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Cashels Schüler baten ihn zuweilen, recht kräftig zuzuschlagen – mit ihnen nicht nur zu markieren – sie an ordnungsmäßige, regelrechte, nachhaltige Hiebe und nicht an Hokuspokus zu gewöhnen. Er tat nur so, als ob er ihren Wünschen nachkäme; wußte er doch, daß man wegen eines im Kampfe mit einem berühmten Pugilisten erworbenen blauen Auges oder wackelnden Zahnes gar zu unmäßig prahlen würde, und daß die Freunde der Betroffenen es sich demgemäß angelegen sein lassen könnten, einem derartig ungehobelten Lehrmeister aus dem Wege zu gehen.
Als ihn aber Miß Carews Zeilen erreichten, machte er in seiner Methode hierin eine Ausnahme. Ein junger Gardeoffizier, dessen Unterrichtsstunde kurz nach Eintreffen der Post begann, bemerkte eine ungewöhnliche Zerstreutheit an Cashel und ermahnte ihn, aus seiner Träumerei zu erwachen und tüchtig loszuschlagen. Unmittelbar darauf streckte ihn ein Stoß in die Magengrube fast ohnmächtig zu Boden. Als er wieder auf die Beine gebracht worden war, hatte sich seine Gesichtsfarbe beträchtlich ins Weiße verfärbt; er schützte sogleich eine dringliche Verabredung vor, zog sich zurück und erklärte in etwas unsicherer Stimme diese Art von Gängen für diejenigen, an denen er wirklich Gefallen fände.
Nach seinem eiligen Verschwinden schritt Cashel verstört hin und her, wobei er abwechselnd fluchte und stehen blieb, um den Brief zu überlesen. Durch seine Unruhe nahm seine Aufregung noch mehr zu. Die Ankunft eines Franzosen, den er für den Fechtunterricht angestellt hatte, machte ihm den Aufenthalt unerträglich. Er wechselte die Kleidung, verließ das Haus, rief eine Droschke heran und befahl dem Kutscher mit einem Fluch, so schnell das Pferd nur irgend laufen könnte zu Lydias Wohnung zu fahren. Der Mann entfaltete alle verfügbare Schnelligkeit, um bald nachher voll Unwillen darauf aufmerksam gemacht zu werden, daß nicht der geringste Grund zur Eile vorhanden sei.
Da er ohnedies an diese Art von Stimmungswechsel gewöhnt war, wunderte er sich, als sie sich dem Hause näherten, auch nicht über die Weisung, langsam vorbeizufahren. In Gemäßheit der dann folgenden Instruktion wandte er alsbald um und fuhr noch einmal an der Tür vorüber. Währenddessen erschien eine Dame für einen kurzen Augenblick an einem Fenster. Im nächsten Moment sprang sein Insasse mit einem aus Wut und Furcht gemischten Stöhnen aus dem Gefährt, rannte die Eingangsstufen hinauf und setzte unwirsch die Klingel in Bewegung. Bashville öffnete in tadelloser Kleidung und mit gemessenem Wesen die Tür. Auf Cashels halb unartikulierte Frage entgegnete er:
»Miß Carew ist nicht zu Hause.«
»Sie lügen!« rief Cashel, dessen Augen sich plötzlich weiteten. »Ich habe sie gesehen!«
Bashville errötete, doch wahrte er seine Kühle: »Miß Carew kann Sie heute nicht empfangen.«
»Gehen Sie hinauf und fragen Sie!« erwiderte Cashel vortretend mit Nachdruck.
Bashville erfaßte mit zusammengepreßten Lippen die Tür, um den Eindringling auszuschließen; dieser aber drängte sich mit dem Rücken gegen ihn, trat über die Schwelle und ließ die Haustür hinter sich ins Schloß fallen. Hierbei wandte er sich einen Augenblick von Bashville ab; ehe er sich ihm wieder zudrehen konnte, wurde er zum Stolpern gebracht und auf den Mosaikboden der Vorhalle niedergeschleudert. Als Bashville als Lügner bezeichnet und von der Tür weggedrängt worden war, gelangte die Erregung, die er seit seinem Besuche bei Lucian zurückgehalten hatte, zu einer Explosion. Er hatte Cashel nach cornischer Art ›geworfen‹ und wartete nunmehr in höchster Spannung der Dinge, die sich hieraus ergeben sollten.
Cashel war so schnell wieder hoch, daß er fast von den Fliesen zurückzuprallen schien. Bashville duckte sich unwillkürlich vor seinem Angriff, entging dem Schlage seiner rechten Faust und hatte, als ihm der Hieb am Ohr vorbeisauste, die Empfindung, als ob sein Herz mit dahinsauste. Er wandte sich um und rannte in wilder Flucht die Treppe hinauf.
Lydia befand sich mit Alice in ihrem Boudoir, als der Diener hereinstürzte und die Tür hinter sich verschloß. Alice fuhr kreischend in die Höhe. Lydia war gleichfalls erschreckt, und zwar weniger durch den ungewöhnlichen Vorgang, als vielmehr durch den Wechsel des Ausdrucks in den ihr bekannten Zügen, die sie bisher niemals von irgendwelcher Erregung beeinflußt gesehen hatte; sie blieb jedoch ruhig sitzen und fragte gemessen, was denn geschehen sei. Bashville raffte sich einen Moment zusammen. Dann murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin, schritt zum Fenster und öffnete es. Lydia erriet, daß er offenbar auf der Straße nach Hilfe zu rufen beabsichtigte.
»Bashville!« rief sie gebieterisch. »Schweigen Sie still – schließen Sie das Fenster! Ich werde selbst hinuntergehen.«
Bashville stürzte zur Tür, um seine Herrin am Öffnen zu hindern; sie schenkte ihm keine Beachtung. Gewalt wagte er gegen sie nicht in Anwendung zu bringen. Mittlerweile begann er sich auch von seinem Schrecken zu erholen und verspürte die ersten Gewissensbisse der Scham, seiner Angst derartig willenlos nachgegeben zu haben.
»Madam,« sagte er, »Byron ist unten. Er besteht darauf, Sie zu sprechen. Ein gefährlicher Kerl – und für mich zu stark. Ich habe mein Bestes getan – auf mein Wort, mein Bestes. Darf ich die Polizei rufen? Halt!« rief er, als sie die Tür öffnete. »Wenn schon jemand geht – so muß ich gehen.«
»Ich werde ihn im Bibliothekzimmer empfangen,« sagte Lydia völlig unbeirrt. »Sagen Sie ihm das und lassen Sie ihn dort auf mich warten – wenn Sie ohne Gefahr für sich mit ihm reden können.«
»Bitte, lassen Sie ihn doch die Polizei rufen!« unterbrach Alice dringlich. »Sie dürfen ein Zusammensein mit diesem Mann nicht wagen!«
»Ach was!« entgegnete Lydia mit einem Anflug von Humor. »Ich bin nicht im geringsten ängstlich. Wenn wir mit einem Preisboxer zu tun haben, dürfen wir's an Mut nicht fehlen lassen.«
Bashville war leichenblaß und vermochte es nur mit Mühe zu verhindern, daß seine Kniee aneinander schlugen; doch zögerte er keinen Augenblick, ging gehorsam hinunter und fand Cashel aufs Treppengeländer gelehnt, wie er mit fliegendem Atem und verblüfften Augen seine feuchte Stirn trocknete.
