Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während des letzten Teiles der Saison fühlte Alice sich ungebundener und behaglicher. Wenn sie auf ihre Bekanntschaft mit Lydia auch stolz war, so hatte sie sich in deren Gegenwart doch stets in Schatten gestellt vermeint; jetzt, wo Lydia nicht mehr in London weilte, blieb der Stolz zwar zurück, aber die Empfindung der Minderwertigkeit wurde völlig vergessen. Die Freiheit machte sie selbstbewußter und veränderte sie zum Vorteil. Sie begann sogar in den Dingen des täglichen Lebens ihr eigenes Urteil für einen sichereren Führer zu halten als das Beispiel ihrer Gönnerin. Hatte sie damals nicht recht gehabt, als sie Cashel Byron für einen unwissenden und gewöhnlichen Menschen erklärte, wo Lydia ihn doch trotz ihrer Warnung durchaus zu einem Besuch auffordern wollte? Und nun bestätigten sämtliche Zeitungen die Meinung, die sie schon vor Monaten Lydia beizubringen versucht hatte.
Am Abend nach dem Kontrafechten riefen es die Zeitungsverkäufer auf den Straßen aus: ›Schändliches Benehmen zweier Faustkämpfer in Islington in Gegenwart des afrikanischen Königs!‹ Am folgenden Tage beschäftigten die leitenden Blätter sich mit dem neuerlichen Versuch, den brutalen Zeitvertreib des Preisboxertums wieder zum Leben zu erwecken; sie machten den Behörden einen Vorwurf aus ihrer Nachsicht und forderten sie zu sofortigem tatkräftigen Einschreiten auf. Ein klerikales Organ schrieb: ›So lange diese Pestbeule nicht aus unserer Mitte ausgerottet ist, können unsere Missionare England nicht als den Bronnen verkünden, aus dem das Evangelium des Friedens fließt.‹ Alice sammelte alle diese Zeitungen und schickte sie nach Wiltstocken.
Eine Persönlichkeit wenigstens hatte sie, die in diesem Punkte ihre Ansichten teilte. So oft sie mit Lucian Webber zusammentraf, sprachen sie über Cashel und gelangten dabei unweigerlich zu dem Schluß, daß Lydia, wenngleich Byrons eigenartiges Wesen ihrer unglückseligen Vorliebe für Exzentrizitäten Vorschub leistete, ihm doch niemals irgend welches ernstes Interesse entgegengebracht habe und nunmehr ihren Verkehr mit ihm unter keinen Umständen wieder aufnehmen würde.
Lucian fand in diesen Unterhaltungen nur recht wenig Trost und litt hinterher gewöhnlich an einer vagen Empfindung der Jämmerlichkeit. Doch zogen sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen Cashel von neuem in den Kreis ihrer Betrachtungen; er pflegte dann Alicen für die bewunderungswürdige Angemessenheit ihrer Ansichten durch ein dreimaliges Tanzen mit ihr zu belohnen, falls der Tanz den geschäftlichen Teil des Abends bildete.
Ihr gemeinsames Tanzen aber war sozusagen noch weniger kongenial als ihre Unterhaltung. Lucian tanzte steif und ungeschickt. Alice, deren Kraft und Energie der Muskulatur bei weitem alles das übertraf, was Herr Mellish allenfalls auf künstlichem Wege herstellen konnte, empfand ein Bedürfnis nach beschleunigter Bewegung und heftiger Leibesübung. Wenn sie mit Lucian walzte, so war das für sie soviel, als wenn sie nach der Art, wie der Kasperle seine Bratsche handhabt, einen Stock durchs Zimmer trug. Trotz ihrer nachhaltigen Überzeugung, daß er ein Mann von ungewöhnlich korrekter Moral und hoher politischer Bedeutung und im Privatleben als Miß Carews Vetter wohl in Betracht zu ziehen sei, so war es doch gewissermaßen recht hart, solche kostbare Viertelstunden mit ihm zu verbringen, wie sie sich von seiten der besten Tänzer ihres Bekanntenkreises einer eifrigen Nachfrage erfreuten.
