Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Miß Carew führte ohne Zögern den Plan ihrer Übersiedlung nach London aus, woselbst sie ein Haus in Regents Park mietete – allerdings zu Alices großer Enttäuschung, die auf ein Leben in Mayfair oder zum wenigsten doch in South Kensington gehofft hatte. Lydia aber legte besonderen Wert auf den höher gelegenen nördlichen Stadtteil und die frische Luft des Parks; und Alices Glücksgefühl erreichte fast seinen Höhepunkt, wenn sie in einer eleganten Equipage in eleganten Kleidern durch London fuhr.
Diese Fahrten sagten ihr mehr zu als Konzerte mit Darbietungen klassischer Musik, für die sie keine besondere Vorliebe besaß, oder gar die Oper, die sie des öfteren besuchten. Die Theater gefielen ihr besser, wenngleich die Unterhaltungen dort zahmerer Art waren, als sie es eigentlich erwartet hatte. Die ›Gesellschaft‹ bot ihr einen Born des Genusses, insofern es die echte Londoner Gesellschaft war. Das Tanzen wurde bei ihr fast zur Manie; sie ging allabendlich aus und kam sich selbst weit vornehmer und anziehender vor, als sie es jemals in Wiltstocken gewesen war, woselbst sie doch über ihre eigene Persönlichkeit und ihre Manieren eine sehr günstige Meinung aufrecht erhalten hatte.
Lydia nahm nicht an allen diesen Unterhaltungen teil. Sie besorgte mit Leichtigkeit die nötigen Einladungen und Gardedamen für Alice, die es nicht begreifen konnte, warum ein so intelligentes weibliches Wesen wie Lydia sich der Mühe unterzog, einem öden Konzert bis zu Ende beizuwohnen und dann nach Hause zu gehen – gerade, wenn das wahre Amüsement des Abends erst begann.
Eines Sonnabend morgens beim Frühstück sagte Lydia:
»Ihr langes Ausbleiben fängt an, der Frische Ihres Aussehens zu schaden, Alice. Ich selbst habe mich etwas mit literarischen Arbeiten ermüdet. Ich will heute einmal zum Kristallpalast fahren und etwas in den Gärten spazieren gehen. Nachmittags findet ein Konzert statt, bei dem auch Madame Szczympliça mitwirkt, deren Spiel Ihnen ja nicht besonders gefällt. Wollen Sie mich begleiten?«
»Selbstverständlich,« entgegnete Alice mit entschlossener Dienstfertigkeit.
»Freiwillig, nicht selbstverständlich,« verbesserte Lydia. »Haben Sie morgen abend etwas vor?«
»Am Sonntag? O nein! Und außerdem, ich gehe von der Ansicht aus, daß meine sämtlichen Verabredungen von Ihren Dispositionen abhängig sind.«
Eine Pause trat ein, die lang genug war, um die Wirkung dieser Versicherung verloren gehen zu lassen. Alice biß sich auf die Lippen. Dann fragte Lydia:
»Kennen Sie Mrs. Hoskyn?«
»Mrs. Hoskyn, die Sonntags abend Gesellschaften gibt? Zu ihr wollen wir gehen?« erkundigte sich Alice mit sichtlichem Eifer. »Man hat mich schon mehrfach gefragt, ob ich zu einer ihrer Soireen geladen gewesen bin. Ich kenne sie aber nicht – wenngleich ich sie schon gesehen habe. Ist sie nett?«
»Sie ist eine junge Frau, die viel Kunstkritiken gelesen und viel tiefe Eindrücke daraus gesammelt hat. Sie hat ihrem Hause einen gewissen Ruf erworben, indem sie alle bedeutenden Leute, mit denen sie zusammenkommt, bei sich versammelt und ihnen den Aufenthalt dann derartig angenehm gestaltet, daß sie mit Vorliebe wieder zu ihr gehen. Zu ihrem Glück aber hat sie ihre Kunstschwärmerei nicht die Oberhand über ihren gesunden Menschenverstand gewinnen lasten. Sie hat einen wohlhabenden Geschäftsmann geheiratet, der wahrscheinlich, seitdem er der Schule entwachsen ist, nichts anderes gelesen hat als die Zeitung. Ich glaube, es gibt in ganz England kein glücklicheres Paar.«
»Ich nehme an, daß sie vernünftig genug war, sich bewußt zu werden, daß sie sich eine allzu kritische Auswahl nicht gestatten konnte,« meinte Alice selbstzufrieden. »Sie ist sehr häßlich.«