»Miß Carew wird Sie im Bibliothekzimmer empfangen,« meldete der Diener. »Wollen Sie mir, bitte, folgen?«
Cashels Lippen bewegten sich; doch wurde kein Laut hörbar: er ging Bashville schweigend nach. Als sie ins Bibliothekzimmer eintraten, war Lydia bereits anwesend. Bashville zog sich wortlos zurück. Cashel nahm auf einem Stuhl Platz; und dann stützte er zu ihrer großen Verwunderung den Kopf auf die Hand und brach in konvulsivisches Schluchzen aus. Ehe sie sich über die zu ergreifende Taktik schlüssig werden konnte, sah er mit verzerrten, verfärbten Zügen zu ihr auf und versuchte zu reden.
»Bitte, weinen Sie nicht,« begann Lydia. »Mir ist gesagt worden, Sie wünschten mich zu sprechen.«
»Ich will nie im Leben wieder mit Ihnen sprechen,« entgegnete Cashel heiser. »Sie haben Ihrem Diener befohlen, mich die Treppe hinunterzuwerfen. Das genügt mir.«
Lydia wurde von seiner Neigung zum Schluchzen, gegen die er tapfer ankämpfte, fast angesteckt; sie unterdrückte sie und antwortete mit Festigkeit: »Wenn mein Diener sich Ihnen gegenüber die geringste Unhöflichkeit hat zuschulden kommen lassen, Herr Cashel Byron, so hat er damit seine Anweisungen überschritten.«
»Das ist auch ganz egal,« meinte Cashel. »Er mag nur Gott danken, daß er seinen Kopf noch auf den Schultern sitzen hat. Auf ihn kommt's auch gar nicht an. Halt mal eben – ich kann schon reden – ich warte nur – bis ich wieder Luft kriege – und dann –« Cashel hob den Kopf mit einem eigenartig geschäftsmäßigen Ausdruck, warf sich rücklings gegen die Lehne des Stuhles und blieb entschlossen in dieser Haltung, bis er die Fähigkeit der Sprache wieder zu meistern glaubte. Dann raffte er sich zusammen und fragte: »Warum wollen Sie nichts mit mir zu tun haben?«
Lydia brachte ihre Geisteskräfte gleichsam in Schlachtlinie und erwiderte: »Erinnern Sie sich noch unserer Unterhaltung bei Mrs. Hoskyn?«
»Ja.«
»Sie haben es damals selbst angedeutet, daß unser Verkehr aufhören würde, wenn mir die Art Ihrer Beschäftigung zur Kenntnis gelangte.«
»Das war aber sehr schön und gut – als Ausflucht, um Ihnen die Wahrheit nicht sagen zu müssen. Jetzt aber geht's mir wie vielen Leuten, wenn sie auf die Probe gestellt werden – ich finde heraus, daß ich's nicht so gemeint habe. Wer hat es Ihnen erzählt, daß ich ein Boxer bin?«
»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen.«
»Aha!« meinte Cashel mit einer Art Triumphgefühl, das durch das Überbleibsel seines Tränenanfalls etwas beeinträchtigt wurde. »Wer arbeitet jetzt mit Geheimnissen – das möchte ich bloß wissen?«
»In diesem Falle tue ich es, weil ich mich fürchte, jemand meiner Bekanntschaft Ihrem Zorn auszusetzen.«
»Und warum? Natürlich – es ist ein Mann! Sonst hätten Sie ja auch keine Angst. Sie denken sich, ich werde geradeswegs losgehen und ihn umbringen. Vielleicht hat er Ihnen auch erzählt, daß es für einen Mann wie mich, für ein Rauhbein wie mich ganz natürlich wäre, ihn zu Brei zu schlagen. Das kommt von der Feigheit. Die Leute machen meinen Beruf herunter – nicht weil dieser oder jener schlimme Bruder dazwischen ist; es gibt auch genug schlimme Geistliche, wenn's sich darum handelt – sondern weil sie sich vor uns fürchten. Sie brauchen sich wegen Ihres Freundes keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ich bin gewohnt, sehr gut dafür bezahlt zu werden, wenn ich einen vermöble; und Ihr gesunder Menschenverstand schon sollte es Ihnen sagen, daß die Leute, die für ein Stück Arbeit bezahlt zu werden pflegen, die letzten sind, die sie umsonst liefern.«
»Ich finde, daß bei erstklassigen Künstlern gerade das Gegenteil der Fall ist.«
»Danke ergebenst,« erwiderte er sarkastisch. »Hierfür sollte ich Ihnen wohl eigentlich eine tiefe Verbeugung machen.«
»Mir will aber scheinen,« meinte Lydia ernst, »als ob Ihre Kunst völlig antisozial und rückschrittlich wäre. Und außerdem, fürchte ich, haben Sie mir diese Unterredung ohne greifbaren Endzweck aufgedrängt.«
»Ich weiß nicht, ob sie antisozial ist oder nicht. Ich halte es nur für sehr schmerzlich, daß ich aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen werden soll, wenn andere Kerle, die viel schlimmere Stückchen aufführen, ohne weiteres zugelassen sind. Wer war am letzten Freitag der hochgeehrteste von Ihren Gästen? Soll ich's Ihnen sagen – der Franzose mit der goldenen Brille! Und was meinen Sie, was man mir sagte, als ich mich erkundigte, womit er seine Zeit totschlüge? Hunde im Backofen backen, das tut er, um zu sehen, wie lange ein Hund im rotglühenden Zustand leben kann! Ich möchte ihn mal dabei abfassen, daß er dergleichen mit einem von meinen Hunden versuchte. Und was noch? Nägel in eine Ratte spießen, um zu wissen, ob der Schmerz die Ratten schwitzen macht. Das ist ja rein zum Übelwerden. Meinen Sie, ich würde einem solchen Patron die Hand geben? Wäre er nicht Ihr Bekannter, ich hätte ihm gelehrt, wie man einen Franzosen zum Schwitzen bringt, ohne ihn voll Nägel zu spießen. Und so ein Mensch wird empfangen, und Gott weiß was aus ihm gemacht – und ich werde vor die Tür gesetzt! Betrachten Sie sich doch auch mal Ihren Verwandten, den General! Was ist er denn anderes, möchte ich wissen, als ein Mann, der vom Zweikampf lebt? Besteht nicht seine ganze Großmäuligkeit und sein Stolz darin, daß er, so lange er so und soviel täglich bezahlt bekommt, nicht viel fragt, ob ein Krieg fair ist oder nicht, sondern einfach loszieht und tausenden von Menschen die beste Gelegenheit zum Töten und Getötetwerden verschafft – wobei er sich, wohl verstanden, immer hübsch hinter ihnen hält. Voriges Jahr watete er bis an den Hals im Blute einer Bande unglückseliger Neger, die für seine feinbewaffneten Leute ebensowenig ebenbürtige Gegner waren, als ein Leichtgewichter es für mich wäre. Wie gemein ich auch sonst sein mag – ich würde einen Leichtgewichter nicht angreifen, noch es ruhig mit ansehen, wenn ein anderer schwerer Kerl es täte. Ein ganzer Haufen von Ihren Bekannten geht Tauben schießen. Das nenne ich mir eine humane und männliche Art, seinen Sonnabendnachmittag zu verbringen! Lord Worthington, der Sie, wenn's ihm paßt, auch besucht, wenngleich er ein zu guter Mensch oder ein zu schlechter Schütze ist, um Tauben abzuschlachten – der hält wieder große Stücke von Fuchsjagden. Glauben Sie vielleicht, daß es den Füchsen besonderen Spaß macht, gejagt zu werden, oder daß die Herrschaften, die hinter ihnen herreiten, so zartbesaitet sind, daß sie sich's gestatten können, Preisboxer mit allen möglichen Schimpfworten zu bewerfen? Zählen Sie sich doch die Leute an den Fingern ab, die alljährlich beim Hindernisreiten, bei Fuchsjagden, bei Cricket