Sie begann der Sache Cashel-Lydia müde zu werden. Sie wurde Lucians Untadelhaftigkeit müde. Sie wurde der Wachsamkeit, die sie unaufhörlich ihrem eigenen Benehmen und ihrer Meinungsäußerung zuwenden mußte, über alle Maßen müde. Es geschah auch, daß diese Wachsamkeit sich selbst zum Schaden gereichte: eines Abends hörte sie eine Dame von Stellung ihr den Namen einer aufgeblasenen Landpomeranze beilegen. Die Bemerkung gab ihr einen Stich; denn während der ganzen darauffolgenden Woche sagte sie in der Gesellschaft kein Wort, noch machte sie eine Bewegung, ohne vorher zu überlegen, ob ihr Vorgehen von irgendeinem böswilligen Beobachter als ländlich oder aufgeblasen ausgelegt werden könnte.
Je mehr sie sich aber abmühte, sich eine vollkommen einwandfreie Haltung anzueignen, desto ekelhafter wurde sie sich selbst und – wie sie hieraus folgerte – auch anderen Leuten. Sie sehnte sich nach der Ergründung des in Lydias Besitz befindlichen Geheimnisses, jederzeit im richtigen Augenblick das Richtige zu tun – selbst im Widerspruch mit herkömmlichen Präzedenzfällen. Zuweilen schob sie alles auf Rechnung der Beschränktheit der Leute ihres Verkehrs. Man konnte nicht anders als steif mit ihnen umgehen. Plauderte sie mit einem unterhaltenden Herrn, der sie zum Lachen brachte und sie sich ungezwungen geben ließ, so wußte sie hinterher ganz genau, sich ihm gegenüber von der besten Seite gezeigt zu haben. Dann aber sah sie wieder, daß diejenigen Leute, deren Umgangsformen sie sich am lebhaftesten erwünschte, auch mit beschränkten Menschen in ungezwungener Weise zu verkehren wußten. Allmählich beschlich sie die Furcht, daß sie durch ihre verhältnismäßig minderwertige Geburt von der Aneignung des beneideten vornehmen Wesens von vornherein ausgeschlossen sei.
Eines Tages begannen sich bei ihr Zweifel zu regen, ob denn Lucian in Dingen persönlichen Auftretens wirklich eine derartig unumstößliche Autorität und ein so nachahmenswertes Beispiel wäre, wie sie bisher angenommen hatte. Tanzen konnte er nicht, und seine Unterhaltung war im höchsten Grade pedantisch. Zeugte es von persönlichem Mut, wenn sie voll staunender Ehrfurcht zu seiner Meinungsäußerung hinaufblickte? Zeugte es überhaupt von persönlichem Mut, zu irgend jemand in Staunen und Ehrfurcht aufzublicken?
Alice preßte die Lippen aufeinander und fühlte etwas wie einen herausfordernden Trotz in sich aufsteigen. Und dann mußte sie plötzlich über eine Erinnerung lachen, die sie sonst stets zu tiefgehender Empörung erregt hatte. Sie gedachte des unerhörten Schauspiels, wie der steife, korrekte Lucian auf Mrs. Hoskyns vergoldetem Lehnsessel zusammenklappte, um damit die Theorie des Preisboxers von der sich selbst schädigenden Überanstrengung bildlich darzustellen. Was war denn die damalige fast liebkosende Berührung von Cashels Hand gegen den mörderischen Trommelwirbel, den er auf Paradises Rippen vollführt hatte? So schien es also offenbar doch wahr, daß Überanstrengung sich selbst schädigte – auch in Dingen des persönlichen Benehmens? Ein Schimmer der Wahrheit, die Cashels etwas groteskem Experiment zugrunde lag, leuchtete jetzt vor ihrem geistigen Auge auf, als sie sich diese Frage stellte.
Sie dachte eingehend darüber nach; eines Nachmittags, als sie vier Jours fix hintereinander besuchte, studierte sie sogar das Gebaren der Anwesenden von diesem neuen Gesichtspunkt aus, verglich die größte Manieriertheit mit den besten Manieren und ihr eigenes neuerliches Ich mit beidem. Der Erfolg brachte sie halbwegs zur Überzeugung, daß sie sich während ihrer ersten Londoner Saison damit befaßt hatte, unter unsäglichen Mühen ein sehr unreifes Selbstbewußtsein zur Schau zu tragen – oder, wie ihr Gewissen es formulierte – sich unerträglich lächerlich zu benehmen.