»Finden Sie? Sie hat viele Verehrer und soll, soviel ich gehört habe, ehe sie Mr. Hoskyn kennen lernte, mit dem Maler Herbert verlobt gewesen sein. Morgen abend werden wir auch Herrn Herbert dort treffen und noch eine ganze Anzahl von Berühmtheiten: die Pianistin Szczympliça, Owen Jack, den Komponisten, den Erfinder Conolly und viele andere mehr. Es ist eine Veranstaltung besonderer Art, insofern Herr Abendgasse, ein bedeutender deutscher Sozialist und Kritiker, einen Vortrag über ›Wahrheit in der Kunst‹ halten wird. Wenn Sie in der Gesellschaft von ihm reden, müssen Sie darauf achten, ihn als Soziologen und nicht als Sozialisten zu bezeichnen. Liegt Ihnen besonders viel an seinem Vortrag?«
»Er wird ohne Zweifel sehr interessant sein,« erwiderte Alice. »Ich möchte die Gelegenheit, zu Mrs. Hoskyn zu kommen, auf keinen Fall verscherzen. Ich werde so oft danach gefragt, ob ich schon bei ihr gewesen bin, ob ich sie kenne und die verschiedenen berühmten Persönlichkeiten, daß ich mich durch meine ländliche Unwissenheit sehr geniert fühle.«
»Ich wollte eigentlich erst nach dem Vortrag hingehen,« setzte Lydia hinzu. »Herr Abendgasse ist ein großer Enthusiast und ein glänzender Redner – aber nicht originell. Und da ich alle seine Ideen schon direkt von ihren Erfindern eingesogen habe, fühle ich mich nicht veranlaßt, sie mir noch einmal von ihm erklären zu lassen. Wenn Sie also kein besonderes Interesse daran haben –«
»Nicht das geringste. Wenn er ein Sozialist ist, so möchte ich seinem Vortrage lieber nicht beiwohnen – besonders nicht am Sonntag abend.«
Demzufolge kam man überein, erst nach dem Vortrag bei Mrs. Hoskyn zu erscheinen. In der Zwischenzeit fuhren sie nach Sydenham, wo Alice mit provinzlerischer Neugier den Kristallpalast durchwanderte und Lydia ihr die Örtlichkeiten mit enzyklopädischer Genauigkeit erklärte. Nachmittags fand ein Konzert statt, bei dem ein Orchester verschiedene längere Musikstücke zum besten gab, an denen Lydia Gefallen zu finden schien, wenngleich sie von Zeit zu Zeit an den Musikern etwas auszusetzen hatte. Alice, die nicht in der Lage war, die Fehler in der Ausführung, oder die Schönheit in der Musik herauszufinden, tat dasselbe, was sie die übrigen tun sah – sie heuchelte Gefallen und applaudierte in geziemender Weise. Madame Szczympliça, mit der sie bei Mrs. Hoskyn zusammenzutreffen hofften, spielte eine Phantasie für Klavier und Orchester des berühmten Jack, eines Komponisten aus Mrs. Hoskyns Kreise. Auf dem Programm stand eine Analyse seiner Komposition, aus der Alice erfuhr, daß sie bei aufmerksamem Zuhören im Adagio die Engel singen zu hören vermöchte. Sie lauschte so aufmerksam, wie es ihr irgend möglich war; aber sie hörte keine Engel und war über alle Maßen verwundert, als das Publikum nach Beendigung der Phantasie Madame Szczympliça Beifall zollte, als ob sie ihnen Sphärenmusik zu hören gegeben hätte. Sogar Lydia schien über alle Maßen bewegt und sagte:
»Sonderbar, daß sie nur ein Weib ist wie wir alle, mit denselben engen Grenzen ihrer Existenz und denselben prosaischen Obliegenheiten, daß sie jetzt mit dem Zuge nach Victoria fährt und von da in einem gewöhnlichen Wagen ihr Haus erreicht – anstatt eine große Muschel zu besteigen und von Schwänen zu einem Zaubereiland entführt zu werden. Wenn sie spielt, muß ich an mich denken, wie ich früher war, als ich noch an ein Märchenland glaubte – als ich eigentlich über andere Länder noch recht wenig wußte.«
»Man sagt,« meinte Alice, »ihr Mann wäre furchtbar eifersüchtig, und sie mache ihm das Leben entsetzlich schwer.«
»Man sagt allerlei, was begabte Menschen auf das Niveau der eigenen Erfahrungen niederdrückt. Man hat auch ohne Zweifel recht. Ich habe Mr. Herbert noch nicht persönlich kennen gelernt; dafür kenne ich aber seine Bilder, aus denen hervorgeht, daß er alles liest und nichts sieht. Sie stellen alle Szenen dar, die in irgendeinem Gedicht geschildert werden. Wenn man nur ein einziges Mal einen gebildeten Mann finden könnte, der niemals ein Buch gelesen hätte! Was für ein entzückender Gesellschafter er sein müßte!«
Nach Beendigung des Konzerts fuhren sie nicht gleich in die Stadt zurück, da Lydia sich noch etwas in den Gärten zu ergehen wünschte. Als sie dann Sydenham den Rücken kehrten, nahmen sie einen Zug nach Waterloo und mußten deshalb in Clapham Junction umsteigen.