oder Fußball ums Leben kommen oder die Glieder brechen? Dutzende! Und die Tausende, die auf dem Schlachtfeld bleiben! Haben Sie jemals davon gehört, daß einer im Ring sein Leben eingebüßt hat? Während des ganzen Jahrhunderts, das auf meine Art gekämpft wird, hat es bei wirklich anständigen Konkurrenzen von der ersten bis zur letzten keine sechs tödlichen Unfälle gegeben! Das ist ja viel gefahrloser als tanzen: manches Frauenzimmer ist mit ihrem Rock ins Feuer hineingetanzt und dann jämmerlich verbrannt. Ich habe einmal mit einem Mann geboxt, der sich seine Gesundheit durch schlechten Lebenswandel untergraben hatte; weil er nicht locker lassen wollte, als er schon längst geschlagen war, überanstrengte und erschöpfte er sich dermaßen, daß er schließlich daran starb – nachdem er mich selbst beinahe auch zugrunde gerichtet hatte. Hätten Sie von dem Aufheben gehört, das selbst die alten ausgetragenen Kenner wegen dieser Geschichte gemacht haben, Sie wären zu der Überzeugung gelangt, ein unschuldiges Baby hatte durch einen Fall aus der Wiege sein kleines Dasein eingebüßt. Eine tüchtige Tracht Prügel beim Boxen tut dem Menschen eher gut als Schaden. Und wenn alle diese vermaledeiten Hundebrater, Soldaten, Taubenschießer, Fuchshetzer und wie sie sonst noch heißen, hier gern gesehen und willkommen sind – warum werde ich da wie ein wildes Tier ausgesperrt?«
»Um die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht,« entgegnete Lydia verwirrt. »Es sei denn, weil sich Ihr Beruf im allgemeinen nicht aus unseren Kreisen rekrutiert.«
»Ich will gern zugeben, daß Boxer keine Gentlemen sind – im Durchschnitt nicht. Es hat aber Zeiten gegeben, wo Dichter und Maler es ebensowenig waren. Ich möchte aber vor allem eins wissen. Angenommen, ein Boxer hat gerade so gute Manieren wie Ihre Freunde und stammt aus gerade so guter Familie – warum sollte er dann nicht mit ihnen verkehren und für ihresgleichen gehalten werden?«
»Die Absonderung scheint willkürlich – das gestehe ich zu. Die wirksame Abhilfe bestünde also vielleicht darin, die Vivisektoren und Soldaten auszuschließen, statt die Preisboxer zuzulassen.« Dann änderte Lydia ihr Wesen. »Herr Cashel Byron,« sagte sie, »ich kann mit Ihnen hierüber nicht diskutieren. Die Gesellschaft hegt nun einmal ein Vorurteil gegen Sie. Ich teile es; und ich kann mich darüber nicht hinwegsetzen. Sind Sie nicht in der Lage, eine edlere Beschäftigung zu finden, als diese wüsten, entsetzlichen Zweikämpfe, mit denen Sie sich ihren Lebensunterhalt zu erwerben herbeilassen?«
»Nein!« erklärte Cashel rundweg. »Ich kann nicht. Darum handelt es sich ja gerade.«
Lydia machte ein ernstes Gesicht und sagte nichts.
»Sie verstehen mich also nicht?« fragte er. »Nun gut – ich werde Ihnen alles über mich sagen und Ihnen das Urteil dann anheimstellen. Darf ich mich dabei hinsetzen?«
Während seiner Erörterungen über Lydias wissenschaftlichen und militärischen Verkehr hatte er sich unbewußt erhoben.
Sie wies auf einen Stuhl in ihrer Nähe. Ein unbestimmtes Etwas in ihrer Gebärde trieb ihm eine leichte Röte ins Gesicht.
»Ich glaube, ich war der unglücklichste Teufel von einem Jungen, der je auf dieser Welt herumgelaufen ist,« begann er. »Meine Mutter war und ist eine Schauspielerin – eine Tiptopnummer in der Branche. Eine der ersten Sachen, deren ich mich erinnere, war, wie ich in der Ecke eines Zimmers mit einem großen Spiegel am Boden saß, und sie davor hin und her flitzte und theatralische Posen machte und Shakespeare hersagte wie wahnsinnig. Ich hatte eine Heidenangst vor ihr, weil sie es mit meinen Manieren und meinem Aussehen sehr genau nahm und mich nie in die Nähe von einem Theater ließ. Von ihrer Familie oder von meiner weiß ich nichts; eines Tages, als ich sie nach meinem Vater fragte, hat sie mir ein paar Ohrfeigen versetzt, und seitdem habe ich mich wohl gehütet, sie noch einmal zu fragen. Sie war noch ganz jung, als ich ein kleines Kind war: anfänglich hielt ich sie für eine Art Engel. Ich glaube, ich hätte sie sehr lieb gehabt, wenn sie mich gelassen hätte. Aber sie ließ mich nicht – ich weiß nicht, woran's lag; und so mußte ich mir meine Zuneigung für die Dienstboten aufsparen. Was das betraf, so brauchte ich über Mangel an Abwechslung nicht zu klagen; alle zwei Monate pflegte sie die ganze Gesellschaft aus dem Lokal zu feuern – mit Ausnahme einer Kammerjungfer, von der sie sich anranzen ließ und die mir ungefähr alle Pflege zuwandte, die ich jemals zu verzeichnen gehabt habe. Weil ich wegen irgendeines Dienstmädchens, das die Stellung verließ, weinte, fand sie, wie ich glaube, zum erstenmal Gelegenheit, mich wegen meines ›Zuges nach unten‹ zu schelten – eine Sache, die mir immer fürchterlich nahe ging, und die sie bis zu dem Tage fortsetzte, wo ich endgültig von ihr ging. Wir waren ein liebliches Paar: ich verbissen und widerspenstig; sie launenhaft und jähzornig. Zuweilen begann unser Frühstück damit, daß ich von ihr einen Schlag bekam, der mich von einem Ende des Zimmers zum andern jagte; gegen das Ende zu nannte sie mich dann wieder ihren Herzensjungen und versprach mir alles mögliche Spielzeug und sonst noch was. Bald gab ich's auf, mich um ihre Zuneigung zu bemühen oder sie lieb zu haben, und wurde der ungezogenste Bengel, den Sie sich denken können. Ich war nur darauf bedacht, wenn sie bei guter Laune war, möglichst viel aus ihr herauszuschinden und mich närrisch und dickköpfig zu benehmen, so oft sie ihren Rappel hatte. Eines Tages bewarf mich ein Junge auf der Straße mit Schmutz; ich rannte weinend ins Haus und beklagte mich bei ihr. Sie nannte mich einen kleinen Feigling. Das habe ich ihr bis heute nicht verzeihen können – vielleicht weil es eine der wenigen Wahrheiten war, die sie mir jemals gesagt hat. Ich befand mich in einem Zustand unaufhörlicher Erbitterung; noch heute frage ich mich oft, ob ich damals nicht fürs ganze Leben verbittert wurde. Schließlich entwickelte ich mich zu einem derartigen kleinen Satan, daß ich ihre Schläge abzuwehren trachtete, wenn sie nach mir hieb, und dabei immer gefährlicher auszusehen begann, bis sie sich vor mir fürchtete. Dann steckte sie mich in ein Institut; mir sagte sie, ich wäre herzlos, und dem Lehrer bezeichnete sie mich als einen unlenksamen jungen Rowdy. Bei der Trennung von ihr weinte ich wie ein kleiner Narr; sie weinte um meinetwegen wie eine große Närrin zur Gesellschaft – unmittelbar nachdem sie mich dem Lehrer gegenüber als ein so nettes Früchtchen hingestellt hatte; dann suchte sie das Weite und ließ ihren Herzensjungen und ihr geliebtes Kind über sein Glück, sie los zu werden, heulend zurück.