Dann kamen einige Einladungen von der äußeren Peripherie des Westens – aus South Kensington und Bayswater; hier stieß sie auf die tieferen sozialen Schichten der großen kommerziellen Mittelklasse mit ihren Ärzten, Juristen und Geistlichen. Das erschien ihr alles wie eine große Karikatur ihrer eigenen Person – eine Gesellschaft, die sich ihrer selbst schämte; die sich fürchtete, das zu sein, was sie war; die andere Leute beargwöhnte, es wirklich zu sein, und sie deshalb zu verachten vorgab; die sich dermaßen versteifte und verknöcherte, daß solche Individuen, die den Mut besaßen, am Sonntag Klavier zu spielen, gleichsam automatisch durch den Druck eliminiert und auf ein anderes minder anfechtbares, stark bohêmehaftes Gebiet hinübergeschleudert wurden, woselbst man sich vermöge einer leichtfertigen Handhabung der schönen Künste zu amüsieren trachtete.
Jetzt erkannte Alice ihre eigene Gesellschaftsklasse an; deswegen verschonte sie sie keineswegs mit ihrer belächelnden Spötterei, die sich für sie, als eine Beurteilerin aus der erhöhten Sphäre der Kreise Lydias, von der geistlosen, leichenbegängnisartigen Tanzerei herleitete, aus dem offenkundig einstudierten Gehaben, aus der unaufhörlichen Prahlerei, aus der Sprechweise und dem Tonfall, der durch die Bemühung konstanter Verstellung unnatürlich wurde, aus der gewohnheitsmäßigen Grobheit gegen Dienstboten, der anbetenden Götzendienerei vor Rang und Titel, der affektierten Heilighaltung des Sonntags und zahlreichen sonstigen Erscheinungsformen, die Alice, ohne sich zu einem weiteren Eindringen in deren Ursachen veranlaßt zu fühlen, unter dem Sammelbegriff der Gewöhnlichkeit dieses Gesellschaftskreises zusammenfaßte.
Nicht lange darauf traf sie Lucian auf einem Ball. Er kam wie gewöhnlich spät und bat sich die Ehre eines Tanzes mit ihr aus. An dieser Form der Aufforderung änderte er nie etwas. Zu seiner großen Verwunderung machte sie bei der Gewährung dieses Gnadenbeweises einige Schwierigkeiten und bot ihm unter Vorbehalt den zweiten Extratanz an. Er verbeugte sich zustimmend. Im selben Augenblick näherte sich ein junger Mann und führte mit einer Bemerkung, daß er an der Reihe sei, Alice mit sich fort. Lucian lächelte wohlwollend; er hielt Alices Benehmen ›in Anbetracht ihres Vorlebens‹ für ausnehmend korrekt, indes verriet sie doch zuweilen eine etwas niedrigere Abtönung, als es die war, die er durch seine eigene Person als typisches Beispiel aufstellen wollte.
Als er dann an die Reihe kam und sie zu den Klängen des ›zweiten Extra‹ zweimal ums Zimmer herumgelangt waren, machten sie eine Pause – Alice äußerte bei Walzern mit Lucian stets den Wunsch nach einer kleinen Ruhepause. Er fragte sie, ob sie Nachrichten von Lydia habe.
»Das fragen Sie mich immer,« entgegnete sie. »Lydia schreibt nur, wenn sie eine wichtige Mitteilung zu machen hat – und auch dann nur einige wenige Zeilen.«
»Ganz richtig. Und sie kann ja seit unserm letzten Zusammentreffen eine wichtige Mitteilung für Sie gehabt haben.«
»Sie hat keine gehabt,« erwiderte Alice, die Lucians fast schelmisches Lächeln über alle Maßen reizte.