Es war ein schöner Sommerabend; und obgleich Alice der Ansicht lebte, daß es Damen gezieme, sich auf Eisenbahnstationen der Öffentlichkeit durch einen Rückzug in die Wartesäle zu entziehen, versuchte sie dennoch nicht, Lydia vom Auf- und Abgehen auf einem unbelebten Ende des Perrons, der in einem blumenbestellten Damm auslief, irgendwie abzuraten.
»Meiner Ansicht nach ist Clapham Junction einer der hübschesten Plätze in London.«
»Nicht möglich,« meinte Alice etwas maliziös. »Ich dachte, alle künstlerisch veranlagten Menschen erachteten Kreuzungsstationen und Schienenstränge für häßliche Flecke in der Landschaft.«
»Einige von ihnen,« entgegnete Lydia. »Aber das sind nicht Künstler unserer Generation. Und die, die ihr Geschrei aufnehmen, sind nicht besser als Papageien. Wenn jegliche Festtagserinnerung meiner Jugend, jede Flucht aus der Stadt auf das Land mit der Eisenbahn im Zusammenhang steht, so muß ich ihr andere Gefühle entgegenbringen, als mein Vater es tat, in dessen reiferes Mannesalter die Bahn als eine monströse eiserne Neuerung hereinbrach. Die Lokomotive ist eins der Wunder moderner Kindheit. Kinder scharen sich auf einer Brücke, um den Zug darunter hindurchfahren zu sehen. Kleine Jungen stolzieren die Straßen entlang und pfeifen und pusten dabei, um die Maschine nachzuahmen. All diese Romantik, so albern sie erscheinen mag, wird im späteren Leben zu etwas Heiligem. Und außerdem ist ein Eisenbahnzug ein schönes Ding, wenn er nicht unter der Erde in einem stickigen Londoner Tunnel einherfährt. Der reine weiße Flaum seines Dampfes steht mit jeglicher Variation der Landschaft in harmonischem Einklang. Und dann erst die Töne! Haben Sie jemals am Meeresufer gestanden, das ein Schienenstrang umsäumt, und auf den Zug gelauscht, wenn er in entlegener Ferne in Hörweite kommt? Anfänglich kann man ihn von dem Rauschen der See kaum unterscheiden; dann erkennt man ihn durch die Abwechslung der Laute: einen Augenblick lang wird der Schall in einer tiefen Einbuchtung abgeschnitten, im nächsten wirft ihn das Echo eines Hügels zurück. Zuweilen läuft der Zug mehrere Minuten lang leise dahin, dann ertönt plötzlich ein rhythmisches Gerassel, das fortwährend an Deutlichkeit und räumlicher Entfernung wechselt. Wenn er sich nähert, sollten Sie sich einmal in einen Tunnel stellen und dort stehen bleiben, während er vorbeifährt. Ich habe es schon getan: es war wie die letzten Passagen aus einer Beethovenschen Ouvertüre, wie gewaltiges Donnerbrausen. Ich kann nicht begreifen, wie jemand sich einbilden kann, die Eisenbahn durch einen Vergleich mit der Postkutsche herabzusetzen; ich habe eine ziemlich ausreichende Kenntnis von Postkutschen oder wenigstens von Diligencen. Die Wirkung, die die Postkutschen auf die mit ihr beschäftigten Männer ausübt, sollte die Superiorität des Dampfes ohne jegliche weitere Begründung klarlegen. Ich habe noch niemals einen Lokomotivführer gesehen, der nicht den Eindruck eines ausnehmend intelligenten Menschen machte; die Schriftsteller und Künstler aber, die das Andenken der Postkutschentage für uns aufgespeichert haben, können Postillone niemals ernst genommen oder sie für verantwortliche und zivilisierte Menschen gehalten haben. Eine Verunglimpfung der Eisenbahn vom idyllischen Standpunkte aus ist längst veraltet. Es gibt Millionen ausgewachsener Menschen in England, denen das ferne Geräusch eines Zuges dieselben lieblichen Empfindungen erweckt, wie das Flöten der Amsel. Und dann – aber ist das denn nicht Lord Worthington, der da aus dem Zug steigt? Jawohl, der auf dem dritten Bahnsteig von hier aus! Er – « Sie hielt inne.