Ich war ein prächtiges Exemplar, um in einer Schule losgelassen zu werden. Reden konnte ich wie ein Schauspieler – soweit die Aussprache in Frage kam; ich vermochte aber kaum ein einsilbiges Wort zu lesen; und erst das Schreiben! Nicht die schlimmsten Krähenfüße war ich imstande anständig hinzumalen. Bis auf den heutigen Tag geht's mir mit der Rechtschreibung nicht besser als dem alten Ned Skene. Der verhängnisvollste Teil meiner Unwissenheit bestand aber darin, daß ich von ehrlicher, gerechter und anständiger Gesinnung und Handlungsweise keine Ahnung hatte. Ich bildete mir ein, alle Dienstboten müßten Angst vor mir haben und sämtliche erwachsenen Menschen mich notwendigerweise zu tyrannisieren versuchen. Ich fürchtete mich vor jedermann, fürchtete, daß meine Feigheit ausfindig gemacht werden könnte, und war in meinen Zornanfällen so bösartig und grausam wie es Feiglinge immer sind.
Und dann geschah etwas, was Sie wohl kaum glauben werden, was mich aber davor bewahrte, völlig auf schlimme Wege zu geraten – ich erkannte meine Fähigkeiten beim Boxen. Die größeren Jungen glichen erwachsenen Menschen darin, daß es ihnen Spaß machte, andere streiten zu sehen; und sie pflegten uns jüngere, ob wir es mochten oder nicht, dazu anzuhalten – an jedem Sonnabend nachmittag, mit Sekundanten, Flaschenhaltern, überhaupt nach allen Regeln der Kunst – mit Ausnahme der Seile. Als sie mich das erstemal herausstellten, schloß ich die Augen und begann zu weinen; dessenungeachtet aber gelang es mir, meinen Gegner fest um die Hüften zu fassen und ihn zu werfen. In der Folgezeit gestaltete es sich zu einem wahren Fest, mich boxen zu lassen; ich weinte immer dabei. Das Ende vom Liede aber war, daß ich meine Augen offen zu halten und richtig zuzuschlagen lernte. Von dann an brauchte ich mir über mein Boxen keinen Kummer mehr zu machen. Ich konnte es gleichsam instinktiv vorhersagen, wenn der andere mich treffen wollte; so traf ich ihn dann stets zuerst. Jetzt geht's mir im Ring gerade so: ich weiß was mein Gegenüber vorhat, ehe er es eigentlich selbst weiß. Das Übergewicht, das ich aus dieser Fähigkeit schöpfte, machte mich der Gesittung zugänglich. Mit der Zeit machte es mich auch zum Hahn im Korbe; und als Hahn konnte ich mich schlechterdings weder kleinlich noch kindisch benehmen. Es gäbe wirklich kein besseres Mittel, einem Jungen den nötigen Schneid einzubleuen, wenn es jeder zum Hahn bringen könnte; aber dazu ist nun einmal nicht jeder in der Lage; ich glaube daher, daß es mehr Schaden anrichtet, als Gutes schafft.
Ich hätte mich in der Schule leidlich zurechtgefunden, wenn es mir auch etwas um die Arbeit mit meinen Büchern zu tun gewesen wäre. Ich wollte aber nicht lernen; und die Lehrer waren auf mich als auf einen Faulpelz nicht gut zu sprechen, wenngleich es ganz anders um mich bestellt gewesen sein müßte, falls sie ihr Lehrhandwerk verstanden hätten. Ich habe seitdem gelernt, was Lehren bedeutet. Die Ferien waren für mich die schlimmste Zeit im Jahr. Wurde ich in der Schule zurückbehalten, so tobte ich, weil ich nicht nach Hause durfte; ging ich aber nach Hause, so hatte meine Mutter nichts anderes zu tun, als an meinen Schuljungenmanieren herumzumäkeln. Allmählich wurde ich zu groß, um als ihr Herzensjunge verhätschelt zu werden. Sie behandelte mich nach wie vor nach ihrer alten Methode – nur daß der zärtliche Teil wegblieb. Angesichts der Tatsache, daß ich doch in der Schule der Hahn war, konnte es mir nicht zusagen, mich als ein nichtsnutziger, an ihren Schürzenbändern hängender Balg fühlen zu müssen. Als sie dann sah, daß ich nichts lernte, sandte sie mich in ein anderes Institut in der Nähe eines nördlich gelegenen Ortes namens Panley. Dort verblieb ich bis zu meinem siebzehnten Jahre; und dann tauchte sie eines schönen Tages auf und wir hatten, wie gewöhnlich, einen Krach. Sie wollte mich durchaus bis zum neunzehnten Jahre in der Schule belassen; ich aber erledigte diesen strittigen Punkt kurzer Hand, indem ich noch in derselben Nacht auf und davon rannte.
Ich gelangte nach Liverpool und verbarg mich dort auf einem nach Australien bestimmten Schiff. Als ich ausgehungert war und zum Vorschein kam, behandelten sie mich noch besser als ich eigentlich erwartet hatte; ich mußte schwer genug arbeiten, um mir meine Passage und meine Nahrung zu verdienen. Sobald ich aber in Melbourne an Land gesetzt wurde, geriet ich in eine böse Zwickmühle. Ich kannte keine Seele und besaß kein Geld. Alles, womit ein Mensch sein Leben fristen kann, war bereits in dieses oder jenes Händen. Ich wanderte durch die Stadt und suchte nach einem Hause, wo man vielleicht einen jungen Mann zum Wegelaufen und Fensterputzen brauchen konnte. Aber ich hatte nicht den Mut, in die Läden zu gehen und zu fragen. Jedesmal, wenn ich schon im Begriff stand, den Versuch zu wagen, erblickte ich irgendeinen alten Kaffer von einem Heringsbändiger und entschloß mich, mich von ihm sicherlich nicht herumkommandieren zu lassen und lieber das nächste Lokal aufzusuchen, da mir ja die ganze Stadt zur Auswahl offen stand. Schließlich, ganz spät am Nachmittage, bemerkte ich einen Zettel, der an einer Art gymnastischen Instituts angeschlagen war; während ich das Ding las, kam ich mit Ned Skene, dem Besitzer, der rauchend vor der Tür saß, ins Gespräch. Ich gefiel ihm, und er bot mir an, mich als etwas wie einen Jungen für alles bei sich zu behalten. Da ich nur zu froh über diese Aussicht war, so schloß ich unverzüglich mit ihm ab.