»Sie wird mit Freuden erfahren, daß ich Warren Lodge endgültig den unliebsamen Mietern wieder entrissen habe.«
»Ich dachte, sie wären längst fort,« warf sie gleichgültig hin.«
»Die beiden Leute sind schon seit einem Monat nicht mehr dort gewesen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, sie zur Entfernung ihrer Habseligkeiten zu bewegen. Jetzt sind wir sie aber glücklich los! Das einzige Überbleibsel ihres Aufenthalts besteht in einer Bibel. Die Hälfte der Seiten ist ausgerissen, die andern mit Abrechnungen über Wetten, Rezepten für transpirationfördernde und sonstige Medikamente und einer Menge unverständlicher Notizen beschmiert. Eine Widmung in verblaßter Tinte lautet folgendermaßen: ›Meinem Sohn Robert Mellish von seiner Mutter in treuer Liebe und der aufrichtigen Hoffnung, daß er stets auf den Wegen dieses Buches wandeln wird.‹ Ich fürchte, diese Hoffnung ist nicht ganz in Erfüllung gegangen.«
»Wie ruchlos von ihm, eine Bibel zu zerreißen!« bemerkte Alice mit ernster Miene. Dann begann sie zu lachen und fügte hinzu: »Ich weiß, ich sollte darüber nicht lachen. Ich kann mir aber nicht helfen.«
»Mir macht die Sache eigentlich einen mehr rührenden Eindruck,« meinte Lucian, der gern auf ein bei ihm vorhandenes Quantum Gefühlsfähigkeit hinwies. »Man kann sich die arme Frau mit dem unschuldigen Glauben an die Zukunft ihres Kindes leibhaftig vorstellen. Wenn sie das geahnt hätte!«
»Widmungen in Büchern sind wie Aufschriften auf Grabsteinen,« sagte Alice wegwerfend. »Sie bedeuten nicht viel.«
»Ich bin nur froh, daß die Leute keinen weiteren Grund zu einem ferneren Erscheinen in Wiltstocken haben. Es war sehr fatal, daß Lydia mit einem von ihnen bekannt geworden ist.«
»Das haben Sie auch bereits fünfzigmal gesagt,« erwiderte Alice entschlossen. »Ich glaube fast, Sie sind auf den unglückseligen Boxer eifersüchtig.«
Lucian wurde ganz rot. Alice bebte innerlich über ihre Kühnheit; doch bot sie ihm keck die Stirn.
»Aber nein – das ist wirklich zu absurd,« sagte Lucian, der seine Verwirrung deutlich verriet, indem er sich einer seinem Normalzustand völlig widersprechenden Leichtfertigkeit befleißigte. »Inwiefern könnte ich denn da eifersüchtig sein, Miß Goff?«
»Das wissen Sie wohl selbst am besten.«
Jetzt wurde es Lucian klar, daß mit Alice eine Veränderung vorgegangen war, und er bei ihr Boden eingebüßt hatte. Plötzlich verwischte seine verwundete Eitelkeit gleich einer ätzenden Säure das Bild des jungen wohlanständigen und schätzenswerten weiblichen Wesens, das er sich von ihr bisher vor Augen gehalten hatte. An dessen Stelle aber trat der Eindruck der verzogenen Schönheit. Und da er keineswegs derjenigen Sorte weiblicher Wesen, deren Benehmen mit seinen Anschauungen von Schicklichkeit am besten harmonierte, auch am meisten zugetan war, so erwies sich dieser Bilderwechsel mit nichten als ein Umschwung zum Schlechteren. Ihre letzte Bemerkung vermochte er ihr allerdings nicht so ohne weiteres nachzusehen, wenngleich er es sich nicht merken lassen wollte, wie sehr sie ihn wurmte.
»Ich fürchte, ich würde bei einem Renkontre mit meinem Nebenbuhler nur eine recht klägliche Rolle spielen,« bemerkte er lächelnd.
»Fordern Sie ihn heraus und schießen Sie ihn tot!« rief Alice voll Boshaftigkeit. »Wahrscheinlich versteht er mit Pistolen nicht umzugehen.«
Er lächelte wieder. Hätte Alice geahnt, wie ernstlich er sich einige Augenblicke lang mit diesem Vorschlag beschäftigte, ehe er ihn als undurchführbar aufgab – sie würde ihn sicherlich nicht geäußert haben. Cashel eine Kugel auf den Pelz zu jagen – das erschien ihm als ein schwelgerischer Genuß, den er sich aber anders als in Form eines Verbrechens nicht leisten konnte. Alice hingegen war mit Befriedigung zur Erkenntnis gelangt, daß dieser Herr Lucian Webber, an den sie soviel unverdiente Ehrfurcht verschwendet hatte, gerade so rücksichtslos behandelt werden konnte, wie sie es ehedem mit ihren Anbetern in Wiltstocken getan hatte; und sie machte sich nunmehr daran, ihn zu ihrer Belustigung weidlich zu quälen.