Alice sah hinüber; doch sie erblickte weder Lord Worthington noch den Grund für eine kaum merkliche und doch erkenntliche Veränderung in Lydias Wesen.
»Wahrscheinlich nimmt er auch unsern Zug,« sagte Lydia schnell. »Wir wollen ins Wartezimmer gehen.«
Bei diesen Worten schritt sie schnell den Bahnsteig entlang.
Alice eilte ihr nach; sie hatten kaum den Wartesaal erreicht, dessen Türen nahe an der auf den Perron führenden Treppe lagen, als das laute Durcheinander männlicher Stimmen ihnen verkündete, daß die etwas geräuschvolle Gesellschaft die Stufen hinaufkam. Alsbald tauchte ein Mann in etwas schwankender Haltung aus ihrer Mitte hervor, begann einen auf Berauschtheit deutenden Tanz auszuführen und dazu zu singen, so gut es sein Zustand und seine musikalische Veranlagung ihm gestattete. –
Lydia stand am Fenster des Warteraumes und sah schweigend zu ihnen hinüber. Alice folgte ihrem Beispiel; sie erkannte in dem aufgeräumten Tänzer Herrn Mellish. Ihm folgten drei Männer – sie waren festlich angetan und in gehobener Stimmung, aber verhältnismäßig nüchtern. Dann kam Cashel Byron, der in recht auffälliger Weise ein Sammetjackett und prall anliegende rehfarbene Beinkleider trug, die seine Muskeln deutlich hervortreten ließen. Er schien gleichfalls völlig nüchtern; dafür aber war sein ganzes Aussehen etwas ungeordnet. Er zwinkerte häufig mit seinem linken Auge, dessen zunächst liegende Stirn- und Backenpartien weit gelber getönt waren, als mit seiner natürlichen Hautfarbe im Einklang stand, die auf der rechten Seite seines Gesichtes in sehr vorteilhafter Weise zutage trat. Cashel schritt geradenwegs auf Mellish zu, der sämtliche Umstehenden aufforderte, auf seine Kosten ›einen mit ihm zu nehmen‹; er ergriff ihn am Rockkragen und forderte ihn mit strenger Miene auf, die Narrenspossen beiseite zu lassen. Hieraufhin versuchte Mellish seinen Herrn zu umarmen.
»Mein lieber, einziger Junge!« rief er zärtlich. »Er ist mein Einziger, mein Unvergleichlicher! Cashel Byron gegen die ganze Welt und ohne Gewichtsausgleichung! Und soweit es sich um Bob Mellishs Geld handelt –«
»Du verdammter Süffel!« schalt Cashel, indem er ihn hin und her schüttelte, bis er ebenso schwindlig als betrunken war, und ihn dann zwang, sich auf eine Bank niederzulassen. »Man möchte fast glauben, du hättest noch niemals boxen gesehen oder noch niemals in deinem Leben eine Wette gewonnen.«
»Nur ruhig Blut, Byron,« meinte einer der anderen. »Da kommt seine Lordschaft.«
Lord Worthington erschien jetzt auf der Treppe; er war offenbar der Aufgeregteste von der ganzen Gesellschaft.