Mit der Zeit eignete ich mir eine derartige Fertigkeit mit den Handschuhen an, daß Ned Skene mich gegen einen Leichtgewichter namens Ducket herausstellte, und einen Haufen Geld auf meinen Sieg wettete. Nachdem er doch einmal so freundlich zu mir gewesen war, konnte ich ihm nicht gut eine Enttäuschung bereiten.
Mrs. Skene hatte sich meiner angenommen, als ob ich ihr eigener Sohn gewesen wäre. Was konnte ich denn anderes tun, als mein tägliches Brot zu nehmen, wie es mir geboten wurde? Zu etwas anderem war ich nicht zu brauchen. Selbst wenn ich imstande gewesen wäre, eine gute Handschrift zu schreiben und Bücher zu führen, an den einen Gedanken hätte ich mich doch nicht gewöhnen können, daß es für einen Mann die richtige Beschäftigung sei, Papier vollzukratzen und anderer Leute Geld nachzuzählen. Nicht was der Mensch gern tun möchte, muß er auf dieser Welt betreiben, sondern das, was er kann; und das einzige Ding auf Gottes weiter Welt, das ich einigermaßen konnte, war eben boxen. Damit gab es unter meinen Bekannten Geld und Ehre und Ruhm die Hülle und Fülle zu erwerben. Ich ließ Ducket also herausfordern und hieb ihn in ungefähr zehn Minuten in Fetzen. Fast hätte ich ihn totgeschlagen, denn ich kannte meine Kraft noch nicht und fürchtete mich vor ihm. Seitdem habe ich mich immer mit derselben Sache befaßt; mir ist auch niemals eine Beschäftigung anderer Art in die Quere gekommen. Als ich mit dem alten Esel Mellish in Wiltstocken wohnte, trainierte ich für einen Zweikampf. Diese Geschichte fand an dem Tage statt, wo Sie mich mit meinem geschwollenen Auge in Clapham gesehen haben. Seit Wiltstocken ist es alle mit mir.
Trotz aller meiner Boxerei bin ich so windelweich wie ein Baby; von der Zeit an, wo ich herausbekam, daß meine Mutter kein Engel war, ist es mir immer so gewesen, als ob mir der wahre Engel noch einmal im Leben in den Weg laufen würde. Sie müssen nämlich wissen – aus Weibern habe ich mir nie viel gemacht. Wie schlecht meine Mutter auch sein mochte, wenn man sozusagen das Elterliche in Betracht zieht – sie hatte doch so ein gewisses Etwas in ihren Blicken und in ihrem Wesen, woraus ich mir wenigstens ein besseres Bild von dem machen konnte, was eine nette Frau eigentlich ist, als ich wohl sonst über mancherlei andere Dinge Bescheid wissen mag; und die Mädels, die ich in Australien und Amerika kennen lernte, schienen mir im Vergleich zu ihr, was Vorzüge anbetraf, doch nur sehr knapp gemessen. Außerdem waren sie auch natürlich keine richtigen Damen. Mrs. Skene hatte ich sehr gern, weil sie gut zu mir war; und ich kehrte ihr zu Gefallen den Mädels gegenüber, die sie besuchen kamen, den Liebenswürdigen heraus; in Wahrheit aber konnte ich sie nicht verknusen. Mrs. Skene sagte, sie wollten mich alle angeln – Weiber sind nämlich wie toll auf einen Boxer, der etwas kann – je mehr sie aber ihre Mätzchen mit mir versuchten, desto weniger konnte ich sie leiden. Daran war nun einmal nichts zu ändern: mit Männern kam ich gut aus, so ordinär sie auch sein mochten; den Frauenzimmern gegenüber aber brach das Snobtum meiner Abstammung wieder durch.
An dem Tage, wo ich Sie in Wiltstocken aus den Bäumen hervortauchen und plötzlich dastehen und ruhig auf mich und Mellish hinüberblicken sah, und wie Sie sich dann ohne ein einziges Wort umwandten und mir wieder aus den Augen verschwanden – der Teufel soll mich holen, wenn ich damals nicht dachte, Sie wären der Engel, der nun endlich doch gekommen wäre. Dann traf ich Sie auf der Eisenbahnstation und begleitete Sie ein Stückchen Wegs. Die Idee mit dem Engel haben Sie mir ja schnell genug aus dem Kopf getrieben; ein Engel ist doch schließlich nur eine kindische, schattenhafte Einbildung – ich glaube, das mit den Engeln im Himmel ist lauter Humbug – aber Sie haben mir eine bessere Kenntnis als Mama von dem verschafft, was eine Frau wohl sein sollte; und Sie haben dieser Erkenntnis entsprochen und sie noch weit übertroffen.
Vom ersten Augenblick an habe ich Sie lieb gehabt; und wenn Sie nicht mein werden, dann ist es mir ganz egal, was mit mir geschieht. Ich weiß, daß mit mir nicht viel los ist, niemals viel los gewesen ist; als ich Sie aber am Umgange mit all den Kerlen Gefallen finden sah, die genau so wenig wert sind als ich, da konnte ich auch nicht begreifen, warum ich mich von Ihnen fernhalten sollte, wo ich doch vor Sehnsucht nach Ihnen umkam. Schlechter als der Hundebrater bin ich jedenfalls nicht. Und Himmeldonnerwetter, Miß Lydia – dicke tun will ich mich ja nicht – aber es gibt beim Preisboxen ebenso wie bei allem andern eine anständige und eine schmierige Manier – und ich habe mir von jeher Mühe gegeben, bei der anständigen zu bleiben. Nie im Leben habe ich mich auf Kompromisse oder Scheinhiebe eingelassen, niemals einen faulen Schlag ausgeteilt. Ich bin auch niemals geschlagen worden, wenngleich ich doch nur mittelschwer bin, und gegen die besten Zwei-Zentner-Boxer in England, den Vereinigten Staaten und den Kolonien meinen Mann gestanden habe.«
Cashel hielt inne. Er betrachtete Lydia mit forschenden Augen; sie hatte unbeweglich dagesessen und sagte jetzt mit nachdenklicher Miene:
»Ich stand doch mehr unter dem Einflusse von Vorurteilen, als ich es selbst wußte. Was werden Sie von mir denken, wenn ich Ihnen erkläre, daß mir Ihr Beruf nicht mehr halb so abstoßend erscheint, nachdem ich erfahren habe, daß Sie der Sohn einer Künstlerin sind und nicht ein Schlächtergeselle oder Tagelöhner, wie mir mein Vetter gesagt hat?«
»Was?« rief Cashel. »Dieser Lümmel mit dem knochigen Laternengesicht hat Ihnen erzählt, ich wäre ein Schlächtergeselle?«
»Ich wollte ihn nicht verraten. Leider bin ich aber, wie schon gesagt, im Bewahren von Geheimnissen sehr ungeschickt. Herr Lucian Webber ist mein Vetter und Freund und hat mir manchen Dienst erwiesen. Darf ich darauf rechnen, daß er von Ihnen nichts zu fürchten braucht?«
»Er hat kein Recht, über mich Lügen in Umlauf zu setzen. Er ist in Sie verschossen – mir ist schon in Wiltstocken ein Licht aufgegangen. Ich verspüre nicht übel Lust, ihm die Augen darüber zu öffnen, ob ich ein Schlächtergeselle bin oder nicht.«
»Mit solcher Bestimmtheit hat er sich nicht ausgedrückt. Was er mir von Ihnen mitteilte, soweit dies überhaupt der Fall ist, das haben Sie mir durch Ihre Eröffnung aufs genaueste bestätigt. Ich fragte ihn nur zufällig, zu welcher Gesellschaftsklasse Männer Ihres Berufs gemeiniglich gehörten, worauf er mir erklärte, daß sie im allgemeinen Tagelöhner, Schlächter und dergleichen wären. – Tragen Sie ihm das nach?«
»Ich sehe wenigstens deutlich genug Ihr Bestreben, mich ihm nichts nachtragen zu lassen. Ich wüßte gern, was er sonst noch von mir gesagt hat. Im übrigen hatte er nicht ganz unrecht. Es gibt alle Arten von Rauhbeinen im Ring; das zu leugnen wäre zwecklos. Seitdem das Preisboxen gesetzlich nicht erlaubt ist, wollen anständige Leute sich nicht daran beteiligen. Wie dem auch sei – nicht die Boxer sind es, sondern die Wettonkel, die den Ring in Mißkredit bringen. Ich wünschte, Ihr Vetter hätte sein loses Maul gehalten.«
»Ich wünschte. Sie wären ihm zuvorgekommen und hätten mir die Wahrheit gesagt.«
»Das wünsche ich jetzt auch. Mit dem Wünschen ist aber nichts getan. Ich konnte mich eben nicht der Gefahr aussetzen, Sie zu verlieren. Sehen Sie doch, wie schnell Sie mir Ihr Haus verboten haben, sobald Sie dahinter gekommen sind.«
»Das hat an der ganzen Sachlage nur recht wenig geändert,« meinte Lydia ernst.