Sie wandte ihre täuschendste Nachahmung der Lydia eigenen nachdenklichen Redeweise an und sagte nachdenklich:
»Komisch eigentlich, daß ein so gewöhnlicher Mensch eine derartige Anziehungskraft auf Miß Carew ausüben konnte. Daß er ein sehr hübscher Mensch ist – daran lag es durchaus nicht; auf dergleichen gibt sie nicht viel. Nicht einmal den schönsten Mann in ganz London würde sie zum zweitenmal angucken – bei ihr liegt alles auf dem intellektuellen Gebiet. Und doch fand sie solchen Gefallen an der Unterhaltung mit ihm!«
»Oh, da irren Sie. Lydia hat ein gewisses Wesen an sich, aus dem ein Beobachter leicht entnimmt, daß sie sich für die Persönlichkeit, mit der sie gerade spricht, ausnehmend interessiert. Das ist nur äußerlich – zu bedeuten hat es nichts.«
»Ich kenne diese Gewohnheit an ihr ganz genau. Hier aber lagen die Dinge denn doch ganz anders.«
Lucian schüttelte vorwurfsvoll sein Haupt. »Ich kann mit so ernsten Dingen keinen Scherz treiben,« sagte er mit dem Entschlusse, seine Würde Alicen gegenüber wieder in ihre Rechte einzusetzen. »Ich nehme an, Miß Goff, daß Sie selbst nicht wissen, wie gänzlich haltlos Ihre Vermutungen sind. In ganz Europa gibt es nur wenige hervorragende Männer, die meine Cousine nicht persönlich kennt. Ein sehr junges Mädchen, das nur wenig von der Welt gesehen hat, könnte sich vielleicht durch das Äußere eines Mannes wie Byron täuschen lassen. Eine an die große Gesellschaft mit Schriftstellern, Denkern, Künstlern, Staatsmännern, Diplomaten gewöhnte Dame aber ist zu einem solchen Mißgriff nicht imstande. Ohne Zweifel hat die Gewöhnlichkeit dieses Menschen und seine ungehobelte Redeweise sie eine Zeitlang belustigt; auf die Dauer jedoch –«
»Warum hat sie ihn denn aber zu ihren Freitagen aufgefordert?«
»Eine reine Höflichkeitsphrase, die sie auch auf ihn ausgedehnt hat, weil er ihr einmal bei einer Unannehmlichkeit auf der Straße behilflich gewesen ist.«
»Dann hätte sie ja ebensogut einen Schutzmann zu sich einladen können. Nein – daran, glaube ich, lag es nicht.«
In diesem Augenblick haßte Lucian Alicen.
»Es tut mir leid, daß Sie dergleichen für möglich halten,« sagte er. »Wollen wir weitertanzen?«
Soweit hatte Alice sich noch nicht durchgerungen, um eine halb selbstverständliche Andeutung des Sinnes ruhig hinnehmen zu können, daß sie das Wesen der Gesellschaft nicht genügend begreife und daher nicht imstande sei, den Abstand zwischen Lydia und Cashel zu ermessen.
»Ich weiß natürlich sehr gut, daß dergleichen unmöglich ist,« sagte sie. »Und in diesem Sinne war es auch gar nicht gemeint.«
Lucian war einstweilen außerstande, hieraus zu ergründen, in welchem Sinne sie es gemeint haben mochte; er nahm daher seine Zuflucht zum Walzer, im Verlaufe dessen sie ihm ein Dutzend Unterrichtstunden bei einer Tanzlehrerin anempfahl, deren besondere Gabe, Herren für die von ihr als ›fesch‹ bezeichnete Abart des Tanzens abzurichten, sie rühmend hervorhob. Anläßlich dieses Geistesblitzes griff plötzlich eine derartig empfindliche Kühle zwischen ihnen Platz, daß sie, in der Furcht, sich von ihrer Erleuchtung soweit hinreißen zu lassen, ihren Tonfall änderte und ihr Staunen über den Umfang und die Vielseitigkeit der Arbeit zum Ausdruck brachte, die er in seinem Bureau zu erledigen vermochte. Er nahm ihre Komplimente mit vollem Ernste auf und gewährte ihr hiermit die Beruhigung, zum Normalzustand zurückgekehrt zu sein. Leider aber befand sie sich in diesem Punkte auf dem Holzwege. Von Politik oder beamtlicher Tätigkeit hatte sie keine Ahnung; er hinwiederum erkannte die Wertlosigkeit der von ihr seinem Anteil am Menschheitswerk gezollten Bewunderung, wenngleich er es nur für recht und billig hielt, daß sie aus den Tiefen ihrer Unwissenheit voll Ehrfurcht zu den Höhen seiner Macht emporhimmelte. Was sich aber mit klettenhafter Hartnäckigkeit in seine Gedanken einnistete, war die peinliche Empfindung, daß sie ihn winzig genug erachtete, um auf einen Boxer eifersüchtig sein zu können, und – daß sie seiner Tanzkunst die wünschenswerte ›Feschheit‹ absprach.