»Famoser Kerl!« rief er, indem er Cashel auf die Schulter klopfte. »Großartiger Kerl! Fünfhundert Pfund haben Sie heute für mich gewonnen! Sie sollen Ihren Anteil davon haben, altes Haus.«
»Ich habe ihn trainiert!« rief Mellish, indem er wieder nach vorn stolperte. »Ich habe ihn trainiert! Sie kennen mich doch, nicht wahr, Mylord? Sie kennen Bob Mellish, nicht wahr? Ein Wort mit Ihrer Lordschaft im Ver… Ver… Vertrauen. Ich frage Sie, wer versteht in England das Fleisch wegzubringen und die Muskeln herauszuholen? Sie sollen nur fragen – ich bitte Eure Lordschaft sehr um Verzeihung. Was genehmigen Sie, Mylord?«
»Um des Himmels willen, nehmen Sie sich doch in acht!« rief Lord Worthington, indem er Mellish ergriff, der gerade vorwärts den Schienen entgegentaumelte, »Sehen Sie denn den Zug nicht kommen?«
»Ich weiß, ich weiß,« entgegnete Mellish ernst. »Ich bin vollkommen in Ordnung – kein Mensch ist mehr in Ordnung als ich. Ich bin Bob Mellish. Sie sollen nur fragen – «
»Vorwärts, mach, daß du wegkommst!« meinte einer aus der Gesellschaft, ein kraftvoller Mann mit schrammigem Gesicht und eingeschlagener Nase, der Mellish beim Kragen packte und in den Zug hineinschob. »Sie müssen sich ein Stück Beefsteak auf Ihre Beule da legen, Byron. Es ist dieselbe Stelle, an der Sie den Holländer haben die Engel im Himmel pfeifen hören lassen. Sie haben mehr gelbe Farbe draufsitzen, als Sie wohl morgen in der Kirche zur Schau tragen möchten.«
Sie brachen alle in ein schallendes Gelächter aus und stiegen in ein Coupé dritter Klasse. Lydia und Alice fanden kaum Zeit, noch vor Abfahrt des Zuges ihre Plätze einzunehmen.
»Nein, das muß ich aber sagen,« meinte Alice, »wenn das die Leute sind, mit denen Cashel Byron und Lord Worthington verkehren, dann haben sie einen etwas eigentümlichen Geschmack.«
»Jawohl,« bestätigte Lydia fast grimmig. »Meine Sprachkenntnisse sind ziemlich ansehnlich; aber ich habe aus ihrer ganzen Unterhaltung nicht einen einzigen Satz verstanden, obgleich ich alles ganz deutlich hören konnte.«
»Das waren keine Gentlemen,« meinte Alice. »Sie sagen zwar, daß niemand nach dem Aussehen eines Menschen wissen kann, ob er ein Gentleman ist oder nicht. Sie können aber sicherlich nicht der Ansicht sein, daß diese Leute Lord Worthington gleichstehen.«
»Das tue ich auch nicht,« entgegnete Lydia. »Sie sind Raufbolde, und Cashel Byron ist der am deutlichsten kenntliche Raufbold von allen.«
Alice vermochte sich nicht vor Staunen zu fassen und wagte kein Wort zu sagen, bis sie dem Zuge auf der Viktoria-Station entstiegen. Vor dem Wagen, in dem Cashel Byron gefahren war, hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Alice versuchte, sich vorbeizudrängen; Lydia aber fragte einen Angestellten, ob irgend etwas geschehen sei.
Er teilte ihr mit, daß ein Betrunkener beim Aussteigen aus dem Zuge auf die Schienen gefallen und ohne Zweifel getötet worden wäre, wenn der Zug sich noch bewegt hätte. Lydia dankte dem Beamten und sah plötzlich, als sie sich von ihm abwendete, Herrn Bashville vor sich stehen, der seinen Hut grüßend berührte. Wenngleich sie ihm keinerlei Weisung erteilt hatte, sie hier zu erwarten, nahm sie seine Anwesenheit doch als etwas Selbstverständliches hin und fragte nach ihrem Wagen.