»Sie waren immer gut und freundschaftlich zu mir,« sagte Cashel in wehmütigem Tone.
»Mehr als Sie zu mir. Sie hätten mich nicht täuschen sollen. Und jetzt, glaube ich, ist es besser, wir trennen uns. Ich freue mich, Ihre Lebensgeschichte zu kennen; und ich gebe zu, daß Sie vielleicht die beste Wahl getroffen haben, die die menschliche Gesellschaft Ihnen geboten hat. Ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf.«
»Aber den Abschied geben Sie mir. Soviel heißt es doch?«
»Was schlagen Sie denn sonst vor, Herr Cashel Byron? Mich in den Zwischenräumen, wo Sie keine Schlächter und Tagelöhner verprügeln und zu Krüppeln schlagen, in meinem Hause zu besuchen?«
»Nein, das nicht,« entgegnete Cashel. »Sie machen's mir recht schwer. Ich will jetzt nicht länger im Ring verbleiben: ich habe zu viel Glück gehabt, als daß es andauern könnte. Auf alle Fälle werde ich mich – mit Glück oder ohne Glück – ohnedies bald zurückziehen müssen, weil es niemand mit mir aufnehmen kann. Schon jetzt ist außer Bill Paradise keiner da, der gegen mich aufzutreten wagt; und wenn er's wirklich so meint, dann werde ich im September auch mit ihm fertig. Dann ziehe ich mich zurück. Wenn's soweit kommt, werde ich meine zehntausend Pfund zusammen haben. Zehntausend Pfund sind nach dem, was man mir sagt, dasselbe wie fünfhundert Pfund jährlich. Nach der Art, wie Sie hier leben, nehme ich an, daß Sie ungefähr das gleiche zu verzehren haben – von Ihrem Landsitz abgesehen. Wenn Sie mich also heiraten, so verfügen wir zusammen über tausend Pfund das Jahr. Von Geldsachen verstehe ich zwar nicht sonderlich viel – aber davon können wir jedenfalls wie die Prinzen leben. Das ist ein ehrlicher und vernünftiger Vorschlag, nicht wahr?«
»Und wenn ich ihn zurückweise?« fragte Lydia mit einem gewissen Aufwand von Härte.
»Dann können Sie die zehntausend Pfund haben und damit anfangen, was Ihnen beliebt,« erwiderte Cashel verzweiflungsvoll. »Was aus mir wird, ist ganz einerlei. Ich werde schon um keiner Frau willen vor die Hunde gehen – so lange es auf mich ankommt. Ich werde – aber was hat das für einen Sinn, daß Sie sagen, ›wenn‹ ich ihn zurückweise. Ich weiß, daß ich mich nicht richtig ausdrücke. Mit Gefühlssachen weiß ich nur schlecht Bescheid. Eins aber sage ich Ihnen – selbst wenn ich ein solches Mundwerk hätte wie irgendeiner von den langhaarigen Kerls vom letzten Freitag – ich könnte Sie nicht lieber haben noch Sie höher schätzen, als ich es tue.«
»Sie sind aber hinsichtlich der Höhe meines Einkommens sehr im Irrtum.«
»Das ist ganz Wurst. Haben Sie mehr, desto besser – wer lang hat, läßt lang hängen. Haben Sie aber weniger oder müssen Sie bei einer Heirat Ihren ganzen Besitz einbüßen – na, dann will ich schon bald genug neue zehntausend verdienen, um den Verlust wieder quitt zu machen. Geben Sie mir nur ein einziges gutes Wort – und, beim Himmel, ich boxe mit allen sieben Champions auf dem Erdenrund, mit allen sieben gleich hintereinander weg, zu fünftausend Pfund pari. Ich pfeife aufs Geld!«
»Ich bin reicher als Sie denken,« entgegnete Lydia unbeirrt. »Zwar kann ich Ihnen nicht genau angeben, wieviel ich mein eigen nenne, mein Einkommen aber beläuft sich auf ungefähr vierzigtausend Pfund.«
»Vierzigtausend Pfund!« rief Cashel. »Heiliger Bimbam! Nicht einmal von der Königin hätte ich gedacht, daß sie soviel hätte.«
Einen Augenblick lang gab er sich ganz seinem Staunen hin. Dann begann er die Sachlage zu erfassen und wurde über und über rot. Mit einer Stimme, die der Schmerz der Beschämung fast brach, sagte er: »Jetzt sehe ich, daß ich recht albern war.« Dann nahm er seinen Hut und wandte sich zum Gehen.
»Es ist nicht unbedingt nötig, daß Sie deswegen sofort und ohne ein Wort davonlaufen,« meinte Lydia, die jetzt zum erstenmal während der ganzen Unterredung ein gewisses Maß von Unruhe zur Schau trug.
»Ach, das ist ja lauter Quatsch!« rief Cashel. »Solange ich meine Augen zu habe, mag ich mich wohl albern benehmen; sind sie aber einmal offen, so bin ich auch vernünftig genug. Ich habe hier nichts zu suchen. Hätte 's der Himmel doch nur gewollt, ich wäre in Australien geblieben!«
»Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen,« meinte Lydia verwirrt. »Da wir nun aber doch schon zusammengetroffen sind, ist es nutzlos, darüber zu klagen. Und dann – –. Auf eins möchte ich Sie aufmerksam machen. Sie haben angedeutet, daß ich Männer zu meinen Freunden mache, deren Beruf nicht besser ist als der Ihre. Das gebe ich nicht in vollem Umfange zu; in einer Hinsicht aber stehen sie auf demselben Standpunkt wie Sie. Soweit weltliche Güter in Frage kommen, sind sie alle viel ärmer als ich. Die meisten von ihnen sind, fürchte ich, sogar ärmer – viel, viel ärmer als Sie.«
Cashel sah mit einem Blick wiederkehrender Hoffnung schnell zu ihr auf; aber die Hoffnung dauerte nur einen Augenblick. Er schüttelte traurig den Kopf.
»Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar,« setzte sie hinzu. »Sie haben mir Ihre Neigung um meiner selbst willen geschenkt – ohne etwas von meinem Reichtum zu wissen.«
»Das will ich meinen,« stöhnte Cashel. »Für die anderen Kerle mag Ihr Reichtum wohl eine feine Sache sein; und ich bin froh, daß Sie ihn haben – Ihretwegen. Für mich aber ist's ein entscheidender Schlag. Leben Sie also wohl.«
»Leben Sie wohl,« wiederholte Lydia, die jetzt fast eben so bleich geworden war wie er, »da Sie es ja nun einmal so haben wollen.«
»Da es der Teufel so haben will!« meinte Cashel bitter. »Was habe ich davon, wenn ich mir wünsche, die Dinge lägen anders. Das Glück will mir nicht wohl. Ich hoffe nur, Miß Carew, Sie werden's mir nicht verübeln, daß ich so dämlich war. Es liegt nur an meiner verdrehten Weltunkenntnis – ich hab's nicht besser gelernt.«
»Ich nehme Ihnen gar nichts übel – mit Ausnahme unserer alten Differenz, daß Sie mir die Wahrheit verschwiegen haben. Die verzeihe ich Ihnen – soweit das Übel mich betrifft. Was nun die Eröffnung der Neigung angeht, die Sie mir persönlich entgegenbringen, so habe ich schon zahlreiche ähnliche, aber auch viel weniger schmeichelhafte Erklärungen angehört. Indes liegen doch offenbar gewisse Bedenken zwischen uns zutage. Sie werden einer Frau, die hundertfach reicher ist als Sie, nicht den Hof machen; und ich will keinen Preisboxer bei mir empfangen. Mein Reichtum schreckt jeden Mann, der kein Schurke ist, ab; und Ihr Beruf schreckt jede Frau ab, die keine [Furie] ist.«
»Dann würden Sie also – Sagen Sie mir nur das eine,« fragte Cashel gespannt. »Angenommen, ich wäre ein reicher Dandy und kein –«
»Nein!« unterbrach Lydia peremptorisch. »Ich will nichts annehmen, als was tatsächlich besteht.«
Cashel sank in seine Melancholie zurück. »Wenn Sie doch nur nicht so gut zu mir gewesen wären!« klagte er. »Ich glaube, ich habe Sie deshalb so fürchterlich lieb, weil Sie das einzige menschliche Wesen sind, das keine Angst vor mir hat. Die übrigen Leute sind höflich, weil sie sich der Blüte des Ringes gegenüber nicht anders zu benehmen wagen. Es ist recht einsam, ein Champion zu sein. Von alledem wußten Sie nichts und Sie wußten, daß ich mich vor Ihnen fürchtete – und doch waren Sie so gut wie ein Engel zu mir.«
»Es ist recht einsam, eine sehr reiche Frau zu sein. Die Leute haben Angst vor meinem Besitz und vor meiner sogenannten Bildung. In einer Hinsicht also haben wir wenigstens die gleichen Erfahrungen gemacht. So; und wenn Sie jetzt gehen wollten, würden Sie mir einen großen Gefallen tun. Wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen.«
»Ich gehe in zwei Sekunden. An Ihre Einsamkeit kann ich eigentlich nicht so recht glauben. Das ist nur Einbildung.«
»Möglich. Die meisten Empfindungen dieser Art beruhen auf Einbildung.«
Eine Pause trat ein. Nach einer Weile sagte Cashel:
»Jetzt bin ich nicht mehr halb so unglücklich wie vor einer Minute. Sie sind also ganz bestimmt nicht böse auf mich?«
»Ganz bestimmt nicht. Bitte – wollen wir uns nicht verabschieden?«
»Und soll ich Sie niemals wiedersehen? Niemals mehr – in Ewigkeit, amen?«
»Als berühmter Preisboxer – nie! Sollte aber der Tag kommen, wo Herr Cashel Byron etwas vorstellt, was seiner Geburt und seiner Art würdiger ist, so werde ich einen alten Freund nicht vergessen. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Cashels Gesicht strahlte vor Freude und er glaubte ein Klingen und Summen bis in die Haarwurzeln hinauf zu hören.
»Und jetzt noch eins!« sagte er. »Wenn Sie mich, ehe dieser Zeitpunkt eintritt, zufällig auf der Straße treffen, wollen Sie mir dann einen Blick gönnen? Ich bitte ja nicht um einen regelrechten Gruß – nur einen Blick, um mich im Gange zu halten?«
»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu schneiden,« entgegnete Lydia ernst. »Sie dürfen sich mir aber auch nicht absichtlich in den Weg stellen.«
»Auf Ehre und Gewissen – ich werde es nicht tun! Ich will mich damit begnügen, von Zeit zu Zeit durch jene Straße von Soho zu wandern. Und nun gehe ich wirklich: ich sehe es, Sie sitzen auf Kohlen, mich loszuwerden. Leben Sie also – halt! Noch einen Augenblick! Vielleicht werden Sie, wenn der Zeitpunkt eintritt, verheiratet sein?«
»Möglich ist es schon; wahrscheinlich aber werde ich mich nicht verheiraten. Wieviel mehr wollen Sie mir jetzt noch sagen, wozu Sie kein Recht haben?«
»Gar nichts mehr!« rief Cashel mit einem Lachen, das durch das ganze Haus dröhnte. »Nie in meinem ganzen Leben bin ich glücklicher gewesen, wenngleich ich innerlich die ganze Zeit hindurch heule. Versuchen werde ich's mit Ihnen sicherlich noch einmal. Auf Wiedersehen. Nein!« fügte er hinzu, indem er sich von der dargereichten Hand abwandte. »Ich wage Sie nicht anzurühren – ich könnte Sie sonst hinterher lebendig aufessen.« Er eilte zur Tür; auf der Schwelle aber machte er noch einmal halt und flüsterte halblaut: »Merken Sie sich's, ich bin mit Ihnen verlobt. Nicht, daß Sie sich mir anverlobt hätten – von meiner Seite aber ist es eine Verlobung!« Und dann rannte er aus dem Zimmer.
In der Halle stand Bashville mit bleichen, entschlossenen Zügen und hielt sich bereit, seiner Herrin auf deren ersten Ruf zu Hilfe zu eilen. Eine Feuerzange bewahrte er versteckt in der Hand. Da er gerade ein schallendes Gelächter vernommen hatte und Cashel in gehobener Stimmung die Treppe herunterkommen sah, so blieb er wie angewurzelt stehen und vermochte sich über die Sachlage nicht klar zu werden.
»Na, alter Junge!« meinte Cashel ungestüm mit einem Schlag auf die Schulter. »Sie sind also noch am Leben? Ist jemand im Eßzimmer?«
»Nein,« erwiderte Bashville.
»Auf dem dicken Teppich fällt man weich,« sagte Cashel, indem er den Diener mit sich in den Speisesaal zog. »Kommen Sie mit! So, und nun zeigen Sie mir Ihren kleinen Trick noch einmal. Vorwärts doch! Haben Sie keine Angst – ich tue Ihnen nichts. Nieder mit mir! Geben Sie acht, daß Sie mich nicht mit dem Kopf gegen den Kaminvorsatz stoßen!«
»Aber –«
»Nichts von aber! Vorhin waren Sie schnell genug bei der Hand. Vorwärts also!«
Nach einem kurzen Zögern griff Bashville zu; Cashel wurde augenblicklich aufmerksam und ernst und blieb unentwegt so, während der andere ihn mit großem Geschick warf. Eine Weile blieb er nachdenklich auf dem Teppich sitzen, ehe er sich wieder erhob. »Ich verstehe,« sagte er, sich aufrichtend. »Jetzt machen Sie's noch einmal!«
»Es verursacht solchen Lärm,« widersprach Bashville.