Nach diesem Ball dachte Alice viel über Lucian nach, und nicht weniger viel über die Methode, nach der die Gesellschaft die Ehefrage löste. Bevor Miß Carew sie zu sich entbot, hatte sie manch einen Seufzer geseufzt, weil alle ihr dem Namen nach oder von Ansehen bekannten netten Herren in Kreisen verkehrten, in die zugelassen zu werden für eine obskure Gouvernante schlechterdings keine Aussicht bestand. Wohl war sie auf Subskriptionsbällen zuweilen mit diesem oder jenem von ihnen sogar zusammengetroffen; soweit aber eine zeitlich verlängerte Intimität mit der sich hieraus ergebenden Möglichkeit eines Heiratsantrags in Frage kam, hatte sie auf die autochthone Jugend Wiltstockens zurückgreifen müssen, die sie als eine Ansammlung von Tölpeln und Spießbürgern erachtete, und aus deren Reihen Wallace Parker als Mann der Wissenschaft und Universität sowie als Gentleman leuchtend hervortrat.
Jetzt, da sie als bevorzugte Schönheit in einem Kreise fungierte, der Herrn Wallace Parker wohl kaum in seiner Mitte dulden würde, fand sie heraus, daß die netten Herren lauter jüngere, vom Erstgeburtsrecht ausgeschlossene Söhne mit wenig Vermögen und kostspieligen Gewohnheiten waren, die Lucian Webber als Teilbestand eines Walzers um vieles überragten, für ein zu gründendes Heim jedoch in dieser Eigenschaft kaum in Betracht kamen. Alice hatte alle Unzulänglichkeiten der Armut zur Genüge durchgekostet und war menschlicher Vollkommenheit einstweilen nur in Werken der Dichtkunst begegnet, die sie niemals ernstlich in irgendwelche Beziehungen zu den Möglichkeiten des tatsächlichen Lebens brachte. Von den Entbehrungen eines Zusammenlebens mit minderwertig und kleinlich veranlagten Menschen konnte sie sich keine Vorstellung machen: um so lebhafter aber war ihre Vorstellung von den durch Geldmangel hervorgerufenen Entbehrungen. Nicht, daß sie sich anständiger Gesinnung gegenüber – wie sie sie verstand – gleichgültig verhalten hätte: nichts konnte sie dazu bewegen, einen noch so reichen Mann zu heiraten, den sie hätte für moralisch niedrigstehend halten müssen. Sie beanspruchte Geld, einen guten Charakter und eine gesellschaftliche Stellung; dazu wünschte sie sich aber auch Jugend und ein entsprechendes Äußere; hier jedoch lag der Punkt, mit dem sie nicht auf ihre Rechnung kommen konnte. Die hübschen, eleganten und vornehmen Männer stürzten sich nicht nur Hals über Kopf in Schulden, indem sie die Grenzen eines weit beschränkteren Einkommens überschritten, als es dasjenige gewesen war, mit dem Wallace Parker sie seinerzeit für sich zu gewinnen suchte – nein, viele von denen, die sowohl Reichtum als auch gesellschaftlichen Rang ererbt hatten, standen vor ihm an Aussehen und Lebensart ebensosehr zurück wie an Gelehrsamkeit. Kein Mann, der allen ihren Ansprüchen gerecht wurde, hatte bis jetzt die geringste Neigung gezeigt, sich in sie zu verlieben.
An einem sonnenklaren Vormittag des Monats Juli begab Alice sich zu Pferde und in Begleitung eines Grooms in den Park. Die morgendliche Frische übte auf Pferde und Reiter ihre Wirkung aus: noch zeigten sich keine gesellschaftlich abgehetzten Menschen, die sich träge in ihren Wagen räkelten, noch unzufriedene Zuschauer, die auf Stühlen saßen und jene beneideten. Alice, die eine bessere Reiterin war, als es angesichts ihrer geringen Übung zu erwarten stand, machte im Sattel keine üble Figur. Sie hatte sich gerade den Genuß eines scharfen Galopps vom Hyde Park Corner bis zur Serpentine geleistet, als sie einen mächtigen Schimmel auf sich zukommen sah, auf dessen breitem Rücken Wallace Parker thronte.
»Ei, sieh da!« rief er, indem er mit viel Geschick sein Pferd wendete und gleichzeitig mit einer absichtlichen Entfaltung von Galanterie und Reitkunst seinen Hut zog.