»Nein, Madam,« entgegnete Bashville, »dem Kutscher war nichts befohlen.«
»Allerdings. Holen Sie mir bitte ein Hansom.«
Während er sich entfernte, wendete sie sich zu Alice:
»Haben Sie Bashville aufgetragen, uns hier zu erwarten?«
»O mein Gott, nein! So etwas würde ich mir nicht einfallen lassen.«
»Merkwürdig! Er kennt seine Pflichten sonst besser, als ich sie kenne. Ich muß daher wohl annehmen, daß er richtig gehandelt hat. Er muß schon den ganzen Nachmittag hier gewartet haben, der arme Kerl.«
»Er hat ja auch sonst nichts weiter zu tun,« bemerkte Alice etwas unvorsichtig. »Da kommt er! Er hat uns ein ganz neues Hansom herausgesucht.«
Mittlerweile war Mellish unter dem Zuge hervorgezogen und einem seiner Begleiter aufs Knie gesetzt worden; er schien völlig geistesabwesend und hatte eine große Beule auf der Stirn. Das Auge war fast völlig zugeschwollen. Der Mann mit der eingeschlagenen Nase erwies sich nunmehr als ein kundiger Heilgehilfe. Während Cashel den Patienten auf dem Knie des andern festhielt, und der Rest der Gesellschaft die Menschenmenge mit einem Gemisch von Überredungskunst und Gewalt beiseite drängte, zog jener eine Lanzette hervor und behandelte die Geschwulst mit diesem Instrument. Dann verband er die Löcher zierlich mit zweckdienlichen Mitteln, die er bei sich trug, und brüllte Mellish schließlich ins Ohr, sich zusammenzuraffen. Der Trainer aber gab nur ein unartikuliertes Stöhnen von sich und ließ sein Haupt kraftlos auf seine Brust herniedersinken. Man nahm zu weiteren Rufen Zuflucht – aber umsonst. Cashel gab voll Ungeduld seiner Ansicht Ausdruck, daß Mellish simuliere; er erklärte sich nicht geneigt, länger dort zu stehen und zum Narren gehalten zu werden.
»Wenn er zu mir gehörte und nicht zu Ihnen,« meinte der Mann mit der eingeschlagenen Nase, »ich würde ihn schon bald genug aufwecken.«
»Ich werde Ihnen die Mühe sparen,« meinte Cashel, indem er sich mit gemessener Kühle niederbeugte und das Ohrläppchen des Trainers zwischen seine Zähne nahm.
»So wird's gemacht,« meinte der andere zustimmend, als Mellish jetzt laut aufschrie und auf seine Füße sprang. »Jetzt vorwärts mit dir!« Er ergriff Mellishs rechten Arm, Cashel nahm den linken, und sie schafften ihn gemeinsam fort – ohne Rücksicht auf seine Tränen, auf sein empörtes Sträuben, auf den Hinweis der Tatsache, daß er ein alter Mann sei, noch die mit Bitterkeit gemischte Frage, wo denn Cashel in diesem Augenblick wohl ohne seine sorgfältige Vorbereitung geblieben wäre.
Lord Worthington hatte sich diesen Zwischenfall zunutze gemacht, um sich von seinen Reisegefährten zu trennen und allein in seine Wohnung in Jermyn Street zu fahren. Er befand sich noch immer in größter Aufregung; und als sein Kammerdiener, ein alter Höriger, mit dem er auf sehr familiärem Fuße stand, ihm einen Brief brachte, der während seiner Abwesenheit eingetroffen war – fragte er ihn viermal, ob irgend welcher Besuch vorgesprochen habe und unterbrach die Antwort viermal durch abgerissene Ankündigungen über den großartigen Tag, den er verlebt habe, und das große Glück, das ihm zuteil geworden sei.