»Nur noch einmal. Verlassen Sie sich drauf, jetzt gibt's keinen Lärm.«
»Na, Sie sind ja ein origineller Kerl!« erwiderte Bashville entgegenkommend. Statt aber seinen Gegner werfen zu können, fühlte er sich plötzlich in einen aus Cashels Armen bestehenden Halskragen eingezwängt, dessen geringste Verengung ihn unweigerlich erwürgt haben würde. Cashel brach von neuem in ein dröhnendes Gelächter aus, als er seine Beute losließ.
»So wird's gemacht, nicht wahr?« fragte er. »Einen alten Fuchs fängt man nicht zweimal in derselben Falle. Kennen Sie noch mehr solche Griffe?«
»Oh ja,« meinte der Diener. »Hier kann ich sie Ihnen aber wirklich nicht zeigen. Ich werde mir wegen des Lärms Unannehmlichkeiten zuziehen.«
»Wenn Sie Ihren Ausgehtag haben, können Sie mich mal besuchen,« sagte Cashel, ihm seine Karte einhändigend, »und mir Ihre Kenntnisse zeigen. Ich werde dann sehen, was ich mit Ihnen anfangen kann. Aus Ihnen läßt sich etwas machen.«
»Sehr liebenswürdig,« entgegnete Bashville, der die Karte grinsend in die Tasche schob.
»Und jetzt will ich Ihnen einen Ratschlag erteilen, der Ihnen Ihr Lebtag lang von Nutzen sein wird,« sagte Cashel nachdrücklich. »Sie haben heute eine ganz verfluchte Dummheit begangen. Sie haben einen Mann geworfen – einen Boxer – und dann dagestanden und ihn beguckt wie ein Narr und gewartet, bis er aufstand und Sie umbrachte. Wenn Sie noch einmal in die Lage kommen, so fallen Sie mit aller Wucht über ihn her – im Augenblick, wo er nicht mehr auf seinen Beinen steht. Drücken Sie sich mit den Schultern auf ihn, und wenn er Sie überzieht, stoßen Sie ihn mit Ihrem Kopf. Greift er nach Ihrem Arm und wendet er Sie um, so stemmen Sie sich mit aller Macht auf den Hinterkopf. Ist er aber überhaupt zu stark und groß für Sie, so setzen Sie ihm wie zufällig das Knie auf die Kehle. Auf keinen Fall aber dürfen Sie dastehen und nichts tun. Das heißt die Vorsehung herausfordern.«
Cashel verlieh jedem dieser Ratschläge durch einen bedeutungsvollen, mittelst des Zeigefingers auf Bashvilles Knöpfe geführten Stoß besonderen Nachdruck. Zum Abschluß nickte er ihm freundlich zu, öffnete die Haustür und schritt in denkbar vergnügtester Stimmung davon.
Lydia stand am Fenster des Bibliothekszimmers und blickte ihm nach, wie er vorbeiging. Es fiel ihr auf, daß sein leichter, lebhafter Schritt, eine gewisse muntere Sicherheit in der Haltung ihn von den Passanten unterschied – von einem gemächlich promenierenden Gentleman mittleren Alters, einem Arbeiter mit schleppendem Gang und einem weit ausschreitenden Jüngling. Das Gitter, durch das sie ihn sah, ließ sie an die gefährlichen, staunenerregenden Lebewesen denken, die dort drüben im Park hinter Eisenstäben auf und nieder schlichen. Dabei frohlockte sie in der ihr eigenen, ruhigen Art bei dem Gedanken, daß sie, wie gefährlich er auch sein mochte, keine Furcht vor ihm verspürte. Als sein Droschkenkutscher ihn gefunden und davongefahren hatte, öffnete sie eine Privatschublade ihres Schreibtisches und nahm ihres Vaters letzten Brief hervor. Eine ganze Weile hindurch saß sie da und starrte die Bogen an, ohne sie zu entfalten.
»Es wäre doch eigentlich recht seltsam, Vater,« sagte sie, als ob er tatsächlich anwesend wäre und sie hören könnte, »wenn dein Inbegriff aller Vollkommenheit als Frau eines recht unvollkommenen Preisboxers enden sollte. Verzweiflung schnürte mir fast das Herz zu, als er mir auf die Eröffnung meiner jährlichen vierzigtausend Pfund mit einem unwiderlegbaren Lebewohl antwortete. Und jetzt ist er mit mir verlobt!«
Sie schloß sozusagen ihren Vater wieder ins Schubfach und läutete. Bashville erschien etwas verwirrt.
»Sollte Herr Byron wieder vorsprechen, so lassen Sie ihn eintreten, falls ich zu Hause bin.«
»Sehr wohl, Madam.«
»Sonst nichts.«
»Mit Verlaub, Madam, darf ich vielleicht fragen, ob über mich Klage geführt worden ist?«
»Keineswegs.«
Bashville zog sich bereits zögernd zurück, als sie noch hinzufügte:
»Herr Byron hat mir zu verstehen gegeben, Sie hätten sein Eintreten gewaltsam zu verhindern versucht. Sie haben sich damit einer unnötigen Gefahr ausgesetzt. In Zukunft mögen Sie sich's zur Regel machen, zudringliche Leute, die sich auf Ihre Aufforderung nicht entfernen wollen, lieber vorzulassen – bis Sie gegenteilige Instruktion erhalten. Ich bin durchaus nicht mit Ihnen unzufrieden. Ganz im Gegenteil, ich anerkenne die Entschlossenheit, mit der Sie meinen Anordnungen nachkommen. Abgesehen von Ausnahmefällen können Sie immer nach Ihrem eigenen besten Ermessen vorgehen.«
»Er schlug mir die Tür ins Gesicht – und ich handelte unter dem Impuls des Augenblicks, Madam. Sie werden es mir hoffentlich nachsehen, daß ich mir die Freiheit genommen habe, die Boudoirtür zu schließen. Er ist älter und schwerer als ich, Madam – und dann hat er noch den Vorteil, ein Professioneller zu sein. Sonst hätte ich schon meinen Mann gestanden.«
»Ich bin jetzt vollkommen informiert,« sagte Lydia etwas kühl, als sie das Zimmer verließ.
»Wie schrecklich lange Sie fortgeblieben sind,« rief Alice halb in Weinkrämpfen, als Lydia bei ihr eintrat. »Ist er fort? Was war das nur für ein entsetzliches Geräusch? Ist denn irgend etwas los?«
»Zu lange aufbleiben und tanzen – das ist los!« entgegnete Lydia. »Die Saison geht allmählich über Ihre Kräfte, Alice.«
»Die Saison ist es nicht – der Mann ist es,« schluchzte diese.
»Ach, nicht möglich? Ich habe mich mit dem Mann über eine halbe Stunde lang unterhalten. Bashville hat einen wirklichen Zweikampf mit ihm bestanden. Und wir haben beide keine Nervenkrisen. Sie haben doch hier ganz ruhig und bequem gesessen, nicht wahr?«
»Ich habe auch keine Nervenkrise,« entgegnete Alice empört.
»Desto besser,« meinte Lydia ernst, indem sie ihr die Hand auf die Stirn legte.
Alice ließ es naserümpfend über sich ergehen.