.
Sie hatte bisher nur immer an sich und ihren Mops gedacht, gar nicht an den Bruder. Auch Christine hatte sie nur zu ihrem Behagen kommen lassen; sie hatte ganz vergessen, daß ein junger Mensch zu seinem Gedeihen Liebe braucht wie Luft und Licht. Das hatte auch Minni empfunden, dem Tierchen hatte es auch an der rechten Liebe gefehlt. Nur den Mops hatte sie bisher geliebt.
War der denn diese Liebe auch wert?
Tante Laura ging zu Bello und wollte sich von ihm trösten lassen. Der aber saß auf seinem Samtstuhl und war schlechter Laune. Er ärgerte sich, weil Anna Fleisch briet und ihm nichts abgegeben hatte. Er fletschte die Zähne, als Tante Laura zu ihm trat, und schnappte nach ihr.
Das war der aber doch zu toll. Zum ersten Male bekam Bello einen Klaps, und darüber heulte er so jämmerlich, daß Anna herbeilief. »Jemine, was ist denn geschehen?« rief die.
Tante Laura weinte: »Bello liebt mich nicht.«
»Ih, das Untier, der liebt nur sich alleine!« rief Anna.
Da ging Tante Laura still in ihr Zimmer. Sie dachte: wie von Bello, werden sie von mir reden. Sie überlegte, was sie wohl der Nichte, die einsam in ihrer kahlen Stube saß, Liebes antun konnte, um ihr zu zeigen, daß sie gar nicht böse war. Gerade als Anna kam, zu sagen, das Essen sei bereit, fiel ihr etwas ein, und sie sagte: »Anna, ich lasse meinen Bruder zum Essen bitten, und nach Tisch müssen Sie das grüne Zimmer für Fräulein Christine zurechtmachen, sie wird Ihnen wohl dabei helfen.«
Das war viel Gutes auf einmal. Anna blieb der Mund vor Staunen offen, denn Onkel Potzhundert wurde sonst nicht so ohne weiteres zu Tisch geladen, nur bei feierlichen Gelegenheiten, und das grüne Zimmer war eine der drei unbenützten Putzstuben, auf die Tante Laura ungemein stolz war, und in die sie niemand gern eintreten ließ. Und nun sollte Christine aus ihrer Kammer hineinziehen!
»Machen Sie den Mund zu, Anna; es ist so und es bleibt so.«
Wenn es man so bliebe, dachte Anna in ihrem Herzen. Dann ging sie Onkel Potzhundert holen und Christine von dem Umzug zu sagen.
Der Onkel potzhunderte erst eine ganze Weile, ehe er sich darüber beruhigte; daß ihn seine Schwester an einem ganz gewöhnlichen Mittwoch so ohne weiteres zum Essen einlud, das war noch nie vorgekommen. Und dabei hatte sich der arme Onkel Potzhundert doch oft recht einsam gefühlt. Er kam aber gern und äußerte sein Erstaunen so wortreich, daß Tante Laura ganz verlegen wurde. Über etwas gelobt zu werden, was selbstverständlich ist, ist schon ein Grund, verlegen zu werden.
Bei Tisch mußte dann Tante Laura an die Dackel denken. Wo mochten die sein? Gewiß steckten sie in einem schrecklichen Gefängnis. Und bei dem Gedanken an die Tierchen mußte Tante Laura weinen.
Onkel Potzhundert hatte gerade einen Fleck gemacht. Er dachte, die Tränen gälten dem, und erschrocken rief er: »Potzhundert, ich konnte nichts dafür!«
Da sah erst Tante Laura den Fleck, und sie lächelte ein bißchen.
Man denke, Tante Laura lächelte über einen Fleck!