»Ich habe fünfhundert gewettet, daß es in einer Viertelstunde vorüber sein würde – und dann habe ich Byron zweihundertfünfzig zu eins gelegt, daß es nicht vorüber wäre. So muß man's machen – was meinen Sie, Bedford? Cashel soll sich zweihundertundfünfzig aus der Nase gehen lassen? Heiliges Donnerwetter, ein gerissener Junge ist er aber doch! Als die vierzehn Minuten um waren, da dachte ich, meine fünfhundert wären futsch. Der Holländer hatte noch einen Haufen in sich. Cashel ließ plötzlich nach und schien nicht mehr zum Angriff vorgehen zu wollen. Sie hätten nur die Augen des Holländers funkeln sehen sollen, als er auf ihn losging. Er war bombensicher, im Handumdrehen mit Cashel fertig zu werden.«
»Nicht möglich, Mylord! Das war ja fürchterlich!«
»Und ob es fürchterlich war! Ich bin selbst darauf hereingefallen. Alles war nur gemacht, um den Kerl auszupumpen. Heiliges Donnerwetter, Bedford – Sie hätten nur sehen sollen, wie Cashel mit der rechten Hand zuhieb. Nein, Sie hätten es gar nicht sehen können – es ging viel zu schnell. Der Holländer lag in festem Schlaf am Boden, ehe er überhaupt wußte, daß er eins sitzen hatte. Bis er wieder zu sich kam, hatte Byron schon fünfzehn Pfund für ihn gesammelt. Er muß jetzt ein verflucht komisches Gefühl in den Kinnladen verspüren. Heiliges Donnerwetter, Bedford – Cashel ist ein wahres Wunder. Ich würde jeden Heller, den ich besitze, auf ihn gegen irgend jemand auf der Welt wetten. Er macht einen ordentlich stolz darauf, ein Engländer zu sein.«
Bedford starrte mit unterwürfiger Bewunderung auf seinen Herrn, der, von Begeisterung verklärt, hastig im Zimmer auf und nieder schritt, von Zeit zu Zeit die Faust ballte und einen eingebildeten Holländer zu Boden streckte. Schließlich faßte sich der Diener ein Herz und machte ihn auf das vergessene Schreiben aufmerksam.
»Der Teufel soll den Brief holen!« rief Lord Worthington. »Das ist Mrs. Hoskyns Handschrift – eine Einladung oder ein ähnlicher Blödsinn. Her damit!«
›Campden Hill Road. Sonnabend.
Mein lieber Lord Worthington.!
Ich bin meines Versprechens wohl eingedenk, Ihnen den Anblick der berühmten Mrs. Herbert – Madame Simplicita, wie Sie sie nennen – aus allernächster Nähe zu verschaffen. Sie kommt morgen abend zu uns; falls es Ihnen recht ist, werden wir Sie mit großem Vergnügen bei uns sehen. Um neun Uhr hält uns Herr Abendgasse, ein berühmter deutscher Kunstkritiker und mein besonderer Freund, einen Vortrag über das ›Wahre in der Kunst‹. Ich mache Ihnen aber nicht das Kompliment, mich zu der Behauptung aufzuschwingen, daß Sie diesem Vortrag viel Interesse abgewinnen. Kommen Sie also um zehn oder um halb elf, wenn der ernste Teil der abendlichen Veranstaltung vorüber ist.‹
»Es geht doch nichts über Frechheit!« meinte Lord Worthington mit einer Unterbrechung seiner Lektüre. »Weil ich mein Leben in rationeller Weise genieße, bilden diese Weiber sich ein, daß ich bei einem Bild nicht vorn und hinten unterscheiden kann oder den Inhalt eines Buches mit dem Umschlag verwechsle. Ich werde mich pünktlich um neun Uhr einfinden!«
›Ich nehme an, daß keiner Ihrer Bekannten etwas für Kunst übrig hat. Könnten Sie nicht eine oder zwei Berühmtheiten mitbringen? Es liegt mir sehr viel daran, Herrn Abendgasse eine möglichst auserlesene Zuhörerschaft zu bieten. Indes wird er sich, wie die Dinge liegen, kaum zu beklagen brauchen, da ich mir schmeichle, mir ohnedies eine hervorragende Versammlung gesichert zu haben. Wenn Sie aber dennoch noch einen zweiten berühmten Namen meiner Liste hinzuzufügen imstande sind – so bitte ich, solches unter allen Umständen zu tun‹.
»Abgemacht, Mrs. Hoskyn,« meinte Worthington mit einem verschmitzten Blick auf den verblüfften Bedford. »Sie sollen eine Berühmtheit haben – eine echte Zelebrität – keinen von Ihren schimmeligen alten Deutschen – wenn ich ihn nur hinbringen kann! Und falls irgend jemand aus Ihrer Gesellschaft ihn nicht leiden mag – so braucht er es ihm ja nur offen zu sagen, Was meinen Sie dazu, Bedford?«