»Wie geht es dir, Alice?«
»Herrjeh!« kreischte sie, im Staunen ihre ganze Korrektheit außer acht lassend. »Wie kommst du denn hierher? Und wo in aller Welt hast du dies Pferd aufgegabelt?«
»Ich nehme an, Alice,« entgegnete Parker mit sichtlicher Befriedigung über den hervorgerufenen Eindruck, »daß ich mich hier mehr oder weniger zu dem gleichen Zweck aufhalte wie du – um den Morgen in möglichst ausgiebiger Form zu genießen. Was die Rosinante anbetrifft, so habe ich sie mir gepumpt. Gehört der Fuchs dir? Entschuldige die unhöfliche Frage.«
»Nein,« erwiderte Alice, leicht errötend. »Dies ist der letzte Ort, wo ich an ein Zusammentreffen mit dir gedacht hätte.«
»Keineswegs. Ich mache während der Saison stets einen kleinen Abstecher dieser Art. Vor einem Jahr allerdings wäre diese Örtlichkeit für ein Zusammentreffen zwischen uns beiden weniger in Frage gekommen.«
Einstweilen gewann Alice den Eindruck, als sollte sie bei dieser Unterhaltung verhältnismäßig schlecht wegkommen. Sie änderte daher den Gesprächsstoff. »Bist du seit unserm letzten Beisammensein in Wiltstocken gewesen?«
»Gewiß. Ich bin mindestens einmal die Woche dort.«
»Jede Woche? Davon hat mir Janet nichts mitgeteilt.«
Parker gab ihr durch eine verschmitzte Miene zu verstehen, daß ihm der Grund hierfür wohl bekannt sei; doch sagte er nichts dergleichen. Alice ärgerte sich und wollte sich zu Erkundigungen nicht herbeilassen. Er ergriff von neuem das Wort.
»Was macht Fräulein Dingskirchen?«
»Ich kenne niemand dieses Namens.«
»Du weißt sehr gut, wen ich meine. Deine aristokratische Brotherrin, Miß Carew.«
Alice war wütend. »Du bist im höchsten Grade unverschämt, Wallace,« sagte sie, mit einem Griff nach ihrer Reitpeitsche. »Wie kannst du es wagen. Miß Carew meine Brotherrin zu nennen!«
Wallace wurde plötzlich ernst. »Ich wußte nicht, daß du etwas dagegen hättest, an alles das erinnert zu werden, was du ihr schuldig bist. Janet macht niemals eine undankbare Äußerung über sie – wenngleich sie ja eigentlich nichts für Janet getan hat.«
»Ich habe keine undankbare Äußerung getan,« entgegnete Alice, mit den Tränen kämpfend. »Ich kann mir's deutlich vorstellen, wie du niemals müde wirst, zu Hause schlecht über mich zu sprechen.«
»Das zeigt mal wieder, wie wenig du meinen wahren Charakter verstehst. Im Gegenteil – ich entschuldige dich, wo ich kann.«
»Wieso entschuldigen? Was habe ich denn verbrochen? Was willst du damit sagen?«
»Oh, ich will gar nichts sagen, wenn du nichts sagen willst. Da du aber gleich anfingst, dich zu verteidigen, so meinte ich nur, du fühltest dich vielleicht im Unrecht.«
»Ich habe mich nicht verteidigt! Wage es nicht, so etwas nochmal zu behaupten, Wallace!«
»Jederzeit gehorsamst und untertänigst zu Diensten,« erwiderte er mit nachgiebiger Ironie.
Sie stellte sich, als höre sie ihn nicht, und trieb ihr Pferd zu scharfem Trabe an. Da der Schimmel kein gar schneller Traber war, so folgte Parker in holperigem Handgalopp. Alice verging vor Scham, sich allenfalls mit ihm lächerlich zu machen, und verlangsamte daher alsbald das Tempo; das weiße Roß fiel unverzüglich in Schritt zurück und begleitete seine Beinbewegungen durch ein rhythmisches Baumeln der sportlich in ihrer Länge sehr wenig fashionablen Mähnen- und Schweifhaare.
»Ich habe dir etwas mitzuteilen,« sagte Parker schließlich.
Alice verzichtete auf eine Antwort.
»Ich glaube, ich setze dich besser gleich davon in Kenntnis,« fuhr er fort. »Ich will mich nämlich mit Janet verheiraten.«
»Janet denkt nicht daran!« erwiderte Alice schnell.