»Potzhundert!« sagte der Onkel und vergaß, seinen Bissen in den Mund zu stecken. Anna warf beinahe die Schüssel hin vor Erstaunen, nur Christine fragte unbefangen: »Warum warst du denn erst traurig, Tantchen?«
Das »Tantchen« klang Tante Laura lieb im Ohr. Sie antwortete ganz sanft: »Ich dachte an die armen Dackel, mein Kind!«
Da steckte der Onkel erschrocken seinen Bissen in den Mund. Gewiß war seine Schwester krank, weil sie so sanft redete. Wenn man erschrickt, soll man aber nicht essen. Dem Onkel bekam es auch schlecht, er verschluckte sich, und Anna mußte ihm auf den Rücken klopfen. Sie tat das so lebhaft, daß der Onkel laut schrie: »Potzhundert, das ist zu derb!«
»Warum hast du dich denn so verschluckt?« fragte die Tante.
»Ich habe mich so gewundert.«
»Über was denn?«
»Über dich, Laura, weil du nicht über den Fleck gezankt hast.«
Da mußte Tante Laura herzhaft lachen, und Christine dachte: sie kann lachen und weinen, also ist sie doch gut.
Auch Onkel Potzhundert dachte das. Er sah seine Schwester auf einmal ganz zärtlich an und sagte: »Weißt du, Laura, jetzt muß ich an unsere Kindheit denken, da warst du doch auch so nett.«
»Bin ich jetzt nicht mehr nett?« fragte die Tante wehmütig.
Jetzt hat er sich verhaspelt, das war dumm, so etwas zu sagen, dachte Anna.
Onkel Potzhundert hatte sich wirklich etwas verhaspelt, wie das Anna nannte. Er wußte keine Antwort, denn da war er zu ehrlich, um aus vollem Herzen »ja« zu sagen. Die Tante merkte das wohl, und sie schämte sich wieder, denn sie wußte, sie war oft recht wenig nett zu ihrem Bruder gewesen.
Es war gut, daß Christine von den Dackeln zu reden anfing.
»Ob sie wirklich der Hundemaxe gefangen hat?« begann sie.
»Potzhundert, er wird doch nicht!« Onkel Potzhundert war so gut, daß er an keine schlimmen Menschen glauben mochte.
»Jan und Malve wollen sie suchen gehen.«
Christine sagte das ganz unbefangen, und erst als die Tante sie erstaunt ansah, merkte sie, daß diese nicht einmal die Namen der Kinder wußte.
»Es sind die netten Kinder von oben«, gab sie verlegen Auskunft.
Die Tante wollte eben sagen: »Mit denen sollst du nicht verkehren«, als der Bruder rief: »Potzhundert, das sind wirklich nette Kinder.«
»Was haben sie denn so schrecklich Nettes getan?« fragte die Tante ein wenig spöttisch.
»Meine Schuhe mitgeputzt und meine Kleider ausgebürstet, das ist doch wirklich nett von den beiden.«
Tante Laura schämte sich. Sie hatte dem Bruder noch nie geholfen. Sie dachte, daß sie eine recht unaufmerksame Schwester gewesen war, und da sagte auch noch Christine: »Und wie nett die Geschwister immer zueinander sind!«
Die Tante wollte ihre Verlegenheit verbergen, denn sie schämte sich schon wieder, darum sagte sie spottend: »Die reinen Musterkinder.«
»Das sind sie auch!« rief es dreistimmig, denn Anna stimmte in das Lob ein, sie war nämlich mit den Kindern sehr gut Freund und hätte das schon gern einmal ihrer Herrin gesagt. Nun benutzte sie die gute Gelegenheit dazu. Sie riß aber gleich aus, denn sie fürchtete, Schelte zu bekommen. An der Türe blieb sie jedoch stehen, denn zu ihrer Verwunderung sagte Tante Laura kein Wörtchen.
»Potzhundert, würde mich das aber freuen, wenn die Dackel gefunden würden!«
»Mich auch«, antwortete die Tante. »Und nun, Anna, räumen Sie geschwind um, damit Christine in ein anderes Zimmer kommt, denn sonst gefällt es ihr nicht bei uns.«
»Potzhundert, es wird ihr schon gefallen.«
Christine fiel erst dem Onkel um den Hals, und dann, als sie die Augen der Tante schmerzlich auf sich ruhen fühlte, bekam auch die Tante einen Kuß. Und die streichelte Christine und sagte mit einer seltenen Freundlichkeit: »Du liebes Kind, du.«