Parker lächelte selbstgefällig und sagte: »Sie wird wohl, wie ich annehme, kaum etwas einzuwenden haben, falls du ihr zu verstehen gibst, daß es zwischen uns beiden aus ist.«
»Daß was aus ist?«
»Wenn's dir also so lieber ist – daß niemals etwas zwischen uns beiden los war. Janet bildet sich nämlich ein, wir wären verlobt gewesen. Viele andere Leute haben sich's ebenfalls eingebildet, ehe du in die höheren Regionen emporgestiegen bist.«
»Für das, was andere Leute sich einbilden, konnte ich nichts.«
»Sie wissen auch alle, daß ich wenigstens bereit war, meinem Anteil an dieser Verlobung gerecht zu werden.«
»Wallace,« entgegnete sie in verändertem Tone, »ich glaube, wir trennen uns besser. Es ist unrecht von mir, mit dir hier im Park herumzureiten, wenn ich außer einem Diener niemand zu meiner Begleitung bei mir habe.«
»Ganz wie du befiehlst,« versetzte er kühl, indem er sein Pferd parierte. »Darf ich Janet sagen, daß du ihre Heirat mit mir wünschst?«
»Unter keinen Umständen! Ich wünsche es niemand, dich zu heiraten – am wenigsten meiner Schwester. Ich stehe weit hinter Janet zurück, und sie verdient einen viel besseren Mann als ich.«
»Hierin stimme ich vollkommen mit dir überein – wenngleich ich nicht recht verstehe, was diese Tatsache mit der ganzen Angelegenheit zu tun hat. Soweit ich dir folgen kann, willst du mich weder selbst heiraten – bedenke, daß ich nach wie vor zur Erfüllung meines Verlöbnisses bereit bin – noch mich sonst jemand überlassen. Habe ich richtig verstanden?«
»Du kannst Janet sagen,« entgegnete Alice lebhaft und mit glühendem Gesicht, »du kannst ihr sagen, daß, selbst wenn wir – du und ich – dazu verdammt wären, für ewige Zeiten auf einer wüsten Insel zu leben – Nein! Ich werde ihr schreiben. So geht's am besten. Guten Morgen!«
Parker, der bisher seine Ruhe nicht verloren hatte, zeigte jetzt Symptome der Verwirrung: »Ich denke, Alice, daß du ihr nichts Unrechtes über mich mitteilen wirst. Wenn du bei der Wahrheit bleiben willst, kannst du nichts Nachteiliges über mich sagen.«
»Hast du Janet wirklich gern?« fragte Alice schwankend.
»Selbstverständlich!« entgegnete er voll Empörung. »Janet ist ein sehr hochstehendes Mädchen.«
»Das habe ich doch von jeher gesagt,« meinte Alice mit sichtlichem Ärger, weil ihr jemand mit dieser verdienstlichen Anerkennung zuvorgekommen war. »Ich werde ihr die reine Wahrheit schreiben – daß niemals etwas anderes zwischen uns beiden bestanden hat, als was zwischen Vettern gang und gäbe ist; und daß von meiner Seite auch niemals mehr hätte bestehen können. Jetzt muß ich aber fort. Ich weiß wirklich nicht, was der Diener von mir denken soll!«
»Es sollte mir leid tun, dich in seiner Wertschätzung herabgesetzt zu haben,« bemerkte Parker boshaft. »Guten Morgen, Alice.« Während er diese letzten Worte in möglichst oberflächlichem Tone hinwarf, lüftete er von neuem seinen Hut, wandte das weiße Roß um und jagte davon. Daß er während jeder Saison im Parke zu reiten pflegte, war eine Unwahrheit. Von Janet hatte er erfahren, daß Alice gewohnheitsmäßig des Vormittags im Park reite; deshalb mietete er sich den Schimmel, um ihr auf gleicher Basis entgegenzutreten; seinem Empfinden nach konnte ein berittener Gentleman auf den Wegen in der Nähe der Serpentine keiner Dame gesellschaftlich minderwertig erscheinen, wie vornehm ihr ganzer Umgang auch sonst sein mochte.
Alice aber vermochte Parkers Mahnung, daß Miß Carew ihre Gönnerin sei, nicht zu verwinden. Die Notwendigkeit, sich eine unabhängige Stellung zu sichern, erschien ihr als ein mehr als dringliches Bedürfnis. Und da dies Endziel nur durch die Ehe zu erreichen war, so faßte sie beinahe den Entschluß, irgendeinen beliebigen Mann ohne Ansehung seiner Person, seines Alters und Charakters zu heiraten, sofern er ihr nur einen Lydias Stellung ebenbürtigen Platz in der kleinen Welt anweisen konnte, deren Formen und Gewohnheiten sie sich in letzter Zeit angeeignet hatte.